Das Buch
»Ein einzigartiges und wunderschönes Buch, von geradezu schmerzhafter emotionaler Aufrichtigkeit und in einer anschaulichen Sprache verfasst, die in der zeitgenössischen Literatur ihresgleichen sucht.«
Aus der Begründung der Jury des Costa Award für das beste Buch des Jahres 2014
Schon als Kind beschloss Helen Macdonald, Falknerin zu werden. Ihr Vater unterstützte sie in dieser ungewöhnlichen Leidenschaft, er lehrte sie Geduld und Selbstvertrauen und blieb eine wichtige Bezugsperson in ihrem Leben. Als er stirbt, setzt sich ein Gedanke in Helens Kopf fest: Sie muss ihren eigenen Habicht abrichten. Sie ersteht einen der beeindruckenden Vögel, ein Habichtweibchen, das sie auf den Namen Mabel tauft, und begibt sich auf die abenteuerliche Reise, das wilde Tier zu zähmen.
Die Autorin
Helen Macdonald ist Autorin, Lyrikerin, Illustratorin und Historikerin. Sie arbeitet an der University of Cambridge, England, im Bereich Geschichte und Philosophie der Wissenschaften. H wie Habicht erhielt in England den renommierten Samuel Johnson Prize, der herausragenden Sachbüchern verliehen wird, sowie den Costa Award für das beste Buch des Jahres.
HELEN MACDONALD
H wie Habicht
Aus dem Englischen
von Ulrike Kretschmer
Die Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel
H is for Hawk
im Verlag Jonathan Cape, Random House,
20 Vauxhall Bridge Road, London SW1V 2SA.
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ISBN 978-3-8437-1147-0
© der deutschen Ausgabe 2015 by Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin
© der Originalausgabe 2014 by Helen Macdonald
Übersetzung: Ulrike Kretschmer
Lektorat: Gabriele Banas
Sachverständigenprüfung: Matthias Bartek, Falkner, München
Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur,
München, nach einer Vorlage von © Chris Wormell
E-Book: LVD GmbH, Berlin
Alle Rechte vorbehalten.
Für meine Familie
TEIL I
1
Geduld
Fünfundvierzig Autominuten nordöstlich von Cambridge beginnt eine Landschaft, die mir im Laufe der Zeit sehr ans Herz gewachsen ist. Dort geht feuchtes Moor in ausgedörrten Sand über. Es ist ein Land der knorrigen Kiefern, der ausgebrannten Autos, der kugeldurchlöcherten Straßenschilder und der US-Air-Force-Stützpunkte. Es herrscht eine nahezu gespenstische Atmosphäre. In den nummerierten Häuserblocks der Kiefernforstbetriebe verfallen die Gebäude. Hinter dreieinhalb Meter hohen Zäunen gibt es inmitten grasbewachsener Hügelgräber Stellflächen für atomare Luftwaffen, Tätowierstudios und Golfplätze der Air Force. Im Frühling setzt hier ein Lärmchaos ein: ununterbrochener Flugverkehr, Schüsse aus Druckluftgewehren über Erbsenfeldern, rufende Heidelerchen und dröhnende Düsentriebwerke. Die Landschaft heißt Brecklands – das gebrochene, zerklüftete Land –, und dort fand ich mich an diesem Morgen zu Beginn des Frühjahrs vor sieben Jahren wieder, auf einer Reise, die ich ganz und gar nicht geplant hatte. Um fünf Uhr morgens starrte ich auf einen erleuchteten quadratischen Fleck, den das Licht der Straßenlaterne an die Zimmerdecke warf, und hörte einem Paar zu, das sich draußen auf dem späten Nachhauseweg von einer Party unterhielt. Ich fühlte mich komisch: übermüdet, überreizt, unangenehmerweise irgendwie, als wäre mein Gehirn entfernt und mein Schädel stattdessen mit Alufolie aus der Mikrowelle ausgestopft worden, zerknüllt, verschmort und kurzschlussfunkensprühend. Nnngh. Aufstehen, dachte ich und warf die Bettdecke zurück. Los, raus! Ich schlüpfte in Jeans, Stiefel und Pulli, verbrühte mir den Mund an zu heißem Kaffee, und erst als mein eiskalter, uralter Volkswagen und ich die A14 schon halb hinter uns hatten, fiel mir wieder ein, wohin ich fuhr und warum. Da draußen, jenseits der beschlagenen Windschutzscheibe und der Straßenmarkierung, war der Wald. Der zerklüftete Wald. Dorthin war ich unterwegs. Um Habichte zu sehen.
Ich wusste, dass das schwierig werden würde. Habichte sind schwierig. Haben Sie schon einmal einen Greifvogel gesehen, der in Ihrem Garten einen anderen Vogel fängt? Ich nicht, aber ich weiß, dass es geschieht. Ich habe Beweise gefunden, manchmal winzige Spuren auf den Steinplatten der Terrasse: ein kleines insektenähnliches Singvogelbein, der Fuß dort eingekrallt, wie die Sehnen ihn bewegt hatten. Oder – noch grausiger – ein abgetrennter Schnabel, der Ober- oder Unterschnabel eines Sperlings, ein kleiner kegelförmiger Tropfen geröteten Blaugraus, durchsichtig schimmernd, noch mit ein paar hellen Federn daran. Aber vielleicht haben Sie es ja tatsächlich schon einmal gesehen. Vielleicht haben Sie zufällig aus dem Fenster geblickt, als ein verdammt großer Vogel mitten auf dem Rasen gerade eine Taube ermordete oder eine Amsel oder eine Elster – das gewaltigste, eindrucksvollste Stück Wildnis, das man sich vorstellen kann. Als hätte jemand einen Schneeleoparden in Ihre Küche gesetzt, der dann die Katze frisst. Es ist schon vorgekommen, dass ich von Leuten im Supermarkt oder in der Bibliothek angesprochen wurde, die mir mit weit aufgerissenen Augen erzählten: Heute Morgen hat ein Greifvogel in meinem Garten einen anderen Vogel gefangen! Mir liegt schon auf der Zunge zu antworten: Ein Sperber!, da sagt mein Gegenüber: »Ich habe im Bestimmungsbuch nachgeschaut. Es war ein Habicht!« Aber es ist nie einer – die Bestimmungsbücher funktionieren nicht. Beim Kampf gegen die Taube wird der Greifvogel auf Ihrem Rasen plötzlich überlebensgroß, und die Illustrationen im Buch stimmen mit der Erinnerung nicht überein. Der Sperber ist grau mit schwarz-weiß quergebänderter Körperunterseite, gelben Augen und langem Schwanz. Auch der Habicht ist grau mit schwarz-weiß quergebänderter Körperunterseite, gelben Augen und langem Schwanz. Hmm, denken Sie beim Lesen der Beschreibung. Sperber: dreißig bis vierzig Zentimeter groß. Habicht: achtundvierzig bis sechzig Zentimeter. Na also! Der Vogel war riesig. Es muss ein Habicht gewesen sein. Sie sehen absolut identisch aus, Habichte sind nur größer. Einfach nur größer.
