Fachbücher therapie kreativ

Band 9

Aufrichten in Würde

Modelle und Methoden leiborientierter

kreativer Traumatherapie und -begleitung

Frick-Baer, Gabriele

Aufrichten in Würde

Neukirchen-Vluyn:

Affenkönig Verlag 2009

ISBN 978-3-934933-39-2

© 2009 Affenkönig Verlag, Neukirchen-Vluyn

1. Auflage 2009

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Barbara Meier

Satz: TRITUM, Jena

Umschlaggestaltung: Schneider Visuelle Kommunikation unter

Verwendung eines Bildes von © Klaus Schneider

eBook-Herstellung und Auslieferung:
Brockhaus Commission, Kornwestheim
www.brocom.de

Gabriele Frick-Baer

Aufrichten in Würde

Modelle und Methoden leiborientierter

kreativer Traumatherapie und -begleitung

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Gabriele Frick-Baer (Neukirchen-Vluyn – Jg. 1952)

Ich bin Diplom-Pädagogin, Kreative Leibtherapeutin (HPG), Kreative Traumatherapeutin. Mitbegründerin der Zukunftswerkstatt therapie kreativ und Autorin zahlreicher Fachveröffentlichungen.

Ich war in der Mädchenarbeit, der Erwachsenenbildung und der Leitung eines Frauenaufnahme- und -wohnheims tätig. Ich arbeite seit vielen Jahren in freier Praxis und leite Ausbildungsgruppen in Tanz-, Musik- und Kunsttherapie, Kreativer Leibtherapie sowie Kreativer Traumatherapie bei der Zukunftswerkstatt therapie kreativ und an Hochschulen und anderen Institutionen.

www.zukunftswerkstatt-tk.de

Inhalt

1 Annäherung

2 Das Traumaerleben und seine Folgen

2.1 Spuren und Phänomene

2.2 Traumatische Situationen und Phasen des Traumaerlebens

2.3 Biologisch-neuronale Prozesse und Folgen für das Erleben und Erinnern traumatischer Erfahrungen

2.4 Vier Konsequenzen, vier Essentials

2.4.1 Die traumatische Erfahrung ist ein Erlebensprozess

2.4.2 Worte allein reichen nicht

2.4.3 Würdigen, was ist

2.4.4 Beziehung, Beziehung, Beziehung

3 Essential „Leib“: Grundlegende leibtherapeutische Modelle des Verstehens und der Hilfe

3.1 Erregungskonturen und Erregungspulsieren

3.1.1 Vom Erregungsverlauf zur Erregungskontur

3.1.2 Erregungskonturen spielerisch-kreativ verändern

3.1.3 Den Fuß in die Tür bekommen …

3.2 Bedeutungsräume

3.2.1 Der Intime Raum, der Persönliche Raum und der Öffentliche Raum

3.2.2 Der Zentrale Ort, der Unzerstörbare Kern

3.3 Primäre Leibbewegungen – vom Gehört-Werden und Hinschauen über das Greifen zum (misstrauischen) Lehnen …

3.4 Raum- und Richtungs-Leibbewegungen – Boden und Gerichtetsein

3.5 Konstitutive Leibbewegungen – die Suche nach Ruhe und Entspannung

3.6 Körpererleben und Körpergedächtnis – von der Fragmentierung zur Integration

3.7 Resonanzbereitschaft, Resonanzebenen und Resonanzmuster – wenn nichts mehr klingt oder zu viel klingt

3.8 Das ABC und die Grammatik der Gefühle

3.9 Spuren der Dissoziation: der Spalt im Dunkeln

4 Essentials „Kreative Zugänge“: wenn Worte allein nicht reichen ...

4.1 Klecker- und Verwandlungsbilder

4.2 Rahmenbilder

4.3 Tänzerische Dialoge

4.4 Verraumen und der sichere Ort

4.5 Musikalisches Verraumen und musikalische Dialoge

4.6 Puppen und Tiere

4.7 Stoff

4.8 Ton

4.9 Schattenbewegungen

4.10 Gesten

4.11 Anklageschriften, Briefe und andere literarische Formen

4.12 Aktives Symbolisieren

4.13 Kreative Gestaltungen: Scham, Ekel, Schuld

4.14 Der Tanz der Würde

5 Essential „Alles würdigen, was ist“: die vier B

5.1 Die vier B: Beziehung, Boden, Begegnung, Bewältigung

5.2 Zwei Ideologien: „Immer muss man …!“ und „Niemals darf man …!“

5.2.1 Lächeln statt Konfrontation?: „Niemals darf man …“

5.2.2 Erst Stabilisierung, dann Konfrontation?: „Immer muss man …“

5.2.3 Die Perspektive wechseln: Würdigen, was ist!

5.3 Die vier B im therapeutischen Prozess

6 Essential „Beziehungserleben“

6.1 Widersprüche, Widersprüche, Widersprüche

6.2 Die Notwendigkeit des Misstrauens

6.3 Mein Raum, dein Raum, unser Raum

6.4 Nähren – Spiegeln – Gegenüber

6.5 Die vier Geißeln der Würde

6.6 Zuversicht und Alltagsverknüpfung

7 Traumatisches Erleben und Krankheit

7.1 Fibromyalgie: die Scham, die zündelt

7.2 Essstörungen und Trauma

8 Traumatherapeutische Praxis auf dem Prüfstand

8.1 Nicht alles ist heilbar – wenn fast die ganze Welt triggert

8.2 Ähnlichkeit – Falle und Chance

8.3 Verortung – Werte – Standpunkt

Literaturverzeichnis

Danksagung

1

Annäherung

Ich widme dieses Buch den Menschen, die ein Opfer sexueller Gewalt geworden sind.

