Pretschistenka: Die Straße verläuft vom Kreml zum Neujungfrauenkloster und war von zahlreichen Palais gesäumt, Alexander Herzen nannte sie »den Moskauer Faubourg St. Germain«, weil in den adligen Salons sozialrevolutionäre Ideen etwa der Dekabristen vertreten wurden.
Sokolniki: Ein Bezirk im Osten von Moskau, seit dem 19. Jahrhundert ein Park- und Datschengebiet.
»Celeste Aida«: »Göttliche Aida«, Arie des Feldherrn Radames aus Giuseppe Verdis Oper Aida, einer der Lieblingsopern Bulgakows.
»… an Schikanen über sich ergehen lassen!«: In einer früheren Version lautete der Text an dieser Stelle: »Aber was muss sie der Fil-de-perse wegen an Schikanen über sich ergehen lassen. Er macht es ihr schließlich nicht auf irgendeine halbwegs normale Art und Weise, sondern unterzieht sie der französischen Liebe. Echte Bastarde, diese Franzosen, mal ganz unter uns gesagt. Mampfen fleißig, viel Rotwein dazu. Tja …« Bulgakow strich die Passage, um einen möglichen Vorwurf der Pornographie zu entkräften.
»Ihre rechte Lungenspitze ist angeschlagen …«: In der zitierten früheren Fassung: »Ihre rechte Lungenspitze ist angeschlagen, sie ist unpässlich (französischhalber) …«
Lumpi: Im russischen Original wird der Hund »Šarik« (Bällchen) genannt, was ein typischer Hundename ist.
Ochotny Rjad: Ein großer Moskauer Markt, der noch Anfang des 20. Jahrhunderts als Symbol für Überfluss und Moskauer Gastfreundschaft stand.
»… das Stofftransparent ›Ist Verjüngung möglich?‹«: Das Transparent spielt auf das Forschungsgebiet des österreichischen Physiologen und Sexualforschers Emil Steinach (1861–1944) sowie des aus Russland stammenden französischen Physiologen Serge Voronov an; Steinach war der bekannteste Hormonforscher seiner Zeit, wurde in den 1920er Jahren elfmal für den Nobelpreis vorgeschlagen und stellte 1922 seine Arbeit in einem Dokumentarfilm auch dem Kinopublikum vor. Nach dem sogenannten Steinach’schen Verfahren werden die Samenleiter durchtrennt, um die körpereigene Produktion von Testosteron anzuregen und einen Verjüngungseffekt zu erzielen. Voronov führte seit 1920 Transplantationen von Affenhoden in alternde Männer durch; 1928 erschien sein Buch Die Eroberung des Lebens. Das Problem der Verjüngung auch in deutscher Übersetzung.
Mosselprom: »Upravlenie moskovskoj sel’skoj promyšlennosti«, Kaufhaus einer landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft, für das der Dichter Wladimir Majakowski den gereimten Slogan: »Ausschließlich vom / Mosselprom.« (»Nigde krome, / kak v Mossel’prome«) entwickelt hatte, auf den Bulgakow hier anspielt.
»Und Fjodor Pawlowitsch?«: Gemeint ist der Nachbar Fjodor Pawlowitsch Sablin. Sablina war der Mädchenname von Bulgakows Schwiegermutter aus zweiter Ehe (mit Ljubow Beloserskaja).
M. S. P. O. METZGERWAREN: »Moskovskij sojuz potrebitel’skich obščestv«, Moskauer Union der Konsumgesellschaften.
»… früheren Eigentümer Tschitschkin«: Andrej Tschitschkin, ein russischer Unternehmer, vor allem in der Milchindustrie.
»… streng riechenden Backsteiner«: Ein würziger Weichkäse im Backsteinformat.
»Frühere Gebrüder Jelissejew …«: Ein 1820 von den Brüdern Jelissejew in St. Petersburg gegründetes Feinkostgeschäft, dessen Moskauer Dependance 1899 in der Twerskaja eröffnete. In der Sowjetzeit hieß das legendäre Geschäft »Gastronom Nr. 1«.
Von Sevilla bis Grrranada/klingt im Dämmerschein der Nacht …: Aus dem Ständchen des Don Juan, Serenada Don Žuana, Text: Alexej Tolstoi (1817–1875), Musik: Peter Tschaikowski, deutsche Übersetzung: Bruno Tutenberg (1887–1968), ein populäres Kunstlied.