Nein. Im echten Leben ähnelt der Habicht dem Sperber ungefähr so wie der Leopard der Hauskatze. Er ist größer, ja. Aber er ist auch massiger, blutiger, tödlicher, furchterregender und viel, viel seltener zu sehen. Diese Vögel der tiefen Wälder – nicht der Gärten – sind der geheimnisumwitterte Gral der Vogelbeobachter. Man kann eine Woche in einem Wald voller Habichte verbringen und nie einen zu Gesicht bekommen, höchstens Spuren ihrer Anwesenheit wahrnehmen. Eine plötzliche Stille, gefolgt von den Rufen zu Tode erschrockener Waldvögel, das Gefühl, dass sich etwas knapp außerhalb des Gesichtsfeldes bewegt. Vielleicht eine halb aufgefressene Taube, ausgestreckt auf dem Waldboden inmitten einer Explosion weißer Federn. Oder Sie haben Glück: Sie gehen im nebligen Morgengrauen spazieren, schauen sich um und sehen für den Bruchteil einer Sekunde einen Vogel vorbeifliegen, die Zehen mit den riesigen Klauen locker gekrümmt gehalten, die Augen auf ein fernes Ziel gerichtet. In diesem Sekundenbruchteil prägt sich das Bild unauslöschlich in Ihr Gedächtnis ein und lässt Sie begierig nach mehr zurück. Die Suche nach Habichten ist wie die Suche nach Gnade: Sie wird einem gewährt, aber nicht oft, und man weiß nie, wann oder wie. Etwas besser stehen die Chancen an einem stillen, klaren Morgen im Vorfrühling, denn dann verlassen die Habichte ihre Welt in den Bäumen und vollführen ihre Balzflüge am offenen Himmel. Darauf hoffte auch ich an jenem Morgen.
Ich schlug die rostende Autotür zu und machte mich mit meinem Fernglas auf den Weg durch den vom Frost zinnfarben getünchten Wald. Teile davon waren verschwunden, seit ich das letzte Mal hier gewesen war. Ich stieß auf zerstörten Boden, abgeholzte Flächen voller ausgerissener Wurzeln und vertrocknete Nadeln im Sand. Lichtungen. Die brauchte ich. Allmählich drang mein Gehirn wieder in Bereiche vor, die es seit Monaten nicht benutzt hatte – so lange hatte ich in Bibliotheken und Hörsälen gesessen, auf Bildschirme gestarrt, Seminararbeiten korrigiert, akademische Querverweise aufgespürt. Dies war eine ganz andere Art der Jagd. Hier war ich ein anderes Tier. Haben Sie schon einmal ein Reh beobachtet, das die Deckung verlässt? Es tritt heraus, hält inne und bleibt stehen, reglos, die Nase in der Luft; es blickt sich um und schnuppert. Vielleicht fährt ein nervöses Zucken über seine Flanke. Und wenn es sich vergewissert hat, dass alles sicher ist, stakst es aus dem Unterholz, um zu äsen. An jenem Morgen fühlte ich mich wie dieses Reh. Nicht dass ich in der Luft geschnuppert oder ängstlich innegehalten hätte – aber wie das Reh bewegte auch ich mich nach archaischen und emotional verankerten Mustern durch die Natur, in einer Weise und mit einer Wachsamkeit, die sich der bewussten Kontrolle entzieht. Irgendetwas in meinem Inneren befahl mir, wie und wohin ich treten sollte, ohne dass ich selbst viel darüber wusste. Vielleicht sind es Jahrmillionen der Evolution, vielleicht ist es Intuition, aber auf der Jagd mit meinem Habicht bin ich angespannt, wenn ich mich in der Sonne bewege oder im Sonnenlicht stehen bleibe. Unbewusst nähere ich mich dann den vom Licht durchbrochenen Stellen oder schlüpfe in die engen, kalten Schatten entlang der breiten Schneisen zwischen den Kiefernwäldchen. Ich zucke zusammen, wenn ich einen Häher rufen oder eine Krähe krächzen höre, zorniger Alarm. Beides kann entweder Achtung, Mensch! oder Achtung, Habicht! heißen. Und an diesem Morgen versuchte ich, das eine aufzuspüren, indem ich das andere verbarg. Die uralten geisterhaften Eingebungen, die seit Tausenden von Jahren Sehnen und Seele zu einer Einheit verschmelzen, hatten die Führung übernommen, taten, was sie immer taten, verursachten mir im hellen Sonnenlicht auf der falschen Seite eines Hügelkamms, Unbehagen, zogen mich auf die andere Seite einer ausgebleichten grasbewachsenen Anhöhe – zu einem Tümpel. Von seinem Rand stoben Wolken kleiner Vögel auf: Buchfinken, Bergfinken, eine Schar Schwanzmeisen, die in den Weidenzweigen hängen blieben wie lebendige Wattebäusche.
