Titelbild
Titelbild

Mehr über unsere Autoren und Bücher:

www.piper.de

Dies ist ein Roman, und alles ist erfunden.

Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder verstorbenen Personen ist rein zufällig.

ISBN 978-3-492-96990-1

September 2015

© Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2015

Covergestaltung: semper smile, München

Covermotiv: Gutzemberg/shutterstock

Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell

Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.

1

Kapitel

Marianne verspätete sich – wie üblich. Dabei kannte sie die Stelle, an der die Taufe stattfinden sollte, genauso gut wie ich. An mangelnder Ortskenntnis konnte es also nicht liegen.

Hannah hatte mich vor drei Wochen mit der Nachricht überrascht, Jakob taufen lassen zu wollen. Zuerst hatte ich gedacht, sie wolle mich auf den Arm nehmen. »Du willst ihn tatsächlich taufen lassen?«, hatte ich meine Tochter ungläubig gefragt. Seit drei Generationen hatte unsere Familie der Kirche und ihren Ritualen den Rücken gekehrt, auch Hannah war nicht getauft worden.

Aber sie hatte genickt. »An der Elbe, mit Elbwasser, wie es sich für einen richtigen Kehdinger gehört.«

Mir kam sofort der Verdacht, dass es Hannah mehr um das Event als um das Seelenheil meines Enkels gehen könnte. Das passte zu ihr. Sie war schon immer auf ihre Außenwirkung bedacht gewesen, und ein solches Ereignis hatte unter ihren Freunden sicher für Aufregung gesorgt. Eine Taufe an der Elbe. Wow! Wie cool ist das denn? Aber ich hatte den Mund gehalten.

»Evangelisch oder katholisch?«, hatte ich nur noch wissen wollen.

»Evangelisch, die Katholen machen so etwas nicht.«

Ich bog an der kleinen Kirche auf Kalbsand ab, fuhr ein paar Meter am Deich entlang und folgte einem schwarzen Geländewagen die Deichauffahrt hinauf. Ich kannte niemanden aus meiner Familie, der so einen protzigen Wagen fuhr, und als wir auf der anderen Deichseite anhielten, staunte ich über die Gäste meiner Tochter. Auf dem kleinen provisorischen Parkplatz standen neben Hannahs kleinem Polo und den Autos ihrer Freunde noch einige sehr große und sehr teure Limousinen.

Der Pfarrer war ein guter Kenner der Kehdinger Verhältnisse, ich hatte schon bei mehreren Ermittlungen mit ihm zu tun gehabt. Er hatte ein großes Partyzelt aufbauen lassen und darin einen Altar und ein Holzkreuz aufgestellt. Als ich ihn nach der Zeremonie fragte, ob ihm die Kirche nicht mehr gut genug sei, meinte er wörtlich: »Immer nur in der Kirche ist langweilig.« Außerdem sei es nicht die einzige Taufe in diesen Wochen gewesen, er hatte wohl einige Eltern dazu gebracht, ihr Kind mit Elbwasser taufen zu lassen.

An der Seite stand eine kleine Hammondorgel, die ihren Strom aus einer Autobatterie bezog. Die Gäste saßen auf weißen Plastikstühlen, und der Wind pfiff durch die Ritzen. Das kann ja heiter werden, dachte ich, aber ich ließ mir meine Unlust nicht anmerken. Dreißig Jahre war es her, dass ich das letzte Mal in einem Gottesdienst gewesen war. Und das auch nur beruflich. Damals hatte ich einen mit Haftbefehl gesuchten Totschläger am Ende seiner Hochzeit festnehmen können.

Jakob begrüßte mich begeistert. Er war vor ein paar Monaten zwei geworden, und mir ging jedes Mal das Herz auf, wenn ich ihn sah. Er konnte noch nicht artikuliert sprechen, plapperte aber unentwegt und wunderte sich offensichtlich jedes Mal, dass sein Großvater nicht verstand, was er sagte.

Hannah hatte sich fein gemacht, das war zu erwarten gewesen. Dass auch ich mich in Schale geworfen hatte – dunkler Anzug, ein weißes, eigens gebügeltes Hemd und eine dunkle Krawatte –, wurde von Hannah dankbar lächelnd zur Kenntnis genommen. Marianne war noch nicht da.

»Wir sind hier zusammengekommen«, begann der Pfarrer mit dröhnender Stimme, »um gemeinsam die Taufe von Jakob Schlegel und seine Aufnahme in den Schoß der Kirche zu feiern. Später, wenn wir von der Taufe an der Elbe zurückgekehrt sind, werden wir eine besondere Hochzeit feiern. Nikolaus und Elke Brummer haben vor fünfundzwanzig Jahren standesamtlich geheiratet und haben sich entschlossen, nun auch den kirchlichen Segen für ihre Ehe zu erbitten, auf dass sie noch lange so glücklich bestehen möge.«

Als junge Frau war Elke Brummer sicher sehr ansprechend gewesen. Davon war nicht mehr viel übrig geblieben, sie wirkte aufgeschwemmt, und ich hatte den Verdacht, dass ein paar Gläser Likör zu viel pro Tag die Ursache waren. Außerdem hatte sie den missmutigen Gesichtsausdruck älterer Ehefrauen, die sexuell unterversorgt waren. Entweder war der Likör schuld daran, dass ihre Gatten kein Interesse an ihnen hatten, oder sie tranken zu viel, weil die Männer sich schon lange anderen Frauen zugewandt hatten. Bei Elke Brummer tippte ich auf die zweite Möglichkeit und lag nicht weit daneben, wie sich später herausstellen sollte.