Terror: Die Bolschewisten verwendeten das Wort offiziell für ihre Kampf- und Vernichtungsmaßnahmen, es gab sogar eine Zeitschrift »Krasnyj terror« (Der rote Terror).
»… von mir aus kann er selbst lila sein!«: Im Original ist von »braun« die Rede, was im Deutschen freilich eine vollkommen andere Assoziation auslösen würde.
Sollte wer zu preisen wagen / eine andere als dich …: Ebenfalls aus dem Ständchen des Don Juan.
»Der verflixte Trufeknowi!«: »Žirkost’: Trest žirovoj i kostepererabatyvajuščej promyšlennosti«, Trust für Fett- und Knochenverarbeitungswirtschaft, dessen Produkte auch der Herstellung von Kosmetika dienten.
»… dieser Moritz …«: Bulgakow spielt auf seinen Freund, den Kunstwissenschaftler und Frauenhelden Wladimir Emiljewitsch Moritz, an.
»Ich bin doch eine öffentliche Person …«: Anspielung auf Christian Georgijewitsch Rakowski (1873–1941), Arzt, einen der Begründer der Kommunistischen Internationale. 1923 war er Sondergesandter, 1924 Botschafter in London, 1925–28 dann in Paris, angeblich hatte er eine Vorliebe für Minderjährige. Dies ist eine der Stellen, an denen die Zensur eingriff, sowohl die »öffentliche Person« als auch »London« wurden gestrichen und durch »zu bekannt« bzw. »Dienstreise ins Ausland« ersetzt.
»Sie, gnädiger Herr, bitte ich, Ihre Kopfbedeckung abzunehmen …«: In traditionellen russischen Häusern ist es Brauch (ursprünglich wegen der dort aufgehängten Ikonen), dass Männer ihre Kopfbedeckung abnehmen, während Frauen sie umgekehrt anbehalten müssen.
Knallikow … Pfannkin: Im russischen Original ebenfalls sprechende Namen: Pestruchin (von »pestryj«, bunt, grell, schrill) und Žarovkin (von »žarovnja«, Grillrost).
»So ist das Kalabuchow-Haus verloren!«: Im Haus Nr. 24 in der Obuchow-Gasse wohnte Bulgakows Onkel Nikolai Michailowitsch Pokrowski, ein sehr bekannter Gynäkologe, den die erste Ehefrau Bulgakows, Tatjana Lappa, als Vorbild für Professor Preobraschenski identifizierte.
Preobraschenski: Von »preobraženie«, Verwandlung bzw. Wandlung.
»… Kürzung der Wohnfläche«: 1918 wurde Wohnraum verstaatlicht, in Mietshäusern Kommunalwohnungen eingerichtet, in denen Familien oft nur ein Zimmer bewohnten, Tatjana Lappa erinnerte sich, dass dort Lärm, Prügeleien, Trunksucht an der Tagesordnung waren und Bulgakow sehr unter diesen Zuständen litt.
Isadora Duncan: Die amerikanische Tänzerin (1877–1927), Wegbereiterin des Ausdruckstanzes, sorgte bereits 1904 für einen Skandal in St. Petersburg, als sie mit nackten Beinen die Bühne betrat; lebte von 1921–24 in Moskau, wo sie in der Pretschistenka eine Tanzschule für Arbeiterkinder leitete; von 1922–23 war sie mit dem russischen Dichter Sergei Jessenin verheiratet.
Namaz: Oder Salat, das rituelle Gebet im Islam.
»Der neu abgesegnete?«: »Novo-blagoslovennaja«, gleich am ersten Tag nach der Oktoberrevolution (nach dem gregorianischen Kalender am 8. November 1917) verboten die Bolschewiken per Gesetz die Herstellung und den Verkauf von Wodka. Auf Druck der Volksmassen wurde das Gesetz im August 1923 wieder aufgehoben, womit der Wodka, allerdings auf 30% reduziert, von Seiten des Staats quasi »neu abgesegnet« war.
Slawenbasar: Ein berühmtes Restaurant in der Nähe des Roten Platzes.
»… April 1917 …« (13. April des Jahres 1917): An diesem Tag (eigentlich dem 16. bzw. dem 3. April nach julianischer Zeitrechnung, der gregorianische Kalender wurde in Russland erst 1918 eingeführt) traf Lenin aus dem Schweizer Exil kommend in Petrograd (St. Petersburg) ein; der Zensor setzte an diese Stelle »März 1917«, in diesem Monat hatte nach der Abdankung Zar Nikolaus’ II. eine bürgerliche Regierung die Macht übernommen.
