Das ist ein fiktionales Werk. Die Handlung und die Personen sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit lebenden Personen oder realen Ereignissen ist unbeabsichtigt und zufällig.
www.kremayr-scheriau.at
ISBN 978-3-218-01015-3
Copyright © 2015 by Verlag Kremayr & Scheriau GmbH & Co. KG, Wien
Alle Rechte vorbehalten
Schutzumschlaggestaltung: Emanuel Mauthe, Extraplan
unter Verwendung eines Dessins von Jakob Schlaepfer
und einer Fotografie von Marianne Jungmaier
Lektorat: Tanja Raich
Satz und typografische Gestaltung: Emanuel Mauthe, Extraplan
Datenkonvertierung E-Book: Nakadake, Wien
Das Tortenprotokoll
Für F.J.
Ich erinnere meine Großmutter in Details.
Ein warmes, sattes Licht im Fenster ihres Badezimmers, in breiten Bahnen durch das Milchglas fallend, die Silhouetten der Bäume, Staubflusen, die durch den Raum schwebten. Die Tür zur Küche einen Spalt geöffnet, gerade so, dass ich hineinschlüpfen konnte, der weißgraue Wollteppich an einer Ecke aufgebogen. Plastik blätterte von den Kanten der Küchenzeile.
An der Wand des Flurs winzige ovale Bilderrahmen, darin die Fotografien ihrer Toten, im Dämmerlicht. Der Blick aus dem Fenster auf Thujen, schwarz begrünte Tannen, Apfelbäume, Pappeln, deren silberne Unterseiten im Wind glänzten. Rote Schindeldächer, ansatzweise Hügel. Nach Staub roch es bei ihr, nach Kuchen und altem Fett.
Ich höre ihr Lachen, hoch, am Telefon, ein altes mit Wählscheibe, moosgrün, das schwarze, verdrehte Kabel. Höre ihren Schritt, der Fußboden knarrt unter den Hausschuhen. Ihre blaue Schürze ein Sonnensegel an der Wäscheleine. Die weiche Haut ihrer Wangen und feiner Flaum, Brillengläser so dick wie das Glas, aus dem ich Himbeersirup trank, kristalline Schlieren am Boden. Ihre starken Arme und die Finger, die sich am Türknauf festkrallten, wenn sie die Haustür erreicht hatte.
Die weißen Flächen der Nachricht verstärkten die Worte, das Fehlen der Buchstaben verstärkte ihr Gewicht, machte es mir unmöglich, sie zu verstehen.
Mein Atem geriet ins Stocken, unwillkürlich, ich konnte nichts steuern, weder das Zucken meiner Schultern noch die Übelkeit anhalten, die plötzlich in meinem Magen hochstieg, meine Knie wurden weich und mir wurde schwarz vor Augen.
Ich hatte das Gefühl, ein Loch in meinem Körper zu haben, das sich nicht schließen ließ, sich vielleicht nie mehr schließen lassen würde. Ich schaute aus dem Fenster und sah nichts als Mauern und einen grauen Himmel über der Stadt.
Ich erinnere mich an ihre Hand, die über die Küchenzeile wischte. Ihre breiten, trockenen Finger, Arbeiterhände, wie die meines Vaters. Ihr Oberkörper in einer Drehung begriffen, ihr Kopf neigte sich zur Seite, und sie sagte etwas, mit ihrer hohen Stimme.
Ich habe noch nie jemanden verloren, jedenfalls nicht absichtslos.
Noch nie hat jemand in meiner Umgebung aufgehört zu sein, aufgehört zu atmen. Wenn sie auf dem Sofa schlief, hielt sie ihre Hände über der Brust gefaltet, der Brustkorb hob und senkte sich. Der Mund leicht geöffnet. Ein Pfeifen entwich ihren schmalen, farblosen Lippen. Ich schlich mich an und beobachtete sie, kitzelte ihre Fußsohlen. Oder saß einfach neben ihr, auf dem Sofa, zählte seine gelben und blauen Striche. Trockenblumen auf dem Couchtisch, Kakteen vor dem Fenster und winzige Souvenirs auf dem Fernseher: Muscheln, eine Schildkröte aus Glas, Rätselhefte.