Der Name Nikolaus Brummer war mir nicht unbekannt, aber mir fiel nicht auf Anhieb ein, bei welcher Gelegenheit ich ihm schon einmal begegnet war. Schon als ich ihn vor dem Zelt gesehen hatte, hatte ich überlegt, wer dieser unsympathische Kerl sein könnte, der ein paar Meter neben Hannahs Gästen mit herablassender Jovialität Hof gehalten hatte. Ich schätzte ihn auf Mitte fünfzig. Als klar wurde, dass die Brummers nicht zu Hannahs Gästen gehörten, war ich erleichtert.

Ich saß ganz außen in der ersten Reihe, Jakob stand vor mir und hielt sich an meinen Beinen fest. Zur Feier des Tages hatte Hannah ihn festlich angezogen und sich dabei zum Glück von dem Kleidungsstil entfernt, mit dem sie sonst immer ihren Sohn verunstaltete. Sie liebte großflächige hässliche Motive auf Pullovern und Anoraks, die angeblich auch den Zweijährigen so gut gefielen. Ich hatte mich immer gefragt, weshalb ein so kleiner Kerl mit Löwen oder Panthern auf der Brust herumlaufen sollte, die wütend ihre großen Mäuler aufrissen. Auf den Gipfel getrieben hatte sie es, als sie Bettwäsche kaufte, die mit großen schwarzen Totenköpfen verziert war. Auf meine besorgte Frage, ob sie denn wirklich das Gefühl habe, dass Jakob mit diesen Motiven vor Augen besonders selig schlafen könne, hatte sie nur mit den Achseln gezuckt.

Heute trug der Junge eine dunkelblaue Strickjacke mit einigen weißen Streifen. Er erinnerte mich ein wenig an einen Matrosen, und ich fand, dass Hannah diesmal die richtige Symbolik gewählt hatte, schließlich waren wir an der Elbe.

Verwundert betrachtete Jakob den großen Mann, der mit wehendem schwarzem Talar nur ein paar Meter vor uns stand, abwechselnd laut sprach oder zu singen begann. Ich konnte verstohlen die ersten Hochzeitsgäste beäugen, die sich in der rechten Hälfte des Zeltes versammelt hatten. Langsam dämmerte es mir, woher ich den Bräutigam kannte. Nikolaus Brummer war Bauunternehmer und hatte einmal in einem Prozess als Zeuge aussagen müssen.

Es ging damals um eine Schlägerei zwischen Fahrern seiner Firma, von denen einer wegen Körperverletzung angeklagt und dann verurteilt worden war. Im Prozess konnte sich Brummer an nichts erinnern, natürlich, etwas anderes hätte mich auch sehr erstaunt. Der Angeklagte verteidigte sich damit, dass in dem Unternehmen untragbare Bedingungen geherrscht hätten. Als er zu keinen unbezahlten Überstunden bereit gewesen sei und er sich deshalb beschwert habe, sei er von Brummers Leuten erst angepöbelt und dann körperlich angegangen worden. Er habe sich nur gewehrt, das sei sein gutes Recht gewesen.

Brummer wusste davon nichts, das behauptete er jedenfalls, in seiner Firma würden alle Standards eingehalten, er schicke keine Rollkommandos los, um aufmüpfige Fahrer zur Raison zu bringen. Stolz erzählte er, man habe ihn erst letztes Jahr zum »Unternehmer des Jahres« auf Kreisebene gewählt, und das hätte man wohl kaum getan, wenn in dem Unternehmen solche Zustände herrschen würden, wie der Angeklagte behauptete. Ich wusste, dass Brummer log, doch ich konnte es nicht beweisen. Für die zwei gebrochenen Nasenbeine bekam der Angeklagte eine Bewährungsstrafe. Und die Kündigung natürlich.

Hinter dem Pfarrer tauchte Marianne auf. Endlich.

Nicht einmal zur Taufe ihres Enkels schaffte sie es, rechtzeitig zu erscheinen. Hoffentlich hält sie wenigstens den Mund und redet nicht wie sonst ohne Punkt und Komma, dachte
ich.

Die Orgel quäkte die Melodie von Paul Gerhardts »Geh aus, mein Herz, und suche Freud«, und alle stimmten ein. Marianne stand direkt hinter dem Pfarrer, und ihre Altstimme war so laut, dass er sich erschrocken umdrehte. Sie nickte verlegen, sang aber unbeirrt weiter und setzte sich neben Hannah, die ihr den Stuhl frei gehalten hatte.

Wenigstens hatte sie so viel Anstand, nicht ihren neuen Liebhaber mitzubringen, mit dem sie seit drei Jahren zusammenlebte. Wolfgang Schneider war mir von Anfang an unsympathisch gewesen. Aufdringlich und gönnerhaft war er mir vorgekommen, als ich ihn das erste Mal bewusst gesehen hatte. Er war ein Kollege von ihr, Marianne unterrichtete Deutsch und Geschichte am Athenäum in Stade, einem alten Gymnasium, das viel auf seine lange Geschichte hielt.