Meine therapeutischen Erfahrungen beruhen überwiegend, wenn auch nicht ausschließlich, auf der Arbeit mit erwachsenen Frauen, die als Kinder und Jugendliche tiefe Verwundungen davongetragen haben, mitten in Deutschland, mitten in normalen, sprich: sozial unauffälligen, meist sogar gut „angesehenen“ Familien. Sie haben den Krieg, den Terror und den Horror innerlich erlebt und müssen ihn oft noch tagtäglich weiter erleben mitten in einer Zeit, die gesellschaftlich und politisch gesehen eine Zeit des Friedens ist. Ich bin voller Hochachtung, wie diese Klientinnen und Klienten ihr Leben meistern, und danke ihnen, dass ich von ihnen lernen durfte und darf. Sie verdienen den Schutz ihrer Intimität, wenn über sie geschrieben wird. Diese Intimität in diesem Buch zu wahren und zu gewährleisten – darum werde ich mich bemühen. Wenn ich ihre Erfahrungen mitteile, selbstverständlich anonymisiert und verfremdet, dann nicht, um das Leiden ans Licht der Öffentlichkeit zu zerren, sondern nur deshalb und in dem Maße, wie es mir unerlässlich erscheint, um Wege der Unterstützung aus dem Schrecklichen aufzuzeigen. Ich hoffe, ich erweise mich dieser Menschen als würdig.

Dieses Buch ist geschrieben für Therapeutinnen und Therapeuten, die mit diesen Menschen arbeiten. Traumahilfe umfasst Traumatherapie und Traumabegleitung. Dieses Buch soll deshalb, so wünsche ich es mir, auch anderen, die traumatisierten Menschen helfend, begleitend und beratend zur Seite stehen, Einsichten bestätigen und vertiefen helfen, Perspektiven eröffnen und Anregungen geben. Es richtet sich an alle Kolleginnen und Kollegen, an die Frauen und Männer mit den unterschiedlichsten beruflichen Identitäten, die persönlich-professionelle Erschütterungen in Kauf nehmen, um den Menschen, die „aus der Welt gefallen sind“, auf ihrem Weg (zurück) ins Leben zur Seite zu stehen. Ich hoffe, auch ihnen erweise ich mich als würdig.

Der Weg von Menschen, die sexueller Gewalt ausgesetzt waren, führt, wenn er heilsam gelingt, vom „Traumaopfer“ zur oder zum „Traumaüberlebenden“, wie u. a. Michaela Huber formuliert. Wie unterschiedlich dieser Weg und seine Bezeichnung für jede und von jeder einzelne/n Person auch ist, so gibt es doch eine Leitorientierung, die für Therapeut/innen und ebenso für die Klient/innen wegweisend sein kann. Wir, meine Kolleg/innen und ich, die sich den grundlegenden Werten der Kreativen Leibtherapie verpflichtet fühlen, nennen die Leitorientierung: „in Würde aufrichten“.

Sexuelle Gewalt ist erniedrigend, der Weg des Verarbeitens und der Loslösung aus dem Trauma ist ein Weg des Aufrichtens. Auch andere traumatische Erfahrungen, denen Gewalt und der Verlust des Vertrauens und Selbstvertrauens innewohnt, führen zu Gefühlen der Erniedrigung, der Hilflosigkeit und des Ausgeliefertseins; auch die hiervon Betroffenen brauchen den Weg des Aufrichtens.

Aufrichten ist das Erleben, aus der Ohnmacht und Erstarrung wieder in Bewegung zu kommen, sich wieder rühren zu können. Aufrichten ist das Erleben, wieder zu stehen, wieder den Kopf zu heben, wieder der Welt in die Augen zu sehen.

Aufrichten heißt, sich körperlich wieder als durchlässig zu spüren, von unten nach oben und von oben nach unten, den Körper bzw. das Körperempfinden als zu sich selbst gehörend, als eigen, zurückzugewinnen.

Aufrichten ist der Prozess, aufrichtig werden zu können, mit sich und mit anderen, durch das Misstrauen, die Angst und die Scham hindurch und mit Misstrauen, Angst und Scham.

Aufrichten bedeutet zu spüren, wer das ist, wenn „ich ‚Ich’ sage“.

Aufrichten braucht einen Boden, auf dem ein Mensch stehen kann.

Aufrichten braucht Rückendeckung und ein aufrichtiges bzw. aufrichtige Gegenüber und eine Umgebung, die Freiheit für die Entwicklung von Eigen-Sein ermöglicht und Halt gibt.

In Würde aufrichten bedeutet nicht, sich aufzurichten um jeden Preis, sondern bedeutet auch, sich wegducken zu können, wenn es hilfreich ist, um sich zu schützen. Kämpfen, sich wehren, fliehen, sich verstecken, sich erwärmen für bestimmte wohltuende Menschen und anderen die kalte Schulter zeigen, all das kann „in Würde aufrichten“ beinhalten. Nicht verhärten, sondern Härte zeigen gegen Entwürdigung. Nicht zerfließen, aber weich bleiben oder weich werden.

Diese Leitorientierung hilft uns Therapeut/innen. Sie hilft auch den Menschen, mit denen wir arbeiten. Sie und wir stellen uns bei schwierigen Entscheidungen die Frage: Hilft die mögliche Lösung genau diesem bestimmten Menschen, sich in Würde aufzurichten, oder nicht? Hilft es z. B. diesem einzelnen Menschen zum Wiedererlangen seiner Würde, vor den Täter hinzutreten und ihn anzuklagen? Oder würde die Würde, die Aufrichtigkeit, eher an der Härte und grausamen Uneinsichtigkeit des Gegenübers zerschellen?

