Für Lennart – ohne dich bin ich halb
Das Plätschern erinnerte ihn an Kinder, die in einer Badewanne planschten. Er schloss die Augen und sah einen Strand vor sich, an dem kleine Kinder fröhlich herumhüpften.
Dann plätscherte es ein letztes Mal, und das Wasser schwappte über den Rand des Putzeimers auf den nassen Boden.
Die Arme hörten auf zu rudern. Die Beine zuckten noch, wie kleine Silberfische, die ziellos hin und her huschen. Krampfhafte, unkontrollierbare Bewegungen.
Dann erlahmten auch sie, und das langsame Tropfen des Wasserhahns war das Einzige, was die Stille in dem weiß gefliesten Raum durchbrach.
Dieses Geräusch sollte er für den Rest seines Lebens im Ohr haben.
Es roch intensiv nach Schmierseife. Der Geruch von Fichtennadeln stieg ihm in die Nase, und er musste würgen. Aber er biss die Zähne zusammen. Die Angst überschattete alles andere.
Etwas Warmes lief an seinem Bein hinunter, und er begriff, dass er sich bepinkelt hatte.
Egal. Es war ohnehin alles zu spät.
Der Wasserhahn tropfte weiter vor sich hin.
Sonntag, 16. September 2007
(erste Woche)
Die junge Frau klang verzweifelt.
»Sie müssen kommen, jetzt sofort.«
»Bitte nennen Sie mir zuerst Ihren Namen.«
Die Stimme der Disponentin in der Notrufleitstelle klang sachlich, aber nicht unfreundlich. Die Digitalziffern auf dem Bildschirm zeigten exakt 10.03 Uhr vormittags an.
»Es ist so furchtbar … es ist Marcus.«
»Können Sie beschreiben, was passiert ist?«, fragte die Leitstellendisponentin. »Versuchen Sie, sich zu beruhigen und der Reihe nach zu erzählen.«
»Ich bin in seinem Zimmer.«
»Ich brauche die Adresse. Wo genau sind Sie?«
»Er atmet nicht. Er hängt einfach da.«
Das Entsetzen und der Schock zeigten sich in der geschluchzten Antwort.
»Ich kann ihn nicht abnehmen, ich schaffe es einfach nicht.«
»Wo genau sind Sie? Ich brauche die Adresse«, sagte die Disponentin wieder.
Im Hintergrund war das gedämpfte Stimmengewirr von Kollegen zu hören, die andere Notrufe entgegennahmen. Bisher war es relativ ruhig gewesen, die Vorfälle vom Samstagabend waren jetzt am Sonntagmorgen längst abgearbeitet. Die Disponentin hatte ihre Schicht um sechs Uhr früh begonnen und schon Zeit gefunden, drei Tassen Kaffee zu trinken.
»Wo genau sind Sie?«, sagte sie zum wiederholten Mal ins Mikrofon.
Jetzt beruhigte sich die Frau am Telefon ein wenig.
»Värmdövägen 10B, in Nacka.«
Sie stieß die Worte beinahe winselnd hervor.
»Im Studentenheim«, hickste sie zum Schluss. »Wir wollten zusammen lernen.«
»Wie heißen Sie?«
»Amanda.«
»Und weiter?«
»Amanda Grenfors.«
Die Stimme klang dünn, zweifelnd, so als könnte die junge Frau nicht fassen, was sie vor sich sah.
»Jetzt versuchen Sie mal zu beschreiben, was passiert ist, Amanda«, sagte die Disponentin in der Notrufleitstelle aufmunternd.
Sie machte sich Notizen. Die Adresse war nur einen Steinwurf von der Polizeistation Nacka entfernt, der Streifenwagen würde nicht mehr als ein paar Minuten dorthin brauchen.
»Marcus hängt unter der Zimmerdecke, an einem Strick«, sagte das Mädchen. »Sein Gesicht ist ganz blau.«
Ihre Stimme brach.
Die Disponentin wartete. Etliche Sekunden verstrichen.
Dann ein Flüstern.
»Ich glaube, er ist tot.«
Die Haustür des Wohnheims stand weit offen, als der Streifwagen eintraf. Das Haus war in den Vierzigerjahren gebaut worden, und die vielen Fahrräder, die in einer Reihe davorstanden, zeugten davon, dass es ein Studentenheim war, eines der alten Mietshäuser, die kürzlich als Antwort auf den eklatanten Mangel an Unterkünften für die Ausbildungsstätten der Hauptstadt umgebaut worden waren.
Die beiden Polizisten gingen eine Treppe hinauf und betraten einen langen Korridor mit einem Dutzend Türen zu beiden Seiten. Sie kamen an der Küche vorbei, in der sich Unmengen von schmutzigem Geschirr auf der Spüle stapelten. An einer Schranktür war mit Klebestreifen ein handgeschriebener Zettel befestigt: Räum deinen Kram auf, deine Mutter wohnt hier nicht!
Weit und breit war niemand zu sehen, aber in einer Ecke lag ein schlampig zugeknoteter Müllbeutel. Dem Geruch nach zu urteilen, lag er schon eine ganze Weile dort.
Ganz am Ende des Korridors stand eine Tür sperrangelweit offen. Direkt gegenüber, mit dem Rücken an der Wand, kauerte eine blasse junge Frau. Sie trug Jeans und schwarze Sneaker, und der dicke dunkelrote Pullover schien viel zu groß für den mageren Körper zu sein.
»Sind Sie Amanda?«, fragte die Polizistin, die als Erste bei ihr ankam.
»Mhmm.«
Ein tränenstreifiges Gesicht blickte zu der Polizistin auf. Sie ging in die Hocke und berührte leicht den Arm des Mädchens.
»Alles in Ordnung?«
»Er hängt da drinnen.« Sie hob den rechten Arm und zeigte mit zitternder Hand ins Zimmer. »Am Lampenhaken.«
Die Blicke der Polizisten folgten der Bewegung. Im selben Moment brach die Sonne hervor, und in dem Lichtstrahl, der durchs Fenster hereinfiel, tanzten kleine Staubkörner. Sie bildeten einen schimmernden Glorienschein um den einsamen Körper, der von der Decke baumelte. Der hängende Kopf und der Winkel, in dem er abgeknickt war, bestätigten ihre Vermutung.
