Roman
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Nach dem autobiografischen Bestseller »Script Avenue« erzählt Claude Cueni in seinem neuen Buch »Pacific Avenue« nicht nur die Fortsetzung seiner Lebensgeschichte, sondern auch von einer fantastischen Reise, die ihn auf die Philippinen führt. Dort will er einerseits die Familie seiner Frau kennen lernen und andererseits für einen weiteren historischen Roman recherchieren: über die erste Weltumsegelung des portugiesischen Seefahrers Ferdinand Magellan. Ein neues Medikament, das er zur Linderung der Folgen seiner Knochenmarktransplantation bekommt, beginnt dabei aber, seine Wahrnehmung zu verändern, und so entführt uns der Autor auf eine zusätzliche, sehr kafkaeske Reise zu den Schaltstellen unseres Gehirns, in die Finsternis unserer Träume – geradewegs zu den Quellen menschlicher Kreativität. »Pacific Avenue« wird so zu einer unvergesslichen Gratwanderung zwischen Poesie und Neurologie und einer großartigen Hymne an das Leben und die Kraft der Fantasie. Nach der »Script Avenue« zündet Cueni in der »Pacific Avenue« erneut ein Feuerwerk an Komik und Desaster und erzählt mit der ihm eigenen Selbstironie von seinem ungewissen Weiterleben unter dem sprichwörtlichen, stets präsenten Schwert des Damokles.
Claude Cueni, geb. 1956 in Basel, schrieb historische Romane, Thriller, Theaterstücke, Hörspiele und über 50 Drehbücher, unter anderem für Fernsehserien wie »Tatort«, »Eurocops«, »Peter Strohm« und »Cobra 11«. Für Blackpencil designte er jahrelang Computergames, darunter den Welthit »Catch the Sperm«. Sein historischer Roman »Das große Spiel« (Heyne), die wahre Geschichte des Papiergelderfinders John Law, belegte Platz eins der Schweizer Bestsellerliste und wurde bisher in 13 Sprachen übersetzt. 2014 erschien der viel beachtete Bestseller »Script Avenue«, in dem Claude Cueni, anders als in seinen bisherigen Büchern, nicht die Geschichten anderer, sondern seine eigene erzählt. 2015 erschien die historische Fiktion »Giganten«, in der er das Leben von Gustave Eiffel, dem Erbauer des Eiffelturms, und Frédéric Bartholdi, dem Erbauer der Freiheitsstatue, erzählt. Claude Cueni lebt in Basel.
Für Emmanuel Goetschel
Alle Rechte vorbehalten, einschließlich derjenigen des auszugsweisen Abdrucks und der elektronischen Wiedergabe.
© 2015 Wörterseh Verlag, Gockhausen
Lektorat: René Staubli, Zollikon
Korrektorat: Reto Winteler, Wetzikon, und Andrea Leuthold, Zürich
Umschlaggestaltung und Motiv: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich
Layout, Satz und herstellerische Betreuung: Lucius Keller und Andrea Leuthold, Zürich
Print ISBN 978-3-03763-060-0
E-Book ISBN 978-3-03763-582-7
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»Es gibt Erlebnisse, über die zu sprechen die meisten Menschen sich scheuen, weil sie nicht in die Alltagswirklichkeit passen und sich einer verstandesmäßigen Erklärung entziehen.«
Dr. Albert Hofmann, Chemiker (1906–2008)
Entdecker des LSD
»Die Fantasie tröstet die Menschen über das hinweg, was sie nicht sein können, und der Humor über das, was sie tatsächlich sind.«
Albert Camus (1913–1960)
1. Onkel Arthur?
2. Manila und Cebu
3. Negros
4. Half Crazy
Nachwort
»Salopard!«, brüllte jemand, »Sauhund!«
Reflexartig schaute ich in die obere rechte Ecke meines Monitors. New Message? Ich versuchte, mich auf meinen Text zu konzentrieren. Malaysia 1511. Der Portugiese Fernão de Magalhães erobert die Hafenstadt Malakka und versklavt einen dunkelhäutigen Jungen.
»Salopard!« Jetzt hatte ich es deutlich gehört. Brüllte Magellan etwa seinen Sklaven an? Wollte er ihn über Bord werfen, weil er sich weigerte, zum Christentum zu konvertieren? Vor eine solche Alternative gestellt, würde ich sogar dem Islam beitreten. Der Sklave war im indonesischen Sumatra geboren, sprach aber auch Cebuano, den Dialekt der philippinischen Insel Cebu. Aber wo zum Teufel liegt Cebu? Und wie hieß der Sklave schon wieder? Traprobana? Malakka? Spätfolgen der Schädeltrepanation? Oder hatten all die Chemos und Pillen mein Gehirn derart frittiert, dass ich mir einen einfachen Namen nicht mehr merken konnte?
»Ouvre cette porte!«, brüllte jemand. Jemand stand draußen im Flur. Jetzt trommelte er mit den Fäusten gegen meine Tür. Ich versuchte, mich erneut auf meinen Text zu konzentrieren. Den Sklaven nenne ich Enrique, das ist der christliche Name, den ihm Magellan später verpasste, nachdem sich der arme Junge für den lieben Gott und gegen die Haie entschieden hatte.
»Salaud! Salaud!«
Sich bloß nicht ablenken lassen. Das Gepolter da draußen integrieren und weiterschreiben. Also machen wir daraus Kanonenschüsse, mit denen sich Magellan den Insulanern jeweils als Vertreter einer überlegenen Zivilisation vorstellte. Steinkugeln aus der Bombarde oder Eisenkugeln aus dem Falkonett? Ist doch egal, Anker lichten und Kurs auf die Gewürzinseln. Eine gute Story braucht gleich am Anfang einen gewissen Drive. Wie bitte? Magellan hat noch keine Seekarte? Bin ich denn für alles verantwortlich?
»Ouvre la porte, salaud! J’te craque le crâne!«
Heißt so viel wie: »Öffne die Tür, Sauhund! Oder ich schlag dir den Schädel ein!« Dieser Jemand donnerte erneut seine Fäuste gegen meine Wohnungstür. Aber wieso sollte ich ihm öffnen, wenn er mir den Schädel einschlagen wollte?
Ich sicherte meine Datei Pacific Avenue und schlich vorsichtig zur Tür. Behutsam verschob ich die kleine Scheibe über dem Türspion – und wich instinktiv zurück. Erst nach einer Weile wagte ich einen zweiten Blick. Ein Riesenauge starrte mich an. Es bewegte sich. Draußen stand offenbar eines jener brachialen Wesen aus der griechischen Mythologie, das nur ein einziges Auge hat, und zwar mitten auf der Stirn.
»Stell dich, wenn du ein Mann bist!«, rief der Zyklop, »ich warte hier draußen, und ich sage dir, ich habe damals in Aleb Said überlebt, weil ich in diesem gottverdammten algerischen Wüstensand ausgeharrt habe. Ich werde dich aushungern! Dann werde ich dir die Eier abreißen, hörst du?«
»Onkel Arthur?«, fragte ich ungläubig. »Wieso hast du es nicht gleich gesagt?«
Onkel Arthur wich ein paar Schritte zurück. Er humpelte. O mein Gott, dachte ich, seine Hüftarthrose ist noch schlimmer geworden. Er wedelte mit einem Hochglanzmagazin.
