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Inhaltsverzeichnis

Die Generation ohne Eigenschaften

Ödland

Feuerspiele

Anfänge

Feuerpilger

Unter Einwanderern

Miriam

Freunde trotz allem

Oasenjahre

Revolutionen

Das Herz der Feuermaschine

Irrlichter

Stillstand

Des Rätsels Lösung

Unter Brandstiftern und Blumenkindern

Der Sieg einer Idee

Auf der Insel der Seligen

Kämpfe in Bern

Endspiel

Bestandsaufnahme

Epilog

Dank

Anhang

1 ATP (Adenosintriphosphat)

2 Laden und Entladen der »ATP-Batterie«

3 Die beiden Membranen eines Mitochondrions

4 ATP-Bildung bei der Vergärung von Zucker zu Milchsäure

5 Mitchells Hypothese zur ATP-Bildung in Mitochondrien

6 Die beiden Arbeitsweisen des F1.Fo-Komplexes

7 Das Racker–Stoeckenius-Experiment, das Mitchells Hypothese zum Sieg verhalf

8 Die historische »Friedenserklärung« von 1977

9 Aufbau und Wirkungsweise der protonengetriebenen F1.Fo-Turbine

10 Wichtige Etappen auf dem Weg zur Enträtselung der Lebensfeuer

Index

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1. Auflage 2011

 

Alle Bücher von Wiley-VCH werden sorgfältig erarbeitet. Dennoch übernehmen Autoren, Herausgeber und Verlag in keinem Fall, einschließlich des vorliegenden Werkes, für die Richtigkeit von Angaben, Hinweisen und Ratschlägen sowie für eventuelle Druckfehler irgendeine Haftung

 

Autor

 

Gottfried Schatz

Unterer Rebbergweg 33

4153 Reinach

Schweiz

 

Illustrator

 

P. Leslie Dutton

422 Curie Boulevard

Philadelphia, PA 19104-6059

USA

Zu spät, aber dennoch: für Efraim Racker

Die Generation ohne Eigenschaften

Ich bin ein Kind des Mars. Sein Zweiter Weltkrieg hat meine ersten Jahre überschattet und prägt noch heute mein Denken und Tun. Dies wurde mir erst bewusst, als ich Europa verlassen hatte und mein früheres Ich wie in einem fernen Spiegel sah: Die Kindheit unter Barbaren, Bomben und Besatzern; die Jugend in einem gelähmten Österreich; den langen Weg zur Wissenschaft; und das unstete Wanderleben meiner wissenschaftlichen Generation, von der ich hier berichten will. Kein Wunder, dass ich nirgends so recht hingehöre. Die Schweiz ist mein Zuhause, doch nicht meine Heimat. Diese ist Österreich, aber mein Geburtshaus lag hart an der ungarischen Grenze, wo Kroatisch, Ungarisch und Romani sich in das singende »Heanzisch« der deutschstämmigen Südburgenländer mischten. Mein Deutsch lässt sich keiner österreichischen Gegend zuordnen, da meine Mutter mit Ungarisch aufwuchs und mir ihr blass gefärbtes Hochdeutsch vererbte. Meine Frau ist Dänin, brachte aber jedes unserer drei Kinder in einem anderen Land zur Welt. Diese sprechen mit ihr dänisch, mit mir englisch, mit ihren Freunden schwyzerdütsch, hochdeutsch, englisch oder französisch. Da sie dann Ehepartner aus Russland, der Schweiz und Rumänien wählten, könnten wir an Familientreffen mit unseren bunt gefächerten Reisepässen gemütlich Poker spielen. Und zwei Universitäten ernannten mich zum Professor für Biochemie, obwohl ich in diesem Fach weder Vorlesungen besucht noch Prüfungen abgelegt habe.