Marcus Nielsen war tot.
Er lief über die dunkle, raue Eisdecke vor Sandhamn, und sie brach unter seinen Füßen auf. Das Wasser verschlang ihn, es fühlte sich an, als würden Finger und Zehen abfrieren. Das eiskalte Meer presste die Luft aus seiner Lunge und entzog seinem Blut den Sauerstoff.
Gleich würde er in dem Loch ertrinken. Niemand würde ihm zu Hilfe kommen, weil niemand wusste, dass er draußen auf dem Eis war.
Er weinte.
Er wollte nicht sterben, nicht auf diese Art, nicht so einsam und ohne Abschied.
Das Wasser, das die Kälte in seinen Körper zwang, saugte jegliche Kraft aus ihm heraus. Voller Bedauern dachte er an alles, was er nicht mehr hatte sagen oder tun können.
Aber wie hätte er ahnen sollen, dass seine Zeit bereits abgelaufen war?
Während seine Glieder gefühllos wurden, merkte er, dass sein Herz bereits langsamer schlug und er auf dem Weg in die Bewusstlosigkeit war. Bald würde eine trügerische Wärme durch seine Adern fließen, er würde nachgeben, und dann wäre alles vorbei.
Aber er wollte nicht auf diese Art sterben, nicht jetzt, nicht ohne Pernilla an seiner Seite.
Inzwischen fror er so sehr, dass er die Eiskante loslassen musste. Er sank zurück ins Wasser, seine Gliedmaßen waren mittlerweile vollkommen taub. Unmöglich, noch länger zu kämpfen.
Etwas klingelte, schrill und herausfordernd, ein wütendes Signal, das nach Aufmerksamkeit verlangte.
Er schlug die Augen auf und begriff, dass er in seinem Bett lag. Dicht neben ihm atmete Pernilla tief und gleichmäßig.
Er streckte den Arm aus und tastete nach dem Telefon auf dem Nachttisch. Die Finger schlossen sich um die Metallhülle, verloren jedoch den Griff, und das Handy fiel auf den Fußboden.
Für einen Moment war es still, dann begann es wieder zu klingeln, noch lauter diesmal. Das Geräusch hörte nicht auf, und neben ihm regte sich Pernilla.
»Das ist deins«, murmelte sie.
Ihre Stimme holte ihn endgültig in die Realität.
Er schwang die Beine über die Bettkante, aber als er aufstehen wollte und den linken Fuß auf den Boden setzte, verlor er beinahe das Gleichgewicht. Er hatte sich immer noch nicht daran gewöhnt. Mühsam bückte er sich und hob das Telefon auf.
Er drückte es an die Wange und merkte, dass sie nass von Tränen war.
Seine Stimme klang brüchig, als er sich meldete.
»Ja, Thomas hier.«
Auf dem Weg zum Auto ging Margit Grankvist in Gedanken die spärlichen Informationen durch, die der Chef ihr am Telefon gegeben hatte.
Sie hatte gerade mit Bertil beim Frühstück gesessen, als der Anruf kam. Ihre Töchter schliefen beide noch. Bertil hatte kaum von seiner Zeitung aufgeblickt, ihm war sofort klar gewesen, dass sie zum Einsatz musste.
Er war es inzwischen gewohnt. Margit lächelte leicht, während sie an ihren Mann dachte. Er war Lehrer und unterrichtete in der Oberstufe Englisch und Schwedisch, und sie wusste, dass manche ihrer Freundinnen den Mann mit dem schütteren Haar nicht gerade für einen umwerfenden Typen hielten. Aber sie waren jetzt seit über zwanzig Jahren zusammen und hatten zwei hübsche Töchter, die bald flügge sein würden. Anna machte im Frühjahr Abitur und Linda war gerade aufs Gymnasium gekommen.
Margit öffnete die Autotür und setzte sich hinters Steuer. Der Vormittag war kühl, man merkte, dass es langsam Herbst wurde. Das spätsommerliche Wetter der letzten Wochen würde bald kaltem Wind und dicken Wolken weichen. Abends wurde es jetzt schon deutlich früher dunkel. Die Tage würden immer kürzer werden, bis es nur noch sechs Stunden hell war.
Bevor endlich die Wende kam.
Margit fiel es zunehmend schwerer, den langen schwedischen Winter zu ertragen. In der letzten Zeit hatte sie immer öfter von einer kleinen Wohnung in Südspanien geträumt, von einem Platz an der Sonne für sie und Bertil, wenn die Mädchen zu Hause ausgezogen waren.
Das Handy piepste und sie sah, dass eine SMS mit neuen Informationen über den toten Jungen gekommen war. Er war zwar schon zweiundzwanzig, aber für sie war er immer noch ein Junge. Ihre Tochter Anna war achtzehn, nur ein paar Jahre jünger.
Er hieß Marcus Nielsen, studierte Psychologie an der Universität in Stockholm und hatte allein ein Studentenzimmer bewohnt, in dem er vor etwa einer Stunde gefunden worden war.
Sie ließ den Motor an und setzte von der Garagenauffahrt zurück. Um diese Tageszeit war kaum Verkehr, bis zum Varmdövägen würde sie nicht mehr als zwanzig Minuten brauchen.
Margit parkte vor dem Eingang und schloss das Auto ab. Sie nickte dem uniformierten Polizisten auf der Treppe zu und ging an mehreren Studenten vorbei, die mit wirren Haaren in ihren offenen Zimmertüren standen. Die wohlbekannte Stimme von Kriminaltechniker Staffan Nilsson war schon von Weitem zu hören, noch ehe Margit über die Schwelle trat.
Die Leiche hing immer noch am Haken unter der Decke, würde aber bald vorsichtig abgenommen und in die Rechtsmedizin nach Solna gebracht werden.