Lehrer konnte ich noch nie ausstehen: Als Schüler waren sie meine natürlichen Feinde gewesen, und als Erwachsener waren sie mir zu rechthaberisch. Hannah hatte als Achtklässlerin, um ihre Mutter zu ärgern, eine Karte an die Tür gehängt, auf der der damals sehr populäre Spruch stand: »Lehrer haben morgens immer recht und nachmittags immer frei.« Marianne war ausgerastet. Ich hatte etwas mehr Souveränität von Marianne erwartet und gemeint, sie solle das doch bitte als Witz verstehen, aber sie steigerte sich immer mehr in Rage. Am Ende kam dabei eine heftige Ehekrise heraus, von der wir uns dann nie wieder richtig erholten. Sie warf mir all das vor, was sie ein paar Jahre zuvor noch als besonders lobenswert herausgestellt hatte. Aus meiner bedächtigen Art war Langeweile geworden, plötzlich beharrte ich auf lebensfernen Grundsätzen, mein kleines Bäuchlein war jetzt eine Wampe, und im Bett war es mit mir schon immer eintönig gewesen.

Ob sie denn andere Erfahrungen habe, hatte ich spitz nachgefragt, denn meines Wissens war ich Mariannes erster und einziger Mann gewesen. Sie hatte nur wütend geschnaubt, doch ein paar Monate später stellte sich heraus, dass sie sehr wohl Erfahrungen gesammelt hatte. Mit einem Kollegen. Wir sprachen uns aus, ich verzieh ihr, konnte es sogar ein wenig verstehen, dass sie mal jemand anderen ausprobieren wollte. Aber dass der Auserwählte ein Gewerkschaftsfunktionär mit Cordanzug und Lederflicken auf den Ellbogen gewesen war, kränkte mich sehr. Außerdem trug er einen Schnauzbart, eine Mode, die sie immer nur verspottet hatte. Sie beichtete mir heulend, dass der Kerl genauso langweilig gewesen sei wie ich. Das hatte sie nett gemeint und überhaupt nicht gemerkt, was sie eigentlich gesagt hatte. Doch mir war sofort klar gewesen, dass sie nur auf die nächste Gelegenheit wartete, um den Absprung zu wagen.

Ein paar Jahre lang bemühten wir uns, aber unsere Beziehung hatte sozusagen eine Delle. Wir schliefen nur noch ein paar Mal miteinander, Spaß machte es keinem von uns, schließlich zog sie in ein eigenes Schlafzimmer. Als Hannah in der Zwölften war, erschien Wolfgang auf der Bildfläche: groß, sportlich, zuvorkommend. Marianne probierte ihn sofort aus, er war kaum vier Wochen an der Schule. Außerdem begann in dieser Zeit die Sache mit Annemarie. Nach ein paar weiteren Monaten reichte meine Frau die Scheidung ein.

»Ich bitte die Gemeinde, sich zu erheben«, sagte der Pfarrer, den ich kaum verstand – so laut blies der Wind um die Ecken des Plastikzeltes. Er betete das Vaterunser, und ich sah verstohlen zu Marianne. Die überzeugte »hedonistische Atheistin«, wie sie sich gerne bezeichnete, sprach das Gebet mit. Hannah bewegte nur die Lippen.

Hinterher kletterte Jakob auf meinen Arm, und wir gingen gemeinsam zum Strand. Aber schon nach ein paar Metern wollte er wieder selbst laufen, und ich setzte ihn ab. Selbst bei normaler Wetterlage wäre es sicher kein Spaß gewesen, zu dieser Jahreszeit barfuß und mit hochgekrempelten Hosenbeinen in die Elbe zu steigen, aber dieser April war dazu noch der kälteste, seit es Wetteraufzeichnungen gab. Und der nasseste. Ich musste grinsen, als ich sah, dass unter dem Talar des Pfarrers ein Neoprenanzug herausschaute. Ohne Bedenken stiefelte er bis zum Knöchel in die Elbe. Hannahs Cousine Emma war die Taufpatin und überhaupt nicht auf diese Art der Taufe vorbereitet. Sie war mit High Heels über den Deich gekommen und schon ein paar Meter hinter dem Zelt mit ihren Absätzen im Sand versunken.

Marianne stellte sich neben mich, sagte: »Hallo«, und hielt mir auffordernd ihr Gesicht hin, damit ich sie küsste. Ich wollte keinen Streit provozieren, vor allen Dingen nicht vor Jakob, hauchte ihr rechts und links so etwas wie einen Kuss an die Backe und sagte ebenfalls: »Hallo.«

»Wie geht’s?«, erwiderte sie, doch schon während ihrer Frage wandte sie sich von mir ab. Es interessierte sie überhaupt nicht.