Wir achten die Kompetenz der Klient/innen zu entscheiden, welchen Schritt in der Therapie, in der Traumabewältigung sie gehen können und wollen. Die Haltung der Klient/innen-Kompetenz ist eine Voraussetzung dafür, den Weg des Aufrichtens zu beschreiten. Bevormundung, mag sie noch so gut gemeint sein, erniedrigt oder hält unten. Zu ermutigen und zu stützen, was oft und gerade in der Arbeit mit traumatisierten Menschen nötig ist, mit Erfahrungen, Meinungen und Ideen zur Bewältigung nicht hinter dem Berg zu halten, sondern sie den Klient/innen zur Verfügung zu stellen, damit sie für sie Sinnvolles auswählen können, ist etwas anderes als Bevormundung. Doch dazu später.

Der Prozess des Aufrichtens bedarf der Begleitung und des Halts. Wenn Menschen sexuelle Gewalt erfahren oder andere traumatisierende Situationen durchleben mussten, waren sie und fühlten sie sich allein. Und nach solchen Erfahrungen wurden sie erst recht oft allein gelassen, wurden sie nicht gesehen und nicht gehört, sollte allzu oft der Mantel des Schweigens über das Geschehene, über das Leiden ausgebreitet werden. Besonders, wenn dem „kindlichen Ich“ Gewalt angetan wurde und wird, versteht es die Welt nicht mehr und verliert jedes Verständnis für sich im Bezug zur Welt. Wenn dann niemand da ist, der oder die das Geschehene zurechtrückt, Täter und Opfer als solche benennt, das Unfassbare begreifbar macht, bleibt das Verständnis und Selbstverständnis auf der Strecke.

Wer kein Verständnis erlebt, kann auch kein Verständnis für sich gewinnen. Viele Opfer sexueller Gewalt haben nicht nur die Erinnerung an das traumatische Geschehen oder Teile davon verdrängt, sondern auch das Verständnis für sich verloren. „Verständnis“ beinhaltet „Verstehen“: warum sie so sind, wie sie sind; warum sie so handeln, wie sie handeln; warum sie so fühlen, wie sie fühlen. Das Ringen um Verstehen, die Suche nach Verständnis, ist oft ein verzweifelter Prozess auf Seiten der Klient/innen. Wir Therapeut/innen haben es viel leichter mit dem Verstehen: Was sich für uns als folgerichtiges Lebensmuster aus der erfahrenen Traumatisierung darstellt, was uns zutiefst verständlich ist, ist für die Klient/innen alles andere als selbstverständlich. Das müssen wir wissen und beachten und in diesem Prozess müssen wir beharrliche Anwälte des Verstehens bleiben. „Verständnis“ meint noch etwas, was über Verstehen hinaus geht: das Mitgefühl. Und das ist den traumatisierten Klient/innen oft verloren gegangen – wohlgemerkt: nicht das Mitgefühl für andere, aber das Mitgefühl für sich selbst. Mit neutraler Stimme und unbeteiligter Miene erzählen sie von dem Schrecklichen und Erniedrigenden, das ihnen widerfahren ist, als ob es das Normalste von der Welt wäre.

Erst wenn wir als Therapeut/innen und beteiligte Menschen Mitgefühl für ihr Leiden zeigen, kann ein Prozess beginnen, in dem sie selbst Mitgefühl für sich und für das Kind oder die junge Heranwachsende, die sie einmal waren, und für die, die sie heute sind, entwickeln.

Dieses Buch handelt von Verständnis in diesem doppelten Sinn. Es ist zwar auch aus Forschungsaktivitäten (qualitative Interviews mit traumatisierten Menschen und systematischer Auswertung von Therapieprozessen) entstanden, vor allem aber ist es Resultat des gemeinsamen Ringens um Verständnis. Das meiste, was ich gelernt habe und in diesem Buch weitergeben möchte, habe ich in den Begegnungen mit den Klient/innen gelernt.

Verständnis ist der Beginn des Aufrichtens, ein weiterer und oft schwieriger Weg folgt. Ich bitte die Klient/innen immer wieder zu überprüfen: „Ist der Weg, den wir einschlagen, immer noch der richtige für Sie?“ Der Weg des Aufrichtens braucht Pausen und Innehalten genauso wie mutige Sprünge nach vorn. Er beschäftigt sich mit dem Hier und Jetzt des Alltagslebens und er führt zur Begegnung mit dem Schrecken des Erfahrenen. Dieser Weg braucht Zuversicht. Manchmal, wenn der Klientin oder dem Klienten die Zuversicht zeitweilig abhanden kommt, bin ich es, die stellvertretend für sie die Zuversicht hat und hält. In einer vertrauensvollen Beziehung ist das manchmal und phasenweise der einzige Lichtblick und Orientierungspunkt in Verwirrung, Verzweiflung und Dunkelheit.

Mein Leitsatz, der es mir möglich macht, Menschen auf diesem Weg durch den Schrecken zu begleiten, lautet:

„Schrecklicher als damals, nicht einmal so schrecklich wie damals, kann es nicht werden. Denn jetzt sind Sie nicht mehr allein damit. Jetzt passe ich auf, dass Ihnen nichts passiert.“

Wenn wir diesen Satz einer Klientin oder einem Klienten sagen und aufrichtig meinen, hat er Wirkung. Zum Schrecken des Traumas, hilflos sexueller Gewalt ausgeliefert gewesen zu sein, kommt und kam vor allem der Schrecken des Alleinseins und des Alleingelassen-Werdens. Dies zu durchbrechen, Halt und Unterstützung anzubieten und mitfühlende Begleitung in den Dienst der therapeutischen Arbeit zu stellen, hilft beim Prozess des Aufrichtens und ist somit ein zentraler Leitsatz meiner Arbeit und der meiner Kolleg/innen.