Mir behagt dieses Leben. Mars kappte zwar meine Wurzeln, schenkte mir dafür aber kritische Distanz – und damit Freiheit. Mein Inneres sträubt sich gegen Predigten, Paraden, Prozessionen, Nationalfeiern, Festansprachen, Trommelwirbel, Ehrensalven, Schützenvereine, Weihrauch, Uniformen, Orden und amtliche Kopfbedeckungen jeder Art. Dies macht mich zum unbequemen Zeitgenossen – und nicht immer beliebt. Es ließ mich jedoch schon früh die starren Traditionen erkennen, welche das Österreich meiner Jugend in eine rückwärtsblickende klerikale Republik und einen verbissenen marxistischen Gegenstaat spalteten. Starre Traditionen sind Gegner des Neuen und Wegbereiter des Vorurteils – und damit Feinde der Wissenschaft. Diese ist ja eine Reise in die unbekannte Wildnis, und mit überschwerem Gepäck und falsch gezeichneten Karten reist es sich da gefährlich.

Meine Freunde und ich fanden den Krieg nicht bedrohlich, sondern spannend. Wir hungerten zwar oft und kauerten nächtelang in kalten Schutzbunkern, fanden aber gegen Kriegsende überall Stahlhelme, scharfe Munition und spiegelblanke Bajonette, mit denen wir viel lieber Krieg spielten als mit selbstgebasteltem Pfeil und Bogen. Und nichts war aufregender als ein nächtlicher Luftkampf mit seinen dumpf dröhnenden Flugzeugen, den donnernden Flugabwehrgeschützen, den tastenden Lichtfingern der Scheinwerfer und Leuchtspurgeschosse und – als sehnlich erwarteter Höhepunkt – dem feurigen Absturz eines Flugzeugs. Als dann der Krieg kurz vor meinem neunten Geburtstag plötzlich aus war, erlebten wir dies nicht als Befreiung, sondern als Niederlage. Wir schämten uns und wollten bei unseren Kriegsspielen nicht mehr »die Deutschen«, sondern nur noch »die Amis« sein. In unserer Freizeit ergatterten wir von den Bauern der Umgebung Milch, Brot und Eier oder klauten aus zerbombten Häusern Holz für unsere Öfen. Diese Zeit brannte mir die inneren Koordinaten eines Marskindes ein, die mich für meine Kinder zum Fossil machen. Ich schalte beim Verlassen eines Raumes unbewusst alle Lichter ab, werde beim Betreten eines Gourmetladens schnell verwirrt und muss mir eine sarkastische Bemerkung verkneifen, wenn ein Restaurantgast sich darüber entsetzt, dass man ihm statt der bestellten französischen eine italienische Salatsauce zumutet. Die Zeit seit dem Zweiten Weltkrieg ist wohl die beste, die Europa je erlebte. Warum fühlen wir uns nicht alle wie im Paradies? Für Marskinder sind die inneren Koordinaten von Friedenskindern schlichtweg ver-rückt.

Mars soll ein miserabler Liebhaber gewesen sein, zeugte aber dennoch viele österreichische und deutsche Kriegskinder. Die meisten von ihnen führen ein ganz normales Leben; ich könnte sie nur an ihrem Alter und ihrer Herkunft erkennen, da uns Marskindern besondere Merkmale fehlen. Wir haben den Zweiten Weltkrieg weder verschuldet noch geführt und ihn überlebt, ohne seine Grauen voll zu begreifen. Vor und nach uns wollte jede Generation die Welt neu erfinden – wir wollten nur die alte wieder zusammenflicken. Am liebsten hätten wir das Rad der Zeit zurückgedreht und wie in einem rückwärts laufenden Film gesehen, wie die Bomben in ihre Flugzeuge und die Geschosse in ihre Gewehre zurückfliegen und die Trümmerhalden sich wieder zu den Wohnhäusern, Schulen und Geschäftsläden zusammenfügen, die sie einst gewesen waren. Die Arbeit vor uns war kein Neu-, sondern ein Wiederanfang, die Rekonstruktion einer Vergangenheit, die wir nur aus Erzählungen kannten. In der turbulenten ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts prägte fast jedes Jahrzehnt in Deutschland und Österreich seine eigene Generation. Die drei Generationen vor mir hatten entweder eine glänzende Kultur geschaffen, Revolution ausgerufen, Bürgerkrieg geführt, scheußliche Verbrechen begangen, unsagbares Leid erlitten oder nach Kriegsende über unsere Köpfe hinweg ein vereintes Europa begründet. Die Generation nach mir wollte es bereits meinen britischen und französischen Altersgenossen gleichtun, die im Überschwang des Sieges ihre Länder in soziale Utopias verwandeln wollten. Meine Generation kann mit nichts dergleichen aufwarten. Wir sind die Generation ohne Eigenschaften. Die Geschichte hatte uns dazu auserkoren, unsere zerstörten Länder wieder aufzubauen und der Generation nach uns die Steigbügel zu halten. Wir schienen dazu bestimmt, in die Vergessenheit zu treiben, ohne eine eigene Spur zu zeichnen.