»Gut.«

Der Pfarrer redete leise mit Hannah, die Jakob auf den Arm genommen hatte. Er sagte noch etwas zur Patin und ließ dann dreimal im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes eine Handvoll Wasser über Jakobs Kopf laufen. Der Wind blies das meiste davon zum Strand hin, von wo aus wir das Geschehen verfolgten. Die ganze Zeremonie gefiel mir besser, als ich gedacht hatte. Der Pfarrer hatte eine lustige Ernsthaftigkeit an sich. Bestimmt glaubte er tatsächlich an das, was er sagte. Außerdem war er bekannt für skurrile Austeilungen des Sakraments. Eheschließungen im Heißluftballon oder unter Wasser im Schwimmbad waren für ihn keine besonderen Herausforderungen. So erklärte sich auch der Neoprenanzug.

Sein Talar wurde am Ende doch noch richtig nass, denn während er dem Kind das Wasser über den Kopf schüttete, erreichten die Bugwellen eines großen Schiffes das Ufer. Die Elbe erinnerte für einen kurzen Moment an ein Meer, mit sich überschlagenden Wogen und Schaumkronen. Schon während der Fürbitte hatte ich durchs Zeltfenster die Frachter auf dem Fluss betrachtet, die mit ihren bunten Containergebirgen ein farbiges Zeichen in die graue Landschaft setzten.

Marianne nahm Hannah den Kleinen ab, und als sich alle wieder die Schuhe angezogen hatten, ging der Pfarrer zum Zelt zurück und begann mit der Hochzeitszeremonie. Es waren sehr viel mehr Gäste als vorhin, und ich fragte mich, warum die anderen schon bei Jakobs Taufe anwesend gewesen waren, vielleicht hatten sie sich einfach nur in der Zeit geirrt. Ich kannte einige von ihnen, darunter den Bürgermeister und den Leiter der örtlichen Polizeidienststelle, doch was mich am meisten überraschte, war die Anwesenheit von Fräulein Siegel.

Hannah hatte einen Drachen vorbereitet, auf dem Emma ihre guten Wünsche für ihr Patenkind notiert hatte. Es war ein schönes Bild, als sie barfuß am Strand entlangrannte – ihre High Heels lagen irgendwo im Sand – und ihre Wünsche für Jakob in den Himmel schickte. Emma war schon immer meine Lieblingsnichte gewesen. Sie war groß, schlank und hatte ein kluges, offenes Gesicht, dazu war sie warmherzig und steckte immer voller guter Ideen. Ihr Patenkind rannte an der Hand seiner Mutter hinterher. Wie auf ein Zeichen frischte der Wind auf, ließ das Drachensteigen zum Kinderspiel werden, und sogar die Sonne schien ein paar Minuten zwischen den dunklen, tief hängenden Wolken.

Der Strand war sehr belebt, dauernd kamen neugierige Spaziergänger vorbei und nervten mit witzig gemeinten Kommentaren. Ich wunderte mich über die vielen Hunde, die sie dabeihatten. Jakob begann zu weinen, als drei riesige Leonberger wie in Zeitlupe über den Strand und durch das Wasser liefen und dann ein paar Meter von uns entfernt das Fell ausschüttelten. Dem Besitzer war es nicht peinlich, dass einige von uns der unfreiwilligen Dusche nicht ausweichen konnten, er entschuldigte sich auch nicht für das Verhalten seiner Hunde, sondern lachte nur und lief weiter. Er war um einiges größer als ich und bewegte sich, als hätte er zu viel Testosteron im Blut. Ich überlegte, ob ich ihn schon einmal gesehen hatte, seine Statur und die Art, sich zu bewegen, waren nicht gerade alltäglich, aber ich erinnerte mich nicht.

Gesichter erkenne ich mit großer Treffsicherheit, wenn ich mit jemandem einmal beruflich zu tun gehabt habe. Seine oder ihre Physiognomie hat sich dann in meinem Kopf eingebrannt. Manchmal muss ich ein bisschen graben und scharf nachdenken, aber dann fallen mir die Zusammenhänge wieder ein. Privat ist es ganz anders. Man hat mir schon Arroganz und Desinteresse vorgeworfen, wenn ich mein Gegenüber nicht sofort erkannt habe, aber das stimmt nicht. Ich kann mir private Gesichter einfach nicht merken.

»Sind wir jetzt fertig?«, fragte Marianne ungeduldig. »Wir fahren zu uns. Kaffeetrinken.«

Hannah sah mich kurz an, ich wusste, dass ich jetzt nicht ablehnen konnte. Es war das erste Mal, dass ich wieder in unser altes Haus im Schwedenviertel von Stade zurückkehrte. Als ich auszog, hatte ich mir geschworen, es nie wieder zu betreten, aber Hannahs Blick ließ mir keine Wahl. Sie hätte es mir nicht verziehen, wenn ich mich schon jetzt verdrückt hätte.

Unsere Tochter war zwar nicht das einzige Bindeglied, das es zwischen Marianne und mir noch gab – selbst wenn man geschieden ist, muss man noch viele Dinge gemeinsam regeln. Nachdem die Scheidung eingereicht war, forderte mich Marianne auf, aus dem Haus im Uppsalaweg auszuziehen, es gehöre schließlich ihr, und Hannah könne in ihrer gewohnten Umgebung bleiben. Ich hatte keine Wahl und nahm mir eine kleine Zweizimmerwohnung in der Bungenstraße.