»Guten Morgen«, sagte Nilsson und nickte Margit zu.
Sie ging weiter ins Zimmer hinein und sah sich um, während sie die Gummihandschuhe anzog, die er ihr gegeben hatte.
Das Zimmer war relativ groß für eine Studentenbude, bestimmt um die zwanzig Quadratmeter, schätzte sie. Recht gemütlich, auch wenn der Papierkorb von Pizzakartons überquoll und offenbar lange nicht Staub gesaugt worden war.
»So schön haben die Studenten zu meiner Zeit nicht gewohnt«, sagte Nilsson hinter ihrem Rücken. »Wir mussten uns mit Buden begnügen, in denen man sich kaum umdrehen konnte.«
Ein ordentlich gemachtes Bett stand gleich links neben der Tür, und hinten am Fenster sah sie einen Schreibtisch mit untergeschobenem Drehstuhl. An einer Wand hatte Marcus Nielsen ein weißes Bücherregal von Ikea aufgestellt, das Modell, das im Guinness-Buch der Rekorde als das meistverkaufte Regal der Welt verzeichnet war. Gegenüber vom Bett führte eine Tür zu einem kleinen Duschbad. Margit konnte durch den offenen Türspalt ein paar Rollen Toilettenpapier erkennen.
»Da hast du seinen letzten Gruß.«
Nilsson zeigte auf ein Blatt Papier, das auf dem Kopfkissen lag.
»Ein Abschiedsbrief?«
Er nickte und las vor:
»Vergebt mir, aber es ist alles so schwer. Marcus.«
Margit beugte sich vor und studierte den Zettel.
»Das ist ein Computerausdruck.«
»Ja.«
»Aber nicht unterschrieben.«
»Nein.«
»Und wo ist der Computer?« Sie blickte zum Schreibtisch, der mit Papieren und etlichen aufgeschlagenen Büchern übersät war. »Habt ihr ihn schon sichergestellt?«
»Nein, ich habe keinen gesehen.«
»Womit hat er das dann geschrieben?«
Nilsson zuckte die Schultern.
»Gute Frage.«
Margit ging zum Schreibtisch und sah in den Schubladen nach. Als sie den Kleiderschrank öffnete, fiel ihr ein großer Haufen Klamotten entgegen, die nachlässig hineingestopft worden waren, saubere und schmutzige in heillosem Durcheinander. Unter dem Bett entdeckte sie einen Rucksack. Sie öffnete ihn, aber er war leer.
»Hier ist jedenfalls kein Computer.« Sie drehte sich wieder zu Nilsson um. »Kennst du irgendjemanden aus seiner Generation, der ohne so ein Ding leben kann?«
»Er scheint auch keinen Drucker zu haben.«
Nilsson hatte recht. Im ganzen Zimmer gab es weder einen Drucker noch Druckerpapier.
»Wenn der Selbstmord lange geplant war, hat er den Abschiedsbrief vielleicht woanders ausgedruckt, beispielsweise in der Uni«, sagte der Kriminaltechniker.
»Möglich.«
Margit ging wieder zu dem Toten. Die Zimmerdecke war etwas höher als üblich, sodass sich seine Körpermitte etwa auf Augenhöhe befand.
Er trug ein graues Kapuzensweatshirt und abgewetzte Jeans. Ein dunkler Fleck im Stoff zeugte davon, dass sich der Darm im Moment des Todes entleert hatte. Der Gestank schlug ihr entgegen, als sie um den Körper herumging, sie wich instinktiv zurück und wandte das Gesicht ab. Dann trat sie ein paar Schritte beiseite, um sich einen besseren Überblick zu verschaffen.
Marcus Nielsens Gesichtsausdruck war zu einer wilden Grimasse erstarrt. Die Augen waren halb geschlossen, und in einem Mundwinkel hatte sich Speichel gesammelt. Die Lippen waren verzerrt, Margit überlegte, ob er wohl versucht hatte zu schreien, als die Schlinge sich zuzog.
Hatte er seinen Entschluss bereut, als die Füße den Halt verloren? Oder war es nur ein Muskelkrampf, ausgelöst vom vegetativen Nervensystem des Körpers?
Sein Haar war unnatürlich schwarz, ein Eindruck, der durch die Leichenblässe des Gesichts noch hervorgehoben wurde.
»Das kann nicht seine natürliche Haarfarbe sein«, sagte Margit.
»Glaube ich auch nicht«, erwiderte Nilsson. »Aber das wird die Obduktion zeigen.«
»Was glaubst du, wie lange er schon tot ist?«
Nilsson strich sich mit dem Zeigefinger über den Nasenrücken.
»Mindestens fünf, sechs Stunden. Die Leichenstarre hat bereits eingesetzt.«
Margit musterte die Seilschlinge aus verschiedenen Blickrichtungen. Sie schnitt tief in den Hals, dessen Haut dunkelrot mit einem Stich ins Purpurne verfärbt war. Das andere Ende des Seils war mit einem stabilen Knoten an einem Lampenhaken an der Decke befestigt.
»Wie ist er da hochgekommen?«, murmelte sie und beantwortete gleich darauf ihre Frage selbst. »Wahrscheinlich ist er auf den Schreibtisch geklettert, hat sich die Schlinge um den Hals gelegt und ist gesprungen.«
Sie ließ den Blick prüfend über die Leiche wandern. Marcus Nielsen war ziemlich dünn und nicht sehr groß. Dennoch musste der Körper ihrer Schätzung nach etwa siebzig Kilo wiegen.
»Dass er das Gewicht ausgehalten hat«, sagte sie halblaut.
»Wer, der Haken?«
»Mhm.«
Nilsson reckte sich und betrachtete den Haken.
»Das ist solides Mauerwerk, nicht so ein Fertighaus-Pfusch wie viele Neubauten aus den Siebzigern.«
»Du meinst, wenn er in so einem gewohnt hätte, wäre der Haken herausgebrochen und er hätte überlebt?«, fragte Margit.