Der Tümpel war ein Bombenkrater, einer von einer ganzen Reihe von Kratern, die ein deutsches Flugzeug im Krieg über Lakenheath hinterlassen hatte. Eine Wasseranomalie, ein Tümpel in den Dünen, von dicken Sandseggenbüscheln umgeben, viele Kilometer vom Meer entfernt. Ich schüttelte den Kopf. Seltsam. Andererseits ist es hier sehr seltsam, und bei einem Spaziergang im Wald trifft man auf alle möglichen Dinge, die man nicht erwartet. Weitläufige Flächen von Echter Rentierflechte zum Beispiel: winzige Sternchen und Röschen, Andeutungen einer uralten Flora, die das erschöpfte Land besiedelt. Im Sommer knirscht sie unter den Füßen und wirkt wie ein Stück Arktis, das am falschen Ort auf die Welt gefallen ist. Überall ragt knochiger und scharfkantiger Feuerstein empor. An einem feuchten Morgen kann man Bruchstücke davon aufsammeln, die Handwerker aus der Jungsteinzeit aus dem Gesteinskern herausgeschlagen haben, winzige Schuppen, die von kaltem Wasser benetzt glänzen. Die Gegend hier war in der Jungsteinzeit das Zentrum der Feuersteinverarbeitung. Später wurde sie für ihre Kaninchen berühmt, die man des Fleisches und des Fells wegen hielt. Riesige umzäunte und von Dornenböschungen eingeschlossene Gehege dehnten sich einst über die gesamte Sandlandschaft aus und gaben den Ortschaften hier Namen wie Wangford Warren oder Lakenheath Warren. Damit brach schließlich auch eine Katastrophe herein. Gemeinsam mit den Schafen grasten die Kaninchen das Land so vollständig ab, dass die ohnehin schon kurze Grasnarbe am Ende nur noch eine dünne Wurzelkruste über dem Sand bildete. An den schlimmsten Stellen häuften sich Sandverwehungen auf, die über das Land wanderten. Im Jahr 1688 türmten stürmische Winde aus Südwest die Verwehungen himmelhoch auf. Eine gewaltige gelbe Wolke verdunkelte die Sonne. Tonnen von Land verschoben, bewegten und senkten sich. Brandon war vollständig von Sand eingekesselt; Santon Downham versank, der Fluss erstickte. Als sich die Winde legten, erstreckten sich zwischen Brandon und Barton Mills kilometerweit Dünen. Fortan war die Gegend als furchtbar unwegsam berüchtigt: In den weichen Dünen herrschte im Sommer sengende Hitze, nachts lauerten Wegelagerer darin. Unser ganz persönliches Arabia Deserta. John Evelyn beschrieb die Dünen als »reisende Sande«, die »dem Land schweren Schaden zufügten und wie der Sand in den Wüsten Libyens von Ort zu Ort rollten, dass sie die Ländereien einiger Gutsherren völlig verschütteten«.1
Da stand ich nun in Evelyns reisenden Sanden. Die meisten der Dünen sind von Kiefern verdeckt – den Wald pflanzte man in den Zwanzigerjahren, um uns mit Holz für künftige Kriege zu versorgen –, Wegelagerer gibt es längst nicht mehr. Aber die Gegend macht noch immer einen gefährlichen Eindruck, halb vergraben, lädiert. Ich liebe sie, denn von allen Orten, die ich in England kenne, scheint sie mir der ursprünglichste zu sein. Keine unberührte Wildnis wie ein Berggipfel, eher eine morsche Wildnis, in der sich die Menschen und das Land zu Fremdheit verschworen haben. Sie ist vom Gefühl einer alternativen Geschichte der Landschaft durchdrungen – nicht nur der grandiose, müßige Traum weitläufiger Güter, sondern eine Geschichte der Industrie, der Forstwirtschaft, der Katastrophen, des Handels und der Arbeit. Ich konnte mir keinen besseren Ort vorstellen, um Habichte aufzuspüren. Sie passen perfekt zu dieser seltsamen Breckland-Landschaft, weil ihre Geschichte ebenso menschlich ist.
Eine faszinierende Geschichte. Früher brüteten Habichte auf den gesamten Britischen Inseln. »Es gibt verschiedene Arten und Größen von Habichten«, schrieb Richard Blome 1618, »die sich in Güte, Kraft und Zähigkeit gemäß den Ländern, aus denen sie stammen, unterscheiden; doch bringt kein Land so gute hervor wie das Großfürstentum Moskau, Norwegen und der Norden Irlands, insbesondere das County Tyrone.«2 Mit dem Aufkommen der Einhegungen, der »Land Enclosure«, bei der gemeinschaftlich genutztes Land in Privatbesitz überging, waren die Qualitäten von Habichten vergessen, denn nun konnte das einfache Volk Greifvögel nur noch begrenzt fliegen. Mit dem Aufkommen von Präzisionswaffen kam statt der Falkenbeize die Jagd mit dem Gewehr in Mode. Nun waren Habichte Ungeziefer, keine Jagdgefährten mehr. Ihre Verfolgung durch Wildhüter gab der Habichtpopulation, die durch den immer weiter schwindenden Lebensraum schon geschwächt genug war, den Rest. Gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts waren die Habichte auf den Britischen Inseln ausgestorben. Ich habe eine Fotografie der ausgestopften Überreste eines der letzten Habichte, die geschossen wurden; der Schwarz-Weiß-Schnappschuss zeigt einen Vogel von einem schottischen Anwesen, schmuddelig, ausgestopft, mit Glasaugen. Die Habichte waren verschwunden.