»Hallo, Paul«, sagte Wolfgang, als er die Haustür öffnete. Ich wäre am liebsten umgekehrt. »Wie geht’s?«

»Gut.«

Ich redete kein weiteres Wort mit ihm, was hätte ich ihm auch sagen sollen? Hannah hatte einige ihrer Freunde eingeladen, junge Leute, die nicht mit an die Elbe gekommen waren und die nach dem Kuchen dauernd mit ihren Smartphones herumspielten, statt sich zu unterhalten. Marianne und Wolfgang bewegten sich souverän unter ihnen, sie wurden auch in ihre Gespräche einbezogen, sofern es denn welche gab. Ich stand meistens am Rand und hielt mich an meiner Kaffeetasse fest.

Meine Exfrau war in ihrem Element, und niemand wagte es, ihren Wortschwall zu unterbrechen – zu Beginn unserer Liebe war mir das noch gelungen, doch irgendwann hatte ich wie viele andere aufgegeben. Vermutlich wussten die wenigsten der Gäste überhaupt von meiner Existenz, sie gingen wohl davon aus, dass Wolfgang Hannahs Vater sei.

Schon zu Studentenzeiten waren mir die Menschenansammlungen auf Riesenpartys kein Ansporn gewesen, neue Leute kennenzulernen. Viel lieber hatte ich mich mit ein paar Bekannten in eine Ecke verzogen. Ich bewunderte diejenigen, die ohne große Probleme mit fremden Leuten ins Gespräch kamen und ab und zu sogar eine nächtliche Bekanntschaft abschleppten. Allerdings empfand ich das nicht als Makel, ich hatte auch keine Schwierigkeiten, jemanden ins Bett zu kriegen, nur eben nicht, wenn mehr als zehn Leute zusammenstanden. Dann verstummte ich meistens.

Bei offiziellen Gelegenheiten hingegen war es ganz anders. Ich hatte mich an der Uni ein paar Semester in der Fachschaft engagiert, und Ansprachen vor gut gefülltem Audimax machten mir überhaupt nichts aus.

In den ersten Monaten nach der Trennung von Marianne hatte mich Hannah regelmäßig besucht, meist nach der Schule. Sie blieb in ihrem Zimmer wohnen, so wie Marianne es vorgesehen hatte, selbst als der neue Liebhaber einzog. Offenbar sollte damit die Illusion einer weiterbestehenden Familie aufrechterhalten werden, eben nur mit einem ausgetauschten Mann.

Traf Hannah mich nicht an, legte sie jedes Mal eine Notiz in den Briefkasten. Als das Abitur näher rückte, wurden die Besuche seltener, bis sie eines Abends heulend vor der Tür stand. Sie hatte sich mit Marianne und Wolfgang so zerstritten, dass sie nicht mehr dort wohnen wollte. Hannah zog für einige Wochen bei mir ein. Erst nach und nach kam heraus, dass sie schon seit mehreren Monaten nicht mehr zur Schule gegangen und nicht zum Abi zugelassen worden war. Sie war regelrecht abgestürzt, trieb sich während der Wochenenden durch alle Diskotheken des Umkreises und verbrachte viele Nächte in verschiedenen Betten. Ich bot ihr Hilfe an, doch sie lehnte ab und behauptete, ihr gehe es prächtig und sie habe einfach keinen Bock auf Schule und Abistress.

Irgendwann wurde es mir zu bunt, sie war neunzehn, und ich fand, sie könne langsam vernünftige Entscheidungen über ihr Leben treffen, statt sich nur treiben zu lassen und jedes Wochenende mit jemand anderem zu vögeln. Als ich sie aus der Wohnung meines Nachbarn schleichen sah, der ungefähr so alt war wie ich, hatte ich die Nase voll und warf sie hinaus. Sie kaufte sich ein Interrailticket, kam bis nach Portugal und blieb dort ein halbes Jahr, in dem sie nur ein einziges Mal anrief und weder Briefe noch E-Mails schickte.

Eines Abends stand sie dann vor meiner Tür, ihr Bauch war nicht zu übersehen, sie war schwanger mit Jakob und wusste nicht weiter, wusste nicht einmal, wer der Vater ihres Kindes war.

»Bleibst du zum Abendessen?«, fragte Hannah, und natürlich war es keine Frage, sondern eine Aufforderung. Ich nickte.

Es gab Spargel.

»Ich möchte mal um Ruhe bitten!«, sagte Wolfgang und schlug mit dem Löffel an sein Glas.

Er benahm sich, als wäre er Gastgeber, Vater und Großvater in Personalunion. Ich hielt es kaum aus und stand auf, als mein Handy mich erlöste.

»Paul Schlegel«, meldete ich mich leise, ohne aufs Display zu sehen.

»Wir haben einen Toten«, sagte Dirk Hildebrand.

Gott sei Dank, dachte ich.