Am Herzen liegt mir und uns ferner:

Wir stehen auf der Seite der Menschen, die Opfer sexueller Gewalt geworden sind, mitfühlend und parteilich, unterstützend und aufrichtend. Das sollte selbstverständlich sein, ist es aber leider nicht.

Wir betrachten die Folgen traumatischen Erlebens, wie z. B. Dissoziationen, nicht als Krankheit, sondern als eine produktive, kreative Lösung, die es ermöglicht, in und nach einer als existenziell bedrohlich und unaushaltbar erlebten Situation weiterleben zu können (s. auch Becker 1992 und 2006). Das Leiden der Betroffenen, das sich aus diesen Bewältigungsstrategien ergibt, bedarf therapeutischer Begleitung, wenn sie chronisch werden und das Leben beeinträchtigen.

Wir verstehen uns als Teil der Strömung engagierter Therapeutinnen und Therapeuten, die sich, oft in Engagement und Fachlichkeit auf Judith Herman beziehend, um die Entwicklung und Verbreitung spezieller und würdigender Therapieansätze verdient gemacht haben (Huber, Reddemann und viele andere mehr).

Wir stützen uns auf die Forschungsergebnisse der Psychotraumatologie, die seit Mitte der 90er Jahre einen enormen Aufschwung des Interesses fand und zahlreiche für Diagnostik, Therapie und sonstige Hilfen wichtige Einsichten hervorbrachte (Fischer/Riedesser, van der Kolk, Farlane, Horowitz, Keilson und viele andere mehr). Der besseren Lesbarkeit willen bin ich mit Zitaten und Literaturverweisen in diesem Buch sehr sparsam umgegangen. Ich verweise auf das Literaturverzeichnis und v.a. auf eine in Vorbereitung befindliche Veröffentlichung, die ausführlich auf den Forschungsstand Bezug nehmen wird.

Was wir beitragen wollen und können, sind v.a. Modelle, Methoden und Erfahrungen kreativer Therapien. Wenn Worte allein nicht reichen, können die Ausdrucks- und Kommunikationsweisen des Tanzes, des Musizierens, des Gestaltens und der Poesie das Ungesagte und das Unsagbare hervorbringen und neue Wege des Heilens ermöglichen. Das ist unsere Erfahrung, seit wir mit Opfern sexueller Gewalt und anderer traumatisierender Erfahrungen arbeiten. Die Forschungen der Psychotraumatologie haben gezeigt, dass das Erleben vieler Traumaopfer einfriert und in Fragmente zerfällt und so verbalen Dialogen und Erzählstrukturen nicht zugänglich ist. Oft muss also über die Ebene des Verbalen hinausgegangen und an den bildhaften und anderen sensorischen Qualitäten der Fragmente angeknüpft werden. Wir haben seit vielen Jahren beobachtet, dass hier kreative Therapie in einem Maße hilft, dass ich mir eine Traumatherapie und -begleitung ohne kreativ-therapeutische Methoden kaum noch vorstellen kann.

Doch mit diesem Buch verfolge ich den Anspruch, über die Vermittlung praktischer kreativ-therapeutischer Methoden hinauszugehen bzw. sie in Verbindung zu bringen mit den grundlegenden therapeutischen Werten, Haltungen und Modellen, denen sie entspringen. Um in Worte zu fassen, was in den kreativ-therapeutischen Prozessen geschieht und wie kreative Therapien wirken, haben wir unsere theoretischen Modelle entwickelt bzw. vorhandene weiterentwickelt. Da kreative Therapie immer ein Prozess des Erlebens ist, waren die leib-phänomenologischen Gedanken von Merleau-Ponty, Fuchs und anderen Philosophen („Leib“ kommt vom indogermanischen „lip“ oder „lib“ und bedeutet „Leben, Erleben, der erlebende Mensch“, ist also nicht mit „Körper“ gleichzusetzen) ein besonders fruchtbarer Boden. Darüber hinaus haben Erkenntnisse und Modelle der Säuglingsforschung und der Neurowissenschaften viele der Erfahrungen kreativ-therapeutischer Prozesse bestätigt und vertieft. Aus diesen Auseinandersetzungen sind theoretische Modelle hervorgegangen, die dann wiederum unsere Praxis bereichert und die Entwicklung neuer praktischer Methoden angeregt haben.

Wir haben diesem Ensemble den Namen Kreative Leibtherapie gegeben. Einige unserer theoretischen Grundlagen, unsere Modelle Kreativer Leibtherapie wie z. B. Erregungskonturen, Primäre, Konstitutive und Raum- und Richtungs-Leibbewegungen haben sich aus der Verbindung der genannten Quellen, aus unserer eigenen therapeutischen Ausbildung mit unserer therapeutischen Praxis entwickelt. Unsere Erfahrungen haben wir sowohl in der Einzeltherapiepraxis als auch in den kreativ-therapeutischen Ausbildungsgruppen gesammelt, die mein Mann und ich geleitet haben.

Wir haben ein großes Interesse am Lehren, an der Nachvollziehbarkeit und Transparenz von therapeutischen Prozessen, und wir haben viel Neugierde und Freude an dem, was Kolleg/innen und Therapie-Lernende an eigenem Stil daraus entwickeln. Das Erleben jedes einzelnen Menschen in den Mittelpunkt des Interesses zu stellen, birgt Überraschungen, die keine therapeutische Einheit wie eine andere sein lässt. Und dennoch gibt es Erfahrungen, die wir jetzt schon über 20 Jahre machen dürfen, die sich bündeln lassen und als Modelle einen theoretischen Boden und Orientierungsrahmen bilden, die dann in den kreativen Methoden ihren Ausdruck finden.