»… durch den Hinterhof eintreten«: Ein bürgerliches Haus betraten nur Dienstboten und Lieferanten durch den Hinterhof und -eingang.
»… mit Kokarde kommen oder mit einem roten Cappy«: Eine Kokarde und eine rote (phrygische) Mütze zeichneten 1789 auch die Revolutionäre in Paris aus.
Professor Metschnikow: Ilja Iljitsch Metschnikow (1845–1916), Zoologe, Anatom, Bakteriologe, Begründer der Theorie der zellulären Immunität, 1908 Nobelpreis für Physiologie oder Medizin; befasste sich mit Eugenik.
Muir: Muir & Mirrielees, abgekürzt M&M, das erste russische von den schottischen Unternehmern Andrew Muir (1817–1899) und Archibald Mirrielees (1797–1877) gegründete Kaufhaus in Moskau, 1857–1922, ab 1922 verstaatlicht und als ZUM auf der Petrowka weitergeführt. Der Konservative Filipp Filippowitsch verwendet hier also den alten Namen.
Zu des Niles heil’gem Ufer …: Ebenfalls aus einer Arie der Oper Aida.
Preobraschenskaja Sastawa: Stadtgrenze im Osten von Moskau. Man beachte auch die Anspielung auf Filipp Filippowitschs Namen – Preobraschenski.
Sucharewka: Bzw. der Sucharewski-Markt, ein Markt auf dem Sucharew-Platz in Moskau in unmittelbarer Nähe zum legendenumwobenen und in der Moskauer Großstadtfolklore eine wichtige Rolle spielenden Sucharew-Turm. Als beliebter Versammlungsort von Schiebern und Kleinkriminellen war der Markt berüchtigt. Da der Rat der Stadt Moskau Ende 1920 den Beschluss zur Schließung der Sucharewka traf, wurde der Markt bis zu seiner Zerschlagung (Ende der 1920er Jahre) zur ständigen Zielscheibe der sowjetischen Zeitungen.
Mostextil: Im Original »Mosšveja«, berühmte Moskauer Textilfabrik.
»Wohin rollst du, Äpfelchen«: »Oj, jabločko, kuda ty katešsja«, ein bekannter russischer Gassenhauer.
Mendelejew: Dmitri Iwanowitsch Mendelejew (1834–1907), russischer Chemiker, der 1869 unabhängig von Lothar Meyer das Periodensystem der Elemente entwickelte.
»28. November 1925, dem St.-Stephans-Tag …«: Im Kalender der russisch-orthodoxen Kirche wird an diesem Tag Stephanus der Neue (auch: der Jüngere) gefeiert, der um 762 während eines Bilderstreits umgebracht wurde – der römisch-katholische Kalender feiert am 26. Dezember den ersten Märtyrer Stephan.
Klim Grigorjewitsch Tschugunkin: Klim, ein volkstümlicher russischer Name. Tschugunkin: von »čugun«, Gusseisen.
»… 25 Jahre alt«: Am 23. Dezember hatte Dr. Bormenthal noch »verstorbenen 28-jährigen Mann« notiert, offenbar ein Flüchtigkeitsfehler Bulgakows.
»Scheint der Mond«: »Svetit mesjac«, ein russisches Volkslied.
Kusnetzki: »Kuzneckij most«, d.h. die Schmiedebrücke, eine der elegantesten Moskauer Einkaufsstraßen.
»… neureicher Nöpmann«: »nepman«, ein Geschäftsmann innerhalb der von Lenin 1921 ausgerufenen Neuen Ökonomischen Politik (NÖP).
Polygraph Polygraphowitsch: In der frühen Sowjetunion entstanden zahlreiche künstliche Namen, die verschiedene Aspekte des neuen Systems in den Bereichen der Politik, der Industrie, der Wissenschaften etc. glorifizierten, wie Scheldora (Abkürzung von »železnaja doroga«, Eisenbahn), Diesel, Traktorina, Dekabrist, Atheist, Swoboda (Freiheit), Wladlen (von Wladimir Lenin) oder Lenina.
»Wird am 4. März gefeiert«: Natürlich gibt es in keinem Kalender einen Feier- oder Namenstag des Polygraph.
Blankoschein: »belyj bilet«, umgangssprachlicher Ausdruck für eine Freistellung vom Militärdienst.