2

Kapitel

Ich kannte die Stelle, wo der Tote gefunden worden war. Zum zweiten Mal an diesem Tag bog ich an der kleinen Kirche auf Kalbsand ab, fuhr ein paar Meter am Deich entlang und die Deichauffahrt hoch. Hinter einem Obsthof sah ich die blauen Lichter blinken. Die Kollegen hatten über dem Fundort ein weißes Zelt aufgebaut. Es stand in unmittelbarer Nähe des anderen, in dem wir vor ein paar Stunden noch gefeiert hatten. Inzwischen regnete es in Strömen, und der Wind hatte seit heute Morgen auch nicht nachgelassen. Die Männer in den weißen Einmaloveralls der Spurensicherung bewegten sich geschäftig hin und her. Der Polizeifotograf war ebenso da wie Dirk Hildebrand, Kriminalkommissar aus Stade.

So lief es immer ab, dachte ich. Bei der Kripo hatte man einfach kein Privatleben. Das Scheitern meiner Ehe hatte auch mit meinem Beruf zu tun. Welcher Frau gefällt es, wenn das Telefon ausgerechnet dann klingelt, wenn man vergnügt auf dem Bett turnt und der eben noch schwer erregte Liebhaber zu einer Leiche gerufen wird? Marianne und mir war das zu Beginn unserer Beziehung einige Male passiert. Als sie noch mit Begeisterung bei der Sache war, konnte sie manchmal sogar darüber lachen (»Wenn du zurückkommst, bin ich schon fertig«), später hatte sie vor Ärger und Frust geheult.

Ich hatte eigentlich vorgehabt, Hannah heute Abend zu meiner Wohnung mitzunehmen, den Kleinen in meinem Bett zum Schlafen zu bringen und dann ein paar Stunden mit ihr zu reden. Als ich den Trubel hier sah, war mir klar, dass daraus nichts werden würde.

Er war übel zugerichtet worden, das Gesicht war mit Blut verschmiert, aber ich erkannte ihn sofort. Vor ein paar Stunden war er schon einmal hier gewesen, wir hatten im gleichen Zelt gesessen, jetzt lag Nikolaus Brummer tot zwischen den Pappeln und dem Deich. Welch traurige Ironie, dachte ich, heute Morgen hatte er in einem Zelt vor dem Pfarrer gestanden und wollte dessen Segen für seine Ehe, jetzt lag er unter einem anderen und benötigte nur noch den Segen für die letzte Ruhe.

»Wer hat ihn gefunden?«, fragte ich Hildebrand. »Und wann?«

»Der Tote heißt Nikolaus Brummer«, begann er.

Ich unterbrach ihn nicht und ließ ihn in dem Glauben, ich würde den Mann nicht kennen.

»Ein Hundebesitzer, der mit seinen Kötern unterwegs war, hat ihn gefunden. Hier ist doch der Hundestrand. Der Mann sitzt gerade im VW-Bus und gibt seine Aussage zu Protokoll.«

»Ich will ihn sprechen«, sagte ich und begann mich umzusehen. Hundestrand also, deshalb waren bei der Taufe so viele Leute mit ihren Hunden unterwegs gewesen. Ich streifte den Plastikschutz von meinen Schuhen und lief zum Strand.

Jetzt war niemand mehr unterwegs. Die Elbe floss schnell und erbarmungslos in Richtung Nordsee und riss ausnahmslos alles mit, was sich ihr in den Weg stellte, selbst große Bäume konnten dem Sog manchmal nicht widerstehen. Ich schätzte den Wind auf Stärke acht. Ein paar Segler ließen sich davon aber nicht abhalten und schossen mit ihren Booten über das Wasser. Viele meiner Kollegen waren begeisterte und gute Segler, doch ich sah den Schiffen lieber vom Ufer aus zu, als selbst eines zu steuern. Auch diesmal konnte ich meinen Blick kaum von den mit dem Wind kämpfenden Seglern abwenden, einige Boote hatten eine solche Krängung, dass mir schon vom Zusehen schwindlig wurde.

Ich drehte mich um und schätzte die Entfernung zum Strand. Der Fundort lag tief im Pappelwäldchen. Was hatte der Spaziergänger dort zu suchen gehabt?, fragte ich mich.

Ich wurde unruhig – wie immer, wenn ich Fund- oder Tatorte inspiziere und mir unbewusst eine Unregelmäßigkeit auffällt. Etwas, das den Gesamteindruck unerwartet verschiebt. Langsam ließ ich meinen Blick von rechts nach links wandern, wechselte die Richtung, drehte mich um und versuchte es aufs Neue.

Als ich wieder den kleinen Wald betrat, wusste ich, was mich irritiert hatte. Auf dem Boden hatte jemand ein etwa vier mal fünf Meter großes Areal akkurat abgesteckt und den Untergrund – bis auf den Sand – sorgfältig gesäubert und fein geharkt. Auf dem Gelände lagen in wilder Unordnung einige Schilfstücke, die mit einem Messer oder einer Schere auf die exakt gleiche Länge gebracht worden waren. Ich hatte die Anordnung vom Ufer aus als hellere Fläche bemerkt, aber nicht einordnen können.

»Land-Art«, sagte Hildebrand, als er mein fragendes Gesicht sah. »Stammt von einem Künstler, der das im Auftrag des Kunstvereins gemacht hat. Neben dem Toten ist auch so ein Kunstobjekt.« Hildebrand zeigte zum Tatort. Tatsächlich war zwischen den Pappeln und dem Deich eine Reihe von Eichenpfählen in den Boden gerammt worden.