An dieser Stelle muss und will ich meinem Mann Udo Baer meine Wertschätzung aussprechen: für sein leidenschaftliches Interesse am Wachstum von Menschen, für sein Engagement im Dienste der Heilung ihrer Verletzungen und für seine Leistung in der theoretischen Fundierung und Didaktik Kreativer Leibtherapie aussprechen.

Ohne seine unterstützende, mich aufrichtende, Mut machende Haltung und seine freigiebige und unermüdliche Diskussionsfreude ist die Entstehung dieses Buch undenkbar. Es ist in weiten Teilen im Grunde ein gemeinsames. Aber ergänzend z. B. zu unserem Fachbuch „Leibbewegungen, Herzkreise und der Tanz der Würde. Methoden und Modelle leiborientierter Tanztherapie“ (Baer, Frick-Baer 2001/08) oder dem musiktherapeutischen Fachbuch, „Klingen, um in sich zu wohnen“ (Baer, Frick-Baer 2004) und den anderen gemeinsam herausgegebenen Büchern und Artikeln sowie dem Fortbildungsskript zur Kreativen Traumatherapie und -begleitung ist dieses Buch mein Versuch, den Besonderheiten der therapeutischen Arbeit mit traumatisierten Menschen, die Opfer sexueller Gewalt geworden sind, Bedeutung und Gewicht zu geben. Mein aufrichtiges Anliegen ist es, meinen Anteil, so gut ich es vermag, dazu zu tun, dass diese Menschen im therapeutischen und begleitenden Prozess Unterstützung finden, sich aufzurichten.

Kreative Traumatherapie kann mit anderen Verfahren, die auf einem humanistischen Menschenbild beruhen, verbunden werden. Therapeut/innen dieser anderen Richtungen, die in ihrer professionell-persönlichen Haltung grundsätzlich am Erleben der Klient/innen, an ihrer Innenwelt und nicht an ihrer Erziehung interessiert und orientiert sind und den therapeutischen und helfenden Prozess als Resonanz- und Beziehungsentwicklungsprozess begreifen, können von ihr sicherlich professionell-persönlichen Gewinn haben. Auch wenn Kreative Leibtherapie als „Mutter“ der Kreativen Traumatherapie eine fundierte, eigene Richtung ist, so ist sie offen für Integrationsbewegungen und bemüht sich um einen fruchtbaren Austausch. Abgrenzung gilt nicht anderen Verfahren, sondern Verletzungen der Würde.

2

Das Traumaerleben und seine Folgen

2.1 Spuren und Phänomene

Die Traumatherapie und -begleitung soll und will Heilungsprozesse bei Menschen unterstützen, die an den Folgen traumatischer Erfahrungen leiden. An den Erscheinungsformen dieses Leidens, an dessen Phänomenen, gilt es anzuknüpfen, will man die betroffenen Menschen ernst nehmen. Dabei darf und soll es nicht bei einer Aufzählung der Phänomene bleiben. Die Aufmerksamkeit muss sich auf die Untersuchung der inneren Zusammenhänge zwischen den Phänomenen und dem Erleben der traumatischen Situationen richten. Ich werde die Untersuchung des Traumaerlebens und seiner Folgen damit beginnen, Phänomene darzustellen, mit denen Klient/innen v.a. in der Anfangsphase einer Therapie und dann, wenn sie nicht ausdrücklich wegen ihres Traumas Hilfe suchen, ihr Leiden beschreiben. Ich werde diesen Spuren folgen und von dort aus werde ich Verbindungen zum Erleben der traumatischen Situationen ziehen.

Jedes Phänomen des Erlebens eines Menschen kann in Verbindung mit Erfahrungen sexueller Gewalt stehen und als ein Symptom der Traumafolgen auftreten. Dies ist wichtig zu wissen, um sich immer wieder offen auf die Begegnung mit den Klient/innen einstellen zu können, deren Erleben ernst zu nehmen und deren Kompetenz zu achten. Die Symptomsammlungen des Posttraumatischen Stresssyndroms und anderer diagnostischer Klassifizierungen sind wichtige Hinweise und müssen als Anhaltspunkte herangezogen werden. Gegenüber solchen und ähnlichen Sammlungen ist dennoch Vorsicht angesagt. Selbstverständlich lässt nicht jedes einzelne Symptom auf Erfahrungen sexueller Gewalt oder anderer traumatischer Erfahrungen schließen, auch nicht jede Häufung mehrerer Symptome. Ebensowenig ist das Nicht-Vorhandensein bzw. Nicht-Offensichtliche „klassischer“ Symptome ein Hinweis darauf oder ein Beweis dafür, dass dem betroffenen Menschen keine sexuelle Gewalt widerfahren ist. Zu individuell ist die Verarbeitung biografischer Erfahrungen in jeder Persönlichkeit, zu subjektiv ist jedes Leiden. Symptome geben keine Gewissheiten, sie sind eher Spuren, die zu Fragen und Suchbewegungen Anlass geben.

Es sind gerade am Anfang der therapeutischen Begegnung häufig nicht Symptome des Posttraumatischen Stresssyndroms oder sonstige offenkundige „Traumathemen“ (wie gestörte Sexualität, Flashbacks, Schlaflosigkeit, Ängste …), die im Erzählen der Klient/innen im Vordergrund stehen, sondern oft „harmloser“ und alltäglicher daher kommende Phänomene, die allerdings nichtsdestoweniger im unmittelbaren Zusammenhang mit dem Trauma stehen und die Qualitäten des Traumaerlebens beleuchten.