»Was soll der Scheiß? Da ist eine Geschichte von dir drin. Du schreibst von der hölzernen Handprothese des Capitaine Danjou, die ich seinerzeit im Legionärslager von Französisch-Guayana gekauft habe. Jeder Trottel weiß, dass du deinen Onkel meinst, und das bin ich!«
»Ach, Onkel Arthur, du liest jetzt auch das Kulturmagazin?«
Onkel Arthur begann, das Magazin zu zerfetzen. Ich lehnte mit dem Rücken gegen die Tür und versuchte, die zunehmende Übelkeit (eine Nebenwirkung der Zehnuhrpille) zu unterdrücken. Ich brauchte dringend Primperan und etwas Süßes zum Lutschen. Draußen im Flur tobte der Zyklop wie ein Break-dancer in der Pariser Banlieue. Er versuchte, die Papierfetzen in immer kleinere Stücke zu reißen. Litt er etwa auch unter dem Tourette-Syndrom, dieser neurologisch-psychiatrisch bedingten Anhäufung von Tics und zwanghaften Handlungen?
»Onkel Arthur, die Auflage dieses Heftes ist ziemlich hoch, du schaffst es nie, alle Exemplare zu vernichten. Zudem ist es hundertgrämmiges Papier! Hast du keinen Reißwolf zu Hause? Oder Streichhölzer?«
Onkel Arthur schmiss, was vom Kulturmagazin übrig geblieben war, gegen meine Wohnungstür, und griff sich mit einem Aufschrei an die rechte Schulter. »Jetzt habe ich mir die Schulter gezerrt! Ich schwöre dir, wenn daraus wieder eine frozen shoulder wird, bring ich dich um.«
»Reg dich nicht auf. Niemand weiß, dass du Onkel Arthur bist. Nur du und ich. Für alle andern ist er einfach eine literarische Figur, die in Algerien Kriegsverbrechen begangen hatte und später die Kinder seiner Geschwister vergewaltigte.«
»Hat dir jemals eine Romanfigur die Fresse poliert?«
»Onkel Arthur, ich bitte dich, so eine kleine Kurzgeschichte in einem Kulturmagazin! Außerdem ist die Ausgabe bereits vor einem halben Jahr erschienen.«
»Ich habe deinen Scheiß beim Zahnarzt gelesen. Seine Frau entsorgt die alten Magazine immer im Wartezimmer.«
»Hast du wieder Probleme mit den Weisheitszähnen?«, fragte ich ruhig, bemüht um Deeskalation.
»Ich verbiete dir, jemals wieder etwas über mich zu schreiben! Hörst du?« Onkel Arthur trat erneut gegen die Wohnungstür.
»Das hättest du mir früher sagen müssen. Letzte Woche ist Script Avenue erschienen. Ein autobiografischer Roman. Liegt bereits in allen Buchläden. Onkel Arthur, ich hab nichts ausgelassen. Ich habe geschrieben, wie du meine Cousins jahrelang vergewaltigt hast und warum sich Francis in Syrakus umgebracht hat.«
Onkel Arthur klebte seine Wange an die Tür. »Da kommt noch mehr, Junge? Bist du lebensmüde?«
»Das Buch ist bereits auf Platz 4 der Bestsellerliste. Aber es steht dir frei, die Exemplare sämtlicher Buchhandlungen aufzukaufen, dann schaffen wir vielleicht Platz 3.«
»Ich werde mir ein Buch besorgen und …«, drohte Onkel Arthur.
»Danke! Das ist schön, wenn die Familie zusammenhält. Ich bin um jeden Leser froh! Vielleicht schaffen wir sogar eine zweite Auflage.«
Er schwieg eine ganze Weile. Plötzlich fragte er: »Wieso nennst du mich eigentlich Onkel Arthur?«
»Soll ich in meinen Romanen etwa deinen richtigen Namen nehmen?«
»Ja, da hast du auch wieder recht«, gab er kleinlaut zu.
Er setzte sich müde auf die Treppe, die zum oberen Stockwerk führte. Ich beobachtete ihn weiter durch den Türspion.
»Eigentlich warst du zu Beginn nur eine unbedeutende Nebenfigur«, sagte ich zu ihm, »aber während des Schreibens bist du größer, mächtiger und dominanter geworden, und irgendwann hatte ich Bedenken, dass du am Ende noch zur Hauptfigur heranwächst.«
»Ah«, machte Onkel Arthur, »ich habe dir damals in der Rio Bar gesagt, du solltest ein Buch über mich schreiben. Ein Jurassier in der Fremdenlegion. Oder: Der Mann, der die Schlacht von Algier überlebte.«
»Ich weiß nicht, Onkel Arthur, kein Schwein kann sich heute noch an den Algerienkrieg erinnern. Mir geht es genauso: Ich höre den Hämatologen, Radiologen, Kardiologen, Pneumologen, Podologen und Dermatologen zu, aber nach fünf Minuten habe ich keine Ahnung mehr, was die mir erzählt haben.«
»Wie wärs, wenn du mich jetzt reinlässt?«, fragte Onkel Arthur nach einer Weile. »Der Gemüsehändler sagte mir kürzlich, er hätte dich im Fernsehen gesehen, du hättest Leukämie.«
»Du meinst Gérôme, diese elsässische Bohnenstange mit der Brokkolifrisur? Verliest er neuerdings Gesundheitsbulletins des Unispitals? Meine Leukämie ist im Blut nicht mehr nachweisbar, also habe ich jetzt keine Leukämie mehr. Aber seit der Knochenmarktransplantation wird mein Immunsystem medikamentös unterdrückt, damit es keine Abstoßungen gibt. Ich kann dich deshalb nicht in meine Wohnung lassen. Wegen der Keime. Weiß der Teufel, wo du überall deine Finger reingesteckt hast!«
»Ich bin kerngesund, ich habs nur mit der Hüfte! Du hast ja keine Ahnung …«
»Onkel Arthur, ich schlucke jeden Tag 17 Pillen, also komm mir nicht mit deiner blöden Hüfte. Großmutter wurde damit 95 Jahre alt.«
»17 Pillen am Tag?« Onkel Arthur schien plötzlich besorgt.
»Ja, vor fünf Jahren waren es sogar 25.«
»Dann ist das doch ein kleiner Fortschritt, Sammy«, versuchte er mir Mut zu machen.
»Schon, nur habe ich seit der Knochenmarktransplantation schon über 32 000 Pillen geschluckt. Irgendwann haben meine Organe die Nase voll, und ich vermutlich auch, dann pisse ich nur noch in Regenbogenfarben.«
»Oh«, seufzte Onkel Arthur, »ich habe in Algerien einmal eine Woche lang Blut gepisst! Das war nach der Schlacht …«
»Aufhören!«, schrie ich, »ich kann deine Geschichten nicht mehr hören! Ich bin jetzt im 16. Jahrhundert, und bevor ich den Faden verliere …«
»Wie meinst du das, im 16. Jahrhundert?«
»Verschwinde, oder ich rufe die Polizei!«, rief ich.
»Wozu auch, Sammy? Ist alles verjährt, ich bin jetzt siebzig geworden. Sammy, kein Mensch hat mir gratuliert, in Vilaincourt vergisst man nie. Ich habe keine Familie mehr, die Legion war meine Familie, und hier in der Stadt habe ich nur einen einzigen Menschen, dich.« Die letzten Worte flüsterte er nur noch.