Ich ärgerte mich, weil mich Hildebrand erst darauf hinweisen musste, dass es sich um Land-Art handelte. Natürlich hatte ich davon in der Zeitung gelesen, ich interessiere mich sehr für moderne Kunst und habe Andy Goldsworthys Land-Art-Projekte immer mit großer Begeisterung verfolgt. Der Künstler hier erreichte nicht die Qualität der ganz Großen, aber was ich sah, fand ich nicht schlecht. Die zehn in den Boden gerammten Eichenpfähle waren unbearbeitet, davor lagen auf dem Gras neun exakt geschliffene Holzstücke. Sie waren unterschiedlich groß, und ich merkte, was der Künstler ausdrücken wollte. Die rohen Pfähle standen akkurat, die behandelten lagen wahllos herum.

»Beeindruckend, nicht?«, sagte ich zu Hildebrand, aber der sah mich nur fragend an.

»Brummer ist erschlagen worden«, meinte er.

»Was sagt der Arzt zum Todeszeitpunkt?«, wollte ich wissen.

»Vor zwei Stunden, schätzt er, will sich aber nicht genau festlegen.«

Ich kannte das, wusste aber auch, dass die Schätzung bei der Obduktion meistens bestätigt wurde.

»Wir haben jetzt Viertel nach sieben«, dachte ich laut nach.

Hildebrand nickte, und ihm lief dabei der Regen von der Kapuze ins Gesicht. »Kreienbohm schätzt zwischen fünf und halb sechs.«

»Wissen Sie, ob es da auch so geregnet hat?«

»Es hat noch viel mehr gegossen als jetzt. Normalerweise geht man da nicht ohne Regenklamotten raus. Der Mörder muss danach klatschnass gewesen sein.«

»Oder die Mörderin«, ergänzte ich.

Mich streifte der Gedanke, wie viel Glück wir bei der Taufe gehabt hatten. Eigentlich war heftiger Regen angesagt gewesen, er hatte aber erst nach unserem Strandausflug eingesetzt.

»Wollen Sie den Toten noch einmal sehen, bevor er abtransportiert wird?«, fragte Hildebrand.

Nikolaus Brummer trug noch immer seinen Festtagsanzug, selbst die hellgraue Fliege, die farblich genau zur Anzugweste passte, hatte er um. Allerdings war sie verrutscht und voll von nassem Sand. Er lag mit dem Gesicht nach unten und sah aus, als hätte er wirklich ins Gras beißen müssen. Er war vollkommen durchnässt.

Ich betrachtete die blutverschmierte Wunde. Wenn ich mich nicht täuschte, war der Schlag gegen seine Schläfe die Todesursache.

»Andere Verletzungen?«, erkundigte ich mich bei Dr. Kreienbohm, der inzwischen zu uns getreten war.

»Bis jetzt war noch nichts festzustellen, nach der Obduktion kann ich mehr sagen.«

Kreienbohm leitete seit über dreißig Jahren die Rechtsmedizin, er war präzise bis zur Pedanterie.

»Seid ihr fertig?«, wandte ich mich an die Kollegen von der Spurensicherung, die zustimmend nickten. Auch ich hatte genug gesehen. »Dann kann der Tote jetzt in die Rechtsmedizin gebracht werden«, sagte ich und wandte mich an Hildebrand. »Weiß seine Frau schon Bescheid?«

Hildebrand wusste, dass ich nicht der Richtige war, um die Todesnachricht zu überbringen. Das war früher anders gewesen – bis ich vor einigen Jahren einer jungen Frau, sie war höchstens Mitte zwanzig, die Nachricht überbringen musste, dass ihr Freund beim Aufschließen seines Wagens von einem anderen Auto erfasst worden war. Es hatte ihn mehrere Meter durch die Luft geschleudert, und er war auf die Fahrbahn gefallen, wo er von einem Lastwagen überrollt wurde. Sie hatte mit Entsetzen reagiert, das hatte ich erwartet, wir werden für solche Situationen geschult. Als sie mich bat, ihr aus der Küche ein Glas Wasser zu holen, stand ich auf und wunderte mich nicht, als ich sie ins Badezimmer gehen sah. Sie hatte die Tür abgeschlossen, das Fenster geöffnet und war ohne Zögern aus dem vierten Stock gesprungen. Ich hatte ahnungslos im Wohnzimmer auf ihre Rückkehr gewartet, das Wasserglas angestarrt und mich gewundert, die Toilettenspülung nicht zu hören. Erst als die Kollegen aus dem Streifenwagen, die vor der Tür auf mich warteten, Sturm klingelten, ahnte ich, dass etwas Schreckliches geschehen sein musste. Die Frau war im dritten Monat gewesen. Ich brauchte Jahre, um darüber hinwegzukommen.

