2. Auflage 2012
© mdv Mitteldeutscher Verlag GmbH, Halle (Saale)
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Gesamtherstellung: Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale)
Umschlagfoto: Photocase.com – kallejipp
ISBN 9783954620784
1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2013
Jemand mußte Josef K. verleumdet haben,
denn ohne daß er etwas Böses getan hätte,
wurde er eines Morgens verhaftet.
Franz Kafka, »Der Prozeß«
Der zweite Tag in unserem Hiddenseer Gefängniswagen begann wie der erste. Pünktlich um 5 Uhr 45 stand Unterleutnant Schmidt in der Tür, um sicherzugehen, dass wir nicht in der Nacht heimlich oder gar höchst amtlich mit einem Ticket der volkseigenen Weißen Flotte um 6 Uhr das Weite gesucht haben oder suchen würden. Und wieder legte er ein paar Schrippen oder, wie man hier oben sagte, Brötchen auf den Tisch, berichtete in einem Ton, der nichts anderes erwarten ließ, dass es noch nichts Neues von den Dienststellen gegeben habe und er jeden Moment auf einen Anruf aus Stralsund oder sogar Berlin warte. Insofern blieb er diesmal nur kurz und verließ uns gleich nach 6 Uhr mit der Gewissheit, dass der zeitgleich fahrende Dampfer inzwischen ohne uns abgelegt hatte.
Ratlos blieben wir in dem von Schmidt erneut verschlossenen Bauwagen zurück. Und obgleich wir jetzt sichergehen konnten, in den nächsten ein oder zwei Stunden nicht behelligt zu werden, war jetzt ein Punkt erreicht, wo jeder von uns wünschte, so schnell wie möglich jener Insel den Rücken zu kehren, die uns einst wie das sommerliche Paradies erschienen war.
Das Gefühl des Ausgeliefertseins machte sich breiter denn je und jede Anwandlung von Widerstand wich einer erschreckenden Hilflosigkeit, sodass wir an uns selbst zu zweifeln begannen. Dazu kam eine durch Anspannung und Übernächtigung gezeichnete körperliche Verfassung, die zu einer gleichgültigen und ebenso selbstzerstörerischen Haltung führte. Sogar Franklin, der jetzt wunderbar am »Buch des Vergessens« arbeiten konnte und damit jede seelische Pein beerdigen würde, war nach der kurzen Nacht und dem sich wiederholenden Morgenritual nicht mehr ansprechbar und hatte seinen Zynismus, der ihm als Halt in den ausweglosesten Situationen diente, verloren. Wortlos und zusammengesunken saß er am provisorischen Frühstückstisch und kaute lustlos an einem der Schmidt’schen Brötchen.
Claudia nahm erst gar nichts zu sich. Blass kauerte sie in der Ecke und starrte auf den Fußboden. Noch am Morgen vorher wirkte sie frisch und trotz des Vorgefallenen erholt und ausgeglichen. Aber jetzt, nur eine Nacht später, war alles anders. Vielleicht, so dachte ich, machte sie mir Vorwürfe wegen des Briefes, auch wenn ich nicht wusste, wie viel sie von unserem Disput und dem geschickten Taktieren Schmidts mitbekommen hatte.
Ich selbst fühlte mich nach der durchwachten Nacht mehr als elend. Die Tatsache, dass der Versuch, mit Kathrin Kontakt aufzunehmen gescheitert war, machte mich wütend und traurig zugleich. Auch wenn ich nicht den Inhalt des Schreibens kannte, der auch das Gegenteil von dem sagen konnte, was ich mir einredete, bestimmte ich für mich, dass es sich nur um eine Freundschaftsbekundung, einen Aufruf zum Durchhalten oder den reizend vorgetragenen Wunsch nach einem schnellen Wiedersehen handeln konnte. Vielleicht, so glaubte ich sogar, war es eine Art Liebeserklärung, die ganz unromantisch mit den Stullenpaketen kommen sollte.
Warum, so versuchte ich auch gleich selbst den Beweis anzutreten, sollte sie auch sonst diesen ungewöhnlichen Weg gesucht haben, den Brief in meine Bauwagenzelle zu schmuggeln? Schließlich gefährdete sie sich sogar selbst. Wenn sich auch Vater Schmidt vor die Tochter gestellt hätte, ihr zukünftiger Lebensweg, wie immer er auch aussehen sollte, wäre allemal in Gefahr. Allein dieser Gedanke bereitete mir erhebliche Sorgen, aber wie konnte ich ahnen, dass ausgerechnet im Essensbeutel eine Nachricht auf mich wartete. Werde ich, so fragte ich mich besorgt, jemals wieder eine Chance haben, ihr wenigstens zu erläutern, dass der Verlust ihrer Briefsendung einem unglücklichen Zufall geschuldet war?