Der Wiederaufbau unserer Städte und Straßen verlief erstaunlich schnell und ließ vergessen, dass der Krieg auch unser geistiges Erbe verwüstet hatte. Davon zeugten besonders unsere Universitäten, die in der Zeit des Naziwahns – nicht immer ganz unfreiwillig – ihre jüdischen oder »politisch untragbaren« Professoren und Studenten vertrieben hatten und nun in dumpfer Nabelschau vor sich hindämmerten. Ihre geistigen Feuer waren erloschen. Um sie wieder zu entfachen, mussten Marskinder ihre österreichische oder deutsche Heimat verlassen und in ferne Länder ziehen, um zündende Funken von ihren vertriebenen Landsleuten und deren Kollegen zu holen. Manche dieser Feuersucher kehrten nie mehr heim, und vielen wurde die Reise zur mühevollen Odyssee, deren Lied keine Muse je gesungen hat. Denn die Heimkehrer erwartete keine Dankbarkeit, sondern oft nur das Misstrauen und der Neid derer, die daheim geblieben waren und sich dabei sichere Dozenturen und Professuren ersessen hatten. Dennoch konnten viele Heimkehrer wissenschaftliche Schlüsselpositionen erobern. Ihnen ist es zu verdanken, dass in Deutschland und Österreich wieder Feuer der Wissenschaft brennen, die das Wohl und die Zukunft dieser Länder sichern. Vielleicht ist dies eine Spur, die meine Generation ohne Eigenschaften in den Sand der Geschichte gezeichnet hat.