Sie ging zum Bücherregal und griff nach einem gerahmten Foto, das in Augenhöhe stand. Es zeigte Marcus zusammen mit einem Jungen im Teenageralter und einem Paar in mittleren Jahren, vermutlich seine Eltern und ein jüngerer Bruder. Ein weißer Datumsstempel am unteren Rand zeigte, dass das Foto am 10. Juli 2006 aufgenommen worden war, also im vergangenen Sommer.
Es sah aus wie ein Urlaubsfoto; sie saßen in einer Taverne, und der Hintergrund bestand aus weißen Häusern mit leuchtend blauen Türen. Wahrscheinlich irgendwo in der griechischen Inselwelt, dachte Margit, auf einer entspannten Reise mit der ganzen Familie. Die nicht ahnt, was sie erwartet.
Der Verstorbene sah seiner Mutter auffallend ähnlich, die gleichen schmalen Augen, die gleiche gerade Nase. Ihr Haar war hellbraun, aber das war das ihres Sohnes vielleicht auch gewesen, bevor er es gefärbt hatte. Marcus hatte ein offenes Gesicht und sah intelligent aus, überhaupt nicht bedrückt von irgendwelchen Sorgen, die vierzehn Monate später dazu führen sollten, dass er sich das Leben nahm.
Sein Bruder kam nach dem Vater, beide waren blond und ein wenig pummelig. Der Vater hatte den Arm um die Schultern des jüngeren Sohnes gelegt und lachte breit in die Kamera. Das Foto war vermutlich von einem Kellner geknipst worden.
»Er sah nett aus«, bemerkte Margit.
»Das tun die meisten, zumindest bevor sie tot sind.«
Die Antwort war nicht sarkastisch, sondern nur eine nüchterne Feststellung.
Polizistenhumor, dachte Margit. Auch eine Art, die Tragödie auf Abstand zu halten.
Zögernd stellte sie das Foto wieder aufs Regal. Sie wusste, dass der Vater im öffentlichen Dienst arbeitete und die Mutter Krankenschwester war. Der jüngere Bruder wohnte noch zu Hause und besuchte das Gymnasium im dritten Jahr.
Genau wie ihre Anna.
Das hier war vielleicht das letzte Foto mit der ganzen Familie. Weitere würde es nicht geben. Die Eltern mussten schnellstmöglich informiert werden, und das war keine angenehme Aufgabe.
Nilsson holte etwas aus seiner großen schwarzen Tasche und verschwand im Bad.
»Gibt es Anzeichen für etwas anderes als Selbstmord?«, rief Margit ihm nach.
Er schüttelte den Kopf, ohne sich umzudrehen.
»Vorläufig nicht. Aber wir stellen natürlich Fingerabdrücke und andere biologische Spuren sicher, sofern es sie gibt.«
»Wo ist das Mädchen, das ihn gefunden hat?«
»Sie sitzt mit Torunn in der Küche. Als wir ankamen, war sie völlig geschockt.«
»Kein Wunder bei diesen Umständen.«
Margit warf einen letzten Blick auf die Bücher, die im Regal standen. Viele hatten englische Titel, die auf psychologische Themengebiete schließen ließen. Auch die Bücher auf dem Schreibtisch sahen aus wie Fachliteratur.
»Er hat an der Uni Stockholm Psychologie studiert«, sagte Margit. »Ich frage mich, ob er wohl psychische Probleme hatte.«
Nilsson erschien in der Badezimmertür.
»Du meinst solche, die dazu führen, dass man sich umbringt?«
Nora Linde betrachtete müde das Chaos im Zimmer ihres Sohnes. Seit ihrer Trennung von Henrik verkroch Adam sich immer mehr hinter seinem Computer. Während sich die Klamottenhaufen auf dem Fußboden türmten, hockte er wie festgeklebt am Bildschirm und chattete oder spielte Computerspiele. Es war, als ob er die virtuelle Welt der realen vorzog. Er antwortete nicht, wenn man ihn ansprach, und hielt es kaum am Mittagstisch aus, um nur ja keine kostbare Computerzeit zu verlieren.
Nora versuchte, Grenzen zu setzen, aber das war nicht einfach, da Henrik und sie unterschiedliche Auffassungen zu dem Thema hatten. Was nützte es, dass sie auf einer begrenzten Anzahl Stunden pro Tag bestand, wenn Henrik die Jungs endlos spielen ließ, sobald sie bei ihm waren. Schon als sie noch zusammenlebten, hatten sie sich nur schwer einigen können, aber das war nichts gewesen verglichen mit der jetzigen Situation.
Vor einem halben Jahr, kurz nachdem Henriks Seitensprung aufgeflogen war, hatte sie mit der professionellen Effektivität der Juristin dafür gesorgt, dass dem Gericht alle für die Scheidung erforderlichen Unterlagen zugingen. Da sie Kinder unter sechzehn Jahren hatten, war eine Bedenkzeit von sechs Monaten erforderlich, bevor die Ehe geschieden werden konnte.
Nora brauchte keine Bedenkzeit. Sie war sich absolut sicher, dass sie nicht länger mit Henrik verheiratet sein wollte. Sie konnten kaum zwei Worte miteinander reden, ohne Streit anzufangen, und wenn sie ihn anrufen musste, schob sie es so lange wie möglich hinaus. Aber manchmal ging es nicht anders. Bei zwei Söhnen von sieben und zwölf gab es ständig irgendetwas, das besprochen werden musste.
Doch jedes Mal, wenn sie seine Nummer wählte, hoffte sie, dass der Anrufbeantworter sich meldete.
Am schlimmsten war es, wenn Marie dran war, die Neue an Henriks Seite. Sie waren im Sommer zusammengezogen, und Marie hatte sich in dem Reihenhaus in Saltsjöbaden, das so viele Jahre lang Noras und Henriks Zuhause gewesen war, schnell eingelebt. Marie hatte eine helle, etwas quäkende Stimme, und sie sprach schnell und atemlos, so als sei sie permanent erstaunt über diese Welt. »Marieafgrénier«, meldete sie sich in einem Atemzug.
