Reinhard Haller
DIE NARZISSMUSFALLE
Reinhard Haller
DIE NARZISSMUS-
FALLE
Anleitung zur Menschen-
und Selbstkenntnis
Reinhard Haller
Die Narzissmusfalle
Anleitung zur Menschen- und Selbstkenntnis
Umschlagidee und -gestaltung: kratkys.net
1. Auflage
© 2013 Ecowin Verlag, Salzburg
Coverbild: Andrea Maria Dusl
Lektorat: Dr. Arnold Klaffenböck
Gesamtherstellung: www.theiss.at
ISBN 978-3-7110-5091-5
www.ecowin.at
Der Duft des Narziss
Der Name verpflichtet oder Glanz und Elend des grandiosen Ich
Narzissus grüßt Narciso oder Der zeitlose Mythos
Die vier großen „E“ oder Was ist Narzissmus?
Die schöne Verwandtschaft des Narzissmus oder Hochmut, Eitelkeit, Hysterie, Gier
Allein die Dosis macht narzisstisch oder Das Selbst und sein Wert
Verwöhnte Kinder und rücksichtslose Tyrannen oder Ursachen und Entstehung des Narzissmus
Jedermanns Narzissmus oder Wann reagieren wir narzisstisch?
Durch und durch narzisstisch oder Die narzisstische Persönlichkeitsstörung
Das personifizierte Böse oder Der maligne Narzissmus
Von der gekränkten Reaktion bis zum Größenwahn oder Krankheitsursache Narzissmus
Folterwerkzeuge des Narzissten oder Mobbing, Stalking, Querulieren, Anonymschreiben
Nebenwirkungen und Folgen oder Frust, Depression, Vereinsamung, Suizid
Herr und Frau Narziss lieben und hassen sich oder Die narzisstische Beziehungshölle
Narziss macht Karriere oder Narzissmus als Chance oder Hindernis im Beruf
Alles Bluff, Casting, Show oder Die narzisstische Gesellschaft
Im Narzisstenspiegel oder Menschen- und Selbstkenntnis durch Reflexion
Soll und kann man Selbstverliebtheit heilen? oder Therapie narzisstischer Störungen
Das Bewundern von rohen Eiern oder Regeln im Umgang mit Narzissten
Die Narzisstengalerie
Quo vadis?
Dank
Literatur
Leserhinweis:
Die maskuline Sprachform wird in diesem Buch nicht deshalb bevorzugt, weil Narzissmus wie die meisten schlechten Eigenschaften bei Männern (noch) häufiger vorkommt als bei Frauen. Es geschieht der besseren Lesbarkeit willen, wofür ich die Leserinnen um Verständnis ersuche. Sie wissen ja: „Der Gender und die Genderin, die machen uns das Lesen hin.“
Unvermeidlicherweise werden Sie glauben, in den angeführten Beispielen jemanden aus Ihrer Umgebung zu erkennen. Seien Sie versichert, dass alle personenbezogenen Daten so verändert wurden, dass eine Identifizierung nicht möglich ist.
Allen, denen ich Spiegel war,
und jenen, die mir Spiegel gewesen.
Mein Chef ist ein unglaublicher Narzisst, meine Kollegin reagiert bei jeder Kleinigkeit narzisstisch, mein Konkurrent trägt seinen Narzissmus wie eine Fahne vor sich her. Partnerschaften mit Narzissten sind die reinste Hölle und der Narzissmus gehört zur Standardausstattung jeder Führungsetage. Den Hypernarzissten, dem ich kürzlich begegnet bin, halte ich kein weiteres Mal mehr aus und selbst auf Facebook ärgern mich die Cybernarzissten. In der Geschäftswelt wimmelt es nur so von Karrierenarzissten und im Beruf muss ich mich dauernd mit deren Komplementärnarzissten herumärgern. Und soeben weinte in der Psychotherapiestunde eine Frau bitterlich über „Narziss den Großen“ – ihren Ehemann. Im Narzissmus liegen die wahren Ursachen der psychischen Störungen und die Motive der Verbrecher muss man im Narzisstischen suchen. Jetzt wird sogar gestritten, welches die narzisstischste Zunft sei: Künstler oder deren Kritiker, Ärzte oder Anwälte, Manager oder Broker oder gar die üblichen Verdächtigen – Politiker und Journalisten. Jedenfalls sind alle Machthaber pure Narzissten. Die Narzissten sind die Feinde an unserer Seite und Alltagsnarzissten unterminieren unser Ego. Narzissten sind verbissene Streber und selbstunsichere Blender, unsensible Sensibelchen und lästige Mimöschen. Warum spricht Herr X nur von sich, das ist narzisstisch, und weshalb ist Frau Y ständig angerührt, auch das ist narzisstisch – und erst recht die Arroganz beider zusammen. Die Welt ist voller Narzissten, überall begegnen wir narzisstischen Persönlichkeiten und Narzissmus ist zum Kult geworden. Furchtbarer als der weibliche Narzissmus ist nur noch jener des Mannes. Wir werden von narzisstischer Wut erfasst, geraten in das innere Gefängnis des Narzissmus, schweben im narzisstischen Höhenrausch und stürzen in tiefe narzisstische Krisen.