Ich warte vor einer Glasscheibe, hinter der ein Novemberhimmel darauf wartet zu regnen, diese Stadt ist grauer als ihr Ruf, aber nur im Winter.
Man ruft uns auf, das Boarding hat begonnen, und ich denke an die Frau am Check-in, die hinter ihrer Sonnenbrille weinte, sich zusammenhielt, vorsichtig einen Schritt vor den anderen setzte. Und wie ich mir eine Sonnenbrille wünschte, und jemanden, der mich in den Arm nimmt.
Großmutter hatte kleine, braune Flügel, die sie auf ihre Brille steckte und nach unten klappte, wenn die Sonne blendete. Eine Insektenforscherin war sie mit dieser Brille, eine weißhaarige Insektenforscherin. Dabei erschlug sie jede Fliege, die ihr unterkam. Häufchen aus Chitin bedeckten den Fußboden der Küche.
Sie war keine freundliche Frau, weder mir noch anderen gegenüber, weder zu Nutztieren noch zu nützlichen Menschen. Kleinkinder und Enkelkinder mochte sie, Kleintiere und Katzen, auch ihre Katze, aber niemals zu viel streicheln, niemals zu viel lieben.
Es mag von ihrer Geschichte kommen, oder ihrem Charakter. Vielleicht liebte sie auch und ich verstand sie nicht. Manche bauen eine Gartenlaube für jemanden, andere schreiben Liebesbriefe. Vielleicht verstand ich ihre Liebessprache nicht. Vielleicht gab es keinen Grund dafür, dass ich mich nicht geliebt fühlte, weder von ihr noch von den anderen.
In dieser Familie liebt man sich mit Süßspeisen. Mit Eiscreme und Desserts, aufgespießt auf Kuchengabeln, aufgefangen in Löffeln. Es ist nicht meine Art zu lieben, deshalb bin ich fortgegangen, als es mein Alter erlaubt hat. Auch jetzt ist mir übel, vielleicht, weil ich zurückfliege, es bekommt mir nicht, zurückzumüssen.
Es schmeckt nach Langeweile in diesem Flugzeug, nach Plastik und Staub. Die Menschen sind gelangweilt. Für niemanden ist es besonders, ein Flugzeug zu besteigen, ich habe mich noch immer über die Sitzreihen, die kleinen Fenster, den Sitzgurt gefreut. Heute kann ich mich kaum zusammenhalten.
Eine rotgekleidete Stewardess eilt durch die Reihen, man dreht sich nach ihr um. Sie zählt die Passagiere, schließt zeitgleich die Luken über uns, im Laufschritt. Dann hebt das Flugzeug ab und ich spüre das Adrenalin in meinem Körper steigen und sehe die ersten Regentropfen am Fenster. Sie bewegen sich langsam über die ovale Plexiglasscheibe, vibrieren, durchsichtige Streifen, gefolgt von weiteren. Ehe ich mich versehe, sind sie verschwunden und die nächsten tauchen auf. Gleiten an mir vorbei, ohne mich zu berühren, sie hören nicht auf, tropfen und sickern. Solange es Atmosphären und chemische Verbindungen gibt, werden sie an mir vorbeiregnen.
Der Sitz hält mich, eine weiche Kunststoffschale in der Kabine, eine sichere Atmosphäre, in der ich keine Tropfen berühren und niemanden festhalten kann. Der Tropfen bewegt sich langsam nach unten, innen wie außen, auf der Außenhaut des Flugzeugs, auf der Innenhaut meines Körpers. Ich kann nichts dagegen tun, kann mich nur abwenden. Ich kann nicht aufhören zu weinen. Es überkommt mich ohne Vorwarnung, ich spüre ein Ziehen und ein flaues Gefühl im Magen und sehe das Grau der Landebahn verschwinden, welkes Gras verschwinden, die Stadt verschwinden.