Doch in den Sechziger- und Siebzigerjahren schmiedeten Falkner in aller Stille und ganz inoffiziell Pläne, wie man sie zurückbringen könnte. Der British Falconers’ Club errechnete, dass man für das Geld, das man für den Import eines Beizhabichts vom europäischen Festland ausgeben musste, auch einen zweiten Habicht ins Land bringen und freilassen könnte. Zwei kaufen, einen freilassen. Das war bei einem so autarken und räuberischen Vogel nicht schwer. Man suchte einfach einen Wald und öffnete die Kiste. Ähnlich gesinnte Falkner aus ganz Großbritannien folgten dem Beispiel des British Falconers’ Club. Die Vögel kamen aus Schweden, Deutschland und Finnland, die meisten waren riesige, hell gefiederte Habichte aus der Taiga. Einige ließ man absichtlich frei, andere gingen verloren. Sie überlebten, paarten sich und brüteten, im Geheimen und mit Erfolg. Heute beträgt die Zahl ihrer Nachkommen um die vierhundertfünfzig Paare.3 Der Gedanke an die scheuen und atemberaubenden Vögel, die sich in Großbritannien mittlerweile wieder völlig heimisch fühlen, macht mich glücklich. Ihre Existenz straft die Annahme Lügen, die Wildnis sei immer etwas von menschlichen Herzen und Händen Unberührtes. Auch Wildnis kann Menschenwerk sein.
Es war genau halb neun. Ich sah gerade auf einen kleinen Mahonienzweig hinunter, der aus dem Grashügel herauswuchs und dessen ochsenblutfarbene Blätter wie poliertes Schweineleder glänzten. Ich schaute kurz zum Himmel auf. Und erblickte meine Habichte. Da waren sie. Ein Paar, das in der sich rasch aufwärmenden Luft über den Baumkronen aufstieg. Wie eine flache, heiße Hand spürte ich die Sonne auf meinem Nacken, glaubte aber Eis zu riechen, als ich den beiden Habichten beim Aufsteigen zusah. Eis, Farnkraut und Kiefernharz. Habicht-Cocktail. Sie stiegen immer noch auf. Habichte im Flug sind ein komplexes Grau. Kein Schiefergrau, auch kein Taubengrau, eher ein Regenwolkengrau. Trotz der Entfernung konnte ich die große Puderquaste der weißen, fächerförmig gespreizten Bruck – der Unterschwanzdecken – und den kräftigen abgerundeten Schwanz dahinter erkennen. Ebenso die elegant gebogenen Armschwingen, die aufsteigende Habichte so einzigartig machen, dass man sie unmöglich mit Sperbern verwechseln kann. Sie wurden von Krähen schikaniert, aber das war ihnen egal, na und? Eine Krähe raste im Sturzflug auf das Männchen zu, das einfach einen Flügel anhob und die Krähe darunter wegfliegen ließ. Aber so dumm war die Krähe nun auch wieder nicht – sie blieb nicht lange unterhalb des Habichts. Ihr gesamtes Balzrepertoire zeigten die Habichte nicht: Ich konnte nichts von den Girlandenflügen ausmachen, über die ich so viel gelesen hatte. Aber sie liebten den Raum zwischen sich, den sie zu allen möglichen wunderschönen konzentrischen Akkorden und Abständen zuschnitten. Ein paar Flügelschläge und schon war das Männchen, der Terzel, über dem Weibchen; dann ließ er sich nordseits zu ihr treiben, bevor er plötzlich unter sie* glitt, blitzschnell und wie ein Messer, einen eleganten Schönschriftschnörkel am Himmel zeichnend. Sie senkte einen Flügel, dann stiegen sie gemeinsam wieder auf, standen direkt über einem Kiefernwäldchen ganz in der Nähe. Und dann waren sie plötzlich weg. Eben noch beschrieb mein Habichtpaar geometrische Figuren wie aus dem Lehrbuch am Himmel, und dann – nichts mehr. Ich erinnere mich nicht daran, dass ich weggesehen hätte. Vielleicht habe ich geblinzelt. Vielleicht war es nur das. Und in dieser winzigen schwarzen Lücke, die das Gehirn kaschiert, waren sie in den Wald abgetaucht.
* Anmerkung der Übersetzerin zur Verwendung des Personalpronomens: Spricht der Falkner von Habicht, meint er stets das Weibchen; meint er das Männchen, sagt er Habichtterzel. Deshalb beziehen sich die in diesem Buch verwendeten Personalpronomen auf das biologische Geschlecht des Vogels, nicht auf das grammatikalische.