Ödland

»So, da håbn’s eanere Extrawürschtln, Herr Daukta« knurrte Aloysius Zacherl durch das Ausgabefenster unserer Grazer Universitätsbibliothek und verschob drei abgegriffene Lehrbücher der Physiologischen Chemie um einige Millimeter in meine ungefähre Richtung. Amtsgehilfe Zacherl war, wie meine Tante aus sicherer Quelle wusste, der außereheliche Spross eines dem obersteirischen Erbadel entstammenden »Wirklichen Hofrats« und einer Kleinbauerntochter aus dem oststeirischen Sinabelkirchen. Diese sündige Mesalliance zweier unvereinbarer Welten hatte einen Kentauren österreichischer Prägung gezeugt, dessen vornehm geschwungener, vom Vater ererbter Mund dazu verdammt war, dem abscheulichen sinabelkirchner Dialekt der Mutter zu dienen. Zacherl hatte das Studium der Jurisprudenz frühzeitig abgebrochen und sich zum bösartigen Bibliotheksdiener gewandelt, der Bücher über alles, Studenten aber gar nicht schätzte und sich deshalb redlich bemühte, diese von jenen fernzuhalten. Mit dem unverdienten Doktortitel wollte er mir diesmal wohl klar machen, dass ein studentisches Nichts wie ich nicht Lehrbücher verlangen dürfe, die keiner angekündigten Vorlesung entsprachen. Als gelernter Österreicher war ich zwar gegen das unfreundliche Wiehern von Amtsschimmeln immun; schlimm war jedoch, dass die Lehrbücher aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg stammten, wir aber bereits das Jahr 1956 schrieben. Diese in Ehren ergrauten Wälzer waren kaum geeignet, mir das Tor zur Biochemie (die damals noch »Physiologische Chemie« hieß) zu öffnen. Die chemischen Vorgänge in lebenden Zellen hatten mich nämlich schon als Gymnasiast in ihren Bann gezogen, doch meine Lehrer wussten darüber nichts – und auch an unserer Universität gab es damals für diese neue Wissenschaft weder Professoren noch Vorlesungen. Da ich mir ein Studium in einer anderen Stadt nicht leisten konnte und es keine Stipendien gab, hatte ich mich entschlossen, Chemie zu studieren und die Biochemie auf eigene Faust zu erlernen. Wie ich aber nun wusste, konnte ich dabei nicht auf Lehrbücher aus unserer Universitätsbibliothek zählen. Also versuchte ich es bei unseren Buchhandlungen. Diese hatten seit Kriegsende ihre liebe Mühe, da ihre bewährten Verkaufsrenner – die Blut-, Schollen- und Sippenschinken – plötzlich aus der Mode waren und nun als Ladenhüter vor sich hinschmollten. Sie waren dabei immer noch besser dran als Hitlers »Mein Kampf«, der sich beim Einmarsch der Sowjetsoldaten in Tausenden von Haushalten buchstäblich über Nacht in seine einzelnen Seiten aufgelöst hatte, um als Toilettenpapier in einem ihm würdigen Ambiente weiterhin für die Reinheit der arischen Rasse zu sorgen. Ich hatte wenig Hoffnung, in diesen tristen Buchhandlungen fündig zu werden. Mein erster Versuch bei unserer »Universitätsbuchhandlung« im Stadtzentrum war beispielhaft für alle, die noch folgen sollten. »Habe die Ehre, der Herr« grüßte mich der kantige Verkäufer Franz Kroissenbrunner, von dem man munkelte, er sei einer der »illegalen« Grazer Nazis gewesen, die Hitlers Weg nach Österreich geebnet und damit Graz zum fatalen epitheton ornans »Stadt der Volkserhebung« verholfen hatten. Auf meine Bitte »Ich hätt’ gern ein Lehrbuch der Physiologischen Chemie« legte er mir das vor kurzem erschienene Lehrbuch des Zürcher Biochemikers Franz Leuthardt auf den Ladentisch. »Sunst hamma nix, aber des da is sicha naimodischer als a amerikanischer Schmarrn«, ließ er mich wissen. »Sauteuer is er hålt, der Schweizer Herr«, fügte er hinzu und begrub damit meine Hoffnungen, denn der Preis des Buches entsprach etwa einem Wochenlohn meines Vaters. Und auf meine Frage nach englischen Lehrbüchern antwortete Kroissenbrunner nur mit einem verächtlichen Kopfschütteln.

Dies war das gleiche Graz, in dem einst Wissenschaftler von Weltrang wie Ludwig Boltzmann, Karl Cori, Karl von Frisch, Viktor Hess, Otto Loewi, Ernst Mach, Erwin Schrödinger, Nikola Tesla, Alfred Wegener und Richard Zsigmondy gelebt und geforscht hatten und in welcher der junge Richard Strauss im Jahre 1906 die österreichische Uraufführung seiner skandalumwitterten »Salome« dirigiert hatte. Das Ende des »Tausendjährigen Reiches« hatte keinerlei geistige Aufbruchsstimmung ausgelöst. Die wenigen wissenschaftlichen Leuchten, die damals an der Grazer Universität lehrten – wie der Physiker Adolf Smekal und der Physikochemiker Otto Kratky –, konnten nichts an der Tatsache ändern, dass meine Ausbildung als Chemiker an den führenden Lehr- und Forschungsstätten Großbritanniens und der USA nur für mitleidiges Lächeln gesorgt hätte. Das Musikland Österreich musste fast zwei Jahrzehnte lang Atem holen, bis es die »Kapellmeistermusik« Gustav Mahlers und die »entarteten« Klänge Strawinskys oder der Neuen Wiener Schule wieder in seinen Konzertsälen willkommen hieß und sich eingestand, dass die Werke eines Maurice Ravel oder Claude Debussy keineswegs die parfümiert-verweichlichten Machwerke waren, als die Hitlers Kulturkommissare sie oft abgestempelt hatten. Noch 1960 hörte ich zwei Studienkollegen darüber rätseln, ob Hindemith ein englischer oder deutscher Komponist sei. Unter dem Druck der Besatzungsmächte und der österreichischen Linksparteien setzten die Grazer Theater zwar gelegentlich politisch engagierte Stücke aufs Programm, spielten sie aber meist vor halbleerem Haus. Und da Grazer Museen bis heute keine bedeutende Sammlung moderner Gemälde besitzen und ihre wenigen neueren Meisterwerke nach dem »Anschluss« Österreichs als »entartete Kunst« im Ausland entsorgt hatten, begegneten wir bei den Museumsbesuchen unserer Schulklasse zwar unzähligen akademischen Landschafts-, Fürsten- und Heiligenporträts, aber nur ganz selten einem bedeutenden expressionistischen oder abstrakten Meisterwerk.