Narzissmus ruiniert das Leben. Narzissmus bringt den Wahnsinn in unseren Alltag und führt alle auf den Egotrip. Narzissmus vergiftet jede Beziehung und zerstört jede Gemeinschaft. Die ganze Welt wird immer narzisstischer, die narzisstische Epidemie ist aus- und das Zeitalter des Narzissmus angebrochen. Um alle Formen des Narzissmus zu erfassen und ja keine narzisstische Störung zu übersehen, wurde jüngst sogar ein „Narzissmus-Inventar“ herausgegeben.
Narzissmus, wohin man schaut. Narzisstisch, was man auch immer beschreibt, Narzissten an allen Ecken und Enden. Die Begriffe „Narzisst“, „Narzissmus“ und „narzisstisch“ haben unzweifelhaft Hochkonjunktur und finden sich immer häufiger in der Alltagssprache. Wenn sich ein früher nur den Kulturbeflissenen und Psychoexperten vorbehaltener, etwas verstaubt wirkender Fachausdruck plötzlich als ein selbstverständlicher Bestandteil des Volksmundes etabliert, wenn Narzissten nicht mehr mit Nazis verwechselt werden, hat dies einiges zu bedeuten. Entweder nehmen Einstellungen und Verhaltensweisen, die mit dem Begriff gemeint sind, drastisch zu oder wir nehmen diese heute viel eher wahr, sind also sensibler dafür geworden. Wir geben ihnen auf jeden Fall viel mehr Gewicht, sie werden uns immer wichtiger.
Man kann es drehen und wenden, wie man will: Der Narzissmus mit all seinem Gefolge gewinnt an individueller und gesellschaftlicher Bedeutung. Er spielt in unserer Wahrnehmung, unserer Beurteilung, unserer Einstellung und unserer persönlichen Ausrichtung eine immer wichtigere – wenn man so möchte, eine narzisstischere – Rolle. Die Zeichen stehen auf Narzissmus.
Womit hängt dies zusammen? Werden wir alle tatsächlich immer ichbezogener und selbstverliebter? Hat – wie von vielen behauptet – jetzt wirklich das Zeitalter des Narzissmus begonnen? Wird unser Zeitgeist von narzisstischen Elementen wie Selbstdarstellung, Egozentrizität, Größengefühl, Überheblichkeit, Ruhmsucht oder Machogehabe bestimmt? Spiegeln sich in Selbstdarstellung und Gefühl der eigenen Grandiosität gesellschaftliche Grundstimmungen wider? Werden Eigenidealisierung und Entwertung anderer tatsächlich zu modernen Lebensprinzipien? Ist der rationale Egoist, der Ökonarzisst, tatsächlich schuld an der Wirtschaftskrise? Und ist es wirklich möglich, aus den im Internet zu findenden Spuren den virtuellen Narzissten zu synthetisieren? Narzissmus liegt jedenfalls in der Luft: individuell, zwischenmenschlich, gesellschaftlich. Es lohnt sich deshalb, sich mit diesem Begriff, dieser psychologischen Grundeinstellung, dieser Psychomacht ersten Ranges auseinanderzusetzen.
Was man mit Narzissmus meint, ist aber keinesfalls neu, sondern gehört zum Wesen des Menschen. Narzisstisches Verhalten ist viel älter als der Mythos von Narziss, dem selbstverliebten schönen Jüngling. Er ist ein zeitloses Phänomen, dessen Bedeutung für Individuum und Gesellschaft, für Kultur und Therapie allerdings immer besser erkannt wird. Narzissmus ist der unstillbare Wunsch nach Anerkennung und Bewunderung und die übertriebene Einschätzung der eigenen Wichtigkeit. Er stellt eine gewaltige Kraft und einen psychischen Motor, ein Bollwerk des Selbstvertrauens, ja einen Wesenszug und eine Geisteshaltung dar. Er ist zum Verhaltensmuster einzelner Individuen und ganzer Gesellschaften geworden. Überraschend müssen wir aber feststellen, dass hinter glanzvollem Äußeren und selbstzentrierter Eigennützigkeit meist ein fragiles Selbstwertgefühl lauert und die emotionale Intelligenz weitgehend verkümmert ist.