Postea … Bene: Im russischen Original reden Preobraschenski und Bormenthal an dieser Stelle Deutsch: »Später …« und »Gut«, damit Lumpikow sie nicht versteht.
»… bekreuzigte sich den Mund«: Sich beim Gähnen oder Schluckauf den Mund zu bekreuzigen, ist in Russland ein volkstümlicher Aberglaube.
»Unbedingt Robinson besorgen …«: Daniel Defoes Roman Robinson Crusoe (1719) behandelt u.a. die Überlebensfähigkeit des Menschen, den Zivilisationsverlust; die Aufklärung sah in Robinson den »natürlichen« Menschen.
Engels … Kautsky: Friedrich Engels (1820–1895) entwickelte zusammen mit Karl Marx die heute als Marxismus bekannte Gesellschafts- und Wirtschaftstheorie, 1848 verfassten sie Das kommunistische Manifest; Karl Kautsky (1854–1938) bereitete 1891 mit August Bebel das Erfurter Programm der SPD vor, er forderte u.a. genossenschaftliches Eigentum, nach Engels’ Tod wurde er zum wichtigsten Theoretiker der Partei; die beiden lernten sich im Londoner Exil kennen; der Briefwechsel erschien erst 1935 in deutscher Sprache, im Orbis-Verlag, Prag (Friedrich Engels, Aus der Frühzeit des Marxismus).
Madame Striemchen: Im Original »Madame Polosucher«, ein auf Russisch ulkig klingender Name, vielleicht von »polosovat’« (schinden).
Solomonski: Eigentlich Albert Salamonski (1839–1913), legendärer Zirkusartist und -direktor, eröffnete 1880 in Moskau einen eigenen Zirkus am Zwetnoi Boulevard.
Jussems: Eine von Juri S. Rjabinin gegründete vierköpfige Akrobatentruppe.
Nikitin: Dmitri (1835–1918), Akim (1843–1917) und Pjotr (1846–1921) Nikitin, gründeten in Moskau verschiedene Zirkusse, gemeint ist offenbar der Zirkus auf der Großen Gartenstraße, der ab 1919 verstaatlicht wurde und dann der »2. Staatszirkus« hieß. Der konservative Preobraschenski nennt den Zirkus also noch bei seinem alten Namen. Das Gebäude auf der Großen Gartenstraße greift Bulgakow in seinem Roman Meister und Margarita wieder auf, indem er das Theater Varieté dort ansiedelt.
»… die Herrschaften, die sind in Paris«: Eine Anspielung auf Künstler, Großbürger und Adlige, die nach Frankreich emigriert waren.
Wu-a-la: (voilà), Bulgakow verwendet hier das russische Wort »blagovolite« mit der ungefähren Bedeutung von »Haben Sie die Güte«.
cave canem: Lateinisch »Vorsicht vor dem Hund«. Im Original spricht Bormenthal, damit Lumpikow ihn nicht versteht, wieder einmal ein deutsches Wort: »vorsichtig …«
Spinoza: Baruch Spinoza (1632–1677) gilt als einer der radikalsten Philosophen der Neuzeit, einer der wichtigsten Vordenker und Wegbereiter der europäischen Aufklärung. Seine staatsphilosophischen Überlegungen haben die Entwicklung der bürgerlichen Demokratie vorgezeichnet; seine Naturphilosophie stellte den Gedanken einer universal schaffenden und insofern »göttlichen« Naturkraft ins Zentrum; Johann Wolfgang Goethe bezeichnete sich als sein »entschiedenster Verehrer«.
»Da bekommt halt so eine Madame Lomonossow in Cholmogory ihren berühmten Spross …«: Michail Lomonossow (1711–1765) stammte aus einer einfachen Fischerfamilie im Norden Russlands, ging mit neunzehn Jahren zu Fuß nach Moskau, um zu lernen, und wurde ein berühmter Dichter und Universalgelehrter, der 1755 die Moskauer Universität gründete. Cholmogory ist ein Dorf in der Region Archangelsk.
»… erhitzt Latein zu sprechen«: Wie auch an den anderen Stellen des Originals spricht Filipp Filippowitsch hier nicht Latein, sondern Deutsch.
M.K.W.: Moskauer Kommunalwirtschaft.