Die Fragen, auf die ich keine Antworten wusste, marterten mein Gehirn. So legte ich mich aufs Bett und schloss die Augen. In Situationen, in denen ich mich schlecht fühle, denke ich immer darüber nach, dass es anderen noch viel schlechter geht als mir selbst, um damit mein eigenes Elend zu relativieren. Dies fiel mir nicht schwer, denn ich dachte an einen Arbeitskollegen beim Theater, der sich leichtsinnigerweise in einem Telefongespräch gegenüber seinem Bruder im anderen Teil Berlins über seine Sehnsüchte äußerte. Dabei hätte er wissen müssen, dass man seine Wünsche und Träume auch in einer einsamen Telefonzelle nicht preisgibt. Schon gar nicht, wenn gewisse staatliche Organe, deren tschekistische Aufmerksamkeit, ausgestattet mit großen Ohren, bis in die letzte Telefonzelle reicht, etwas gegen diese Wünsche haben. Und diese Organe haben immer etwas gegen Wünsche, wenn sich Menschen ohne Erlaubnis ihnen und damit dem sozialistischen Aufbauwerk, für das sie da sein sollten, entziehen wollen. Dann ahndet ein Gesetz diese Wünsche, denn sie sind illegal. Mein Arbeitskollege wurde noch in der Nacht mit dem Verweis, dass er eine Flucht aus dem Land der Werktätigen plante, abgeholt. Nicht mal von den Kindern konnte er sich verabschieden.
Wie leidensfähig Menschen sind, stellte ich anerkennend fest und floh in einen tiefen Schlaf.
Gute zwei Stunden später weckte mich Schmidts Schlüsselklappern. Ich hätte sicherlich noch länger schlafen können, vielleicht den ganzen Tag oder sogar noch den Tag darauf. Möglicherweise wollte ich nur noch schlafen, schon um der Realität in die Träume zu entfliehen. Dabei meinte es die Realität diesmal gut mit uns. Schmidt schüttelte den Kopf, was auch eine Antwort auf die Frage nach dem Ergebnis der Anrufe auf Rügen, in Stralsund oder Berlin war, eine Frage, die niemand stellte.
Ich weiß nicht, ob ich erleichtert war, in jedem Fall hatte mir der Schlaf gutgetan und mir neue Hoffnung gegeben. Ich fühlte mich eher gewappnet, mich mit den Unbilden des Kommenden auseinanderzusetzen, auch wenn mir klar war, dass es immer einen Punkt geben konnte, an dem jeder Widerstand zwecklos wird.
Schmidt schaute uns nachdenklich an, als erhoffte er dadurch eine Antwort, die wir ihm auch nicht geben konnten. Er selbst, so schien es mir, war jetzt Teil des Stückes geworden, das unaufhörlich seinem dramatischen Finale entgegenlief und dem er, so sehr es auch wollte, nicht mehr entfliehen konnte. Auch Schauspieler ergeben sich irgendwann ganz einer Rolle und verschmelzen mit dieser, sodass jede Flucht zwecklos ist.
Und doch bäumte sich Schmidt gegen das auch ihm zugeteilte Schicksal auf. Sie können zum Strand gehen, sagte er nach einem langen Augenblick des inneren Kampfes. Ich weiß ja, wo ich Sie finde. Dieser Satz kam so unerwartet, dass wir nicht einmal imstande waren, angemessen zu antworten. Vielleicht wäre uns auch in diesem Moment keine passende Antwort eingefallen.
Danke, flüsterte dann doch Claudia und setzte sich damit Franklins vorwurfsvollen Blick aus, der nicht verstehen mochte, dass man sich bei seinem Gefängniswärter auch noch bedanken soll.
Was folgte, war ein, den Umständen angemessener, eigentlich wunderschöner Tag am Strand zwischen Vitte und Kloster, der vieles vergessen machen konnte, wäre da nicht der ständige Auftritt Schmidts gewesen, der seine Pflicht, uns zu beaufsichtigen, zwar mit fortschreitender Zeit vernachlässigte, aber sie dennoch erfüllte. Und diese Pflicht war immer mit dem gleichen Ritual verbunden, dem Aufschrecken von drei jungen Leuten, die mit jeder Nachricht das Schlimmste oder aber eine vollständige Entwarnung erwarten konnten, dem neugierigen Blick der übrigen Badegäste, sofern sie sich nicht in sicherem Abstand vor uns versteckten, dem Zusammenlaufen der Kinder, der stotternden Erklärung Schmidts, dass er noch immer nichts wisse, der Mahnung, den Platz nicht zu verlassen und dem Getuschel der Zurückgebliebenen. Dies alles lief nach einem halben Tag so reibungslos ab, dass Außenstehende denken konnten, es wäre eingeübt, sodass sich sogar die Strandgäste, die noch am ersten Tag sicherheitshalber das Weite gesucht hatten, nun an den ungewöhnlichen Auftritt eines Uniformierten am FKK-Strand gewöhnten. Letzteres, so verstand ich es zumindest, untergrub die Autorität der Hiddenseer Staatsmacht auf eine einfache, aber nachvollziehbare Weise.