Das häufigste, worüber traumatisierte Klient/innen nach meinen Erfahrungen in einem Erstgespräch klagen, ist ihr mangelndes oder fehlendes Selbstwertgefühl. Dies äußert sich im Großen wie im Kleinen, bei besonderen Herausforderungen des Lebens wie im Alltag. Selbstverständlich ist der Umkehrschluss unzulässig, dass mangelndes Selbstwertgefühl immer oder meistens auf traumatische Erfahrungen schließen lässt. Doch auf der Skala der Phänomene, an denen Menschen mit Traumata leiden, scheint mir das geringe Selbstwertgefühl die „Nummer 1“ zu sein. Mögen es manche Klient/innen auch hinter scheinbar selbstsicherem Auftreten oder beruflichem Erfolg verbergen, so ist die Selbstverunsicherung und oft Selbstabwertung doch das, was sie innerlich erleben. Wenn der innere Kampf dagegen und die Anstrengung, diesen Spagat aufrechtzuerhalten, zu groß und zu auslaugend werden, führt dies oft zum Schritt in die Therapie.

Dass das Selbstwertgefühl bei Opfern traumatischer Erfahrungen und insbesondere sexueller Gewalt gemindert und gestört ist bzw. als zerstört erlebt wird, ist nachzuvollziehen. Sexuelle und andere Gewalt gehen über die persönlichen und intimen Schutzgrenzen hinweg und behandeln Menschen als Verfügungsmasse ohne Eigenwert. Etwas davon bleibt in Menschen zurück. Mit den solchen traumatischen Situationen innewohnenden Gefühlen der Hilflosigkeit und Ohnmacht verbunden bleibt das Erleben der Wertlosigkeit zurück.

Das Gefühl der Unverletzlichkeit und Geborgenheit, das behütete Kinder haben und sie im Idealfall auch als Erwachsene als Grunderfahrung durchs Leben begleitet, wird durch sexuelle Gewalt und andere traumatische Situationen brutal gebrochen. Dieser Schock verunsichert und diese Verunsicherung bleibt über die traumatische Situation hinaus. Der innere zentrale Ort, von dem aus Menschen Entscheidungen treffen und Bewertungen, auch Selbstbewertungen, vornehmen, wird zumindest gefährdet, meist geschädigt (s. Kap. 3.2.2).

Oft wirkt diese Schädigung und Verunsicherung so tief, dass Klient/innen mit traumatischen Erfahrungen häufig davon erzählen, dass sie „verrückt sind“ oder „Angst haben, verrückt zu werden“. Dies ist Ausdruck der existenziellen Verunsicherung durch die traumatische Situation, die ja zumeist das Leben und die Lebenssicht der Betroffenen „verrückt“ hat. Dies ist oft auch Ausdruck davon, dass die meisten Betroffenen von Triggern, also meist kleinen (im Sinne von: unauffällig daherkommenden) sinnlichen Eindrücken (ein Geruch, ein Geräusch, ein Blick …), an die traumatische Situation erinnert werden und mit Angst oder Starre, Zorn oder Fluchttendenzen, Zittern oder hoher Erregung, mit dem Erleben, „neben sich zu stehen“ usw. reagieren. Sehr oft vollziehen sich solche Reaktionen unbewusst und bleiben für die Menschen selbst unerklärlich. Die einzige Erklärung, die sie haben, lautet dann: „Ich werde (oder bin) verrückt.“

Ein weiteres häufig angeführtes Phänomen im Vorfeld des traumatherapeutischen Prozesses ist die Schwierigkeit m Umgang mit „Nähe und Distanz“. Gemeint sind zumeist die Schwierigkeiten in sozialen Kontakten und Beziehungen. Das reicht von den Problemen in (Ehe-)Partnerschaften, die sich oft als Lebensarrangements zweier Unerreichbarer darstellen, bis zu den Problemen, sich „überhaupt an andere heranzutrauen“. Manche Menschen sind vereinsamt, andere haben viele Kontakte, ohne dass ihnen die ersehnte Liebesbindung gelingt. „Im Nebel zu sein“, „eine Wand zwischen sich und anderen Menschen zu spüren“, „abgeschnitten zu sein“, eine „Glasglocke um sich herum zu haben“: So oder so ähnlich sind die Bilder, die diesem Erleben Ausdruck verleihen. Auch für dieses Phänomen liegt die Verbindung zum Traumaerleben nahe: Sexuelle Gewalt ist ein Beziehungsakt, eine Beziehungstat. Dieser kann bzw. muss Folgen für das künftige Beziehungserleben haben, unabhängig davon, wie sich die Folgen im Beziehungserleben der Einzelnen äußern. Da die meisten Taten sexueller Gewalt innerhalb der Familie oder von anderen sehr nahe stehenden Personen begangen werden, ist der Bruch des Vertrauens besonders groß – ebenso die Schwierigkeit, wieder Beziehungsvertrauen aufzubauen.

Sich dennoch darum zu bemühen und trotz der Angst, verrückt zu sein, und der oft existenziellen Verunsicherung des Selbstwertgefühls darum zu kämpfen, den Alltag mit Arbeit und manchmal Familie bewältigen zu können, ist anstrengend und macht Druck, großen Druck. Von diesem Druck berichten die Klient/innen häufig in der ersten therapeutischen Begegnung. Sie fühlen sich schwer und angespannt (s. Kap. 3.5) und haben oft jedes Maß für das, was sie leisten, verloren. Was sie leisten, ist nie genug. Sie können sich nie oder nur für kurze Zeit nach Geleistetem oder Erledigtem entspannen, es muss gleich weiter gehen. Sie erleben sich v.a. in Phasen der Tatenlosigkeit als Versager/innen, die zum einen wieder mal nicht alles geschafft haben, was sie hätten schaffen müssen, und zum anderen nicht einmal fähig sind, zu entspannen. Ein erlebter Teufelskreis. Er ist bei Klient/innen mit traumatischen Erfahrungen ein Hinweis darauf, welche Lasten sie oft seit Jahren mitschleppen.