Später fragte ich mich oft, weshalb Österreich nach dem Zusammenbruch des Hitlerreiches so lange geistig gelähmt blieb, während es nach dem der Donaumonarchie Revolution, Bürgerkrieg und einen unerhörten, wenn auch tragisch kurzen kulturellen Höhenflug erlebte. Die allgemeine Not nach 1945 kann dies nicht ausreichend erklären, denn sie war auch nach 1918 erdrückend – und der Zusammenbruch von Sozialgefüge und nationaler Identität nach dem Ersten Weltkrieg wahrscheinlich noch einschneidender als nach dem Zweiten. Doch die Vertreibung hochrangiger Künstler und Wissenschafter durch Hitler und die spätere Säuberung unseres Wissenschafts- und Kulturbetriebs von untragbaren, aber nicht immer unfähigen »Nazis« hatten für einen zweifachen Kahlschlag gesorgt, der zur Zeit meines Studiums Duckmäusern und Mitläufern die einmalige Gelegenheit bot, ihre dünnen Stämmchen ungehindert gegen den Himmel zu recken. Ein zweiter Grund war wohl, dass die äußere Bedrohung Österreichs durch Hitlerdeutschland den 1934 kurz aufflackernden Bürgerkrieg zwischen Rechtskonservativen und Austromarxisten ungelöst eingefroren hatte, sodass er nach Kriegsende im besetzten Österreich als Kalter Bürgerkrieg weiterschwelte und nach Abzug der ausländischen Besatzung im jahrzehntelangen Patt Großer Koalitionen das Land in zwei unversöhnliche Lager spaltete.

Diese zwei Lager schufen im Österreich der Nachkriegszeit zwei spiegelbildliche Gegenwelten: Eine schwarze und eine rote. Staatliche Posten, darunter auch viele Universitätsprofessuren und fast alle leitenden Klinikstellen, waren entweder »rot« oder »schwarz« – und damit nur Bewerbern zugänglich, die sich mit dem richtigen Parteibuch eingefärbt hatten. Wir Studenten konnten dafür die entsprechende Studentenverbindung wählen – entweder den schwarzen und erzkatholischen Cartellverband oder den roten Bund sozialistischer Akademiker, der allerdings trotz seines Namens bei der Suche nach akademischen Posten weniger Gewicht hatte. Daneben gab es eine Fülle »freiheitlicher« Studentenverbindungen, die wegen ihrer rechtslastigen Ausrichtung damals noch nicht in das offizielle politische Landschaftsbild passten und deren Mitglieder oft ohne Gesichtsschutz mit scharfem Säbel fochten, um sich nach Art gewisser Urvölker ihre Stammeszugehörigkeit ins Gesicht zu schneiden. Die dabei eingehandelten Narben konnten zwar ebenfalls, vor allem in der Privatindustrie, als Befähigungsnachweis für einen lukrativen Posten dienen, doch die alles überragende Macht war der »Proporz« zwischen Rot und Schwarz, gegen den Ausbildung, Können und Motivation für nichts zählten. Diese politische und kulturelle Lähmung belastete Österreich schwerer als alle Bombenschäden des Zweiten Weltkriegs und ist selbst heute noch nicht überwunden.