»Und ausgerechnet diesem Menschen wolltest du noch vor fünf Minuten den Schädel einschlagen?«
Onkel Arthur humpelte unschlüssig den Flur auf und ab. Ich beobachtete ihn weiterhin.
»Weißt du noch, wie wir uns zusammen in Belfort High Noon angeschaut haben?«
»Jaja, ich erinnere mich, wie du anschließend den Zollbeamten verprügelt hast.«
Onkel Arthur lachte herzhaft: »Du erinnerst dich?«
»Nicht an alles, ich habe jetzt ein Chemohirn, da vergisst man vieles.«
»Du hast ein Chemohirn?« Onkel Arthur klebte wieder an der Tür.
»Ja, das ist so, als hättest du einen Riesenkaugummi unter der Schädeldecke, du denkst in Zeitlupe, und wenn du einen Schritt weiterdenkst, hast du den vorherigen Schritt schon wieder vergessen. Ich sag dir, einen banalen Einkauf von ein paar Cherrytomaten und einem gefrorenen Pangasius muss ich planen wie Magellan seine Weltumsegelung.«
»Ich könnte dir helfen, ich kenn den Laden da vorn, das Gemüse ist gleich links vom Eingang, und der Pangasius …«
»Im Tiefkühler! Onkel Arthur, das ist meistens so bei Tiefkühlprodukten.«
»Mach jetzt die Tür auf«, bat Onkel Arthur versöhnlich, »wir setzen uns zusammen aufs Sofa und schauen uns einen Film an. Hast du Bier im Kühlschrank?«
»Nein, ich darf doch nicht …«
»Klar, ich Trottel, bist ein armes Schwein, aber lass mich jetzt rein. Man lässt seinen Onkel nicht einfach draußen stehen, ich habs mit der Hüfte. Ich kann nicht so lange herumstehen.«
Ich schwieg. Nach einer Weile fragte er: »Bist du noch da? Was ist das für eine Musik bei dir? Schaust du dir etwa eine DVD an? Mission? Mit Robert De Niro und Jeremy Irons?«
Ich schlug mit der Faust entnervt gegen die Tür. »Nein, das ist Vangelis, 1492: Conquest of Paradise. Von Ridley Scott.«
»Habe ich nicht gesehen, Sammy, spielte da nicht Gérard Depardieu mit?«
»Ja, aber aus historischer Sicht war der Film nicht berauschend.«
»War Depardieu da bereits so fett wie ein watschelnder Seelöwe? Ich wette, der bucht bei seinen Flügen nach Moskau gleich zwei Business-Sitze nebeneinander.« Er klopfte leise an die Tür und flüsterte: »Mach schon auf, Sammy.«
»Ich bin an der Arbeit, Onkel Arthur, ich schreibe einen neuen Roman, der um 1520 spielt, deshalb höre ich den ganzen Tag diesen Soundtrack.«
»Das klingt aber interessant, Sammy. Lass mich rein und erzähl mir mehr darüber. Ich bin sicher, du kannst ein bisschen Gesellschaft brauchen – und ich auch: Ich lebe in einem Dachzimmer in Untermiete bei einer alten Witwe. Ich könnte jeden Tag zu dir kommen.«
Ich setzte mich auf den kleinen Hocker, den mir Maricel, meine Ehefrau, neben die Tür gestellt hatte, damit ich mich setzen konnte, wenn ich mich über die Gegensprechanlage oder durch die Tür mit potenziell kontaminierten Besuchern länger unterhalten musste. »Wenn ich dich reinlasse, Onkel Arthur, versprichst du mir, dass du die Schuhe ausziehst und dir die Hände zweimal gründlich mit Sterilium einreibst?«, fragte ich vorsichtig.
»Das ist ja wie in der Kirche in Vilaincourt, als wir uns mit Weihwasser bekreuzigen mussten«, maulte er.
»Hau endlich ab! Glaubst du im Ernst, du könntest mich mit dieser billigen Tour um den Wickel fingern?«
»Du meinst, um den Finger wickeln? Sind das auch die Pillen?«
»Nein!«, schrie ich, »als ich damals im Koma lag, haben sie mir den Schädel aufgebohrt, um das Blut abfließen zu lassen. Damit der Druck auf das Gehirn abnimmt. Seitdem erwürge ich Sätze und zerstampfe Wörter. Aber ich habe überlebt!«
»Vielleicht hat dich der liebe Gott am Leben gelassen, damit du mir verzeihen kannst«, sinnierte Onkel Arthur.
Mein iPhone klingelte.
»Du hast einen Anruf, Sammy, bei mir ruft seit Jahren keiner mehr an. Geh nur ran, ist schon in Ordnung. Ich gehe in die City. An der Aeschenvorstadt gibts wieder eine Baustelle, die will ich mir genauer anschauen …«
Ich ging ins Wohnzimmer zurück und ließ mich in meinen schwarzen Ledersessel fallen, mein nächtliches Cockpit. Die Armlehnen sind so breit und flach, dass ich links und rechts iPad, iPhone, Zeitschriften, Bücher und den Notizblock drauflegen kann. Hier verbringe ich ganze Nächte, wenn mich Krämpfe und Nervenschmerzen aus dem Schlaf reißen. Hier fühle ich mich wie die Comicfigur The Phantom, die seit 1936 in einer Totenkopfhöhle im Dschungel unter Pygmäen lebt; deshalb nenne ich den Sessel »Phantom-Sessel«.
Ich habe die Hefte von Lee Falk verschlungen und damals nicht geahnt, dass man auch in einer Großstadt zum Phantom werden kann. Ich hatte kaum noch physischen Kontakt zu Menschen, denn jeder Kontakt barg die Gefahr einer Ansteckung. Mein Sozialleben beschränkte sich auf iPhone, Mails und Social Media.
Deshalb kenne ich nur die wenigsten Menschen, die im Haus wohnen. Für sie bin ich wohl auch The Phantom. Aber ich lebe nicht unter Pygmäen, sondern inmitten von griechischen Göttern und Schaufensterpuppen, die meine Wohnung bevölkern. Und ich ermittle nicht da draußen in der Welt gegen böse Mächte, ich ermittle in der Script Avenue, die nun zur Pacific Avenue geworden ist. Sie werden es bald verstehen.