Genauer können sie diese Lasten und ihren Ursprung zumeist nicht benennen. Falls sie den Zusammenhang mit ihrem Trauma überhaupt kennen, so hindert sie doch oft die Scham daran, davon zu erzählen. Auch das Schweigegebot bzw. Redeverbot, mit dem es vielen Täter/innen gelang, die sexuelle Gewalt im Verborgenen zu halten, und die damit verbundenen Drohungen wirken oft nach und lassen verstummen. Auch die Erfahrungen vieler Opfer sexueller Gewalt, dass sie mit dem, was sie erlebt und erlitten hatten, danach oft allein gelassen wurden, sind wirksam und nachhaltig und lassen verstummen. Also bedarf es bei vielen Klient/innen erst des Aufbaus einer vertrauensvollen Beziehung, bis sie von ihren traumatischen Erfahrungen erzählen können.

Das Verstummen führt in den ersten therapeutischen Begegnungen oft zu solchen Äußerungen wie: „Wie es mir geht? Das weiß ich nicht.“ Oder: „Ich weiß nicht genau, was ich hier will.“ Oder: „Ich weiß nicht, was heute Thema ist.“ Wenn ich dann z. B. bitte, das „Ich weiß nicht“ einmal musikalisch mit einem Instrument auszudrücken, und wenn die Klientin oder der Klient nach verwundertem Zögern dies versucht, dann werden oft Spuren dessen hörbar und deutlich, was in der traumatischen Situation dissoziiert wurde. Im traumatischen Erleben sind die Betroffenen oft Unaushaltbarem ausgesetzt. Sie wehren sich dagegen, halten aus, indem sie Teile des Erlebens dissoziieren, aus ihrem bewussten Erleben abspalten (s. Kap. 3.9). Das Unaushaltbare wurde gleichsam begraben – doch die Erde bebt. Sonst wären sie nicht in der Therapie.

Was dieses Beben besagt und was es hervorruft, dafür haben sie keine Worte. Das „Ich weiß nicht“ ist Ausdruck der Dissoziationen und des Zwiespalts zwischen dem Dissoziieren und dem Spüren, „dass da was ist“.

2.2 Traumatische Situationen und Phasen des Traumaerlebens

Das Wort Trauma stammt aus dem Alt-Griechischen und bedeutet „Wunde“. Die Bezeichnung „Trauma“ wird in der Medizin für bestimmte körperliche Wunden benutzt, in Psychologie und Psychotherapie für bestimmte seelische Verletzungen. „In einer ersten Arbeitsdefinition können wir psychisches Trauma als seelische Verletzung verstehen (von dem griechischen Wort Trauma = Verletzung). Wie die verschiedenen somatischen Systeme des Menschen in ihrer Widerstandskraft überfordert werden können, so kann auch das seelische System durch punktuelle oder dauerhafte Belastungen in seinen Bewältigungsmöglichkeiten überfordert und schließlich traumatisiert/verletzt werden.“ (Fischer, Riedesser 1999, S.19)

Neben sexueller Gewalt werden Erfahrungen wie Kriegsereignisse, Tod von Angehörigen, Naturkatastrophen, Unfälle, andere Gewalttaten usw. als traumatische Ereignisse bezeichnet. Jede traumatische Erfahrung wird individuell unterschiedlich erlebt, was allgemeingültige Definitionen nicht einfach macht. Die Forscher des Instituts für Psychotraumatologie definieren ein psychisches Trauma als ein „vitales Diskrepanzerlebnis zwischen bedrohlichen Situationsfaktoren und den individuellen Bewältigungsmöglichkeiten, das mit Gefühlen von Hilflosigkeit und schutzloser Preisgabe einhergeht und so eine dauerhafte Erschütterung von Selbst- und Weltverständnis bewirkt.“ (Fischer, Riedesser 1999, S.79)

Begrifflich hat es sich für uns als sinnvoll herausgestellt, verschiedene Aspekte zu unterscheiden, die in der Sammelbezeichnung „Trauma“ enthalten sein können:

Trauma ist eine subjektive Kategorie und beinhaltet das subjektive Erleben einer Situation. Wesentliche Merkmale des traumatischen Erlebens sind:

Alle diese Merkmale traumatischen Erlebens müssen nicht für alle Opfer sexueller Gewalt zutreffend sein, für die meisten sind sie es – nach meinen Beobachtungen und Erfahrungen und nach wissenschaftlichen Studien. In letzteren ist der „Zeit danach“ bisher nicht die Bedeutung zugemessen worden, die dieser Phase meiner Meinung nach gebührt. Aufgerüttelt durch Erfahrungen von Klient/innen, deren Aussagen sich in dem Zitat „Das Schlimmste ist das Alleinsein danach“ stellvertretend wiederfinden, habe ich mir die Forschungsaufgabe gestellt, diese Phase genauer zu untersuchen. Über die Ergebnisse Rechenschaft abzugeben, wird einer späteren Veröffentlichung vorbehalten sein. (Bitte verstehen Sie mich nicht falsch: Damit verharmlose oder relativiere ich keinesfalls die Taten der Täter/innen. Ohne die Taten gäbe es keine „Zeit danach“.) Erste Ergebnisse deuten darauf hin, dass die „Zeit danach“ für viele Opfer darüber entscheidet, ob das Traumaerleben bewältigt werden kann oder zu einem nachhaltig bestimmenden Teil der Biografie wird, und dass sie oft über die Nachhaltigkeit des Schreckens und der anderen Folgen entscheidet.