So verlief der Vormittag, an dem es auch eine strahlende Sonne gut mit uns meinte, abgesehen von den Schmidt’schen Besuchen, ohne Zwischenfälle. Wir lagen im Sand, lasen in unseren Büchern oder schauten gedankenversunken hinaus aufs offene Meer und lauschten dem Rauschen der Wellen und den Möwen, die schreiend über uns kreisten.
Das Meer lag flach wie eine riesige azurblaue Scheibe, die am Horizont langsam in den Himmel überging. Kein Boot und kein weißes Segel verstellten den Blick in das unendliche Blau. Es war wie ein Blick ins Paradies, den wir den strengen Anordnungen der Grenztruppen zu verdanken hatten, die die Benutzung jeglichen schwimmenden Untersatzes, und damit waren selbst Luftmatratzen gemeint, an der offenen See unter Strafe stellten. Ich fragte mich, ob jemals Gerhart Hauptmann, Thomas Mann, Ringelnatz oder Albert Einstein bei ihren Inselbesuchen dieser Blick vergönnt war.
Im Norden erblickten wir, auf den Dünen stehend, die Dächer der wenigen Häuser Klosters, die sich in die meerabgewandte Landschaft drückten, im Süden einige Häuser Vittes. Gern hätten wir Kloster einen Besuch abgestattet, wären im Haus Hauptmanns auf Entdeckungstour gegangen oder hätten im Garten des Dichters unter den großen alten Buchen gesessen, um uns vorzustellen, wie er, der Hiddensee so liebte, hier gelebt hatte. Aber auch die im Norden zum Enddorn hinziehenden Hügel konnten ein sehr lohnendes, uns nun vorenthaltenes Ziel darstellen. Nicht anders erging es uns mit Neuendorf, jenem südlichen Fischerdorf, das auf einer platten fast baumlosen Fläche, wie auf einem Präsentierteller lag und ganz eigene Reize entfaltete. Wir wussten, was uns entging und doch genossen wir jetzt den friedvollen Augenblick und eine leichte Brise, die von Nordwest auf dem goldgelben Strand lag.
So lässt sich sogar die Verbannung aushalten, lästerte Franklin, der an einem seiner Gedichte schrieb, das er noch am Nachmittag zur Vorführung bringen wollte und das, wie er meinte, eine Abrechnung sei.
Ich selbst war immer wieder aufgestanden, lief in Sichtweite unseres Strandplatzes auf und ab und hielt Ausschau. Doch statt Kathrin sah ich nur immer wieder den blonden Schopf des Weltfriedensretters über der Düne auftauchen, der sich ein schweres schwarzes Fernglas ins Gesicht drückte. Möglicherweise, so versuchte ich eine Erklärung, konnte Kathrin gar nicht wissen, ob wir noch auf der Insel sind und falls ja, würde ihr der Vater sicherlich nicht unseren Aufenthaltsort verraten. Was Besseres fiel mir nicht ein.
Um mir meine Nervosität nicht ansehen zu lassen, las ich bei meiner Rückkehr, in dem Gedichtbüchlein, ein mir bis dahin unbekanntes Hauptmann-Gedicht. Dabei überraschte mich, wie wenig ich vom Lyriker Hauptmann wusste, der gerade auf der Insel anrührende Gedichte schrieb.
Ungeachtet unserer eigenen Sorgen, die in der zunehmenden Unsicherheit über den Ausgang des Verfahrens begründet waren, ging das Leben am Strand weiter, so wie es immer am Strand weiterging. Da waren gut gelaunte Menschen, die zwar zu uns Abstand hielten, und doch ihre Sandburgen schon im Vorgriff auf alle Eventualitäten wie Schützengräben tief aushoben und sie mit Steinen befestigten, als bauten sie nicht für einen Tag, eine Woche sondern für Monate und Jahre. Und trotz oder gerade wegen des Aufwandes, der ihnen eine Beständigkeit des unbekümmerten Daseins eines Strandlebens vorgaukelte, genossen sie ihr vermeintliches und für mich so oft beneidenswertes Glück zwischen gelbbraunen Sandbergen, nackten sonnenverwöhnten Körpern, Meeresrauschen und fröhlichem Kindergeschrei. Und dieses Glück, so kommentierte ich ihre Situation, war nur deshalb vollkommen, weil ihnen ein Besuch Schmidts und irgendwelcher Zivilbeamten erspart blieb. Der wohlbehütete Alltag, so wusste ich, konnte auch zerbrechlich sein.