Der Narzissmus ist aber mehr als eine Störung. Er ist eine psychische Urkraft, welche positiv und negativ gestalten kann. Der Mensch braucht zur Entwicklung gesunden Selbstvertrauens ein gewisses Maß an Narzissmus, welcher erst dann zum Problem wird, wenn jemand darunter leidet. Sei es die durch ihre rücksichtslose Egozentrizität in Isolation geratende, von allen gemiedene narzisstische Person. Oder seien es die Mitmenschen, welche die Rücksichtslosigkeit und ständige Entwertung des Narzissten nicht mehr ertragen. Narzissmus ist jedenfalls eine psychologische Supermacht, welche Individuum und Gesellschaft durchdringt – heute mehr denn je.
Viele Zeichen sprechen für eine ungesunde individuelle und gesellschaftliche Entwicklung, nämlich eine Zunahme von Egoismus, Eigenbezogenheit, Gier und übersteigertem Selbstwert. Nach Meinungen der Psycho- und Sozioexperten, aber auch nach unser aller Empfinden hat sich der Selbstwert in den letzten Jahren aus der rechten Bahn bewegt. Vom ausgewogenen Maß habe er sich, so belegen auch die Ergebnisse vieler wissenschaftlicher Untersuchungen, mehr und mehr Richtung Egozentrizität und Eigennutz, Überschätzung der eigenen Person und kritikloser Überzeugung von der eigenen Großartigkeit verschoben. Bewunderung und Einfluss sind gefragt, nicht mehr Demut und Bescheidenheit. Und hier lauert die Gefahr: Wenn das moderne Lebensprinzip darin besteht, nur sich selbst im Blick zu haben, wird dies unweigerlich zur Entsolidarisierung und letztlich zur Ausgrenzung und Vereinsamung des narzisstischen Egoisten führen.
Um die Verschiebung der individuellen und gesellschaftlichen Koordinaten hin zu einem selbstsüchtigen, rücksichtslosen und kalten Lebensstil geht es in diesem Buch. Wie es sich bei einer Abhandlung über die krankhafte Selbstbespiegelung gehört, will auch dieses Buch ein Spiegel sein. Nicht ein realer, sondern ein Psychospiegel, konkret ein „Narzisstenspiegel“. In den zahlreichen Beispielen über narzisstische Situationen und Personen soll der Leser sich und seine Mitmenschen erkennen können, ganz wie beim Blick in den Spiegel: wirklich, nicht verzerrend, nicht beschönigend und nichts entstellend, sondern klar, nichts verschleiernd. Er soll als neutraler Beobachter und unbestechlicher Beschreiber, als wertfrei agierender Analytiker, als Weg zur unverfälschten Erkenntnis dienen. Die Techniken des Spiegelns, welche die goldene Methode der Psychoanalyse darstellen und bei Selbsterfahrungsseminaren, gruppendynamischen Übungen oder Familienaufstellungen so bewährt sind, sollen auch in dieser Schrift der besseren Eigen- und Menschenkenntnis dienen.
Blicken Sie, verehrte Leserinnen und Leser, hinein in den Spiegel des Narziss. Erkennen Sie darin die Lieblosigkeit Ihrer Mitmenschen, das rücksichtslose Agieren Ihrer Vorgesetzten und den Egoismus der Welt. Sie werden die Kränkbarkeit des Nächsten und die Arroganz der Machthabenden, die Vordergründigkeit der Bluff-Gesellschaft, den Sadismus der Casting-Shows und die Kälte des Geschäftslebens sehen können. Im Narzisstenspiegel finden Sie den stets angerührten Mitarbeiter, den überempfindlichen Freund und den beleidigten Ehepartner. Sie erkennen die Gefühlsverarmung des kaltherzigen Verbrechers und die narzisstische Wut des Amokläufers. Der Narzisstenspiegel weist Sie aber auch auf die positive Kraft von Ich-Stärke und Selbstliebe hin. Er spiegelt Ihnen die unangebrachten Zweifel und Minderwertigkeitsgefühle, Ihre unnötigen Komplexe, die Ängste und Depressionen. Wie im Spiegel des Narren geht es um die nackte Wahrheit, um nichts sonst. Blicken Sie hinein in diesen Psychospiegel, erblicken Sie das Gesicht der modernen Gesellschaft, sehen Sie unsere Welt. Erkennen Sie das Wesen der Menschen, erkennen Sie sich selbst.
Ein berühmter Professor der Medizin, beeindruckend in seiner Erscheinung und imposant im Auftreten, war bekannt für seine Vorlesungen. Weit über die Universität hinaus hatten diese einen legendären Ruf und wurden von vielen Nichtmedizinern besucht, von der Schickeria der Stadt und den Adabeis. Die Lehrveranstaltungen hatten etwas vom Charakter einer Fernsehshow oder einer Zirkusaufführung, bei welcher der Professor Direktor und Clown in einem war. So muss die Atmosphäre wohl bei den Veranstaltungen des großen Neurologen Jean-Martin Charcot gewesen sein, als er im Paris des 19. Jahrhunderts in der berühmten Klinik Salpêtrière die Hysterikerinnen und deren Darbietungen einer sensationslüstern gaffenden Zuhörerschaft vorführte.