Jedes Mal dachte Nora säuerlich, dass ihre Exschwiegermutter nun sicher zufrieden war. Endlich hatte ihr heiß geliebter Sohn, der Herr Radiologe, eine Frau gefunden, die in die feine Gesellschaft passte. Maries Familie war adelig, zwar nur verarmter Landadel, aber immerhin Mitglied des schwedischen Riddarhuset, und Marie war auf einem Gutshof aufgewachsen.
Genau das, was Henriks Mutter Monica Linde sich jahrelang für ihn gewünscht hatte, statt Nora, die zwar examinierte Juristin war, aber auch die Erste in ihrer Familie, die studiert hatte.
Bald war Simons Geburtstag, und sie musste es schaffen, ihn zusammen mit Henrik zu feiern, ganz gleich, was sie von ihrem Exmann hielt. Aber bei dem Gedanken an die Geburtstagsfeier zog sich ihr der Magen zusammen.
Nora stupste mit dem Fuß den Haufen Schmutzwäsche auf dem Boden an.
»Adam«, rief sie in Richtung Wohnzimmer, wo er vor dem Fernseher saß. »Komm und räum deine Sachen auf.«
Sie wartete einen Moment, dann rief sie wieder, nachdrücklicher diesmal:
»Adam!«
Das Geräusch von Schritten verriet, dass der schärfere Tonfall Wirkung gezeigt hatte. Ihr Sohn kam maulend näher.
»Musst du dauernd rummeckern?«
Obwohl es das Letzte war, was sie wollte, spürte Nora, wie sie ärgerlich wurde.
»Ich meckere, weil du mich dazu zwingst. Wenn du ein bisschen ordentlicher wärst, müsste ich es nicht.«
»Papa meckert nie.«
Nora zuckte innerlich zusammen. Mit unbeirrbarer Präzision hatte Adam einen Pfeil abgeschossen, der genau ins Schwarze traf.
»Aber jetzt bist du bei mir und nicht bei Papa.« Sie bereute ihre Worte sofort, konnte sie sich aber nicht verkneifen. »Außerdem hat Papa eine Putzhilfe, die können wir uns nicht leisten.«
Ein verächtlicher Blick war alles, was sie als Antwort bekam.
Ich will doch, dass sie sich bei mir wohlfühlen, dachte Nora. Warum endet es immer damit, dass ich an ihnen herumnörgle?
Wie zur Bestätigung ihrer düsteren Gedanken fing sie aus den Augenwinkeln ihr Spiegelbild auf.
Sie war schon immer schlank gewesen, aber jetzt war sie mager. Wenn sie wegen ihres Diabetes nicht gezwungen wäre, regelmäßig zu essen, würde sie das Essen komplett vergessen, denn im vergangenen halben Jahr war ihr jeglicher Appetit vergangen. Ihr schulterlanges rotblondes Haar brauchte dringend einen Schnitt, und unter den grauen Augen lagen dunkle Ringe.
Nora wusste selbst, dass sie nicht genügend Schlaf bekam, aber sie hatte keine Ahnung, wie sie das ändern sollte. In ihrem Aktenkoffer lag ein Stapel von Dokumenten, die sie innerhalb einer Woche durcharbeiten musste. Es würde wieder ein langer Abend werden.
»Ich kann dir helfen«, sagte sie versöhnlich und bückte sich, um ein paar schmutzige Socken und Unterhosen aufzusammeln, die unter dem Bett lagen.
»Mhmm.« Er blickte nicht auf.
»Adam, komm jetzt. Ich weiß, dass es nicht einfach ist, aber wir müssen es doch wenigstens versuchen.«
»Mhmm«, kam es wieder.
Sie legte ihm die Hand auf den Arm.
»Du, hör mal …« Sie nahm innerlich Anlauf. »Ich dachte, wir könnten am nächsten Wochenende nach Sandhamn fahren, was meinst du? Du kannst einen Freund mitnehmen, wenn du möchtest. Papa muss zu einer Tagung, deshalb seid ihr zwei Wochenenden nacheinander bei mir.«
Auf seinem schmalen Gesicht erschien die Andeutung eines Lächelns.
Ihre Söhne liebten es, auf die Insel zu fahren, besonders jetzt, wo sie in die Brand’sche Villa gezogen waren, das vielleicht schönste Haus von ganz Sandhamn. Nora hatte es vor einiger Zeit von ihrer Nachbarin Signe Brand geerbt.
Im Laufe des Sommers hatten sie mit vereinten Kräften renoviert und das Schlafzimmer neu tapeziert. Sogar Simon hatte gelernt, Tapetenkleister gleichmäßig aufzutragen. Er war so konzentriert bei der Sache gewesen, dass er vor Anstrengung beinahe schielte.
Nicht nur auf Sandhamn hatten sie die Wohnung gewechselt. Nora hatte eine helle Dreizimmerwohnung in einem Mietshaus im Zentrum von Saltsjöbaden gefunden, die Platz für sie und ihre Söhne bot. Die Jungs teilten sich das größere Schlafzimmer, sie selbst hatte das kleinere genommen. Die Küche war groß und sonnig, genau wie das Wohnzimmer, und in eine Nische in der Küche passte ein Schreibtisch hinein, sodass sie eine eigene Arbeitsecke hatte. Die neue Wohnung lag ungefähr eine Viertelstunde von ihrem alten Haus entfernt.
Adams Stimme riss sie aus ihren Gedanken.
»Kann ich Wille mitnehmen?«
William Åkerman war Adams bester Freund seit Beginn der Mittelstufe. Im letzten halben Jahr, als Adam versucht hatte, sich daran zu gewöhnen, dass er alle zwei Wochen woanders wohnen musste, waren die Jungs noch unzertrennlicher geworden.
Nora legte ihm den Arm um die Schultern und zog ihn an sich. Als kleines Kind war er weißblond gewesen, aber jetzt war sein Haar sandfarben. Es war nicht so dunkel wie Henriks, aber ansonsten glichen sich Vater und Sohn wie ein Ei dem anderen.