Zerbrechlich schien auch das Glück von Claudias Onkel, denn sie eröffnete uns gegen Mittag, dass sie etwas Fürchterliches geträumt hätte.
Was denn?, wollte Franklin wissen.
Er wurde verhaftet, antwortete sie nach mehreren Nachfragen. Einfach so.
Einfach so?
Wenn du so willst. Und deshalb hat er auch seinen Job bei der Botschaft verloren.
Er ist entlassen worden?
Sie nickte. Jedenfalls im Traum.
Und deshalb hast du heute Morgen so schlecht ausgesehen? Ich hatte schon gedacht du bist krank. Lächelnd schüttelte ich den Kopf. Es gibt Schlimmeres als Träume.
Fürwahr, Albträume zum Beispiel, mischte sich Franklin ein. Und die soll es sogar auf Hiddensee geben. Da wäre die Entlassung eines hohen Beamten des Außenministeriums nicht mal erwähnenswert oder bestenfalls ein Stück Gerechtigkeit.
Aber das ist es doch gar nicht, wehrte sich Claudia. Ich hatte geträumt, dass er sich für uns verwenden wollte, weil wir zu hohen Zuchthausstrafen verurteilt wurden. Bautzen oder Brandenburg oder was weiß ich. Und schließlich war auch er dran.
Dann wäre er zumindest ein ehrenwerter Mann, die Sippenhaft ist dann nur die logische Folge.
Vielleicht. Claudia versuchte zu lächeln, aber es fiel ihr schwer.
Und ich habe ihn immer auf der anderen Seite gesehen. Ein typischer preußischer Beamter, bemerkte Franklin, dem es nur ums Dienen geht, egal unter welcher Fahne. Da bleibt eigentlich die Moral immer auf der Strecke.
Aber so ist mein Onkel nicht, verteidigte sich Claudia.
Natürlich nicht, entgegnete Franklin. So ist es immer. Alles grundanständige Kerle. Am Ende werden sie alle Helden und keiner war’s gewesen. Man fragt sich nur, warum unsere deutsche Geschichte dann so ist, wie sie ist.
Was willst du damit sagen?, erregte sich Claudia.
Ich muss da nur an einen meiner Lehrer denken, solche wie der setzen sich in jedem System an die Spitze.
War das so einer?, fragte ich neugierig.
Mit Sicherheit. Jäger hatte nur einen Arm. Fronteinsatz. Den rechten hatte er immer noch hochgekriegt, sagten die Leute. Aber dann war der Krieg vorbei, und der Arm blieb unten. Und Jäger wollte nichts mehr wissen vom Krieg, denn dann kamen die anderen, ihr versteht, die mit den anderen Fahnen und Farben, und Jäger wurde einer von ihnen. Neulehrer hieß das, gab ja sonst keine einsatzfähigen Männer, sagten die Alten. »Einsatz« strich Jäger wohl in Gedanken weg, fähige Männer ließ er gelten.
Und der war bei euch Lehrer?, fragte Claudia ungläubig und nahm wieder auf dem ausgebreiteten Strandtuch Platz.
Sogar Direktor, auch wenn es nur eine kleine Schule in unserem Städtchen war, sagte Franklin. Und als Direktor stand er wieder an der Front, an der Friedensfront. Das war sein Lieblingswort. Und er hatte wieder ein Abzeichen, zwei Hände zum Handschlag vereint, als seien sie unlösbar miteinander verbunden.
Dreiarmig, spotteten manchmal die Schüler. Und vieräugig, ergänzten andere und erinnerten an die große Hornbrille, die Jäger trug. Die Fassung trug zwei umgestülpte Schnapsgläser. Außerirdische wären neidisch. Also, sehr hübsch, wenn ihr mich fragt.
Wir lachten, weil wohl jeder von uns sich ein eigenes Bild von einer Karikatur namens Jäger machte.
Aber mit Jäger war nicht zu spaßen, erläuterte Franklin und sprang, durch unser Gelächter zu einer seiner schauspielerischen Showeinlagen herausgefordert, auf. Was kam, hatten wir schon oft genug erfahren. Franklin, alias Jäger, jetzt mit Claudias großer Sonnenbrille ausgestattet, umkreiste, einen Arm auf den Rücken gelegt, unsere Strandtücher.