Der Vortrag unseres Professors war gekonnt, sein Sprechen geschult, der Ausdruck theatralisch. Er begeisterte seine Studenten und faszinierte die Zuhörer. Nie verwendete er das Wort „ich“, sondern sprach stets von „wir“, etwa: „Wir haben erkannt, wir haben entdeckt, wir haben entwickelt“ oder „was meinen wir damit, was haben wir daraus gefolgert, was wollen wir damit sagen?“ Eine seiner Hörerinnen, in der feministischen Bewegung engagiert und als StudentInnenvertreterin aktiv, stellte ihm coram publico die Frage: „Herr Professor, wenn Sie ‚wir‘ sagen, wer ist damit gemeint? Ist es Ihr Team, ist es die Forschungsgruppe, ist es das Professoren-Kollegium?“ Der große Professor, die Ironie überhörend und die Fragende kaum eines Blickes würdigend, zeigte sich keinen Augenblick lang irritiert, sondern antwortete mit einholender, großer Geste, so als würde er das ganze Auditorium, ja die halbe Welt auf seine Person zentrieren: „Wenn wir ‚wir‘ sagen, dann meinen wir uns.“
Diese wahre, eher belustigende denn Ärger erregende Geschichte zeigt uns die klassische Form des Narzissmus und beinhaltet all das, was wir gewöhnlich darunter verstehen. Im Vordergrund stehen Selbstdarstellung und Eitelkeit, die betörende Ausstrahlung, besonders aber ein überaus gesundes Selbstbewusstsein. Der Klinik-Chef verwendet, von sich selbst ganz begeistert, den früher den Herrschenden vorbehaltenen Majestätsplural. Dies tut er mit Selbstverständnis, ohne jeglichen Zweifel und ohne einen Gedanken an die Peinlichkeit wegen der eitlen Diktion. Manche Narzissmusexperten glauben ja, ausgeprägter Selbstbezug vertrage sich nicht mit hoher Intellektualität, zumindest fehle es an emotionaler und sozialer Intelligenz. Der Professor ignoriert die unüberhörbare Kritik und entwertet die fragende Person durch Nichtbeachtung. Geradezu meisterhaft wird der Angriff pariert und in eine noch tollere Selbstbeweihräucherung umgewandelt. Allerdings bestätigt er mit seiner Reaktion, dies offensichtlich gar nicht realisierend, den alten Kalauer, nach welchem der Unterschied zwischen dem lieben Gott und einem Universitätsprofessor darin liege, dass Gott sehr wohl wisse, nicht Professor zu sein.
Eine gefragte Management-Trainerin, von hervorragender Didaktik und exklusivem Honorar, veranstaltete in einer sogenannten Schmiede für Führungskräfte ein Seminar zum Thema „Selbstbewusstsein – Gelassenheit – Souveränität“. Brillant vermittelte sie die psychologischen Hintergründe des Selbst und seines Wertes, zeigte überzeugend Wege zum besseren Ich-Bewusstsein auf, gab zahlreiche Tipps zum Umgang mit Kritik und präsentierte anspruchsvolle Techniken der Ich-Stärkung. Als ihre Spezialität nannte sie die hohe Kunst der Gelassenheit. „Betrachten Sie Ihren Feind als Lehrmeister!“, hämmerte sie den Teilnehmern ein. „Fassen Sie Kritik als positive Anregung auf und bestimmen Sie selbst, wer Sie kränken darf!“ Besonders eingehend befasste sie sich mit Abwehr und Bewältigung von Kränkungen: „Eine wirklich souveräne Persönlichkeit kann man nicht irritieren, sie zeigt nur konstruktive Reaktionen, sie wird niemals beleidigt sein.“
Die nun psychologisch bestens geschulten, zufriedenen Seminarteilnehmer – durchwegs Nachwuchsmanager und Jungunternehmer – waren beeindruckt und zeigten sich hoch motiviert. Vom Veranstalter wurden sie gebeten, einen anonymisierten Feedback-Bogen über die Organisation des Seminars, die Aktualität der vermittelten Inhalte und die Qualität der Vortragenden abzugeben. Es wurde nach dem theoretischen Wissen, dem praktischen Erfahrungsschatz, den rhetorischen Fähigkeiten und dem didaktischen Geschick der Vortragenden gefragt. Die Referentin erhielt fast durchgehend hervorragende Zensuren. Lediglich zwei Teilnehmer bemängelten fehlenden Tiefgang, oberflächliche Darstellung und mäßigen Praxiswert. Nachdem die Referentin die Ergebnisse des Feedbacks – Notendurchschnitt 1,09 – erhalten hatte, übersandte sie den Veranstaltern postwendend ein Schreiben, in welchem sie erklärte, bei einem so unfähigen Organisator nie mehr auftreten zu werden. Sie habe es nicht nötig, sich von „proletenhaften Teilnehmern“ derart disqualifizieren zu lassen.