»Wir lassen uns registrieren …«: Auf dem Standesamt; seit 1917 waren Zivilehen möglich; Friedrich Engels hatte propagiert: »Familie und Ehe sind historische Übergangsformen. Die Einzelfamilie ist ein Kennzeichen der Klassengesellschaft.«
Koltschak: Alexander Wassiljewitsch Koltschak (1874–1920), während des Bürgerkriegs Oberbefehlshaber der antibolschewistischen (Weißen) Armee in Sibirien; übte seit November 1918 diktatorische Macht aus und erhob sich zum Reichsverweser.
Sozialdienerin: Offenbar versucht Lumpikow, seinem Dossier einen offiziellen Anstrich zu geben, weshalb er die Bezeichnung »Dienerin« mit dem damals modischen Wörtchen »Sozial-« verbindet.
Menschewik: wörtlich: Minderheitlicher. 1903 spaltete sich die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Russlands, die Bolschewiki (Mehrheitler) folgten Lenins Programm einer revolutionären Kaderpartei, die Menschewiki wollten an dem Konzept einer Massenpartei festhalten, die sich auch parlamentarisch engagierte.
»… in hunderttausend Stücke zerkratzt«: »vdrebezgi iscarapannoe«, auch im Russischen eine groteske Kombination, denn das Wort »vdrebezgi« lässt sich nur im Sinne von »in tausend Stücke zerbrochen« verwenden.
U-u-u-u-u-huh-huh-huuuuh! Da schaut, wie ich vor die Hunde gehe. Der Schneesturm heult durch den Hof adieu, und ich heule dazu. Alles hin, alles hin. Dieser Schurke mit Haube – dieser Wirt der Kantine für Normale Ernährung der Mitarbeiter des Volkswirtschaftsrates – schüttet kochendes Wasser über mich aus und verbrüht mir die linke Flanke. So ein Wicht, so was schimpft sich noch Proletarier. Ach, Herrgott, das tut ganz schön weh! Die Hitze fährt mir durch Haut und Knochen. Darum heule ich heute, ich heule und heule, doch es hilft nichts.
Komm ich ihm etwa in die Quere? Fress ich dem Volkswirtschaftsrat was weg, wenn ich einmal im Abfall wühle? Geiziges Biest. Seht euch nur seine Fratze an: ist breiter als hoch. Ein Schlawiner mit Schweineschnute. Ach, Menschen, ach, Menschen! Zur Mittagszeit hat mir die Haube Saures gegeben, aber nun ist es dunkel, vielleicht 4 Uhr, dem Zwiebelgeruch nach zu urteilen, der dem Pretschistenka-Löschhaus entweicht. Feuerwehrleute essen zu Abend bekanntlich Grütze – das Allerletzte, genauso wie Pilze. Meine Kumpel, die Köter von der Pretschistenka[1], haben mir übrigens erzählt, am Neglinny, im Restaurant Bar, mampft man Pilze Sauce Piquante als Hauptgericht für 3,75. Na ja, wer es mag – genauso gut kann man auch Gummistiefel abschlecken … U-u-u-u-uh …
Die Seite schmerzt höllisch, und meine weitere Karriere scheint klipp und klar zu sein: Bereits morgen gibt’s schwellende Geschwüre, fragt sich nur, wie ich die verarzten soll. Im Sommer könnte man nach Sokolniki[2] abzischen, dort wächst ein besonderes heilsames Kraut, außerdem hast du Wurstzipfel gratis, die Flaneure lassen überall eingefettetes Stullenpapier liegen, einfach zum Ablecken. Und wäre da nicht die Vettel, die beim Vollmond auf der Wiese »Celeste Aida«[3] jault, dass einem das Herz im Leibe stockt, es wäre schlichtweg fantastisch. Nun gut, aber jetzt? Schon einmal mit dem Schuhabsatz getreten worden? Jawohl. Einen Backstein auf die Rippen gekriegt? Na reichlich, danke der Nachfrage. Ist alles nicht neu, will auch keineswegs jammern, und wenn ich es tue, dann vor physischem Schmerz und Hunger und weil mein Lebensmut glüht … Der hündische Lebensmut ist unauslöschlich.