So und nicht anders stolzierte er durch die Klasse, erklärte Franklin keuchend. Wie ein Adler auf der Jagd nach Beute! Richtiger Beute! Menschenbeute! Die gläsernen Adleraugen schwebten über den Bankreihen, bis sie sich irgendwann in ein Opfer bohrten.
Genauso passierte es jetzt, denn Franklin, dem die Rolle des einarmigen Lehrers offensichtlich lag, sprang auf mich zu und baute sich drohend vor mir auf. Aber es passierte nichts. Warum auch.
Erst als das Opfer zu zittern begann, erläuterte Franklin, was ich auf Anweisung jetzt auch tat, schlug er zu. Blitzschnell. An die Tafel!, brüllte er mit rauer Stimme und eilte dann in großen Schritten vorneweg.
Der schlaksige Franklin schritt nun im tiefen weißen Sand groß aus, beobachtet von den Badegästen, deren Kopfschütteln einmal mehr zeigte, was sie von der theatralischen Vorführung und unserem Komödianten hielten, während wir uns vor Lachen kaum halten konnten.
Ja, so war er, unser Direktor, fuhr Franklin fort. Er griff nach dem Zeigestock, der länger, als er selbst war, schlug auf die hölzerne Tischplatte, dass es laut knallte, und richtete die Stockspitze auf sein Opfer, das sich in gebückter Haltung nach vorn schleppte. Jedem Schüler war klar, was folgen würde. Definitionen, denn Jäger liebte Definitionen. Lange Definitionen, kurze Definitionen. Als Lehrer, der für die staatsbürgerliche Ausbildung seiner Schützlinge Verantwortung trug, besaß er ein schier unerschöpfliches Repertoire davon und das nur, weil er meinte, dass zum »ideologischen Rüstzeug einer allseitig und harmonisch entwickelten sozialistischen Persönlichkeit« Definitionen gehörten. Definitionen waren also alles, Theorie und Praxis, vor allem aber Leben, wahres und falsches Leben.
Ich hatte keine Mühe, an meine eigene Schulzeit zu denken, vor allem aber an jenes verunglückte Aufsagen einer Definition, mit der ich die wissenschaftliche Weltanschauung begründen sollte. Das Trauma wirkte auch jetzt nach.
Nun, Freundchen, so hielt mich jetzt Franklin für seinen Direktor am Ohr, was verstehen wir denn unter der historischen Mission der Arbeiterklasse? Exemplarisch begann ich erneut für die Jungen seiner Schulklasse zu zittern.
Zwei Sätze bitte!, schrie Franklin. Ich zuckte mit den Schultern. Da ließ er ab. Jäger, so der Kommentar, erlaubte keine längere Antwort. Dann kam der nächste Begriff. Die Diktatur des Proletariats, der dialektische Materialismus, die leninsche Revolutionstheorie, die friedliche Koexistenz, die Beschlüsse eines Plenums oder die Hauptaufgabe eines Fünfjahrplanes.
Am liebsten aber hörte Jäger uns die verschiedenen Epochen der Entstehung, des Gedeihens und der zukünftigen gesetzmäßigen Entwicklung der vollkommensten aller Gesellschaftsordnungen und seiner weltumspannenden Idee und Wirkung aufsagen, mit einer entsprechenden Klassifizierung, versteht sich. Während das Opfer, so Franklin schnell die Rolle wechselnd, unruhig von einem Bein auf das andere hüpfte, fasste Jäger den Zeigestock fester, legte ihn wie einen Speer über die Schulter und blinzelte aus den gläsernen Adleraugen. Um auch dies zu verdeutlichen, schob Franklin Claudias Sonnenbrille auf seine lange blasse Nase, womit er sich noch lächerlicher machte, als er ohnehin schon war.
Nach genau zehn Fragen nahm Jäger den Füllhalter, hielt ihn wie eine Spritze gegen das Licht, wartete auf den ersten blauen Tropfen auf der glänzenden Federspitze und setzte sich wortlos auf den Lehrerstuhl. Auch Franklin setzte sich wieder, in der Hand einen alten Kugelschreiber, der ihm als Vorzeigeobjekt gedient hatte. Mit dem kleinen Finger der einen Hand, so berichtete Franklin weiter, öffnete Jäger das Klassenbuch genau auf der richtigen Seite, prüfte ein letztes Mal den Federhalter und schrieb eine Zahl. Setzen!, schrie er endlich und die Schüler begannen wieder zu atmen.
Auch Franklin schnappte erleichtert nach Luft.
Eine literarische Figur, stellte ich lachend fest, dieser Jäger. Hattest du bei ihm deinen Meisterlehrgang im Vergessen?