Das Traumaerleben sollte deshalb in drei Phasen unterteilt werden: das Erleben der akuten traumatischen Situation/en der Erfahrung sexueller Gewalt, die „Zeit danach“, in der die Betroffenen getröstet und parteilich aufgefangen werden – oder auch nicht, und die Phase der Traumabewältigung, in der die Betroffenen auf unterschiedliche Weise mittel- und langfristig die Folgen des Traumaerlebens in ihre Lebensmuster integrieren.

2.3 Biologisch-neuronale Prozesse und Folgen für das Erleben und Erinnern traumatischer Erfahrungen

Eine traumatische Erfahrung ist ein Erleben existenzieller Bedrohung. Um solchen Bedrohungen zu begegnen, greifen besondere Mechanismen im Körper, insbesondere im Gehirn. Diese zu verstehen, ist wesentlich, um zu begreifen, auf welche besondere Art das Erleben sexueller Gewalt und anderer Traumata im Gehirn bearbeitet und gespeichert wird. Aus diesen Prozessen ergeben sich wichtige Schlussfolgerungen für das Wiedererinnern und die therapeutische Arbeit. Hier sollen v.a. zwei wesentliche Besonderheiten des Traumagedächtnisses vorgestellt werden (Damasio 2001, Hüther 2001, Roth 2003, 2007, Singer 2002, Spitzer 2002, 2006 u.a):

Die erste Besonderheit besteht darin, dass alle sinnlichen Eindrücke des Menschen auf ihre existenzielle Gefährlichkeit geprüft werden. Dieses jahrtausende alte Prüfprogramm ist entwicklungsgeschichtlich sinnvoll für das Überleben der einzelnen Menschen wie der Gattung Mensch.

Wenn ein Mensch etwas Ungefährliches wie eine Blume sieht, reagiert er anders, als wenn er einem Säbelzahntiger begegnet und es um sein Überleben geht. Alles, was an einen Säbelzahntiger erinnert, mobilisiert die höchste Alarmstufe. Was früher die Geräusche, Gerüche und Spuren der Säbelzahntiger waren, sind heute die Trauma-Trigger.

Neurobiologisch beginnt der Prozess beim Thalamus. Diese Region des Gehirns ist zuständig für die Roherfassung der sinnlichen Eindrücke. Zur genaueren Bewertung und Einordnung leitet der Thalamus sie immer auch an die Amygdala weiter. Die Amygdala ist die existenzielle Wächterin des Gehirns. Sie prüft, ob ein Notfall, eine existenzielle Bedrohung vorliegt. Trifft dies zu, aktiviert sie ein Notfallprogramm.

Das traumatische Erleben ist ein Notfall. Wenn sinnliche Eindrücke über den Thalamus an die Amygdala gelangen, setzt diese Sofortreaktionen in Gang. Wer über die Straße geht und plötzlich ein herannahendes Auto hört, versucht wahrscheinlich, zur Seite zu springen. Dies geschieht, bevor er das Signal eingeordnet hat. „Flight“ oder „Fight“ werden die spontanen, durch die Amygdala hervorgerufenen Reaktionen genannt.

Wie kann die Amygdala solch ultraschnelle Reaktionen bewirken? Sie umgeht den Hippocampus, worin die zweite Besonderheit besteht. Der Hippocampus integriert üblicherweise die vom Thalamus neu eintreffenden Erfahrungen zeitlich, räumlich und emotional mit den Erinnerungen der Neocortex (dem neuronalen Speichersystem, der „Festplatte“) und schafft ein inneres Bild, aufgrund dessen ein Mensch handeln kann und das er abspeichern kann. Normalerweise hilft steigende emotionale Erregung, den Hippocampus zu stimulieren. An den ersten Kuss werden sich noch viele Menschen erinnern. Doch wird in der extremen Notfallsituation die Erregung außergewöhnlich hoch, wird der Hippocampus ausgeschaltet und umgangen. Wenn ein Mensch vom Säbelzahntiger bedroht wird, werden viele organische Funktionen, die nicht unmittelbar zum Überleben notwendig sind, abgeschaltet oder reduziert. Die genauen Umstände des Angriffs des Säbelzahntigers sind ebenso unwichtig wie sein Alter oder die Zahl seiner Barthaare.

Diese Kurzschlussreaktion führt dazu, dass die Amygdala autonom das vegetative System aktiviert und damit das gesamte Stressprogramm mobilisert, von der Adrenalinausschüttung bis zum Herzrasen. Gleichzeitig stellt die Amygdala unmittelbar Verbindungen zur Neocortex her. Die Folge ist, dass in solchen Situationen oft gar kein zusammenhängendes Bild hergestellt wird, an das sich der betroffene Mensch später erinnern kann. Um eine solche Erinnerung zu schaffen, hätte der Hippocampus aktiv sein müssen. Es bleiben in der Erinnerung der Amygdala und teilweise des Neocortex nur Fetzen, Fragmente, Bruchteile der Erinnerung, ein Geruch, die Erregung, Aktionen des vegetativen Nervensystems usw. Die fehlenden bzw. nur in Bruchstücken vorhandenen Erinnerungen, über die traumatisierte Menschen oft klagen, sind Ergebnis dieses Prozesses.

Kap. 3.9