»Er kann gern mitkommen.«
»Danke, Mama.«
Adams Tonfall war weicher geworden, und Nora fiel ein Stein vom Herzen.
Sie dachte an Thomas, ihren Freund aus Kindertagen, der auch Simons Patenonkel war. Er hatte ein Sommerhaus auf Harö, nur zehn Minuten von Sandhamn entfernt. Sollte sie ihn anrufen und ihm sagen, dass sie am kommenden Wochenende hinfahren würde?
Als Margit sich der Küche näherte, hörte sie gedämpftes Schluchzen und jemanden, der in beruhigendem Tonfall sprach. Sie trat ein und sah, dass das Weinen von einer jungen Frau kam, die an einem runden Küchentisch saß. Die etwa fünfunddreißigjährige Polizistin neben ihr kam Margit bekannt vor. Das musste Torunn sein.
»Das ist Amanda«, sagte Torunn und stand auf, damit Margit sich setzen konnte.
»Wie geht es Ihnen?«, fragte Margit und nahm auf dem noch warmen Stuhl Platz.
»Nicht so gut«, flüsterte Amanda.
»Ich weiß, dass es schwer für Sie ist, aber könnten Sie uns erzählen, wie Sie Ihren Freund gefunden haben?«
»Wir waren für heute verabredet. Wir müssen morgen eine Hausarbeit abgeben und wollten sie heute Vormittag fertigstellen.«
Ihre Augen waren weit geöffnet, die Tränen hatten die Wimpern zu starren schwarzen Fliegenbeinen verklebt.
»Ihr seid also Kommilitonen?«
»Ja. Wir studieren beide Psychologie.« Ihr Gesicht verzog sich. »Studierten, meine ich.«
Margit tätschelte ihr den Arm.
»Wissen Sie noch, ob die Tür offen war, als Sie gekommen sind?«
»Ich glaube, sie war zu.«
»War sie von innen abgeschlossen? Haben Sie einen Schlüssel?«
Amanda schüttelte den Kopf.
»Sie war nicht abgeschlossen. Ich hatte erst geklopft, aber als er nicht aufgemacht hat, habe ich die Klinke gedrückt und bin reingegangen.«
Sie verstummte, als ihr der Anblick in den Sinn kam, der sie vor einer guten halben Stunde erwartet hatte. Ihre Lippen zuckten, und sie presste die geballte Faust an den Mund, um nicht wieder in Schluchzen auszubrechen.
Margit wartete geduldig, sie wollte das Mädchen nicht drängen.
»Und da hing er dann so da«, sagte Amanda schließlich. »An der Decke, und er hat mich angestarrt, obwohl er doch tot war. Er hat mich die ganze Zeit angestarrt.«
Sie verbarg das Gesicht in den Händen.
»Haben Sie sonst noch jemanden auf dem Flur gesehen, als Sie gekommen sind?«, fragte Margit.
»Nein, alle haben geschlafen, es war ja noch ziemlich früh.«
Margit legte ihre Hand auf Amandas.
»Sind Sie sicher, dass Sie niemanden gesehen haben?«
Vom Flur her waren Stimmen und sich nähernde Schritte von mehreren Personen zu hören. Margit vermutete, dass es Sanitäter waren, die kamen, um die Leiche zu holen. Nilsson hatte seine Arbeit wohl inzwischen erledigt.
»Ich habe überhaupt keinen gesehen«, sagte Amanda.
»Waren Sie und Marcus eng befreundet?«
»Ja.«
Amanda griff nach einem Glas Wasser, das auf dem Tisch stand, und trank ein paar Schlucke.
»Also, wir haben zusammen gelernt. Die ganzen letzten Semester. Wir haben zur selben Zeit an der Uni angefangen. Aber wir waren kein Paar oder so was.«
»Womit habt ihr euch aktuell beschäftigt?«
»Wir haben ein Seminar zum Thema Gruppen und Gruppenprozesse belegt und waren dabei, unsere Hausarbeit zu schreiben.«
»Wissen Sie, ob Marcus einen Laptop hatte?«
Ein Anflug von Verwirrung huschte über Amandas Gesicht, als hätte sie die Frage nicht ganz verstanden.
»Klar hatte er einen.«
»Wir können ihn nicht finden.«
Das Mädchen schien einen Moment nachzudenken.
»Haben Sie in seinem Rucksack nachgesehen? Oder im Bett? Meistens hat er im Bett gelegen und geschrieben.«
»Nicht am Schreibtisch?«
»Nee, da hatte er nur seinen ganzen Kram.«
»Wissen Sie, ob er einen Drucker in seinem Zimmer hatte?«
»Nein, das glaube ich nicht. Ich habe jedenfalls keinen gesehen.«
»Sicher?«
Amanda nickte.
»Und wo hat er seine Sachen dann ausgedruckt?«
Das Gesicht der jungen Frau hatte wieder etwas Farbe bekommen. Sie wirkte gefasster als vorhin, zog aber immer noch nervös an den Ärmeln ihres Pullovers. Sie waren schon ausgeleiert und reichten bis über die Fingerknöchel.
»In der Uni gibt es Drucker, die jeder benutzen kann. Das machen die meisten, ich auch.«
Daran war nichts Ungewöhnliches, dachte Margit. Ein Selbstmord wurde oft im Voraus geplant. Wenn Marcus Nielsen keinen eigenen Drucker besaß, hatte er den Abschiedsbrief vermutlich irgendwo anders ausgedruckt. Er konnte seinen Selbstmord seit Wochen, vielleicht gar Monaten geplant haben.
Das Einzige, was nicht richtig passte, war, dass er Amanda gebeten hatte, an diesem Morgen hierherzukommen. Aber vielleicht wollte er schnell gefunden werden?