Achmed wartete bereits in seinem Taxi vor dem Haus. Früher nannte er sich Mohammed. Zu meinem Erstaunen hatte er sich eine olivgrüne Gebetskappe aufgesetzt. Er wartete gespannt auf meine Reaktion, doch ich zeigte keine Regung. Er hatte sich auch ein neues Auto gekauft. Gekauft ist übertrieben, geleast. Ich hatte ihm ausgerechnet, dass er sich das gar nicht leisten könne, aber er hatte lächelnd gesagt, Allah sehe, dass das gut sei, kein Problem. Bei mir als Ungläubigem könne das natürlich nicht gehen …
»Es geht dir schon wieder besser«, freut sich Achmed jeweils, wenn er mir die Beifahrertür öffnet und mich zum Universitätsspital fährt, »weil ich für dich bete.« Während der Fahrt erzählt er immer das Gleiche: »Allah mag dich, weil er weiß, dass du eines Tages zum Islam übertreten wirst.«
Meistens lasse ich ihn einfach reden. An diesem Tag meldete ich jedoch meine Bedenken an: »Vielleicht täuscht er sich, Achmed, ich habe für Aberglauben nichts übrig – und für mich ist Religion eine Form des Aberglaubens.«
Achmed lachte. »Wenn eines Tages so ein wilder Kerl mit langem Bart und Krummschwert vor deiner Wohnungstür steht, wirst du auf den Knien darum bitten, zum Islam übertreten zu dürfen. Ihr verwöhnten Hirntypen liebt das Wort, die Karikatur, aber der zornige Gotteskrieger vor deiner Tür hat weder Bildung noch Bankkonto. Er hat weniger zu verlieren als all die intellektuellen Klugscheißer hier, deshalb seid ihr chancenlos und werdet die Islamisierung Europas als das kleinere Übel betrachten.«
»Weißt du, Achmed, ich finde all diese monotheistischen Religionen ziemlich bescheuert, vielleicht sogar faschistoid. Wenn ich mich für einen Gott entscheiden müsste, würde ich den Hirtengott Pan wählen. Ich habe übrigens drei Statuen von ihm im Wohnzimmer.«
»Pan?«
»Der Big Lebowski der griechischen Mythologie. Er steht für sex and drugs and rock ’n’ roll. Er hat zwei Hörner auf dem Kopf und Füße wie ein Ziegenbock. Pan löst Panik aus, wenn man ihn beim Schlafen stört. Er ist ein bad guy, deshalb hat ihn das Christentum geklaut und daraus den Teufel gemacht.«
Achmed bremste brüsk, um zwei Mädchen in Hotpants und bauchfreiem T-Shirt den Vortritt zu lassen. Dabei rutschte ihm seine Mütze, die chachia, vom Kopf. Der Fahrer hinter uns konnte nur knapp eine Auffahrkollision vermeiden und malträtierte seine Hupe. Achmed schaute den beiden Mädchen nach und sagte bestimmt: »Wenn wir hier mal die Mehrheit haben, wird es so was nicht mehr geben.«
»Aber du siehst es auch ganz gern, oder?«
»Das sind Huren«, lächelte Achmed, »alle eure Frauen sind Huren und haben keinen Respekt.«
»Ich mag dich ja, Mohammed, auch wenn du jetzt Achmed heißt, aber solltest du dich nicht ein bisschen mäßigen?«
Achmed bedrängte das vorausfahrende Fahrzeug.
»Wozu mäßigen, Sammy? Schau dir mal die Geburtenraten an. Der Imam in der Berliner Al-Nur-Moschee hat ausgerechnet, dass wir im Jahr 2036 in Europa die Mehrheit haben werden. Wir sind gekommen, um zu bleiben, Sammy. Wir müssen uns nicht mäßigen. Erwartet uns! Jederzeit! Überall! Wir erobern euch nicht mit Panzern, sondern mit unseren Gebärmüttern!« Er lachte erneut, man wusste nie so genau, wie ernst er das alles meinte.
Beim nächsten Vollstopp klappte der Deckel des Handschuhfachs auf meine entzündeten Kniescheiben, was ziemlich schmerzte. Ein Flugblatt wurde seinem Namen gerecht und flog mir auf den Schoß.
»Hast du eigentlich deine Taxikundenkarte wieder gefunden?«, fragte Achmed.
»Nein«, sagte ich, »das ist jetzt schon das dritte Mal, dass ich sie verloren habe. Es ist echt zum Rohölscheißen. Ich vergesse Termine, kriege Mahnungen, verwechsle Hausnummern mit Telefonnummern und Uhrzeiten, es ist unsäglich, was diese Krankheit mit mir anstellt.«
»Im Koran würdest du Antworten auf deine Fragen finden, glaub mir, ich habe das alles studiert. Der Koran hat auf alles eine Antwort.«
Ich schaute nachdenklich zu Achmed rüber. Es war kaum zu fassen, wie er sich in den letzten Jahren verändert hatte. Während sich die ältere Generation der Muslime nach und nach mit unserem Rechtssystem arrangierte, wurden die Secondos immer radikaler, obwohl sie hier aufgewachsen waren. Achmeds Mobile klingelte, er nahm den Anruf entgegen, murmelte ein paar türkische Worte und legte wieder auf.
»Was sagt eigentlich der Koran zu deinem iPhone? Darfst du Candy Cash downloaden?«, fragte ich.
»Natürlich, für das haben wir Imame, die das interpretieren. Kürzlich fragte ein Bruder den Imam: Wie weit darf meine Frau ohne männliche Aufsicht reisen?«
»Zweiundsiebzig Schritte«, mutmaßte ich, »oder verwechsle ich das mit den Jungfrauen im Paradies?«
Achmed hob wie Lehrer Lämpel in Max und Moritz den Zeigefinger und sagte: »Exakt 78 Kilometer. In den Schriften wird nämlich allein reisenden Frauen erlaubt, drei Tage und drei Nächte ohne männliche Aufsicht unterwegs zu sein.»
»Aber im 7. Jahrhundert waren die Leute noch mit dem Kamel unterwegs …«
»Eben! Deshalb wurde diese Frage vom Media Research Institute, das sich mit Islamfragen befasst, sorgfältig geprüft. Und die Imame kamen zum Schluss, dass ein Kamelritt von drei Tagen einer Distanz von exakt 78 Kilometern entspricht! Der Islam ist nicht so blöd, wie ihr Kafirn glaubt!«
Ich umklammerte mit der rechten Hand mein linkes Handgelenk, um den plötzlich entstehenden Krampf im Handballen zu unterdrücken. »Achmed, ihr habt Dutzende von diesen Islaminstituten und Tausende von Imamen. Einige haben Theologie studiert, aber das ist keine Bedingung, um Imam zu werden. Bei euch kann jeder bekiffte Ziegenhirt aus dem Hindukusch den Koran nach eigenem Gutdünken interpretieren und öffentlich verkünden. Deshalb versucht jeder Imam, den andern in Sachen Radikalität zu übertreffen. Euch fehlt ein allgemein akzeptiertes geistiges Oberhaupt, ein Chef, der ein bisschen aufräumt und den Standard vorgibt. So eine Art theologischer USB-Stecker.«
»Wir haben den Großimam Scheich Ahmed al-Tajib von der ägyptischen al-Azhar-Universität. Er behauptet, es gebe eine historische Ansammlung falscher Interpretationen islamischer Quellen, die zu Extremismus und Gewalt geführt hätten. Man müsse den Islam deshalb der Zeit anpassen, modernisieren. Aber der Islam ist nicht reformierbar, weil er nicht reformiert werden muss.«
Ich warf einen Blick auf das Flugblatt auf meinem Schoß.
»Hat mir gestern einer vom Islamischen Zentralrat auf dem Marktplatz ausgehändigt«, sagte Achmed, »aber ich habe mit denen nichts zu tun.«
»Hmm …«, machte ich und legte das Flugblatt ins Handschuhfach zurück, »vierzig Peitschenhiebe wegen eines Feierabendbierchens? Ist das nicht ein bisschen krass?«
»Allah will das so«, sagte Achmed, »kannste nix machen.«
»Wie wollt ihr bloß die nächste Fußball-WM überstehen?«
Achmed lachte und zeigte einem Velofahrer den Mittelfinger.