Im Jahrzehnt nach Kriegsende erwachten in mir zum ersten Mal Fragen zu dem, was ich als Kind erlebt hatte – und immer größere Zweifel an dem, was die Erwachsenen mir darüber erzählten. Warum waren alle so erbost, als man vor dem ehemaligen Gestapo-Hauptquartier in der Grazer Paulustorgasse ein Mahnmal für die gefolterten und ermordeten Opfer enthüllte? Warum fuhr mir die Besitzerin unseres Lebensmittelladens so unwirsch über den Mund, als ich sie fragte, warum sie damals bei der Radionachricht von Hitlers Tod geweint hätte, wo doch Hitler ein böser Mann gewesen war? Warum waren so viele Bekannte plötzlich ohne Arbeit oder mussten unter Aufsicht der Besatzungssoldaten die Straßen von Gebäudetrümmern räumen? Auch mit den Juden schien etwas nicht zu stimmen; sie mussten Schlimmes verbrochen haben, denn ich hörte über sie oft tuscheln, hatte aber lange keine Ahnung, wie sie aussahen und warum sie unsere Stadt verlassen hatten. Als einer von ihnen aus der Emigration nach Graz zurückkehrte, um sein im Jahre 1938 »arisiertes« Kleidergeschäft wieder in Besitz zu nehmen, polterte unser Hausmeister (wohl unisono mit vielen anderen Grazern): »Jetz kummt a daher, der Feigling, wo’s koan Kriag net mehr gibt, und reisst si glei a ganzes Gschäft untern Nogl.« Immer deutlicher spürte ich, dass man mir vieles verschwieg, verzichtete aber bald darauf, mit weiteren Fragen die Erwachsenen gegen mich aufzubringen.

Als ich im Jahre 1954 mein Universitätsstudium begann, hatte sich das Blatt immer noch nicht gewendet. Spätestens dann hätte ich mich fragen müssen, warum Graz zur geistigen Provinz verkommen war. Ich machte mir jedoch darüber kaum Gedanken, hatte man mir doch im Gymnasium so viel über Alexander den Großen, die Punischen Kriege und unsere Kaiserin Maria Theresia erzählt, dass die Zeit für Österreichs neuere Geschichte offenbar nicht mehr gereicht hatte. Das Österreich der Nachkriegsjahrzehnte schlief den Schlaf des Ungerechten. Es wollte vor allem seinen »Steffl« (den Wiener Stephansdom) und die Staatsoper in altem Glanz erstrahlen lassen und übersah dabei, dass diese Kulturikonen auf geistigem Ödland standen, das unsere wissenschaftliche Ausbildung viel einschneidender behinderte als die verrotteten Apparaturen und zerbombten Institutsgebäude. Mir wurde das wahre Ausmaß dieses Schadens erst bewusst, als ich in den USA arbeitete und die Lücken meines Wissens fast täglich zu spüren bekam. Der Krieg hatte aber auch noch andere Spuren hinterlassen: Viele Professoren, Assistenten und Labordiener befleißigten sich eines ruppigen Kasernentons und schnaubten uns Studenten bei jeder nur möglichen Gelegenheit an. Wehe dem, der sich während eines Gesprächs mit seinem Professor am Arbeitstisch anlehnte oder dem Labordiener nicht die gebührende Reverenz erwies! Im Österreich meiner Jugend vereinigte sich altösterreichischer Beamtendünkel mit preußischem »Abhärtungs«-Wahn zu einer unheiligen Allianz, die der Weihrauch der mächtigen katholischen Kirche noch unheiliger machte. Am schlimmsten war jedoch, dass die politischen Wechselbäder uns die Ideale geraubt hatten. Zeitgeschichte, soziale Gerechtigkeit, Frauenrechte, Toleranz, Schutz von Minderheiten und demokratische Fairness bedeuteten uns wenig oder nichts. Wir halfen unseren nächsten Verwandten und Freunden, wollten aber vor allem den Krieg und den Hunger vergessen, in ferne Länder reisen und uns eine Zukunft bauen, die fatal der Vergangenheit glich.