»Wann habt ihr verabredet, dass ihr euch heute hier treffen wollt?«
»Freitag, in der Bibliothek, als wir merkten, dass wir mit der Arbeit nicht fertig werden.«
Margit machte den Rücken gerade. Der Stuhl war hart und unbequem, ein billiger Holzstuhl, der sicher nicht mehr als ein paar Kronen gekostet hatte. Aber Studentenwohnheime waren ja auch nicht gerade bekannt für teure Einrichtung.
»Hat Marcus sich in der letzten Zeit irgendwie anders verhalten als sonst? War er überdreht? Oder niedergeschlagen?«
Amanda schüttelte den Kopf.
»Nein, er war genau wie immer. Deshalb begreife ich auch nicht …«
Ihre Stimme versagte. Die Tränen begannen wieder zu fließen.
Margit wartete darauf, dass sie sich beruhigte. Das Mädchen musste mit einem Streifenwagen nach Hause gebracht werden, sobald sie hier fertig waren.
»Hat er jemals davon gesprochen, sich umzubringen?«
»Nein, nie.«
Amandas Antwort kam schnell und mit Nachdruck.
»Da sind Sie ganz sicher?«
»Ja.«
»Und ihr wart so gut befreundet, dass Sie gemerkt hätten, wenn er über irgendwas nachgegrübelt hätte?«
Amanda nickte so heftig, dass ihr dunkles Haar über die Stirn fiel und ihr Gesicht verdeckte.
»Ja, wir haben über fast alles gesprochen.«
Margit beugte sich vor.
»Ich muss das jetzt fragen, auch wenn es hart für Sie ist. Können Sie sich irgendeinen Grund vorstellen, warum er sterben wollte?«
»Nein, das habe ich doch schon gesagt.« Amandas Tonfall klang jetzt trotzig, und sie sah Margit direkt in die Augen. »Marcus war nicht deprimiert. Er war ein stiller Typ, aber nicht auf die Art.«
Selbstmörder reden nicht immer über ihre Absicht, dachte Margit. Aber die Statistik sprach ihre eigene Sprache. Es war eher die Regel als die Ausnahme, dass Freunde und Angehörige steif und fest behaupteten, es habe keinerlei Anzeichen dafür gegeben, dass etwas nicht stimmte.
Sie nahm eine plötzliche Bewegung wahr und drehte den Kopf. Im selben Moment betrat ein hochgewachsener Mann die Küche.
Der blonde Haarschopf, in dem sich erste Silberfäden zeigten, war zerzaust; anscheinend hatte er sich nur mit den Fingern gekämmt. Seine Augen waren verquollen, als wäre er gerade erst aus schwerem Schlaf erwacht, und die breiten Schultern hatte er leicht nach vorn geschoben.
Sein kaum wahrnehmbares Hinken, eher zu ahnen als tatsächlich zu sehen, erinnerte Margit daran, wie nahe er dem Tod gewesen war, draußen auf dem Eis vor Sandhamn im letzten Winter.
»Hallo, Thomas.«
Morgen ist es soweit. Da muss ich mich auf Rindö melden, draußen vor Waxholm, wo die Küstenjägerschule liegt.
Papa hat versprochen, mich hinzufahren, schon morgens um acht soll ich zum Dienst antreten. Wir müssen um sechs losfahren, um pünktlich da zu sein.
Fast tausend Leute hatten sich beworben, vierhundert wurden gemustert und nur fünf Prozent angenommen. In der Regel schließen ungefähr zwei Drittel die Ausbildung ab.
Papa ist mächtig stolz, er macht gar keinen Hehl daraus. Er war Koch in der Armee und schien fast ein bisschen neidisch, als ich ihm erzählte, wofür ich mich beworben hatte.
Mama war eher besorgt, als der Einberufungsbescheid kam.
»Hast du dir das auch wirklich gut überlegt?«
Ich habe nur gelacht. Ich sah mich schon im grünen Barett mit dem goldenen Dreizack.
Dem Abzeichen der Küstenjäger.
Als ich zehn war, haben wir mal mit der Familie einen Ausflug nach Stockholm gemacht. Wir besichtigten das königliche Schloss, und auf dem Weg dorthin gingen wir über den Skeppsbron-Kai, wo mehrere Marineschiffe festgemacht hatten.
Wir waren auf dem Rückweg, als uns ein Trupp Soldaten entgegenkam. Sie trugen grüne Barette und marschierten im Gleichschritt. Alle sahen identisch aus, streng und mit ernsten Gesichtern. Aber als sie auf gleicher Höhe waren, zwinkerte mir ein Soldat zu. Als wäre ich einer von ihnen.
Ich stand nur da und glotzte.
»Was waren das für welche?«, fragte ich, nachdem sie vorbeimarschiert waren.
»Küstenjäger«, sagte Papa. »Elitesoldaten.«
»Küstenjäger«, wiederholte ich und schob meine Hand in seine. »Das werde ich auch, wenn ich groß bin.«
Donnerstag
(erste Woche)
Die Frau, die in der Polizeistation Nacka saß und wartete, erregte Thomas’ Aufmerksamkeit im selben Moment, als er durch die Tür kam. Es war halb acht am Donnerstagmorgen.
Sie war auffallend blass und völlig ungeschminkt. Thomas schätzte ihr Alter auf ungefähr fünfundvierzig, ein paar Jahre älter als er selbst. Sie trug eine kurze schwarze Steppjacke und dunkelblaue Jeans, die unten ausgefranst waren.
»Thomas, da ist jemand für dich und Margit«, rief die Pförtnerin, als sie ihn sah.
Die Frau erhob sich sofort.
»Sind Sie Thomas Andreasson?«
Thomas nickte.
»Mein Name ist Maria Nielsen. Mein Sohn Marcus …« Sie stockte, nahm dann aber neuen Anlauf. »Mein Sohn Marcus ist am Sonntag gestorben. Sie waren dort, Sie haben ihn gesehen.«
Thomas erinnerte sich an die Leiche, die im Sonnenschein gebaumelt hatte. Er erinnerte sich an das klare Herbstlicht und den toten Jungen. An die Stille im Zimmer, nachdem die Sanitäter vorsichtig das Seil gelöst und den Körper abgenommen hatten.