»Ja, wir haben sie benachrichtigt«, erwiderte Hildebrand. »Frau Brummer war zum Todeszeitpunkt schon nach Hause gefahren. Darüber habe ich mich sehr gewundert. Man feiert doch nicht seine Silberhochzeit und fährt dann getrennt nach Hause?«

»Ich brauche eine genaue Aufstellung, was Nikolaus Brummer den Tag über gemacht hat und mit wem er zusammen war.« Ich drehte mich um und wollte zu meinem Wagen gehen, als Hildebrand meinte: »Sie wollten doch den Mann sprechen, der ihn gefunden hat. Er wartet auf Sie.«

Seine Hunde kannte ich, sie lagen einige Meter vom Bus entfernt im Gras und verharrte träge. Es waren die drei Leonberger, die die Taufgäste nass gespritzt hatten.

»Sind Sie jeden Tag so oft am Strand?«, sagte ich zur Begrüßung.

»Woher wollen Sie das wissen?«

»Jedenfalls waren Sie heute Morgen auch hier, ich habe Sie da gesehen.«

»Ist das strafbar?« Sein Ton wurde aggressiv.

Ich schüttelte den Kopf. »Erzählen Sie einfach, was passiert ist.«

Der Mann stellte sich als Hans-Christian Bloch vor und beruhigte sich wieder ein wenig. Er erzählte, dass er eigentlich nie in das Wäldchen gehe, denn die Hunde liefen lieber am Strand entlang. Sie seien schon etwas älter, und es dauere genau eine Stunde vom Anleger bis hier und zurück. Er mache das zweimal am Tag, einmal morgens und einmal abends, die Hunde benötigten viel Auslauf.

Ich hörte ihm ungeduldig zu. Hunde waren auch Mariannes Leidenschaft, wir hatten eigentlich immer einen oder zwei gehabt, doch Erzählungen über ihre individuellen Eigenschaften ermüdeten mich immer.

»Kommen Sie bitte zur Sache«, meinte ich.

»Bei der Abendrunde vorhin sind die Hunde ganz plötzlich in den Wald gelaufen und haben wie verrückt gebellt. Ich habe sie gerufen und mit meiner Trillerpfeife gepfiffen, aber es hat nichts genützt.«

Wann das gewesen sei, wollte ich wissen.

»Um kurz vor sechs. Wissen Sie, Leonberger sind keine Jagdhunde, sie verbellen normalerweise keinen Fund. Deshalb habe ich mich so gewundert, dass sie wie an der Leine gezogen in den Wald gerannt sind. Und dann habe ich die Leiche gesehen.«

»Haben Sie etwas angefasst?«

»Natürlich nicht«, meinte Bloch empört, »für wie blöde halten Sie mich?«

Ich ging auf seine Entrüstung nicht ein: »Ist Ihnen sonst noch etwas aufgefallen? War vielleicht noch jemand in der Nähe?«

»Nichts, es hat gegossen wie aus Kübeln, ich war ganz allein.«

»Vielen Dank, das war’s schon. Ihre Adresse haben wir ja. Vielleicht habe ich noch ein paar Fragen, dann melde ich mich.«

Bloch kletterte aus dem Bus, pfiff nach seinen Hunden, die sich schwerfällig erhoben und langsam hinter ihm hertrotteten. Er wanderte unaufgeregt am Strand zurück zum Anleger. Ich wäre nicht so cool, dachte ich, wenn ich eine Leiche gefunden hätte.

Am Auto erwartete mich Hildebrand.

»Sie kannten Brummer?«, fragte er mich erbost. »Da hätte ich mir eine Menge Arbeit ersparen können.«

»Ich brauche eine Auflistung aller Hochzeitsgäste«, sagte ich, ohne auf seinen vorwurfsvollen Ton einzugehen. »Morgen früh, wenn möglich.«

»Wir arbeiten schon daran. Wollen Sie die Gästeliste der kirchlichen Feier oder der privaten danach?«

»Beide. Da wird sich bestimmt einiges überschneiden.«

»Ich hoffe«, sagte Hildebrand, »dass ich das schnell hinbekomme. Ich habe mit der anderen Sache viel um die Ohren.«

Ich wusste, was er meinte: Vor ein paar Wochen waren im Stader Rotlichtmilieu einige Bundeswehrpistolen aufgetaucht, die aus irgendeinem Einbruch stammen mussten. Hildebrand hatte den Fall übernommen und arbeitete sich derzeit durch die entsprechenden Clubs, Bars und Bordelle. Viel herausbekommen hatte er noch nicht, die entsprechende Klientel ist ja nicht gerade für ihre Zusammenarbeit mit der Polizei bekannt. Es hatte eine Schießerei am Bahnhof mit zwei Schwerverletzten gegeben, von denen der eine nach wie vor nicht identifiziert war, denn er lag noch immer im Koma. Außerdem hatten wir eine Walther P1 beschlagnahmt.

Ich fuhr im strömenden Regen nach Stade und hatte großen Hunger. Zurück in den Uppsalaweg wollte ich auf keinen Fall, alle hätten neugierig nach den Einzelheiten gefragt, und ich wollte Hannah nicht den Abend verderben. Es hätte sie sehr mitgenommen, wenn sie erfahren hätte, dass jemand, der – zwar ungebeten, aber immerhin – Gast bei Jakobs Taufe gewesen war, nur ein paar Stunden später tot unter den Bäumen gelegen hatte.

Als ich die Wohnungstür aufschloss, fiel mir ein, dass ich bei Marianne keinen Hund gesehen hatte.