Doch mein Leib ist zermartert, geschlagen, zur Genüge von Menschen geschändet. Und das Schlimmste: Seit er mir Heißes verpasste, fraß es sich ein bis unter das Fell, was wiederum heißt: Die linke Seite hat keinerlei Schutz mehr. Ich könnte mit größter Leichtigkeit an einer Lungenentzündung erkranken, und erkranke ich daran, dann, liebe Mitbürger, werde ich vor Hunger krepieren. Bei einer Lungenentzündung liegt man nämlich unter der Stiege vom Hauseingang, und wer, wenn nicht ich, ein liegender Junggesellenköter, soll bitte schön die Mistkübel durchstöbern auf der Suche nach etwas Essbarem? Wenn es einen Lungenflügel erwischt, werde ich vermutlich bäuchlings kriechen, alle Kraft verlieren, sodass selbst der letzte Facharbeiter mich mit einem Stock erledigen kann. Und Straßenkehrer mit Blechkokarden fassen mich bei den Beinen und schmeißen mich auf den Karren …
Straßenkehrer – von allen Proletariern eindeutig das ekelhafteste Pack. Menschlicher Abschaum – unterste Liga. Köche gibt es solche und solche. Nehmen wir den verstorbenen Wlas von der Pretschistenka, der keinen vergaß! Denn was ist das Wichtigste während der Krankheit? – Koste es, was es wolle, einen Happen ergattern. Und so kam es vor, berichten die alten Rüden, dass der Wlas ab und zu mal einen Knochen herüberwachsen ließ – und darauf noch jede Menge Restfleisch. Gott hab ihn selig, eine echte Persönlichkeit, aus der Herrschaftsküche der Grafen Tolstoi, nicht etwa vom Rat für Normale Ernährung. Was sie dort bei der Normalen Ernährung so treiben, entzieht sich meinem Hundeverstand! Diese Mistkerle kochen aus stinkigem Pökelfleisch eine Suppe, und die armen Schweine haben keinen blassen Schimmer, was sie da eigentlich futtern dürfen! Also laufen sie hin und fressen und schlürfen!
Manch eine kleine Sekretärin verdient in der Gehaltsstufe 9 knapp 50 Rubel, obgleich ihr Kavalier sie auch hin und wieder mit feschen Fil-de-perse-Strümpfen bedenkt. Aber was muss sie der Fil-de-perse wegen an Schikanen über sich ergehen lassen![4] Kommt die kleine Sekretärin angerannt, bei knapp 50 Rubel gehst du eben nicht in die Bar. Das reicht ja nicht mal für den Kintopp; dabei ist der Kintopp im Leben einer Frau der einzige Trost. Sie zögert, sie rümpft die Nase und schluckt es doch. Also wirklich: 40 Kopeken für 2 Gerichte, die keine 15 Kopeken wert sind, weil die restlichen 25 der Kantinenwirt eingeheimst hat. Ist das die Verköstigung, die sie benötigt? Ihre rechte Lungenspitze ist angeschlagen[5], sie ist unpässlich, man hat ihr den Arbeitslohn gekürzt, sie mit Vergammeltem vollgestopft, da ist sie, da ist sie! Läuft durch die Toreinfahrt in den Strümpfen des Kavaliers. Die Beine sind kalt, der Bauch friert, weil ihr Fell nicht viel besser ist als meins, die Hose durchlässig, bloß Spitzenschnickschnack. Lumpen für den Herrn Kavalier. Sollte sie es doch einmal wagen, in Flanell zu schlüpfen. Schon brüllt der los:
– Einfach keine Klasse! Nein, dieses Landei bin ich leid, nicht noch mehr Ärger mit Flanellhosen, hoppla, hier komm ich. Seht, ich bin jetzt nämlich Vorsitzender, und was ich mir da zusammengerafft habe, wird ausgegeben für den weiblichen Körper, Meeresfrüchte und Markensekt. Hab weiß Gott in der Jugend genug gehungert, und an ein Jenseits glaub ich nicht.
Die Ärmste. Doch bin ich noch ärmer dran. Das sage ich gewiss nicht aus Eigenliebe, allein meine Lage ist deutlich schlechter. Sie hat es wenigstens zu Hause warm, und was ist mit dir! Und du, und du? U-u-u-u-uh! …
– Hier, hiiiier! Lumpi[6], Lumpi … Na, was jaulst du, Kleiner? Na, wer hat dir wehgetan? Uff …
Die Schneesturmhexe ruckelte am Tor, schlug dem Fräulein voll Wucht mit dem Besen aufs Ohr. Riss den Rock hoch, bis an die Knie, legte cremefarbene Strümpfe frei und einen schmalen Streifen schlecht gewaschener Spitzenwäsche, erstickte die Worte, überschüttete den Hund.