Die Geschichte lehrt, dass Narzissmus niemanden verschont und auch vor Experten nicht haltmacht. Theoretisches Wissen über den Umgang mit Kränkungen heißt noch lange nicht, solche bei Betroffenheit der eigenen Person immer bewältigen zu können. Im Gegensatz zum „Wir-Professor“ hat die Narzissmus-Expertin nicht nur eine dünne Haut, sondern ist nicht in der Lage, dies zu verbergen. Der Narzissmus präsentiert sich bei ihr in einer ganz anderen Form, jener der extremen Empfindlichkeit und nahezu krankhaften Kränkbarkeit. Bezeichnenderweise hat sie bei allem Wissen einen blinden Fleck für ihre eigene Verletzlichkeit.
Die im Internat aufgetischte Suppe entsprach dem, was als „Wochenschau“ bezeichnet wird: Eine Brühe aus Essensresten der vergangenen Tage, versetzt mit einer reichen Dosis Essig, damit der aufkommende Fäulnisgestank überdeckt würde. Der 14-jährige Jürgen, als sogenannter Zögling erst seit Kurzem in der Erziehungsanstalt untergebracht, hatte sich tapfer durchgekämpft. Der für die Beaufsichtigung des Speisesaals zuständige Erzieher schöpfte ihm, nachdem er Jürgens Ekel- und Würgegefühle wahrgenommen hatte, zweimal nach. Jürgen musste sich übergeben, der Schwall des Erbrochenen landete im Teller, auf dem Tisch, auf dem Boden: „Dem Herrn ist wohl das Essen nicht gut genug … ich werde dir gleich beweisen, welch feine Küche wir haben“, lautete der drohende Kommentar des Erziehers: „Sofort aufessen!“ Keiner der anderen Jungs zeigte eine Reaktion, jeder aß brav weiter. Sie trauten sich nicht einmal, richtig hinzuschauen. Der von Krämpfen gebeutelte Junge, mit Tränen und Übelkeitsattacken kämpfend, löffelte das Erbrochene aus. „Und der Boden, dort gibt es auch noch köstliche Suppe – auflecken!“
Trotz aller Unterschiedlichkeiten dieser drei Episoden zeigen Charakter und Verhalten der Hauptpersonen auffallende Gemeinsamkeiten: Alle sind in ihrem Fühlen und Denken ganz auf die eigene Person zentriert – der Professor in seiner Großartigkeit, die Erfolgstrainerin in ihrer Gekränktheit und der Erzieher in seinen sadistischen Machtbedürfnissen. Überall ist Selbstliebe zu spüren, bei dem von sich und seiner Rhetorik begeisterten Klinik-Chef genauso wie bei der beleidigten Expertin. In ihrer Empfindlichkeit kann sie gar nicht begreifen, weshalb sie überhaupt von jemandem nicht in den höchsten Tönen gelobt wird. Der pädagogische Täter lebt seine ganze Machtfülle in der Entwürdigung eines hilflosen Kindes aus. Alle drei sind zutiefst unsicher und empfindlich. Der Professor tritt deshalb die Flucht nach vorne an, die Seminarleiterin zieht sich beleidigt zurück – wie kann es dieses schnöde Gesindel nur wagen, die sind meiner gar nicht würdig – und der sich minderwertig fühlende, unausgebildete Aufpasser erhöht sich selbst, indem er andere erniedrigt. Keiner der drei Protagonisten nimmt auf die Gefühle der anderen Rücksicht, auf die Neugier der Studentin, auf die Erwartungen der bildungshungrigen Seminarteilnehmer oder auf die Angst des schutzlosen Jungen. Entwertend sind die Gesten des Professors, noch stärker die beschimpfenden Reaktionen der eitlen Fachfrau und am schlimmsten die Sadismen des Erziehers.