Vielleicht werden Historiker und Soziologen ein freundlicheres Bild vom Österreich meiner Jugend zeichnen, doch ich empfand damals meine Heimat als ein verstocktes geistiges Abseits ohne politische Reife, Ehrlichkeit oder Weltoffenheit. Thomas Bernhard, Peter Handke, Michael Scharang, Elfriede Jelinek und viele andere österreichische Autoren haben die Frustration und die innere Wut meiner Generation über das verlogene Schweigen und die geistige Lähmung unseres Landes mit oft bestürzender Heftigkeit für die Nachwelt festgehalten. Schon in meinem zweiten Studienjahr beschloss ich, Österreich so bald wie möglich zu verlassen, um freiere Luft zu atmen und mir eine wissenschaftliche Zukunft zu schaffen.

Da diese Zukunft »Biochemie« hieß, schuf ich sie mir mit einem selbst gebastelten Studiengang. Wie es sich für einen wissenschaftlichen gradus ad Parnassum gebührt, hatte er genau festgelegte Stufen. Als erste Stufe durchpflügte ich den Biochemie-Teil der Chemical Abstracts, einer damals weit verbreiteten Zeitschrift, die in unserer Universitätsbibliothek auflag und von jeder chemischen oder biochemischen Veröffentlichung eine kurze Zusammenfassung sowie die Namen und Adressen der Autoren angab. Als zweite Stufe erwarb ich farbige Postkarten von Graz und versandte sie – als dritte Stufe – an die Autoren, deren Arbeiten ich interessant fand. Meine lapidare Grußbotschaft »Please send me copies of all your papers« war zwar grammatisch korrekt, aber nicht eben bescheiden. Stufen vier bis sechs waren die schwersten: Sie bedeuteten Warten, Warten – und Wa.r..t…e….n, da ich mir die teure Luftpost ersparen wollte. Noch heute kann ich es kaum glauben, dass mir überhaupt jemand antwortete, doch einige großmütige Seelen sandten mir tatsächlich einen oder zwei ihrer neuesten Artikel. Nicht so David E. Green, der im amerikanischen Madison an der University of Wisconsin die Zellatmung – also die Verbrennung von Nahrung in lebenden Zellen – erforschte. Greens weltberühmte Arbeitsgruppe hatte es sich zum Ziel gesetzt, die Verbrennungsorgane unserer Zellen – die »Mitochondrien« – bis ins letzte Detail zu erforschen. Green war ein Mann der großen Geste und sandte mir ein gewichtiges Paket mit mehreren hundert seiner Publikationen. Dass dieses Paket mit Luftpost kam, verstärkte nur seine Aura eines Manna, das in der Grazer Nachkriegswüste vom Himmel auf mich herabregnete. Viele dieser Publikationen gelten heute als Klassiker, und alle trugen den Stempel von Greens elegantem Schreibstil, der mich sofort begeisterte und mir meine Expedition in die Welt der Mitochondrien erleichterte.