»Achmed, es ist noch nicht lange her, da warst du ein moderner Muslim mit Nike-Kappe. Doch jedes Mal, wenn du von deinem Türkeiurlaub zurückkehrst, bist du frisch imprägniert und etwas radikaler. Und mir scheint, seit du deine Leasingraten nicht mehr bezahlen kannst, bist du noch radikaler geworden. Jetzt läufst du mit einer chachia rum, nennst dich Achmed und mich einen Kafir. Kaum zu glauben, dass du vor zehn Jahren noch jedes Wochenende in der Stadt rumgebumst hast.«
»Ich war ein Suchender«, rechtfertigte sich Achmed, »aber ich habe zum wahren Glauben gefunden. Jetzt bumse ich nur noch meine Plastikpuppe zu Hause, die ist weder verheiratet noch unverheiratet.«
»Das geht voll in Ordnung, Achmed, im Koran steht bestimmt nichts über Plastikpuppen.«
»Ich mag dich ja auch, Sammy, aber du bist und bleibst ein Kafir, ein Ungläubiger. Ich dürfte streng genommen keinen Kafir chauffieren. In der 5. Sure, al-Ma’ida, Vers 51, steht klar geschrieben: ›O ihr, die ihr glaubt, nehmt nicht Juden und Christen zu Freunden.‹«
»Das kann aber bestimmt nicht für Taxifahrer gelten, Achmed, oder?«
Wir gerieten erneut in einen Stau. »Lass mich aussteigen«, sagte ich entnervt, »den Rest gehe ich zu Fuß. Ein bisschen Training muss sein. Use it or lose it.«
Achmed zwinkerte mir zu. »Siehst du? Deshalb habe ich die Plastikpuppe.«
Der Flur vor dem verglasten Eingang zum Zellersatzambulatorium diente als Warteraum. Frauen und Männer jeglichen Alters harrten hier aus, bis sie aufgerufen wurden. Im Winter trugen fast alle einen Mundschutz, und nicht wenige schützten sich auch im Sommer, wobei ich nie wusste, ob die Betreffenden übervorsichtig waren oder gerade mit Infekten zu kämpfen hatten und gern auf weitere Viren, Bakterien und Keime verzichten wollten. Einige blätterten in Zeitungen, einige taten gar nichts oder sorgten sich nur. Einige waren vom Kortison aufgedunsen wie Heißluftballone oder abgemagert wie die Skelette im Naturhistorischen Museum. Was mich angeht, so war ich gerade im Michelin-Männchen-Stadium, und meine Haut sah aus, als hätte ich mich für eine Halloween-Party geschminkt.
Einige Patienten trugen Mützen, um das kahle Haupt zu verbergen, einige waren allein, andere in Begleitung, ab und zu wurde einer im Rollstuhl an uns vorbeigeschoben, die Sauerstoffflasche an der Rückenlehne, und jeder, der hier den halben oder ganzen Vormittag wartete, dachte sich seinen Teil. In diesem Flur waren wir alle Brüder und Schwestern im Geiste, unabhängig von der Art Leukämie, die uns erwischt hatte, und den unterschiedlichen Krankheitsstadien, Behandlungsformen und Aussichten.
Ich hatte Kopfhörer auf und hörte an diesem Morgen Kings of Leon und Jerry Lee Lewis. Manchmal wechseln die Patienten ein paar Worte miteinander. Dann tun wir so, als würden wir hier auf den Flug nach New York oder Tokio warten. Ein älterer Patient sagte mir einmal, im Alter wolle man vermehrt Oldies hören, weil sie das Tor zur Erinnerung aufstoßen. Deshalb müsse man manchmal weinen. »Und weißt du«, hatte er noch gesagt, »Ärsche wie die von Miley Cyrus und Kim Kardashian habe ich schon zur Genüge gesehen.« Ich traf seine Frau Jahre später in der Delikatessenabteilung des Globus. Sie sagte mir, ihr Mann sei tot. Zuerst sei er oft gestürzt, dann habe er nur noch erbrochen, und als der Darm abgestoßen wurde, habe sie ihn ins Spital gebracht. Nach zwei Wochen sei er gestorben. Ich hatte anschließend keine Lust mehr auf Ravioli al limone.
Nach einer Weile wurde ich in eines der Untersuchungszimmer geführt. Drei Betten und ein Sessel für die Blutentnahme im Sitzen. Ich hatte Glück, das Bett beim Fenster war noch frei. Hatte ich mich während meines sechsmonatigen Aufenthalts im Isolationszimmer jeweils auf die Aprikosenkonfitüre gefreut, freute ich mich hier auf die freie Sicht über die Stadt, während die Krankenschwester, nein, die Krankenfachfrau, nein, die Pflegefachfrau, meine Vene suchte und die Nadel sanft einführte. Vier Ampullen für 52 Laborwerte. Dann folgten Blutdruck, Gewicht, Temperatur. Ich habe seit bald fünf Jahren oft leicht erhöhte Temperatur, das ist die Hitze, die meinen Körper von innen austrocknet: GvHD, Graft-versus-Host-Disease. Nach einer allogenen Stammzelltransplantation attackieren die fremden Zellen, die einen freundlicherweise von der Leukämie geheilt haben, die gesunden Organe. Ein Urheberrechtsstreit sozusagen: Wer ist das Original, wer ist die Kopie? Um Organabstoßungen zu verhindern, wird die körpereigene Immunabwehr täglich medikamentös unterdrückt. Das bewirkt aber auch, dass man einen Infekt nach dem andern erleidet. Jeder kann zu schweren Komplikationen führen und das Ende bedeuten.
Nach der Blutentnahme wurde ich ins Lungenlabor gerufen. Einige der wartenden Patienten husteten erbärmlich und versetzten mich in Angst und Schrecken, einige hielten dabei die Hand oder ein Taschentuch vor den Mund, andere husteten einfach in die Runde. Als gebildeter Hypochonder leidet man natürlich mehr, weil man weiß: Beim Niesen werden die ausgestoßenen Tröpfchen auf 160 Stundenkilometer beschleunigt, was rund 45 Meter pro Sekunde ergibt. Ich trug hier immer einen Mundschutz, aber ein Ganzkörperkondom wäre zweckmäßiger gewesen.
Meine Lunge war bei 41 Prozent Restvolumen, also stabil auf tiefem Niveau. Als mir die Lungenfachfrau den Computerausdruck für die Hämatologie aushändigte, sagte sie, sie hätte die Script Avenue gelesen. Sie machte eine Pause, als wollte sie sagen, sie wisse jetzt Bescheid, sie wisse nun alles über meine geheime Welt. »Sie waren also in Hongkong«, schmunzelte sie. Zum Glück war der Fußboden aus Beton und mit Linoleum überzogen, sonst wäre ich vor Scham darin versunken. Sie dachte bestimmt an die Sexszenen mit Sariani.
Ich ging zurück in den fünften Stock, in die Hämatologie. Es gab kaum noch einen freien Stuhl im Flur. Ich setzte mich zwischen zwei Vermummte und las wie üblich die Manila Times. Nach der Zeitungslektüre scrollte ich die News auf Facebook und realisierte einmal mehr, was ich alles nicht mehr machen konnte. Ja, Facebook trägt nur beschränkt zum Tagesglück bei. Der eine postet seinen neuen BMW, und selber hat man nur ein altes, gebrauchtes Velo, das einmal im Monat gestohlen wird. Der Nächste postet seine neuen Hundefotos. Ich vermisse den Kontakt zu Tieren sehr, aber ich darf keine mehr berühren. Keimalarm. An diesem Morgen hatte ich den Eindruck, dass all meine Facebook-Freunde in Afrika auf Safari waren, in philippinischen Korallenriffen tauchten oder mit halbnackten Blondinen vor den Niagarafällen posierten.