Maria Nielsens Stimme zitterte, als sie fortfuhr.
»Bitte kann ich mit Ihnen sprechen?«
»Kommen Sie«, sagte er und dirigierte sie zum Aufzug.
Sie fuhren zwei Stockwerke höher, und Thomas holte seine Codekarte heraus, um die Tür zu der Etage zu öffnen, in der sich die Ermittlungsabteilung befand.
Thomas reichte Maria Nielsen mit fragender Geste eine Tasse Kaffee, die er aus der kleinen Pantryküche geholt hatte. Sie nahm sie wortlos entgegen. Schwarz, mit zwei Stücken Zucker, die sie in das dampfende Gebräu fallen ließ.
Thomas bat sie in eines der kleineren Besucherzimmer. Maria Nielsen sank auf den Stuhl, ohne ihre Jacke abzulegen.
»Ich muss mit Ihnen über meinen Sohn reden«, platzte sie heraus, noch bevor Thomas sich hingesetzt hatte. »Marcus hat sich nicht das Leben genommen. Das ist unmöglich. Jemand muss ihn umgebracht haben.«
»Wie kommen Sie darauf?«
Thomas blickte in Maria Nielsens blasses Gesicht und bemühte sich um einen neutralen Tonfall. Er wollte ihre Verzweiflung nicht durch Skepsis schüren.
»Ich weiß es einfach«, sagte sie. »Marcus hat nie etwas davon gesagt, sich das Leben zu nehmen. Er war kein unglücklicher Mensch, war nicht depressiv oder niedergeschlagen.«
Thomas beugte sich vor und sagte: »Marcus wohnte ja nicht mehr zu Hause. Könnte nicht etwas passiert sein, von dem Sie und Ihr Mann nichts wussten?«
Sie schüttelte nachdrücklich den Kopf.
»Das glaube ich nicht. Wir hatten engen Kontakt. Außerdem hätte David gewusst, wenn etwas nicht in Ordnung gewesen wäre.«
»David?«
»Marcus’ jüngerer Bruder. Sie sind … waren … wie Zwillinge. David ist völlig am Boden zerstört. Sie wollten im Winter zum Skilaufen, sie hatten davon gesprochen, eine Woche Urlaub in den französischen Alpen zu machen, nach Marcus’ Semesterklausur.«
Sie zog ein zerknülltes Papiertaschentuch aus der Tasche und trocknete sich die Augen.
»Warum hätte er eine Reise mit seinem Bruder planen sollen, wenn er sterben wollte?« Ihr Ton war von Resignation in Aggression umgeschlagen. »Können Sie mir das sagen? Warum hätte er das tun sollen?«
Thomas machte eine kleine abwehrende Bewegung mit der Hand.
»Sie wissen, dass die Obduktion keine Anzeichen für etwas anderes als Suizid ergeben hat? Haben Sie eine Kopie des Berichts erhalten?«
Sie nickte verbissen.
»Das beweist gar nichts.«
»Die Spurensicherung hat den Fundort untersucht, aber es gibt keine Indizien, dass Marcus durch ein Verbrechen zu Tode gekommen ist.«
Thomas sah sie mitfühlend an.
»Leider deutet alles darauf hin, dass er durch eigene Hand gestorben ist«, fügte er hinzu.
Maria Nielsen zuckte zusammen, als hätte jemand sie geschlagen. Ihre Augen füllten sich mit Tränen.
»Es tut mir leid«, sagte Thomas.
»Jemand muss Marcus umgebracht haben.« Maria Nielsen richtete den Zeigefinger auf Thomas. »Sie können seinen Fall nicht einfach so abhaken. Das dürfen Sie nicht.«
»Ich habe nicht gesagt, dass wir das tun. Aber wenn wir keine hinreichenden Verdachtsmomente für ein Verbrechen finden, können wir kaum eine Mordermittlung einleiten.«
Heftig aufflammender Zorn ersetzte plötzlich ihre Verzweiflung.
»Ich bitte Sie! Das hat mein Sohn nicht verdient!«
Sie lehnte sich über den Tisch und packte Thomas am Handgelenk.
Er fühlte mit ihr, aber er hatte noch im Ohr, was der Alte, der Chef der Ermittlungsabteilung, auf der gestrigen Morgenbesprechung über Einsparungen und Unterbesetzung gesagt hatte. Auf den Schreibtischen stapelten sich die Ermittlungsakten. Ein junger Student, der allem Anschein nach seinem Leben ein Ende gesetzt hatte, würde unter diesen Umständen kaum auf die Prioritätenliste rücken.
»Haben Sie Kinder?«
Die Frage kam unerwartet, und für einen Moment war Thomas sprachlos. Er hob die Kaffeetasse zum Mund, um Zeit zu gewinnen.
»Haben Sie?«, wiederholte Maria.
»Nein. Doch.«
Er hörte selbst, wie lahm das klang. Sein Körper erinnerte sich noch an das Gefühl, als er an jenem Morgen aufgewacht war und Emily steif in ihrer Wiege neben dem Bett lag. Als alle Wiederbelebungsversuche erfolglos blieben, hatten die Rettungssanitäter ihn mit Gewalt von der Kleinen trennen müssen.
Am Tod seiner kleinen Tochter war seine Ehe mit Pernilla zerbrochen, und er selbst beinahe auch.
»Ich hatte eine Tochter … aber sie ist gestorben, als sie noch ganz klein war.«
Inzwischen konnte er es zumindest aussprechen. Es hatte lange gedauert, bis er dazu in der Lage war.
Maria Nielsen zwinkerte, aber um ihren Mund lag ein entschlossener Zug. Sie richtete ihre geröteten Augen fest auf Thomas’ Gesicht.
»Das tut mir leid. Aber dann verstehen Sie ja, wie mir jetzt zumute ist.« Ihr Tonfall wurde noch eindringlicher. »Sie müssen mir helfen. Marcus hat sich nicht umgebracht. Ich weiß es genau.«