Ich setzte mich, erschöpft, aber glücklich. Die Habichte waren verschwunden, der Himmel leer. Die Zeit verging. Die Wellenlänge des Lichts um mich herum wurde kürzer. Der Tag baute sich auf. Ein Sperber, leicht wie ein Modellflugzeug aus Balsaholz und Seidenpapier, schwirrte auf Kniehöhe vorbei, über Brombeergestrüpp hinweg und in die Bäume hinein. Ich schaute ihm nach, in Erinnerungen versunken. Diese Erinnerung leuchtete, war unwiderstehlich. Es roch nach Kiefernharz und dem pechartigen Essig der Waldameisen. Meine Kleinmädchenfinger hielten sich an Maschendrahtzaun aus Plastik fest, um den Hals spürte ich das Gewicht eines Feldstechers aus der DDR. Mir war langweilig. Ich war neun. Dad stand neben mir. Wir hielten Ausschau nach Sperbern. Sie nisteten ganz in der Nähe, und an diesem Nachmittag im Juli hofften wir, das zu Gesicht zu bekommen, was sie manchmal zeigten: ein unterseeisches Kräuseln in den Kronen der Kiefern, wenn ein Vogel in den Wald ein- oder daraus auftauchte; ein aufblitzendes gelbes Auge; eine gebänderte Brust vor tanzenden Kiefernnadeln; oder eine schwarze Silhouette, die sich sekundenlang gegen den Himmel über Surrey abzeichnete. Eine Weile war es aufregend gewesen, in die Dunkelheit zwischen den Bäumen und dem Blutorange-Schwarz zu starren, wo die Sonne verrückte und Schatten über die Kiefern warf. Doch für Neunjährige ist Warten schwer. Ich trat mit meinen Gummistiefeln gegen den Zaun. Wand mich und zappelte herum. Stieß einen Seufzer aus. Hängte mich an den Zaun. Da sah mein Vater mich an, halb verärgert, halb amüsiert, und erklärte mir etwas. Er erklärte mir Geduld. Was man nie vergessen dürfe, sei dies: Wenn man etwas unbedingt sehen wollte, musste man manchmal stillhalten, an einem Ort ausharren, sich daran erinnern, wie sehr man es sehen wollte, und geduldig sein. »Bei der Arbeit, wenn ich Fotos für die Zeitung schieße«, sagte er, »muss ich manchmal stundenlang im Auto sitzen, um das Bild zu bekommen, das ich will. Ich kann nicht einfach aussteigen und mir einen Tee holen oder auf die Toilette gehen. Ich muss Geduld haben. Und wenn du Greifvögel sehen willst, dann musst du auch Geduld haben.« Er sagte das ernst und eindringlich, nicht böse; er vermittelte mir eine Erwachsenen-Wahrheit, aber ich nickte nur schmollend und starrte auf den Boden. Es klang wie eine Belehrung, nicht wie ein Rat, und ich verstand nicht, was er mir damit hatte sagen wollen.
Man lernt. Heute, dachte ich, nicht mehr neun Jahre alt und nicht mehr gelangweilt, hatte ich Geduld gehabt, und die Habichte waren gekommen. Langsam stand ich auf – die Beine waren mir vom langen, bewegungslosen Sitzen ein wenig eingeschlafen – und fand in meiner Hand ein kleines Stück Rentierflechte; die verästelte, helle grüngraue Pflanze kann fast alles überleben, was die Welt ihr antut. Sinnfällig gewordene Geduld. Sperr sie ins Dunkle, frier sie ein, trockne sie, bis sie beinahe zerbröselt – sterben wird sie nicht. Sie begibt sich in Vegetationsruhe und wartet, bis die Lage wieder besser wird. Beeindruckend. Ich wog das dürre Bällchen in meiner Hand. Kaum zu spüren. Einem plötzlichen Impuls folgend, verstaute ich das kleine gestohlene Andenken an den Tag, als ich Habichte gesehen hatte, in der Innentasche meines Anoraks und fuhr nach Hause. Ich legte es auf das Regal neben dem Telefon. Drei Wochen später war es die Rentierflechte, die ich anstarrte, als meine Mutter anrief und mir mitteilte, dass mein Vater gestorben war.
2
Verlust
Ich wollte gerade aus dem Haus, als das Telefon klingelte. Ich nahm ab, auf dem Sprung, den Haustürschlüssel bereits in der Hand. »Hallo?« Pause. Meine Mutter. Sie musste nur einen Satz sagen: »Ich hatte einen Anruf aus dem St-Thomas-Krankenhaus.« Und in dem Moment wusste ich es, wusste, dass mein Vater gestorben war. Ich wusste, dass mein Vater tot war, weil es dieser Satz war, den sie nach der Pause sagte, mit einer Stimme, die ich noch nie zuvor bei ihr gehört hatte. Tot. Meine Beine gaben nach, knickten ein, ich saß auf dem Teppich, den Hörer ans rechte Ohr gepresst, hörte meiner Mutter zu und starrte auf das Bällchen Rentierflechte auf dem Regal, unfassbar leicht, ein luftiges lockeres Gewirr harter grauer Stängel mit scharfen, staubigen Spitzen, und Mum sagte, sie hatten nichts mehr tun können im Krankenhaus, es war sein Herz, glaube ich, man konnte nichts tun, du musst heute Abend nicht mehr herkommen, komm nicht, es ist zu weit, und es ist spät, so eine lange Fahrt, du brauchst nicht zu kommen – und das war natürlich Unsinn.
Weder sie noch ich wusste, was zum Teufel getan werden konnte oder sollte oder was hier los war, außer dass sie und ich und auch mein Bruder, wir alle also, uns an eine Welt klammerten, die es schon nicht mehr gab.
Ich legte auf. Den Schlüssel hatte ich immer noch in der Hand. In der Welt, die es schon nicht mehr gab, war ich mit Christina, einer befreundeten australischen Philosophin, zum Abendessen verabredet. Sie hatte auf dem Sofa gesessen, als der Anruf kam. Weiß wie eine Wand starrte sie mich an. Ich erzählte ihr, was passiert war. Und bestand darauf, trotzdem essen zu gehen, weil wir einen Tisch reserviert hatten, natürlich sollten wir gehen, und so gingen wir und bestellten, und als das Essen kam, rührte ich es nicht an. Der Kellner war verärgert und wollte wissen, ob irgendetwas nicht in Ordnung sei. Nun ja.