Ein Streifen, gefolgt von einem weiteren.
Vielleicht ist sie an mir vorbeigeglitten wie diese Tropfen.
Vielleicht ist ihre chemische Verbindung, bevor sie sich aufgelöst hat, an mir vorbeigetropft.
Die Nachricht kam als E-Mail. Minuten zuvor noch ein Foto von Tobi, eine Wiese im Raureif, der Winter kommt, stand da, bisou aus dem Dorf.
Und plötzlich ein E-Mail von Mutter.
Großmutter ist tot, schrieb sie. Keine Trauer, kein Schmerz in Worte gefasst, kein Gruß. Nicht einmal ein trauriges Smiley.
Das Begräbnis ist nächsten Freitag, stand darunter, und ich buchte einen Flug.
Ich warte am Gepäcksband. Es dreht sich, Kurve um Kurve, die Lamellen laufen Runde für Runde, ein leises Surren im Hintergrund. Ich suche etwas, an dem ich mich festhalten kann, ein Schild, ein Geräusch, einen Menschen, an den ich meinen Blick heften kann.
Das Blau des Bildschirms flackert. Türen schwingen auf, in regelmäßigen Abständen, auf und zu. Menschen in Uniformen gehen aus und ein, gehen vorbei. Die Gesichter, die mir aus der Stunde, die ich mit ihnen verbracht habe, vertraut sind, werde ich in ein paar Minuten vergessen haben.
Die Sonne zeichnet Linien, Quadrate und Rechtecke auf den Steinboden. Keine Koffer sind zu sehen, nur das Surren des Bandes ist zu hören, Rascheln und Schnäuzen und Räuspern, ein lautes Hupen und dann fällt ein erster Koffer aus dem schwarzen Loch. Dann verschwindet die Sonne hinter einer Gewitterwolke. Es ist jene Zeit, in der die Wolken Schnee ansammeln in ihren Wolkenbäuchen, Kälte und Eis, um all dies herabregnen zu lassen, auf Menschen und Dörfer, bis sich das Land in ein Gebilde aus Schnee verwandelt. Hier liebt man den Schnee, diese weiße Substanz, die ich scheue, weil sie immer auch Dunkelheit bringt.
Die Augen meiner Großmutter waren stahlblau wie die Wolken vor dem Fenster. Sie konnten mein Herz zum Stehen bringen.
Sie ist tot, schrieb ich, Großmutter ist tot.
Er schickte ein leeres SMS. Dann lange nichts. Dann eines mit drei Punkten. Spätnachts rief er an.
Es tut mir leid, sagte Tobi, und ich antwortete, nach einer langen Pause, in der ich ein Schluchzen unterdrückte, bis ich den Schmerz in meinem Hals nicht mehr aushielt: Ich kann mich nicht erinnern, ob ich ihr gesagt habe, dass es mir leid tut.
Dabei weiß ich nicht einmal, was mir leid tut.
Vielleicht, dass ich ihre Art, mich zu lieben, nicht verstanden habe. Tobi hat mich geliebt, bevor wir wussten, was das bedeutet.
Ich besuchte meine Großmutter an den Samstagen.
An den Sonntagen kamen die anderen, ihre Kinder und deren Kinder, die ich nicht mochte. Ich wusste nicht, was ich mit ihnen reden sollte, schon als Kind kamen sie mir grotesk vor. Ihre roten Gesichter und fleischigen Hände, die vom Fleisch, von den Torten, von den Körpern, die sie berührten, zu viel nahmen. Von allem nahmen sie zu viel, und sprachen und tranken zu viel.
Ich brachte Tobi mit, als Geschenk, denn meine Großmutter mochte ihn lieber als mich, zumindest glaubte ich das. Tobi, mit dem ich aufgewachsen war, der mir mehr Bruder war als meine Schwester. Wir waren Bandenkumpel, Räuber und Gendarm, Drachenjäger und Mutprobenbesteher, später Vertraute, Geliebte, und dann waren wir einander das Nächste.