– Mein Gott … Welch ein Wetter … Uff … Und der Bauch tut weh. Wohl das Pökelfleisch, wohl das Pökelfleisch! Wann wird das alles ein Ende haben?
Den Kopf gesenkt, stürzte sich das Fräulein in den Kampf, brach durchs Tor, wurde auf der Straße herumgewirbelt, herumgezwirbelt, hin und her geschleudert, schließlich von einem Schneestrudel erfasst – und war weg.
Der Hund aber blieb zurück in der Einfahrt, mit schmerzender Seite, drückte sich an die kalte harte Wand, schnappte nach Luft, fest entschlossen, nirgendwo mehr hinzugehen, doch hier in der Einfahrt zu verrecken. Die Verzweiflung warf ihn um. Zu viel Schmerz und Bitternis, zu viel Furcht und Einsamkeit – schon krochen winzige Hundetränen wie Bläschen aus den Augen hervor und vereisten sofort. Die entstellte Seite ragte in verfilzten steif gefrorenen Büscheln empor, und dazwischen zeigten sich rote bedrohliche Flecken der Verbrühung. Wie hirnlos, stumpfsinnig und grausam sind doch die Köche! – »Lumpi«, so hat sie ihn genannt, nicht wahr? … Zum Teufel, was denn für ein »Lumpi«? »Lumpi«, so heißen pralle, wohlgenährte, dumme, Hafer fressende Hurensöhne aus gutem Hause, er aber ist struppig, hager, zerzaust, ein schmächtiger Streuner, ein herrenloser Hund. Aber trotzdem: Danke für das Kompliment.
Auf der anderen Straßenseite fiel die Tür des grell erleuchteten Geschäfts zu, und heraus trat ein Bürger. Und zwar wirklich ein Bürger und kein Genosse, möglicherweise – ja, höchstwahrscheinlich – sogar ein Herr. Je näher, desto deutlicher: Richtig – ein Herr. Glaubt ihr, ich urteile dem Mantel nach? Blödsinn. Mantel tragen jetzt viele, eben auch Proletarier. Gut, der Kragen ist anders, versteht sich von selbst, aber von Weitem doch ziemlich ähnlich. Was aber gar nicht ähnlich ist – egal ob von Weitem, ob aus der Nähe –, sind die Augen! Augen sind was Signifikantes! Eine Art Barometer. Alles zu sehen – jemand hat große Dürre im Gemüt, kann unsereinem so mir nichts, dir nichts mit der Stiefelspitze in die Rippen stoßen, jemand hat im Gegenteil vor jedermann Angst. Und genau solche Waschlappen beißt man besonders gern in die Wade. Hast du Bammel? – Ist auch besser so. Geschieht dir recht … r-r-r … wau-wau.
Der Herr überquerte sehr selbstbewusst in einer Sturmsäule die Straße und bewegte sich Richtung Toreinfahrt. Richtig, bei dem ist alles zu sehen. Der wird kein vergammeltes Pökelfleisch mampfen, und bekommt er es vorgesetzt, wird er ein Theater veranstalten, in die Zeitungen setzen: Ich, Filipp Filippowitsch, wurde ein Opfer der Gastronomie.
Noch näher, noch näher. Der schmaust ganz üppig und klaut nichts. Stößt auch niemanden in die Rippen und hat selbst vor niemandem Angst, und zwar deshalb nicht, weil er immer satt ist. Der Herr ist ein Intellektueller, hat ein kultiviertes spitzes Bärtchen, einen ergrauten flauschigen tollkühnen Schnauzer, wie bei französischen Chevaliers, allein der Geruch, den der Sturm bringt, ist übel – Krankenhaus, Zigarren.
Was zum Geier sucht denn so jemand in der Zentralwirtschaftskooperative? Jetzt ist er ganz nah … Worauf wartet er? U-u-u-uh … Was kann so jemand in einem derart schäbigen Laden schon kaufen wollen, was er am Ochotny Rjad[7] nicht erhält? Na was wohl?! Wurst. Guter Mann, wüssten Sie nur, woraus die gemacht ist, Sie würden einen weiten Bogen um den Laden schlagen. Die ist eher was für mich!
Und wie besessen kroch der Köter mit letzter Kraft aus dem Tor auf den Bürgersteig. Der Schneesturm ballerte aus seiner Büchse über dem Kopf, schleuderte riesige Buchstaben empor – das Stofftransparent »Ist Verjüngung möglich?«.[8]