Na, sagen wir mal, er war so eine Art Lehrer im doppelten Sinne, wobei er im Fach Vergessen wohl am kompetentesten war. Jedenfalls eine gute Schule.
Und Franklin ist ein guter Schauspieler, freute sich Claudia und spendete ausgiebig Beifall. Auch einige Kinder, die zusammengelaufen einige Freude am Spektakel hatten, klatschten in die Hände.
Franklin genoss mit einer jovial lächelnden Miene die vorgebrachte Huldigung, auch wenn sich die wenigen aufmerksamen Zuhörer nun gänzlich kopfschüttelnd abwandten. Trotzdem erhob er die Hand und ließ sie mechanisch und geradezu in Zeitlupe durch die Luft pendeln, als würde der Generalsekretär oder ein Alterspräsident eines Politbüros oder Zentralkomitees auf einer Tribüne den vorbeiziehenden Untertanen zuwinken.
Dank Franklins Einlage waren alle Umstände unseres Daseins, die Festnahme und die Angst vor dem offenen Ausgang für eine lange Zeit vergessen. Während sich Claudia noch vor Lachen krümmte, war es für uns Grund genug, aufzuspringen und uns johlend in die durch einen aufkommenden Wind aufgepeitschte Ostsee zu werfen.
Als wir wieder an Land kamen, zeigte Franklin auf zwei junge Männer, die ihre Fahrräder auf dem Dünenweg entlangschoben. Ohne Zweifel zwei alte Berliner Bekannte. Bandmann, ein fast glatzköpfiger stadtbekannter, aber ebenso erfolgloser Maler, und Lorenzo, ein schlanker gut aussehender Kybernetikstudent, der die italienische Form seines bürgerlichen Namens Lorentz seinem dunklen Teint zu verdanken hatte und wie Bandmann in den einschlägigen sogenannten Intellektuellen- und Künstlerkneipen des Prenzlauer Berges wie dem »Wiener Café« oder »Fengler« verkehrte. Bandmann trug standesgemäß einen Strohhut und sah mit seinem unrasierten kantigen und von der Sonne aufgerissenen Gesicht wie van Gogh auf einem seiner Selbstporträts aus. Die Freude, sie zu sehen, war groß, zumal es der erste Kontakt zu Freunden in dem ungewöhnlichen Verbannungsort war.
Beide hatten ohne große Probleme die Insel erreicht und suchten neben neuen Motiven für einige Nächte eine preisgünstige Unterkunft. Da wir ihnen unseren Bauwagen nicht empfehlen wollten, zumal er, wie Franklin zu betonen wusste, uns auch nicht gehörte, rieten wir ihnen, sich besser in Neuendorf oder Kloster umzusehen. Letzteres hätte zudem den Vorteil, nicht Schmidt oder gar dem blonden Weltfriedensretter in die Arme zu laufen. Auch müsste dort die Chance, Gleichgesinnte aus dem Prenzlauer Berg zu treffen, größer sein, schließlich war Kloster immer eine Art Wallfahrtsort für die versprengten Berliner Großstadtseelen, von denen zumindest auf Hiddensee ein Teil behauptete, großartige, allerdings bislang unerkannte Künstler zu sein.
Gern hätten wir mit Lorenzo und Bandmann noch über die neuesten Berliner Ereignisse geplaudert, uns über einige neue Ausstellungen oder Lesungen, die in der Regel in privaten Wohnungen oder auf den alten Dachböden der Lychener Straße stattfanden, informiert oder ihnen gar die absurde Geschichte einer Reise erzählt, die in der Veranda eines Insel-ABVs endete. Aber all dies war nicht möglich und so blieb das Gespräch unmittelbar am Ufer nur kurz, denn es schien uns ratsam, sie vor einer drohenden uniformierten oder zivilen Gefahr, die auch auf den Dünen lauerte, zu warnen, wollten sie sich selbst nicht in Bedrängnis bringen. Die Folgen konnten wir ihnen glaubhaft schildern.
Dass diese nicht auszuschließen waren, lag auf der Hand, bedenkt man das Misstrauen, das die Inselstaatsmacht schon uns Dreien entgegenbrachte. Um wie viel größer wäre es, sollten wir uns unbemerkt vermehren? Schon sah ich die Überschrift im »Neuen Deutschland«, die vor einer drohenden Zusammenrottung staatsfeindlicher Elemente warnte, in dessen Folge erste Militärpatrouillen auf die Insel zusteuerten!
Ach was, verbesserte Franklin, Kriegsschiffe!, schließlich sei der Sozialismus auf dem Eiland in Gefahr.