Oh, jemand wollte auf Facebook mein Freund werden. Großartig! Man kann gar nicht genug Freunde haben. Ein Dr. Pedro Hacban aus Cebu. Er habe auf meiner Homepage gelesen, dass ich einen historischen Roman schreibe, der auch auf seiner Insel spiele, das mache ihn neugierig. Ich schaute mir kurz sein Profil an, denn hinter jedem Professor kann auch eine russische Prostituierte stecken, die von der Mafia vorgeschoben wird. Er war offenbar Direktor des Museo Sugbo an der Cuenco Avenue in Cebu. Ich googelte kurz das Museum und schaute mir auf Tripadvisor die Bewertungen unter Cebu/Sehenswürdigkeiten an. Schien informativ zu sein, aber kein sonderlich großes Museum; ich nahm die Freundschaftsanfrage an. Irgendein anderer Typ, der aus der Zeitung von meiner Krankheit erfahren hatte, wollte mir einen Sirup verkaufen – ich wäre dann in wenigen Stunden geheilt. Ich schrieb ihm zurück, das sei doch großartig, dann könnten jetzt alle Krebszentren dieser Welt dank seinem Sirup geschlossen werden. Ein Leser der Script Avenue meldete sich, um mir von seinem Schicksal zu erzählen. Ich war einmal mehr erstaunt, dass meine Ehrlichkeit in diesem Roman viele Menschen veranlasste, mir mit der gleichen Offenheit Intimes mitzuteilen.
Und dann: Message for you.
Ich klickte auf die Mail mit dem Absender Lourgien und dem Betreff Do you miss me, Joe? Es war tatsächlich diese indonesische single mom mit dem taubstummen Kind, die mich nicht Sammy nannte, sondern Joe, weil man in ihrem Land alle »Langnasen« Joe nenne. Falls Sie die Script Avenue gelesen haben, wissen Sie, dass ich Lourgien, die sich damals Sariani nannte, vor fünf Jahren im Phonak-Center in Hongkong kennen gelernt hatte. Und dass ich ihr ein Hörgerät sowie drei Jahre Taubstummenunterricht für ihren kleinen Sohn Ken bezahlt hatte. Als damaliger Neo-Witwer und tropfender Trauerpudding hatte ich keinen klaren Gedanken mehr fassen können. Mein Freund Henri, der in Hongkong Software für die Casinos in Macau vertrieb und mittlerweile verschollen ist, hatte mich gewarnt: »Die Frau ist street-smart.« Er war richtig sauer geworden, als ich nicht auf ihn hörte, aber ich war damals, in meinem larmoyanten Zustand, besessen davon, Gutes zu tun. Der Verlust der Partnerin, nach 33 gemeinsamen Jahren, ist eben nicht so einfach zu überwinden.
Aber hatte der kleine Ken sprechen gelernt? Nein, seine Mutter hatte sich mit dem Geld ihre Brüste vergrößern lassen. Sie muss ständig ihren Namen ändern, weil all ihre Opfer ihren Account sperren. Und dieses Miststück wagte es heute Morgen, mich wieder zu kontaktieren? Sie schrieb, sie lebe jetzt nicht mehr in Jakarta, sondern wieder in Manila. Sie wolle kein Geld, nur ein paar nette Zeilen, vielleicht mal ein Bild oder so, sie würde jeden Tag an mich denken, sie sei homesick nach mir. Wahrscheinlich nach meiner Entwicklungshilfe. Falls ich jemals auf die Philippinen käme, würde sie am International Airport in Manila auf mich warten. Ich wollte Fuck you! antworten, ließ es aber sein. Ich wusste aus meiner Zeit als Krimiautor, dass man sich in solchen Fällen nicht in ein Gespräch verwickeln lassen sollte. Deeskalation, Kapitel drei. Ich löschte ihre Nachricht. Einmal mehr.
Ein Arzt kam den langen Flur entlang. Alle schauten ihn erwartungsvoll an. Es war ein bisschen wie beim Bachelor. Wer kriegt die Rose? Alle sechs Monate wechselt der Arzt; Universitätsspitäler sind eben auch Ausbildungszentren, und irgendwo müssen sich zukünftige Fachärzte Praxiserfahrung aneignen. Aber diesmal war es der Oberarzt. Wenn er kommt, gibts meistens etwas Besonderes mitzuteilen. Wir versuchten alle, an seinem Gesichtsausdruck abzulesen, was es wohl sein könnte. In der Hand hielt er einen Ausdruck des Lungenlabors und nickte mir zu; ich war an der Reihe.
»Alles mehr oder weniger stabil«, sagte er, als er mir im Behandlungszimmer den Befund mitteilte.
»41 Prozent sind doch ein Fortschritt», erwiderte ich, »vor drei Monaten war ich noch bei 37 Prozent.« Ich bestand darauf, dass sich was Positives getan hatte. Fortschritte!
Er wippte zögerlich mit dem Kopf und zeigte mir die grafische Darstellung der Lungenfunktionstests der letzten fünf Jahre. Der Kurvenverlauf entsprach in etwa dem Börsenkurs von Blackberry.
»37 oder 41 Prozent – das ist auch ein bisschen von der Tagesform abhängig. Würden wir den Test heute Nachmittag wiederholen, hätten Sie vielleicht wieder 37 Prozent. Entscheidend ist die Langzeitkurve.« Er deutete erneut auf die Blackberry-Performance. Ich sah ihm an, dass er mir gern etwas Besseres gezeigt hätte, den Aktienkurs von Anheuser-Busch oder so. Die meisten Ärzte leiden mit, wenn sie schlechte Nachrichten haben.
»Dann geht es jetzt so weiter?«, fragte ich frustriert. »Letztes Jahr habe ich sieben Prozentpunkte verloren, wenn es dieses Jahr wieder sieben sind …«
»Sie müssen einfach Erkältungen vermeiden …«
»Es ist eher unwahrscheinlich, dass ich jahrelang ohne Erkältung durch den Winter komme …«
Was wollte ich denn hören? Dass ich schon mal mit der Organisation der Party zu meinem hundertsten Geburtstag beginnen könne?
»Wir haben letztes Jahr die Immunsuppression etwas reduziert. Seitdem baut Ihr Körper wieder eine eigene Immunabwehr auf.«
»Ich möchte, dass Sie mir ganz ehrlich sagen, wie meine Aussichten sind. Wenn es nächstes Jahr zu Ende geht, esse ich jeden Tag im Donati Scaloppine purgatorio del padrone, dann muss ich ja nicht mehr fürs Alter sparen. Diese Ungewissheit blockiert mich.«
Der Arzt hörte mir aufmerksam zu und sagte schließlich: »Wir wissen nicht, wie es weitergeht. Sie könnten bereits heute Nacht eine weitere Abstoßung haben, vielleicht auch erst in einem halben Jahr, vielleicht bleibt es so stabil, und Sie erreichen ein normales Durchschnittsalter. Wir wissen es einfach nicht. Bei Darm- oder Brustkrebs haben wir Hunderttausende von Patientendaten, aussagefähige Statistiken, aber in Ihrem Fall gibt es zu wenig Datenmaterial.