Ich glaube, Christina hat es ihm erzählt. Ich kann mich zwar nicht daran erinnern, aber der Kellner tat dann etwas ganz Außergewöhnliches. Er verschwand und erschien kurz darauf mit dem Ausdruck banger Besorgnis und einem Doppelschokoladenbrownie mit Eiscreme – auf Kosten des Hauses – wieder an unserem Tisch. Der Brownie war mit Kakao und Puderzucker bestäubt und mit einem Minzestängel garniert. Er lag auf einem schwarzen Teller. Ich starrte ihn an. Lächerlich, dachte ich. Und dann: Was ist das? Ich zog die Minze aus dem Eis, hielt sie hoch, blickte auf die beiden kleinen Blättchen und den winzigen schokoladenverschmierten Stängel und dachte: Das wird nie wieder wachsen. Dass ein Kellner gedacht hatte, gratis Kuchen und Eis würden mich trösten, berührte und befremdete mich zugleich. Ich blickte immer noch auf das abgeschnittene Ende der Minze. Es erinnerte mich an irgendetwas. Aber woran nur? Und dann war ich plötzlich, wie drei Tage zuvor an einem sonnigen Märzwochenende, wieder im Garten in Hampshire. Ich zuckte zusammen, als ich auf dem Unterarm meines Vaters eine hässliche Schnittwunde bemerkte. Du hast dich verletzt!, rief ich. Ach, das, erwiderte er und befestigte eine weitere Feder am Trampolin, das wir für meine Nichte aufbauten. Ist neulich passiert. Weiß gar nicht mehr, wie. Irgendwie halt. Ist schon in Ordnung. Ist bald verheilt. Es heilt gut. Da war sie, die alte Welt; sie flüsterte Lebwohl und verschwand. Ich rannte nach draußen. Ich musste nach Hampshire fahren. Jetzt. Weil die Wunde sich nicht schließen würde. Sie würde nicht heilen.
Hier ein Wort. Verlust. Oder beraubt. Lateinisch privatus, abgesondert, beraubt, getrennt. Jeden trifft es. Aber man fühlt es ganz allein. Einen erschütternden Verlust kann man nicht teilen, wie sehr man es auch versucht. »Stellt euch vor«, sagte ich damals zu ein paar Freunden – ich hatte allen Ernstes versucht, es ihnen zu erklären –, »stellt euch vor, eure gesamte Familie befindet sich in einem Raum. Alle. All die Menschen, die ihr liebt. Dann kommt plötzlich jemand in diesen Raum und versetzt euch einen Schlag in die Magengrube. Jedem von euch. Mit voller Wucht. Was passiert? Ihr brecht zusammen. Ihr spürt also alle den gleichen Schmerz, genau den gleichen, aber dieser Schmerz beherrscht euch so, dass ihr gar nicht anders könnt, als euch völlig allein zu fühlen. Genau so fühlt es sich an!« Triumphierend beendete ich meine kleine Ansprache, davon überzeugt, das perfekte Bild gefunden zu haben. Nur die mitleidigen, erschrockenen Gesichter meiner Zuhörer irritierten mich; ich wäre im Leben nicht auf die Idee gekommen, dass das Bild – die Familie meiner Freunde befindet sich in einem Raum und wird zusammengeschlagen – etwas von totalem Wahnsinn hatte.
Ich kann es auch heute noch nicht in die richtige Reihenfolge bringen. Die Erinnerungen sind wie schwere Glasbausteine. Ich kann sie an verschiedenen Orten aufstellen, aber sie ergeben keine Geschichte. Einmal gingen wir bei bewölktem Himmel von Waterloo aus zum Krankenhaus. Das Atmen fiel uns schwer. Mum drehte sich zu mir um, ihr Gesicht war angespannt, und sie sagte: »Eines Tages wird uns das alles wie ein böser Traum vorkommen.« Seine Brille, sorgsam zusammengeklappt auf der ausgestreckten Hand meiner Mutter. Seine Jacke. Ein Briefumschlag. Seine Uhr. Seine Schuhe. Als wir gingen, eine Plastiktüte mit seinen Sachen umklammernd, waren die Wolken immer noch da, ein Fries regloser Kumuli über der Themse, flach wie Vorsatzmalerei auf Glas. Auf der Waterloo Bridge lehnten wir uns über die Brüstung aus Portlandstein und blickten auf das Wasser hinunter. Ich lächelte, das erste Mal seit dem Anruf, glaube ich. Einerseits weil das Wasser zum Meer floss und dieser simple Grundsatz der Physik immer noch einen Sinn ergab, auch wenn der Rest der Welt es nicht mehr tat. Und andererseits wegen Dads wunderbar ausgefallenem Wochenend-Nebenprojekt vor zehn Jahren. Er hatte sich vorgenommen, jede einzelne Brücke über der Themse zu fotografieren. Ich habe ihn samstagvormittags manchmal auf seiner Fahrt in die Cotswolds begleitet. Mein Dad war nicht nur mein Dad, sondern auch mein Freund und bei Abenteuern wie diesen mein Komplize. Der Ausgangspunkt unserer Entdeckungsreise war die grasbewachsene Quelle in der Nähe von Cirencester; von dort aus folgten wir einem sich windenden, schlammigen Fluss, drangen unrechtmäßig in fremdes Gelände ein, um Bretterstege zu fotografieren, wurden von Bauern beschimpft und von Vieh bedroht, studierten hochkonzentriert Landkarten. Es dauerte ein Jahr. Aber er hat es geschafft. Jede einzelne Brücke. Irgendwo im Haus meiner Mutter steht eine Kiste mit Dias, die von der Quelle bis zum Meer Möglicheiten dokumentieren, die Themse zu überqueren.