Die mit ernstem Blick vorgetragene Warnung, schnell weiterzugehen, verstanden sie auch ohne große Erklärung und so taten wir – auch wenn wir es sehr bedauerten – schnell wieder so, als hätten wir uns vorher nicht gekannt und nie gesehen.
Am frühen Nachmittag endete der Strandtag. Unterleutnant Schmidt verband seinen dritten Besuch an diesem Tag mit der Aufforderung, uns anzuziehen und ihm zu folgen.
Obgleich damit um den Rest des schönen Tages gebracht, folgten wir wortlos dem Uniformierten, ohne zu wissen, was dieser Aufbruch bedeutete. Dabei gewöhnten wir uns gerade an den Strand, waren mehrmals im Wasser und hatten neben dem kurzen Besuch der Berliner Freunde, einigen Spaß mit Franklins neuen Darbietungen aus seiner, wie er es nannte, »Hiddensee-Tragödie«, die er noch kurz vor Schmidts Erscheinen mit improvisierten, aber wechselnden Verkleidungen zur Aufführung brachte. In ihr, wie konnte es auch anders sein, standen drei Urlauber im Mittelpunkt des Geschehens, die sich allerdings nicht auf Hiddensee, sondern auf Elba verirrten und dort neben dem ABV, der ein verkleideter Frosch war, den Kaiser trafen, der allerdings ein Generalsekretär war und Erich, der Kühne hieß.
Das Verwirrspiel, das nun folgte, entsprach ganz und gar den möglichen Realitäten und lieferte zum Schluss die Aussicht auf ein Happyend. Der Kaiser, alias Generalsekretär küsste, hingerissen von so viel Grün, den Frosch in Erwartung einer schönen Prinzessin. Diese entpuppte sich allerdings als bierbäuchiger Abschnittsbevollmächtigter.
Auf den Hinweis, dass er unter diesen Umständen auch mit seiner hässlichen und unausstehlichen Frau, die sich gerade die Haare blau färben ließ, vorliebnehmen könne, erhob sich ein Sturm der Entrüstung. Denn dies hätte zur Folge, dass der ABV wieder in einen Frosch zurückverwandelt worden wäre. Und das konnte der Kaiser seinen treuen Untertanen, die nun alle fürchteten, Frösche zu werden, nicht antun. Also biss er sich staatsmännisch auf die Zunge und nahm sich des ABVs an.
Zwanzig Minuten nach Ende der Vorführung saßen wir wieder in der uns allen so bekannten Schmidt’schen Veranda und warteten auf den Fortgang des realen Geschehens, dem nur wenig mit Theater beizukommen war.
Auch Genosse Cowboy, dessen Abwesenheit wir als Gewinn betrachteten, war wieder da. Er trug eine riesige Sonnenbrille, so als hätte er zwei schwarze Untertassen vor den Augen, während das große Fernglas vor seiner Brust baumelte.
Diesmal war er gleich mit Schmidt im Dienstzimmer verschwunden. Von dort vernahmen wir zunächst keinen Laut, aber dann dröhnte die Stimme Schmidts, von dem wir bis dahin nicht annahmen, dass er wirklich laut werden könnte, nach draußen auf die Veranda. Es reicht jetzt!, schrie er. In Bergen und Stralsund weiß man immer noch nichts. Bestimmt liegt es an Berlin! Die in der Hauptstadt! Was denken die sich denn, haben doch gar keine Ahnung, wie wir hier arbeiten! Und wie lange soll ich die Leute denn nun noch festhalten? Soll ich das ganze Wochenende mit denen verbringen? Oder gar die Woche?
Ich wusste nicht, was diese Auslassungen bedeuteten, schließlich drehten wir uns seit Tagen im Kreis. Auch die Gesichter meiner Freunde verrieten nur Ratlosigkeit. Und doch war mir so, als würde sich unser Schicksal jetzt bald entscheiden und unser Aufenthalt auf Hiddensee unweigerlich seinem Finale entgegenstreben.
Der Cowboy antwortete etwas, nur war das in der Veranda nicht zu verstehen. Allein das Wort »Gesetz« drang nach außen. Sie glauben das doch nicht im Ernst!, tobte Schmidt. Da hätten die sich aber anders aufgeführt! Von der erregten Widerrede des blonden Genossen drangen nur einzelne Worte nach außen. Auch Verantwortung, Klärung und Protokoll, drei der typischen Worte, die den Sprachschatz des Verwaltungs- und Sicherheitsapparates im Land der Werktätigen auf unnachahmliche Weise bereicherten, waren dabei.