Ich las diese Artikel in unserem Stadtpark auf einer abgelegenen Bank im Schatten einer alten Ulme. Die Bank war fast immer verwaist, weil man ihr nach Kriegsende eine Holzplanke abgeschraubt hatte, wohl um damit ein Wohnzimmer warm zu halten. In diesem luftigen Hörsaal erfuhr ich mit Staunen, wie in jeder Zelle meines Körpers Hunderte von winzigen Mitochondrien meine Nahrung verbrennen, ohne dabei Feuer oder Rauch zu entwickeln. Diese Abermilliarden glimmender Feuerpunkte waren es also, die meinem Körper Wärme und Kraft schenkten! Doch wie sie dies zuwege brachten, war ein Geheimnis, das weder David Green noch irgendein anderer Wissenschaftler gelüftet hatte. Nichts schien mir wichtiger und spannender, als diesem Geheimnis nachzuspüren. Lauschige Parkbänke waren schon immer für Treueschwüre gut – und so beschloss ich auf meiner, den winzigen Lebensfeuern meine ersten Forscherjahre zu widmen. Doch würde sich dieser Einsatz lohnen? Hatte ein biochemischer Außenseiter wie ich eine Chance, gegen bestens ausgebildete und glänzend begabte amerikanische Wissenschaftler wie David Green zu bestehen und Neues zu entdecken? Ich wusste noch nicht, dass solche Selbstzweifel nie verstummen, weil sie ein unverzichtbarer Teil jedes Forscherlebens sind.

David E. Green (1910–1983), 1967

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Feuerspiele

Oft habe ich mich gefragt, warum die Zellfeuer mich so magisch in ihren Bann zogen. Wahrscheinlich war ich schon immer ein Pyromane. Die meisten Kinder finden Feuer aufregend, doch meine Faszination überschritt wohl bei weitem die Grenzen des Normalen. Als mir mein Vater einst von Irrlichtern erzählte, die nachts über Sümpfe tanzen, ertrank ich auf der Suche nach ihnen um ein Haar in unserem Dorftümpel. Und eine farbige Illustration zum Grimm-Märchen »Das blaue Licht« ließ mich alle nur möglichen Lebensmittel und Stofftücher aus unserer Küche in den Garten schmuggeln, um dort herauszufinden, ob sie mit blauer Flamme brennen würden. Selbst den Zellfeuern lief ich schon als Kind über den Weg, da ich wissen wollte, warum der Düngerhaufen am Bauernhof meines Onkels an kalten Morgen wie ein Vulkan dampfte. Als ich den Onkel einmal nach dem Grund fragte, meinte er schmunzelnd »tå trinna brennt hålt was«. Eines Morgens überwand die Neugier meinen Ekel; ich schlich mich im Morgengrauen zum dampfenden Düngerhaufen und griff auf der Suche nach dem rätselhaften Feuer mit einem Arm tief in den widerlichen Brei – doch was meine Hand schließlich zutage förderte, war nur warmer Dünger. Er bedeckte nach Abschluss des Experiments meine Kleider und mein Gesicht und rief mit seinem Parfum augenblicklich meine Eltern auf den Plan, die herausfinden wollten, was sich abgespielt hatte. Mein Onkel, im Dorf für seinen Humor bekannt, brummte nur »Tås tea tå a Mistbui is, håw i eh scho imma gwisst«. Meine Mutter jedoch – eine pflichtbewusste Dorflehrerin – war außer sich und hatte wegen mir eine der ganz seltenen heftigen Auseinandersetzungen mit meinem Vater. Wie sie mir später erzählte, hatte sie während ihrer Ausbildung von den Ideen Sigmund Freuds gehört und war überzeugt, dass in meiner »analen Phase« etwas schief gelaufen war. Noch am gleichen Morgen wanderte sie mit mir zu einem bekannten Kinderarzt ins benachbarte Provinzstädtchen Güssing, um meine seelische Fehlentwicklung im Keim zu ersticken. Ich war damals gerade sieben Jahre alt und kann mich noch gut der Worte – und noch besser der Therapien – entsinnen, mit denen der stattliche alte Arzt die psychologische Hypothese meiner Mutter quittierte. »Va tein naichmodeanen Zeich hålt i nix. Was tea tå braucht san a Poa urntliche Watschn« – und nach einer eindringlichen Warnung, so etwas ja nie wieder zu versuchen, verpasste er mir vor den schuldbewussten Augen meiner Mutter zwei schallende Ohrfeigen. Heute weiß ich, dass das von mir gesuchte Feuer in den Abermilliarden von Bakterien glomm, welche die organischen Stoffe des Düngers verbrannten und so ihre Lebensenergie gewannen.