Ein andermal hatten wir Angst, sein Auto nicht wiederzufinden. Er hatte es irgendwo in der Nähe der Battersea Bridge geparkt und – natürlich – nicht wieder abgeholt. Wir suchten es stundenlang, mit wachsender Verzweiflung, in Nebenstraßen und Sackgassen, ohne Erfolg. Wir weiteten die Suche auf Straßen aus, die Kilometer von dort entfernt waren, wo das Auto auch nur annähernd vernünftigerweise hätte stehen können. Im Laufe des Tages wurde uns allmählich klar, dass die Suche hoffnungslos war – selbst wenn wir Dads blauen Peugeot mit seinem Presseausweis hinter der Sonnenblende und seinen Kameras im Kofferraum gefunden hätten. Selbstverständlich war er abgeschleppt worden. Ich fand die Nummer des Abschleppdiensts heraus, rief an und erzählte dem Mann am Telefon, dass der Besitzer des Wagens sein Auto nicht mehr abholen konnte, weil er tot war. Mein Vater. Er hatte nicht vor, das Auto dort stehen zu lassen, er ist nur gestorben. Er wollte es wirklich nicht stehen lassen. Irrsinnige Sätze, bedeutungslos, wie in Stein gemeißelt. Ich verstand gar nicht, warum der Mann so peinlich berührt schwieg. Dann sagte er: »Tut mir leid, o Gott. Es tut mir so leid«, aber er hätte irgendetwas sagen können, und es hätte ebenso wenig bedeutet. Wir mussten dem Abschleppdienst eine Kopie von Dads Sterbeurkunde vorlegen, damit wir das Abschleppen nicht zu bezahlen brauchten. Auch das hatte keinerlei Bedeutung.
Nach der Beerdigung kehrte ich nach Cambridge zurück. Ich konnte nicht mehr schlafen. Ich fuhr viel in der Gegend umher. Ich starrte auf den Sonnenuntergang, den Sonnenaufgang und die Sonne zwischendurch. Ich beobachtete die Tauben, die auf dem Rasen vor meinem Haus ihr Schwanzgefieder ausbreiteten und in einer imposanten Pavane umeinander balzten. Immer noch landeten Flugzeuge, Autos fuhren, die Leute gingen einkaufen, unterhielten sich und arbeiteten. Nichts davon ergab irgendeinen Sinn. Wochenlang fühlte ich mich wie dumpf glühendes Metall. Genau so war es; ich war trotz gegenteiliger Beweise davon überzeugt, hätte man mich auf einen Stuhl gesetzt, hätte ich ihn glatt abgesengt.
Ungefähr zu dieser Zeit setzte eine Art Wahnsinn ein. Rückblickend glaube ich nicht, dass ich wirklich wahnsinnig war. Mehr so irr bei Nordnordwest. Ich konnte immer einen Habicht von einem Reiher unterscheiden, manchmal erschienen sie mir nur auffällig ähnlich. Ich wusste, dass ich nicht verrückt im Sinne von wahnsinnig war, weil ich schon Menschen mit Psychosen gesehen hatte, und da war der Wahnsinn so offenkundig gewesen wie der Geschmack von Blut im Mund. Ich erlebte eine andere Form von Wahnsinn. Eine stille und äußerst gefährliche. Ein Wahnsinn, der mich geistig gesund halten sollte. Mein Geist mühte sich ab, die Lücke zu überbrücken, eine neue und bewohnbare Welt zu schaffen. Das Problem war nur, dass er nichts hatte, womit er arbeiten konnte. Keinen Partner, keine Kinder, kein Zuhause. Keinen geregelten Arbeitstag. Also klammerte er sich, woran er konnte. Er war verzweifelt und nahm die Welt falsch wahr. Ich bemerkte plötzlich seltsame Verbindungen zwischen den Dingen. Unwichtige Dinge bekamen auf einmal eine ungeheure Bedeutung. Ich las mein Horoskop und glaubte daran. Prophezeiungen. Unmengen von Déjà-vus. Fügungen. Erinnerungen an Dinge, die noch nicht geschehen waren. Die Zeit lief nicht mehr vorwärts. Sie wurde zu etwas Festem, an das man sich schmiegen konnte und das spürbar Widerstand bot; eine zähe Flüssigkeit, halb Luft, halb Glas, die in beide Richtungen floss, Wellen der Erinnerung nach vorn und neue Ereignisse zurücksandte, sodass mir Neues, auf das ich traf, wie eine Erinnerung aus einer fernen Vergangenheit erschien. Manchmal, einige Male, hatte ich das Gefühl, dass mein Vater im Zug oder im Café neben mir saß. Das war tröstlich. Alles war tröstlich. Denn das war der ganz normale Wahnsinn der Trauer. Das wusste ich aus Büchern. Ich hatte mir Bücher über Trauer und Verlust gekauft. Sie stapelten sich meterhoch auf meinem Schreibtisch. Wie jeder gute Akademiker glaubte auch ich daran, dass man in Büchern Antworten findet. War es beruhigend zu lesen, dass jeder Geister sieht? Dass man nichts mehr essen kann? Oder nicht mehr aufhören kann zu essen? Oder dass die Trauer in Phasen verläuft, die man benennen und wie Käfer in einer Schachtel aufspießen kann? Nach dem Leugnen kommt der Schmerz, las ich. Oder die Wut. Oder Schuld. Ich weiß noch, dass ich mich besorgt fragte, in welcher Phase ich mich wohl befand. Ich wollte den Prozess klassifizieren, ihn ordnen, ihn logisch nachvollziehbar machen. Aber es gab keine Logik, und ich erkannte nicht eine einzige der Emotionen wieder.
Die Wochen vergingen. Die Jahreszeit wechselte. Die Bäume bekamen Blätter, morgens wurde es früher hell, und die Schwalben kehrten zurück. Mit lauten Rufen flogen sie über den frühsommerlichen Himmel an meinem Haus in Cambridge vorbei, und ich begann zu glauben, mir ginge es besser. Normale Trauer nennen sie es. Das war es. Das ruhige, langsame Zurückkehren ins Leben nach einem schmerzlichen Verlust. Ist bald verheilt. Ich muss heute noch lächeln, wenn ich daran denke, wie einfältig ich daran geglaubt habe, denn das war ein schrecklicher Irrtum. Ein nicht wahrgenommenes Bedürfnis brach aus mir heraus. Ich hatte einen unstillbaren Hunger nach allem, nach Liebe, nach irgendetwas, das den Verlust ausglich, und dafür zog sich mein Geist skrupellos alles und jeden heran, der ihm dienlich erschien. Im Juni verliebte ich mich vorhersehbarerweise und unsterblich in einen Mann, der das Weite suchte, als er merkte, wie kaputt ich war. Sein Verschwinden ließ mich fast besinnungslos zurück. Mittlerweile kann ich mich kaum noch an sein Gesicht erinnern. Ich weiß nicht nur, warum er die Flucht ergriffen hat, sondern auch, dass er praktisch jeder hätte sein können. Trotzdem hängt in meinem Schrank noch immer ein rotes Kleid, das ich nie wieder anziehen werde. So ist das nun mal.