Er sagte, dass er sie besucht hatte, nachdem ich fortgegangen war.
Meine Großmutter war sein Zuhause, genauso wie sein Großvater und das Dorf, in dem wir unsere Unschuld verloren, zuerst aneinander und jetzt durch ihren Tod.
Er war der Letzte, der sie sah.
Der Tod ist nichts, mit dem man rechnet.
Es hat keine Anzeichen gegeben, sagte er.
Dabei bin ich mir sicher, sie hat es gewusst. Sie hat gewusst, dass dieser Tag ihre Chance sein würde. Ihre Gelegenheit zu verschwinden, denn niemand hätte sie gehen lassen, weder Tobi noch ich noch die anderen.
Die Sanitäter hätten die Wiederbelebungsmaßnahmen rechtzeitig durchgeführt, sagte er. Es hätte genügend Zeit gegeben, um zurückzukommen. Um auf Wiedersehen zu sagen.
Ich trage ihren Namen und trotzdem kam sie nicht zurück, um sich zu verabschieden.
Der Zug verlässt den Bahnhof, gleitet an halbnackten Bäumen vorbei, an Erdmauern, befestigt mit Betonquadern und stählernen Netzen. Häuser ziehen vorbei, Schokostreusel auf grünem Kuchen, mit wuchtigen, dunklen Holzbalkonen, Carports und Garagen, dottergelb, weiß und grau.
Ihr Haus steht am Ende des Dorfes, windschief, sein Schindeldach löchrig, aber dicht und standhaft, den Launen des Wetters und jenen der Menschen gegenüber. Es liegt versteckt hinter Thujen, an der Rückseite eines Vierkanters. Ein Auszugshaus, geschaffen für die Großeltern, die nicht mehr gebraucht werden. Aber nicht aufzugeben sind, die zu versorgen sind, nichts mehr leisten müssen, es aber dennoch tun.
Es gab keinen Tag, an dem sie nicht arbeitete. Im Herbst nahm sie Hasen und Rehe aus und schnitt das Fleisch zu Wildbret, kochte rote Bete ein, die ihre Hände blutrot färbte. Im Frühling kochte sie Brennnesselspinat und verwandelte im Sommer die Erdbeeren, Kirschen und Stachelbeeren in Gelee, Saft und Marmeladen. Und rührte aus Zucker, Obers, Butter und Mehl Tortenteige, das ganze Jahr.
Im Dunkel ihres Kellers standen die Gläser in Reihen, mit schmierigen Oberflächen, schwarz von Staub und Feuchtigkeit: runzelige Marillen im Saft, Birnen in Schnaps und Hollerröster. Nüsse in Säcken, Walnüsse, die meine Schwester Agnes und ich einsammelten, und manchmal auch Tobi.
Grüne Schalen und braune Nüsse im feuchten Gras, die wir in Kartoffelsäcke füllten. Auf dem Dachboden, zwischen Zitronenmelisse, Thymian, Kamille und Salbei trockneten die Nüsse, zwischen den Ringelblumen, aus denen sie mit Butterschmalz eine Salbe aufkochte, und dem Johanniskraut, das sie in Öl ansetzte, zum Einreiben von schmerzenden Gelenken.
Säckeweise trugen wir diese Nüsse, getrocknet und ausgelöst, über die Stiege an der Hinterseite des Hauses und legten sie in Großmutters Gefriertruhe, die gut gefüllt war, mit Schnitzelfleisch und Bauchfleisch, Würsten in Säcken, Bauernbrot und Semmeln, gefrorenen Butterpackungen, Himbeeren, Tortenböden, Strudelteig und Knödeln. Mit den Reserven in ihrem Haus hätte man einen Krieg überstehen können.