* * *
Narzissmus gibt es in vielfältiger Gestalt, in unterschiedlichster Ausprägung und in vielen Funktionen. Er ist schön und hässlich, aufdringlich und bescheiden, verheißungsvoll und gefährlich, faszinierend und abstoßend. Ein Stück weit bleibt er immer geheimnisvoll. In bekömmlichem Maß ist er Nahrung für das Ich und fördert den gesunden Selbstwert. In verdünnter Form macht er sich im Umfeld, in der Familie und am Arbeitsplatz breit. Wenn er krankhaft wird, gehört er zu den am schwersten zu behandelnden Störungen und treibt meist auch die Therapeuten zur Verzweiflung. Der bösartige oder maligne Narzissmus mit seiner Gemütskälte und Menschenverachtung stellt das psychiatrische Korrelat für das „Böse“ schlechthin dar.
Narzissmus hat also zahlreiche Gesichter. Er ist, dies kann man ohne Übertreibung sagen, das wahrscheinlich interessanteste, vielseitigste und schillerndste psychische Phänomen – und das schwierigste. Seine Symptomatik durchschreitet alle Höhen und Tiefen der emotionalen Welt und die ganze Formenpalette psychischer Störungen. Narzisstisches Verhalten reicht vom Gefühl eigener Grandiosität bis zum brüchigen Selbstwert, von der Fantasie grenzenloser Macht bis zur kaltherzigen Entwertung der Mitmenschen, von unersättlicher Anspruchshaltung bis zu masochistischer Demut. Der narzisstische Mensch ist unkorrigierbar in seiner Egozentrizität, oft arrogant in seinem Wesen, meist kaltherzig nach außen und immer unsicher im Innern. Im Gefühl, von allen Mitmenschen wegen der eigenen Großartigkeit beneidet zu sein, entwickelt er eine gefährliche Haltung, mit der es ihm gelingt, stets mehr zu bekommen als zu geben.
In seiner positiven Form ist Narzissmus Motor unserer Leistungsfähigkeit und des Fortschrittes, er fördert Kreativität und steigert unsere Kraft, er beflügelt uns im Wettbewerb. In seinen negativen Auswirkungen ist er Ursache von Kränkung, Eifersucht, Hass, Streit, Verbrechen und Krieg. Am Narzissmus scheitern Partnerschaften und Freundschaften, zerbrechen Ehen und Familien, entzünden sich Auseinandersetzungen und Konflikte, er schafft Feindschaften für alle Zeiten.
Narzissmus begleitet den Menschen von seinem ersten Schrei – ja, Sie lesen recht – bis zum Brechen seines Auges. Er ist die Grundlage unserer Selbstbehauptung und der Boden, auf dem sich unsere Machtbedürfnisse entwickeln. Im steten Streben, besser und großartiger als die anderen zu sein, liegt die Wurzel von Leistung und Kreativität, von Gier und Macht. Beseelt vom Wunsch, voranzukommen und den anderen überlegen zu sein: immer besser, immer stärker, immer wichtiger. Wenn in der Psychoanalyse Aggressions- und Sexualtrieb als die Urkräfte des Lebens bezeichnet werden, stellen sie die eigentliche Vitalenergie dar. Hingegen kann man im Narzissmus die häufigste und wichtigste Form der Umsetzung im Leben sehen. Er ist gleichsam eine einstellungs-, verhaltens- und persönlichkeitsprägende Software. Unser Fühlen und Handeln bestimmend, liefert er viele Motive und gibt uns wichtige Ziele vor. Narzisstisches Empfinden stärkt den Selbstwert, narzisstische Persönlichkeitszüge fördern die Karriere, sowohl die geradlinige als auch die krumme, narzisstische Überdosierungen führen zu Isolation und Krankheit. Narzissmus hat mit Partner- und Berufswahl zu tun, mit unserem Verhalten in Gruppe und Gesellschaft. Er ist maßgebend für Ehrgeiz und Rivalität, für Wettbewerb und Fortschritt. Der Narzissmus der Völker hat Kriege ausgelöst, und jener der Gesinnungen tiefgreifende Feindschaften. Narzisstisches Agieren hat sich als wesentliche Ursache der Wirtschaftspleiten und Bankenkrisen, des kapitalen Raubrittertums, der Probleme der Dritten Welt und der Umweltzerstörung herausgestellt.
Die Frage, was normal und gesund, was gestört und krank ist, lässt sich nirgendwo schwerer beantworten als beim Narzissmus. Wenn wir von unmerklichen, fließenden Übergängen sprechen, finden wir sie in geradezu klassischer Art beim Narzissmus. Bei keiner anderen psychischen Störung sind die Gegensätze zwischen äußerem Schein und innerem Sein, zwischen Anspruch und Wirklichkeit, zwischen Glorie und Verzweiflung so groß wie beim Narzissmus. Wo sonst gibt es eine so reiche Fülle an kulturellen und psychologischen Bearbeitungen bei gleichzeitig nur minimalen wissenschaftlich gesicherten Erkenntnissen? Auch für den Therapeuten existiert, dies wurde bereits betont, kaum eine schwierigere Störung. Nicht einmal bei der Hysterie ist die Gefahr der eigenen Emotionalisierung und der mangelnden Abgrenzung, aber auch der negativen Übertragung so groß wie beim Narzissmus. Nirgendwo sind die Gegensätze zwischen therapeutischem Anspruch und realen Behandlungsmöglichkeiten so eklatant.