Dann begann auch die Welt zu trauern. Der Himmel öffnete seine Schleusen, es regnete und regnete. In den Nachrichten wechselten sich Berichte von Überschwemmungen und überfluteten Städte ab; in Seen ertrunkene Dörfer; Sturzfluten auf der M4, die den Ferienverkehr zum Erliegen brachten; Kajaks auf den Straßen von Berkshire; ansteigende Meeresspiegel; die Entdeckung, dass der Ärmelkanal vor Jahrmillionen durch das Bersten eines gigantischen Supersees entstanden ist. Und immer noch hielt der Regen an: In den Straßen stand zentimeterhoch das Wasser, er riss Markisen mit sich und verwandelte den Fluss Cam in eine milchkaffeebraune Brühe voller abgebrochener Äste und durchweichten Gestrüpps. Meine Stadt schien der Apokalypse entsprungen zu sein. »Ich finde das Wetter ganz und gar nicht merkwürdig«, sagte ich zu einer Freundin. Wir saßen vor einem Café, und der Regen prasselte hinter unseren Stühlen so heftig auf das Pflaster, dass wir unseren Kaffee von kaltem Dunst umgeben tranken.
Als es regnete, das Wasser stieg und ich versuchte zu überleben, begann etwas Neues. Ich wachte stirnrunzelnd auf. Ich hatte von Greifvögeln geträumt, schon wieder. Ich träumte die ganze Zeit von ihnen. Noch so ein Wort: Raubvogel, Beutegreifer, von Lateinisch raptor, Räuber, und rapere, entreißen, rauben. Berauben. Genau genommen träumte ich von Habichten, vor allem von einem bestimmten. Vor einigen Jahren hatte ich in einer Auffangstation für Greifvögel direkt an der Grenze zwischen England und Wales gearbeitet; eine Gegend der roten Erde, der Kohlengruben, der feuchten Wälder und der wilden Habichte. Dieser Habicht, ein erwachsenes Weibchen, war bei der Jagd gegen einen Zaun geprallt und hatte das Bewusstsein verloren. Jemand hatte sie so gefunden, in einen Pappkarton gelegt und zu uns gebracht. Hatte sie sich etwas gebrochen? Hatte sie sonst Schaden genommen? Wir versammelten uns in einem abgedunkelten Raum, der Karton stand auf dem Tisch, und die Chefin schob ihre behandschuhte linke Hand hinein. Ein kurzes Handgemenge, und aus der Dunkelheit des Kartons tauchte in die nicht viel hellere Umgebung ein riesiger alter weiblicher Habicht auf, der graue Scheitel aufgestellt und die gebänderten Brustfedern in einer Mischung aus Aggression und Angst aufgeplustert. Alt, weil ihre Füße rau und schuppig waren, ihre Augen von einem dunklen, feurigen Orange – und sie einfach wunderschön. Schön wie eine Granitklippe oder eine Gewitterwolke. Sie füllte den Raum komplett aus. Ihr massiver Rücken war von sonnengebleichten grauen Federn bedeckt, sie hatte Muskeln wie ein Pitbull und wirkte höllisch einschüchternd, selbst auf die Mitarbeiter, die sich tagein, tagaus um Adler kümmerten. So wild und gespenstisch und reptilienartig. Sehr vorsichtig breiteten wir ihre großen, mächtigen Schwingen aus, während sie den Kopf in unsere Richtung schlängelte und uns, ohne zu blinzeln, anstarrte. Wir fuhren mit den Fingern an den schmalen Knochen ihrer Flügel und ihres Bugs entlang, um zu prüfen, ob etwas gebrochen war, die Knochen leicht wie Röhren, hohl, jeder im Inneren mit kragstufenartigen Knochenstreben ausgestattet, wie das Innere eines Flugzeugflügels. Wir untersuchten ihr Schlüsselbein, ihre stämmigen, beschuppten Beine, die Zehen und die zentimeterlangen schwarzen Klauen. Ihr Sehvermögen schien ebenfalls in Ordnung zu sein: Wir hielten ihr abwechselnd einen Finger vor jedes glühende Auge. Schnapp, schnapp machte ihr Schnabel. Dann wandte sie den Kopf und sah mich direkt an. Der Blick aus ihren Augen über dem geschwungenen schwarzen Schnabel traf sich mit meinem, sie fixierte mich mit schwarzen Pupillen. Ich hatte damals das Gefühl, dieser Habicht ist größer als ich und bedeutsamer. Und viel älter: ein Dinosaurier aus dem Forest of Dean. Ihre Federn hatten einen deutlich wahrnehmbaren prähistorischen Geruch, der mir pfeffrig und rostig wie Gewitterregen in die Nase stieg.
Sie war kerngesund. Wir brachten sie nach draußen und ließen sie frei. Sie öffnete ihre Flügel und war weg. Sie verschwand über eine Hecke, einen Abhang hinunter ins Nichts. Als hätte sie einen Riss in der feuchten Gloucestershire-Luft gefunden und wäre hindurchgeschlüpft. Diesen Augenblick spulte ich immer und immer wieder vor meinem geistigen Auge ab. Das war der wiederkehrende Traum. Und von da an war der Habicht unausweichlich.