An den Samstagen schickte mich Mutter auch zu ihr, damit ich nicht im Weg war, die Wege waren kurz an diesen Tagen und die Böden nass. Türen wurden mit Besen versperrt, der Geruch von Essigreiniger war allgegenwärtig. Dass ich zu nichts zu gebrauchen war, wusste meine Mutter bereits, als ich noch nicht zur Schule ging.
Großmutters Türrahmen war gerade so hoch, dass die Frauen der Familie eintreten konnten, ohne sich den Kopf zu stoßen. Bloß die Weinreben musste man zur Seite schieben, zarte Zweige zu beiden Seiten, das Eichenholz der Tür mit Wurmlöchern gemustert.
Ich stieg durch den Vorraum die Treppe hinauf, in der es dunkel war und nach Mottenkugeln roch, die harten Borsten der Teppichvorleger unter meinen Füßen. Großmutter erwartete mich, ohne Notiz von mir zu nehmen, eine Hand in der Tasche ihrer Schürze, wo sie ein Taschentuch knüllte. Vor ihr schwarzer Filterkaffee in einer Tasse mit dunklem Rand und ein Stück Bauernbrot mit Butter auf einem winzigen Holzbrett. Der Tisch bedeckt mit schwarzen Kümmelsamen.
Ein Butterbrioche stand für mich am Fenster bereit, dazu eine Tasse Malzkaffee, herb und süß, und ein Stück Marzipan, das sie von der großen Rolle abgeschnitten hatte. Immer rätselte sie drei Seiten, räumte dann den Tisch ab, und ich folgte ihr, um mit ihr das Bettzeug aufzuschütteln und Wäsche aufzuhängen, oder eine andere Arbeit zu tun.
Ich suchte ihre Küche auch an anderen Tagen auf, denn bei ihr konnte ich Staubflusen in den Sonnenstrahlen beobachten, musste keine Hausaufgaben lösen, fühlte ich mich nicht fehl am Platz. Bei ihr konnte ich mich davonstehlen, ohne bestraft zu werden, im Heu sitzen, wo es nach Sommer und Wärme roch, ohne dass mich jemand finden wollte.
Ich konnte in den Hof von Tobis Eltern schleichen und über die feuchten Nasen der Kühe streichen, die ihre Schädel hin und her schwangen, die mit rauen Zungen über meine Hand leckten. Ein Geruch nach Kutteln und vergorener Milch, Hofkatzen im Schatten der Anhänger, braune mit schwarzen und weißen Flecken, die schliefen.
Trifarbige, nennt man sie dort.
Glückskatzen, nennt Tobi sie.
Wie Molche sahen sie aus, fast nackt, die Augen noch nicht geöffnet, die Katzenjungen, die ich auf dem Misthaufen fand, von denen Großmutter sagte, es gäbe zu viele, deshalb warf sie sie zu den Eierschalen, den fauligen Salatblättern, zu den Dingen, die die Schweine nicht fraßen und ich schloss meine Augen, wenn ich an ihnen vorbeiging, bis frischer Kuhmist die verdrehten, kleinen Körper bedeckte, und trank selbst die frische Milch, die ich für sie gestohlen hatte, die nach Fett und Sonntagmorgen schmeckte.
Wie Schnee, sagte Tobi, hat das Tuch ausgesehen, das sie auf ihren Körper gelegt haben.
Wie der erste Schnee des Jahres, der niemals liegen bleibt.
Der bloß die Spitzen der Grashalme bedeckt, die Maulwurfshügel, eine zarte Decke kaltes Weiß über ihrem Körper.
Sie war noch warm, sagte Tobi. Bis unter das Kinn haben sie sie zugedeckt, und ich habe nicht aufhören können, daran zu denken, man solle ihr etwas anziehen.
Und mein Vater habe gegen den Türrahmen geschlagen, so fest, dass der Putz von der Decke gerieselt sei.
Ich habe deinen Vater niemals weinen sehen, sagte Tobi, auch diesmal nicht.
Sie alle kamen. Ihre Töchter und deren Männer und Kinder versammelten sich in ihrer Kammer, standen um sie herum und schwiegen, verstummt, auch die, die sich an den Wochenenden betrinken und sonst nichts im Sinn haben, kamen.