Bei oberflächlicher, klischeehafter Betrachtung könnte man Narzissmus für etwas Furchtbares, eine moderne Plage, einen Beweis für die Schlechtigkeit der heutigen Zeit halten. Narzissten belasten ja die Gesellschaft, zerstören die Gemeinschaft und haben viele üble Eigenschaften: Sie sind eigensüchtig, selbstverliebt, eingebildet, rücksichtslos – verächtlich in jeder Hinsicht. Oder doch nicht? Haben wir nicht schon von der Grandiosität des Narzissten, vom elitären Zirkel narzisstischer Menschen und vom Narzissmus in der Chefetage gehört? Weshalb finden wir unter Managern, Filmstars, Künstlern und Politikern, unter unseren Idolen so viele Narzissten? Hat der Narzissmus möglicherweise auch vorteilhafte Seiten? Setzen sich Narzissten besser durch und sind sie am Ende gar die geborenen Erfolgsmenschen? Ist Narzissmus eine Karrierechance oder Voraussetzung für sozialen Aufstieg?
Wir empfinden und werten die sich in der Gesellschaft mehr und mehr durchsetzende narzisstische Haltung jedenfalls nicht nur negativ, sondern zumindest ambivalent, wenn nicht sogar mit unverhohlener Bewunderung. Schon das Wort „narzisstisch“ ist trotz seines abwertenden Einsatzes nicht so negativ besetzt wie andere psychiatrische Fachausdrücke, etwa „Psychopath“ oder „hysterisch“. Während diese ursprünglich neutralen, rein beschreibenden Begriffe Verächtlichkeit ausdrücken und zu Schimpfwörtern verkommen sind, verhält es sich beim Narzissmus anders. Allmählich dämmert uns, wie die im Narzissmusbegriff enthaltenen Grundeigenschaften nützlich für den Lebenskampf, förderlich für die Berufskarriere und richtungbestimmend für moderne Lebensprinzipien sein können. Die ehemals großen Tugenden der Bescheidenheit, der Demut und des Verzichts haben ihren Rang verloren und sind durch Erfolgswillen, Eigendarstellung sowie Anstreben von Besitz und Macht ersetzt worden. Der Narzissmus steht an der Schwelle von der problematischen und krankhaften Störung zur geltenden Lebensauffassung. Der Narzissmus wird gesellschaftsfähig.
* * *
Das Phänomen des Narzissmus wäre aber nicht beschrieben, wenn man nicht dessen Ausstrahlung auf die Umgebung des Narzissten, auf uns alle, mit einbeziehen würde. Die Faszination des Narzissmus resultiert entscheidend aus dessen Wirkung auf die Umwelt. Der Narzisst verbreitet um sich eine ganz eigene Atmosphäre. Die undurchdringbaren Mauern, welche Narzissten um sich errichten, stoßen uns ab und locken uns gleichzeitig an. Das sich zwischen Narzisst und Umwelt entwickelnde Fluidum, schwer zu beschreiben und noch schwerer zu erfassen, hebt den Narzissten noch stärker aus dem Gewöhnlichen heraus. Der Glanz, den der Narzisst produziert, strahlt auch auf sein Umfeld. Betritt ein Narzisst den Raum, nimmt er diesen sofort ein. Ergreift er das Wort, richten sich alle Blicke auf ihn. Die Ausstrahlung des Narzissten ist durchdringend und lässt keinen unberührt. Selbst wenn er kein Wort spricht, keine Meinung kundtut oder keine Anordnung trifft, sind wir irgendwie berührt.
Kaum jemand kann sich dieser Aura entziehen. Ob man will oder nicht, wird man davon gebannt, in positivem und negativem Sinn. Alle, die mit Narzissten zu tun haben, legen sich bewusst oder unbewusst eine Rolle zu. Die Muster sind unterschiedlich:
Zunächst begegnen wir dem Narzissten mit Distanz. Jeder spürt die fehlende Wärme, die mangelnde emotionale Resonanz und die zwischenmenschliche Kühle, die uns von seiner Seite entgegenschlägt. Dies löst vorerst Vorsicht aus, in weiterer Folge zum Teil Bewunderung, Unterwerfung oder Abschottung. Die Bewunderung ist ein eher undifferenziertes, abhängiges, eigentlich primitives Verhaltensmuster. Bewunderung heißt, keine Zweifel und keine Kritik aufkommen zu lassen, die Meinung des Bewunderten nicht infrage zu stellen und seine Äußerung als unzweifelhaft richtig zu übernehmen. Bewundern bedeutet verehren, nachahmen und identifizieren, aber auch, sich nicht abgrenzen zu können und seine Eigenständigkeit ein Stück weit zu verlieren. Mit Unterwerfung sind Zurückhaltung der eigenen Meinung, Hintanstellung der Bedürfnisse, Unterordnung der Gefühle und Verleugnung des Ich verbunden. Der sich unterwerfende Mensch wird niemals zur Entfaltung gelangen, er verleugnet einen wesentlichen Teil seiner Person, er ist unfrei und – wie es das Wort eigentlich sagt – versklavt.