Ich hörte nicht mehr richtig zu, ich wollte an der Pacific Avenue weiterschreiben. Ich wusste mittlerweile, wie ich Magellan einführen würde, die Szene würde in der Casa da India in Lissabon stattfinden, wo in der Blütezeit Portugals die Überseeterritorien verwaltet wurden. Ich hatte die Szene mittlerweile komplett vor Augen, ich konnte es kaum erwarten, sie niederzuschreiben. In diesem Augenblick war mir meine Krankheit scheißegal.
»Haben Sie seit der letzten Kontrolle Veränderungen festgestellt?«, fragte der Arzt.
»Nein, alles wie üblich«, sagte ich ungeduldig, »alle paar Stunden Krämpfe, Nervenschmerzen, die Haut verklebt mit dem Gewebe, versteift die Gelenke, ich versteinere allmählich. Wird wohl nicht mehr besser.«
»Es kann mit den Jahren wieder verschwinden oder bis zur völligen Invalidität führen, das ist bei jedem Patienten anders. Aber wir beobachten es«, sagte er und bat mich dann, Schuhe und Socken auszuziehen. Vergeblich versuchte er, mein versteiftes Fußgelenk zu mobilisieren. »Wir beobachten es«, wiederholte er, »haben Sie noch Fragen?«
»Ja, eine letzte«, sagte ich, während ich meine Strümpfe wieder anzog. »Ist es möglich, dass all diese Medikamente nach all den Jahren meine Psyche beeinträchtigen? Irgendwie werde ich nicht mehr richtig wach. Ich bin nicht mehr präsent. Ich schwebe wie in Trance durch den Tag. Manchmal verliere ich für den Bruchteil einer Sekunde die Orientierung. Wo bin ich? Ich bekomme vermehrt Mahnungen wegen nicht bezahlter Rechnungen, trage Termine falsch ein, verliere mitten im Gespräch den Faden …«
Der Oberarzt schien nicht überrascht. Das war schon mal beruhigend. Offenbar waren meine Beschwerden nichts Ungewöhnliches. »Ihre Probleme können verschiedene Ursachen haben. Sie lagen eine Weile im Koma, hatten zahlreiche Narkosen. Jeder fünfte Patient erleidet nach einer Narkose eine Störung der Gehirnfunktion. Manche sind verwirrt, können sich nicht mehr erinnern, können die Realität nicht mehr von ihren Gedanken trennen, haben Wahnvorstellungen, sie verheddern sich in einem psychischen Ausnahmezustand. Das ist ein postoperatives Syndrom, Delir. Während des chirurgischen Eingriffs unter Narkose entstehen im Gewebe große Mengen von Entzündungsstoffen. Sie überfluten den Körper, durchdringen die Blut-Hirn-Schranke und greifen die Gehirnzellen an.«
»Geht das vorüber?«
»Manchmal ja, manchmal nein. Manchmal stellen wir eine Wesensveränderung fest, die es dem Patienten verunmöglicht, weiterhin selbständig zu leben.«
»Oh«, machte ich, »dann werde ich meiner Frau nun täglich Blumen bringen.« Ich wollte aufstehen, doch der Arzt gab mir ein Zeichen, sitzen zu bleiben. Ich hatte ja geahnt, dass noch etwas kommt.
»Die Pneumologen empfehlen, dass Sie ab heute täglich zweimal Cellaris zu sich nehmen. Wir geben Ihnen eine Schachtel mit und ein Dauerrezept.«
»Cellaris?« Ich schaute ihn fragend an.
»Vielleicht sollten wir die nächste Kontrolle etwas früher ansetzen. Nicht alle Patienten vertragen Cellaris.«
»Was wollen Sie damit andeuten?«
Der Oberarzt hatte plötzlich einen sehr merkwürdigen Gesichtsausdruck.
Ich zog meinen Mundschutz über die Nase, reinigte vor dem Verlassen des Zimmers meine Hände mit Sterilium und trat auf den Flur hinaus. Ich ärgerte mich, dass ich den Arzt so lange mit meinen dümmlichen Fragen aufgehalten hatte. Was sollte er mir sagen? Dass ich kerngesund war?
Wichtig war jetzt nur: Wo kriege ich den besten Pariserring? Ich war mir durchaus bewusst, dass die Patisserie meinen Bauch wie einen Ballon aufblasen würde. Kortison verursacht, je nach Dosis, beträchtliche Fettverteilungsstörungen, aber ohne süße Schweinereien würde ich den Stress, der mir im Nacken saß, nicht abbauen können. Vielleicht würde ich sogar noch eine Schachtel Schokowaffeln aus dem Läckerli Huus brauchen, die mit der dunklen Schokolade. Einen kleinen Serotoninschub zur Hebung der Stimmung werde ich mir doch wohl verdient haben, oder?
»Alles okay, Hunnybunny?«, fragte Maricel, während sie tänzelnd und singend den Reiskocher ausschaltete und sich wieder an den Herd stellte. Im Hintergrund lief die philippinische Tagalog-Version von Freddie Aguilars Anak über die Karaoke-Anlage, die ich ihr zum Valentinstag geschenkt hatte. In Maricels Gegenwart ist es kaum möglich, Trübsal zu blasen, ihre Fröhlichkeit ist ansteckend. Sie erfreut sich am nackten Leben und überschüttet jeden Besucher mit Herzenswärme und Zuneigung. Sie erinnert mich jeden Tag ein bisschen an die polynesische Tänzerin Tarita Tumi Teriipaia, die in Meuterei auf der Bounty die Rolle der Maimiti an der Seite von Marlon Brando spielt. Ja, das war 1962 – Please Mr. Postman, der Hit der Marvelettes, John F. Kennedy bestellte noch rasch 1200 kubanische Zigarren, ehe er das Handelsembargo gegen Kuba unterschrieb.
Streichen!, hat jemand am Rand vermerkt. Wer? Mein Sohn Tim? Ich etwa? Ist egal, wird nicht gestrichen. Ich habe zwar keine Kontrolle mehr über meine Krankheit, aber in der Pacific Avenue bin ich der Boss. Zu diesem Zeitpunkt bestand jedenfalls noch berechtigte Hoffnung, dass es so war.
»Hunnybunny, ich rede mit dir.«
»Oh«, sagte ich und schaute ihr über die Schulter.
Sie verrührte hauchdünn geschnittenes Kalbfleisch, das vorher stundenlang in einer philippinischen Marinade gelegen hatte, mit Chili, Frühlingszwiebeln und Knoblauch. Bistek Tagalog. Sie gab mir einen Kuss. »Alles okay?«
»Ja, alles okay, alles stabil. Der Arzt meinte, langsam entwickle mein Körper wieder ein eigenes Immunsystem! Ich kann jetzt da draußen ohne Mundschutz herumlaufen.«
»Siehst du?», freute sich Maricel, ich habe dir immer gesagt, dass wir die Talsohle durchschritten haben.« Sie gab mir noch einen Kuss und flüsterte: »Ich war übrigens noch bei Western Union und habe dir ein paar Luxemburgerli mitgebracht.«
Ich umfasste ihre Taille und neckte sie ein bisschen, aber sie entwischte mir, als plötzlich Simply the Best über die Karaoke-Anlage lief. Wir sprechen selten über meine Krankheit, aber am Tag der Monatskontrolle wird uns stets bewusst, dass unser gemeinsames Zusammenleben begrenzt ist.