Niemand wusste, was zu tun sei, denn es gab nichts zu tun.
Nichts zu beschönigen, nichts wegzutrinken, nichts, das man mit Süßem hätte besser machen können, mit einer Cremeschnitte, einem Verlängerten, Schlagobers, mit Schokoladekuchen oder einem Punschkrapfen. Nicht wie früher, wie sonst, wenn sie zusammenkamen und anstatt zu reden, noch größere Stücke auf ihre Teller luden, noch mehr Vanillesauce auf ihre Topfenstrudel gossen und sich Weinbrand nachschenkten. Dieses Rezept funktionierte nicht, ihr Schweigen war nicht mehr zu überhören.
Von nun an gibt es ein Vorher und ein Nachher.
Von nun an gibt es sie nur noch in unserer Erinnerung, sagte Tobi.
Wir sprachen darüber, wie ihr Bett roch, ihr altes knarrendes Bett, nach Stärke und Waschmittel und Kölnisch Wasser roch es, und wie wir darin lagen, als Kinder, und uns unter ihrer Decke versteckten.
Und ich weinte, am Telefon, sekundenlang hörte er nur mein Schluchzen.
Später in dieser Nacht dachte ich, wir hätten ihn abfüllen sollen, ihren Geruch, in Phiolen und in einem lichtlosen Raum aufbewahren, um daran riechen zu können. Ich versuchte, mich an ihr Schlafzimmer zu erinnern, ihren Polster, unter den sie ihr Buch steckte, den Winkel, in dem sie ihre Hausschuhe abstellte, die Lade, die sie als letztes geöffnet und das Nachthemd, das sie zuletzt getragen hatte.
Als ich Tobi fragte, warum er zurückkehrte in ihr Haus, warum er dorthin ging, schrieb er: Weil ich mich dort zuhause fühle.
Weil es keine Grenzen gab für uns, weder als Kinder noch danach, weder in ihrem Haus noch am Hof seiner Eltern, unsere Zuhause waren viele.
Lass uns gemeinsam hingehen, schrieb er, ich warte auf dich am Bahnhof.
Immer ist es Tobi, der mich abholt. Meine Eltern sagen, ich komme zu spät, zu allem, mein ganzes Leben sei ein einziges Zu-spät-Kommen, schon bei meiner Geburt sei ich zu spät gekommen.
Ich zähle die roten Linien auf dem Sitz vor mir. Elf sind es bis an mein rechtes Knie, das Material feste Baumwolle oder Plastik, in Fäden gewoben, wie die Verbindung zu meiner Familie, die nicht abreißt, die mich bindet, egal, wie weit ich gehe.
Zum ersten Mal verließ ich mein Elternhaus, als ich fünf Jahre alt war, ob von selbst gegangen oder hinausgetrieben, ich weiß es nicht.
Ich packte die alte Arzttasche meiner Mutter, die fortan meine Reisetasche war, und zog hinter die Kastanie in der Zufahrt. Jedes Jahr zog ich ein Stück weiter, bis zu den Pappeln am Bach, wo es kühl war und nach feuchtem Lehm und Moos roch, hinter die Brennnesseln und Ligusterhecken. Bis zu den alten Weiden am Rand der Felder ging ich, wo ich den Garten und meine Mutter noch sehen konnte, bis hinter Großmutters Haus, an den Hügel, in dem die Füchse lebten.
Sie rieben Kräuter, buken Torten und kehrten den Asphalt vor dem Haus, weder Mutter noch Großmutter kamen, um mich zu holen.
Wenn ich dann zurückkam, schickte mich meine Mutter in mein Zimmer oder anderswohin, ganze Tage verbrachte ich an meinem Schreibtisch sitzend, in der Speisekammer wartend, ohne Licht oder mit, je nachdem. Die Lieblingsbestrafung meiner Mutter war der Hausarrest. Ich erhielt ihn wegen kleinerer und größerer Vergehen, seine Länge ließ sich an den Falten erkennen, in die sich ihre Stirn legte, an den Falten um ihren Mund.