Beide Reaktionsmuster erfüllen das, was der Narzisst will und von all seinen Mitmenschen erwartet. Er braucht Bewunderung zur Befriedigung seiner narzisstischen Bedürfnisse, zur weiteren Stärkung seines Ich. Die Bewunderung ist sein tägliches Brot, seine Muttermilch, die Nahrung seiner Psyche. Unterwerfung ist für ihn Ausdruck seiner Großartigkeit, sie stärkt seine Überlegenheitsgefühle und seine Machtansprüche. Und sie bedeutet Entwertung.
Der Narzisst versteht es vorzüglich, um sich eine Atmosphäre zu schaffen, die gar keine Kritik zulässt. Jeder Mensch in seinem Umfeld spürt diese extreme Empfindlichkeit, die abnormale Kränkbarkeit und die Unverzeihlichkeit des Narzissten. In vorauseilendem Gehorsam traut sich gar niemand, Kritik zu üben und Fehler aufzuzählen. Das Überschreiten dieser Grenze stellte einen Tabubruch, nahezu eine Blasphemie dar, welche entweder zu Schuldgefühlen aufseiten des Kritikers oder zu exzessiven Racheaktionen vonseiten des Narzissten führt. Selbst der Versuch einer sachlichen Reflexion wird als bösartig, hinterhältig und unverzeihlich qualifiziert. Allein mithilfe seiner emotionalen Ausdruckskraft hält der Narzisst jeden in Schach und unterdrückt schon die geringste, aufkeimende Kritik. Viele Menschen, die mit Narzissten partnerschaftlich oder beruflich zu tun hatten, berichteten mir von permanenten Schuldgefühlen: „In seiner Gegenwart fühle ich mich stets schuldig, auch wenn ich nicht weiß, warum.“
Mit diesen Gefühlen spielt der Narzisst, er nützt die Betroffenheit und Zurückhaltung eiskalt aus, er verbreitet im Prinzip ein Regime des emotionalen Terrors, der unausgesprochenen Beschuldigung, der schweigenden Anklage.
In welcher Form und Intensität narzisstisches Verhalten möglich ist, hängt somit nicht nur vom Narzissten, sondern ganz entscheidend von seinen Mitmenschen, von seiner Umgebung ab. Der uns unbemerkt beeinflussende Narzisst hat eine unglaubliche Wahrnehmung für die Reaktion der anderen und verfügt über enorme manipulative Kraft. In seiner auf höchstem Niveau angesiedelten misstrauischen Empfindlichkeit spürt er sofort, wer wie in seiner Umgebung reagiert, wer sich ihm anschließt, sich unterordnet, ihn bewundert, ihm folgt oder wer – für den Narzissten besonders bedrohlich – unbeeinflusst und autonom bleibt. Als geborener Meister der zwischenmenschlichen Übertragungen registriert er die individuellen Reaktionsmuster und nützt diese geradezu reflexartig aus. Dem Bewunderer wird er weiteren bewundernswerten Stoff liefern, die sich Unterwerfenden wird er – womit die unbewussten masochistischen Bedürfnisse des Narzissten angesprochen werden – auf Distanz halten und verachten, dem autonom Bleibenden wird er mit Feindseligkeit begegnen, dem Kritiker mit unerbittlichem Hass. Wollen wir mit narzisstischen Menschen zurechtkommen, ist es unabdingbar, Übertragungen und Gegenübertragungen zu erfassen, unsere möglicherweise komplementäre Rolle zu reflektieren und sich von der Atmosphäre des Narzissten zumindest emotional zu distanzieren. Dies werden wir nur erreichen, wenn wir den ganzen Bogen der narzisstischen Störungen, von Glanz bis Elend reichend, kennen. Hilfreich ist der stete Blick hinter die Kulissen, gleichsam aus der Distanz des Therapeuten. Wir werden dadurch neutraler, wissender, autonomer und – ganz entscheidend – weniger manipulierbar. Bestimmend ist die Frage, ob wir, die Nicht-Narzissten (sind wir das?), dem betörenden Duft des Narziss erliegen oder uns aus diesem lösen können.