»Du hast heute im Schlaf wieder gelacht«, sagte sie, »was hast du geträumt?«
»Ich träumte von Magellan. Wir waren in der Casa da India in Lissabon. Und plötzlich tauchte mein Schwiegervater Jack auf.«
»Der ist doch längst gestorben.«
»Eben, das fand ich echt komisch, vor allem weil unsere Dialoge recht vernünftig waren.«
Maricel verteilte das Bistek Tagalog auf zwei Teller. »Hoffentlich wird die Pacific Avenue nicht so traurig wie die Script Avenue. An der Buchvernissage mussten einige Leute weinen«, sagte sie und beobachtete mich skeptisch. Sie konnte längst meine Gedanken lesen. »Du hast die fünf schwierigen Jahre hinter dir, Hunnybunny, deine Abstoßungen sind jetzt stabil. Aber du leidest unter dem Fluch, der alle Schriftsteller trifft. Ihr denkt immer die schlechteste aller Möglichkeiten durch. Deshalb heiratet ihr immer Krankenschwestern. Wir auf den Philippinen, wir vertrauen swerte.«
»Hör mir auf mit swerte! Euer Optimismus grenzt an Realitätsverweigerung«, sagte ich und öffnete den Kühlschrank. Ich nahm eine kleine Flasche Pommery aus dem Getränkefach und riss das Zellophan ab.
»Du trinkst Alkohol?«, rief Maricel entsetzt, als sie das Essen auf den Tisch stellte. Sie reagiert immer entsetzt, wenn ich einmal im Monat diesen kleinen Pommery trinke, wobei mir schon nach der Hälfte übel wird.
Nach dem Essen blieben wir wie üblich noch eine Weile zusammen am Tisch sitzen und scrollten über unsere iPhones und iPads, zeigten uns gegenseitig witzige Postings oder Bilder. Plötzlich vergrub Maricel ihren Kopf in den Armen und weinte leise. Ich stand auf und ging zu ihr hinüber. Auf ihrem iPad war das Bild ihres Vaters zu sehen. Er wirkte eingefallen und ausgezehrt. Er saß, von der Sonne fast schwarz gebrannt, mit halb offenem Mund inmitten eines Dschungelgartens, sein Gesichtsausdruck war leer. Kinder spielten, aber er schien sie nicht zu beachten, links im Bild erkannte man einen angeketteten Hahn.
»Das ist Papa«, Maricel schluchzte verhalten, »er ist so alt geworden.«
»Du solltest ihn besuchen«, sagte ich spontan, »du warst zuletzt vor drei Jahren auf den Philippinen.«
Wir saßen noch eine Weile beieinander, schließlich stand sie abrupt auf und sagte, es sei wieder gut, sie sei einfach erschrocken, als sie gesehen habe, wie alt er in der Zwischenzeit geworden sei.
Sie ging zur offenen Küche hinüber und bereitete auf der Abstellfläche meine Pillen für die nächsten sieben Tage vor. Sie drückte eine nach der andern aus dem Blisterstreifen und verteilte sie in den Fächern des Pillenspenders. Ich legte die Cellaris-Schachtel, die man mir im Spital mitgegeben hatte, neben den Haufen zerknüllter Blister.
»Cellaris?«, fragte sie erstaunt. »Morgens und abends?«
»Ja, Cellaris soll die Lungenbläschen erweitern. Die abgestoßenen Lungenteile werden dadurch nicht wieder lebendig, aber man kann besser atmen.«
Maricel griff nach dem Beipackzettel. Er war fast so lang wie ein Borussia-Dortmund-Schal.
»Und es würde dir wirklich nichts ausmachen, wenn ich für ein paar Wochen auf die Philippinen ginge?«, fragte sie.
»Natürlich nicht. Ich komme auch allein klar. Ich verbringe mein Leben eh in meinem Zimmer, kochen kann ich auch, und Wasser und Nahrungsmittel kann man sich ins Haus liefern lassen.«
Maricel schaute mich prüfend an. Sie war sich ihrer Sache nicht ganz sicher. Sie las aus dem Beipackzettel vor: »Bauchschmerzen, Kopfschmerzen, Schluckbeschwerden, Hautausschläge, Juckreiz, Nasenbluten, Schwindel, Zittern, Krämpfe, Spasmen, Gelenkschmerzen, Erschöpfung …«
»… das hab ich doch alles schon …«
»… übermäßiger Durst …«
Ich prostete ihr kurz zu und leerte mein Champagnerglas.
»… Schwellungen des Gesichts, der Lippen, der Zunge …«
»… und des Penis?«
»… Halluzinationen, Zittern, Ängstlichkeit, Depressionen, Desorientierung, Gedächtnisschwäche, abnormes Träumen, Aufmerksamkeitsstörungen, Selbstmordgedanken …« Maricel schaute erschrocken hoch: »Hunnybunny, du wirst dich doch nicht umbringen?«
Ich steckte mir ein Luxemburgerli in den Mund. Die mit der Mandarinencreme mochte ich besonders.
Dreißig Minuten nach der Einnahme meiner ersten Cellaris-Pille überfiel mich eine schreckliche Müdigkeit. Ich legte mich aufs Bett. Merkwürdige Gedanken gingen mir durch den Kopf, schreckliche Gedanken. Die Angst vor der Angst hielt mich davon ab, einzuschlafen. Ich versuchte, mich zu konzentrieren. In meinem Roman würde ich die Reise Magellans in den Jahren 1519 bis 1521 beschreiben, von der Casa da India in Lissabon bis zur philippinischen Insel Mactan gegenüber von Cebu, wo Magellan von Einheimischen getötet wurde. Für einen Augenblick dachte ich, dass nicht Magellan, sondern ich dorthin fahren würde.
Zuerst verwirrte mich dieser Gedanke, doch bald kam ich darauf zurück und dachte, dass es vielleicht gar keine schlechte Idee wäre, selber auf die Philippinen zu reisen. Der Gedanke euphorisierte und erschreckte mich zugleich, denn für einen Augenblick sah ich mich erneut in Cebu. Aber es sollte die Geschichte des Magellan werden und nicht die meine. Nur: Wieso sollte mich das davon abhalten, nach Cebu zu fliegen? Mein Immunsystem baute sich allmählich wieder auf, ich musste nicht mehr zwei Steriliumflaschen mitnehmen, wenn ich die Wohnung verließ. Ich hatte zudem große Lust, das Schicksal noch einmal herauszufordern, nach dem Motto: Gib mir mein Leben zurück, oder lass mich in den philippinischen Visayas verrecken. Ich könnte mir mit dieser Reise beweisen, dass ich den Turnaround nochmals schaffe. Es wäre auch gut für Maricel, sehr gut sogar, und natürlich sehr hilfreich für meinen Roman. Ich sah die Statue des Nationalhelden Lapu-Lapu vor mir. Wir würden einen Einheimischen fragen, ob er uns davor fotografiert. Ja, dachte ich plötzlich, ich will an jenem Strand stehen, wo Magellan den Tod fand.
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