Ich frage mich, ob mich das dazu gebracht hat, das Weite zu suchen, oder ob es in einem Menschen angelegt ist, so wie es in meiner Großmutter angelegt war, verbittert zu sein.
Ich erkenne ihn von Weitem. Mit dem Rücken steht er zu mir, eine hagere Gestalt mit braunen Locken, die Hände in den Taschen, kaputte Turnschuhe, löchrig, er wird sie tragen, bis sie von allein von seinen Füßen fallen. Sein Blick sucht mich unter denen, die hinunter in die Wärme des Bahnhofs eilen, fort von den kalten Gleisen. Es wird nicht mehr in meinem Kopf sein, es wird eine Realität sein, sobald wir uns sehen.
Mein Herz klopft, wenn es ihn sieht, wird schneller, immer noch, nach all den Jahren. Sein Rhythmus beruhigt mich für einen Moment und auch seine Hand, die mein Gesicht berührt.
Wir halten uns aneinander fest. Menschen hasten vorbei.
Ich vergrabe mein Gesicht in seinen Schal, in seinen Geruch nach Haut und Schweiß und alter Wolle. Als wir losgehen, ist der Zug längst abgefahren. Ich muss mithalten, immer mit ihm mithalten, zwei Schritte machen, wo Tobi einen macht.
Die ersten Worte sprechen wir im Wagen. Es riecht nach abgestandenem Zigarettenrauch, nach dem Rauch des Großvaters, der uns zum Greißler mitnahm, wo wir Gummischlangen und Brausepulver kauften. Der Rauch versteckt sich im Cord der Sitze, im Plastik des Armaturenbretts, das übersät ist mit kleinen Manga-Figuren und Blumen aus Plastik, goldenem Kitsch und winkenden Katzen. Die Tränen schnüren mir den Hals zu, ich kann kaum reden, ohne zu schluchzen.
Er startet den Wagen, der mit einem Husten anspringt, und ich betrachte seine langen, dünnen Finger, die nahezu unbewegt auf dem Lenkrad liegen. Feine Härchen auf den letzten Fingergliedern. Seine Haut ist hell, ein verblasster Sommer schimmert darin. Eine Brandnarbe am Mittelfinger, als wir Luftballons anzündeten und heißer Gummi auf unsere Hände tropfte. Ich trage dieselbe Narbe, auf der anderen Hand.
Ich kenne jeden Schnitt und Kratzer an Tobis Körper.
Die weißen Haare in seinem Bart mehren sich, erste Lachfalten um die Augen, Katzengold im Grün seiner Augen, unter diesen borstigen Brauen.
Nur Großmutter nannte ihn bei seinem vollen Namen.
Tobias, sagte sie und griff in sein Haar, wenn wir in ihrer Küche auftauchten. Oder steckte ihm Eiskonfekt zu, weil sie wusste, dass er das am liebsten mochte, und ließ mich dann mit ihm gehen, ohne uns Arbeit aufzutragen.
Der Hof seiner Eltern war unser Königreich, mit unzähligen Räumen, die wir zu unseren machten: alte Getreidespeicher und Wirtschaftsräume, Garagen, Schweine-, Kuh- und Pferdeställe, ein Heuboden, der sich über zwei Längen des Gebäudes zog, leer stehende Speicher, deren Böden von einer fingerdicken Staubschicht bedeckt waren, der Staub wirbelte auf, so dicht, dass wir kaum Luft bekamen. Die Holzdielen am Heuboden waren voller Löcher, an denen wir vorbei balancierten, begleitet von der Angst einzustürzen, sechs Meter auf den Boden hinunterzufallen. Mostkeller, Obstkeller, Holzkeller gab es, geheime Verbindungen zwischen Wohnzimmer, Großvaterzimmer und Gang, Treppen, die an versperrte Eisentüren führten, Fenster, die ins Leere gingen.