Ja ja, Protokoll, ist kein Problem!, schimpfte Schmidt. Das machen wir gleich. Also einer nach dem anderen. Ohne die Antwort des Gegenübers abzuwarten, riss er die Tür auf. Kommen Sie mal, sagte er zu mir und winkte mich als Ersten in das Dienstzimmer. Noch ganz benommen von dem Gespräch, das bruchstückhaft nach außen drang und nichts Gutes erwarten ließ, folgte ich Schmidts Aufforderung. Aber ich war auch sofort hellwach und mindestens genauso erregt wie Schmidt, nur dass ich versuchte, meine Nervosität nicht zu zeigen. Das hätte mich nur unnötig belastet.
Als ich in das Zimmer trat, stand Genosse Weltfriedensretter, die Arme ineinander verschränkt, neben dem Schreibtisch. Sein Gesicht hatte eine blasse Farbe, offensichtlich gefiel ihm der vorausgegangene Disput mit Schmidt gar nicht. Aber gerade dies, die Maßregelung durch den ABV, machte den blonden Mann noch gefährlicher. Mir selbst war schon beim Eintritt mulmig, denn statt der Erleichterung, endlich am dritten Tag vor einer Untersuchungsinstanz zu stehen und sich in einem Verhör zur Wehr setzen zu können, fürchtete ich nun um die Folgen.
Nehmen Sie Platz, sagte Schmidt, der sich hinter seinem Schreibtisch vor eine schwarze mechanische Schreibmaschine setzte. Während er umständlich versuchte, ein weißes Blatt einzuspannen, gehörte mein Blick dem Generalsekretär. Von oben herab sah er Schmidt über die Schulter und taxierte mich mit seinem Lächeln. Es war kein autoritäres, nicht einmal ein staatsmännisches Lächeln, trotzdem hatte es heute etwas Fremdes, Unnahbares, ja Künstliches. Vielleicht lag es auch daran, dass er sich im dunklen Anzug präsentierte, der in jede Schule, in jedes Krankenhaus und jede Behördenstube, wohl aber nicht an die Ostsee mit ihren hochsommerlichen Temperaturen passte.
Er lächelte aus dem hochgeschlossenen Hemd und dem zugeknöpften Jackett, sodass man Mitleid haben müsste. Aber es war kein Mitleid, sondern ein wenig Schadenfreude bei der Vorstellung, wie ihm jetzt der Schweiß auf der Stirn stehen und in den Nacken laufen würde. Doch so sehr ich es mir auch wünschte, der Generalsekretär schwitzte nicht. Er lächelte, so als hätte man ihn in das kleine Schmidt’sche Dienstzimmer eingesperrt und ihn dazu verpflichtet, eine gute Miene zu machen. Aber was heißt eingesperrt? Verbannt käme diesem Zustand in einem unscheinbaren Haus mit blühendem Vorgarten auf einer verschlafenen Insel näher.
Je länger ich auf das Bild starrte, je künstlicher erschien mir das Lächeln des Mannes. Damit sank alle Autorität und ich stellte mir vor, wie es wäre, wenn ich vor den Augen Schmidts und seines Helfershelfers um den Schreibtisch herum laufen und das Bild abnehmen würde. Aber nicht nur das, ich würde es entweder wieder, und jetzt verkehrt herum, aufhängen oder gar das Fenster öffnen und den Generalsekretär nebst allen seinen Vorsitzendenfunktionen, von denen es im Arbeiter- und Bauernstaat eine ganze Reihe gab, und samt ewig lächelnder Miene im hohen Bogen in Schmidts schönen Vorgarten befördern, wo er zwischen den Astern, Sonnenblumen und roten Nelken liegen bliebe. Die Gesichter der Männer stellte ich mir besonders lebhaft vor, denn selbst Genosse Weltfriedensretter wäre, trotz aller zur Schau getragenen Abgebrühtheit, vor Schreck erstarrt und zumindest einen Moment lang unfähig, angemessen zu handeln.
So schnell, dachte ich, könnte also eine Macht vergehen und in einem duftenden Blumenbeet auf einer kleinen Insel ihr Ende finden.
Erschrocken über mich selbst lief ich rot an, wohl aus Angst, dass die Männer meine Gedanken errieten. Aber das war zu meinem Glück den beiden Ordnungshütern und Vertretern der Staatsmacht mit und ohne Uniform nicht vergönnt, so gern Letzterer mit seinem Riesenfernglas auch in mein Herz und Hirn geschaut hätte.
Was ihr nicht seid, ist der Gedanken Obrigkeit, so endete ein Gedicht, das ich als Fünfzehnjähriger in ein Schulbuch gekritzelt hatte. Durch Zufall fand ich es später in meiner Sammlung von Zitaten, die ich, wie meine Tagebücher, in eine alte Pappmappe geschnürt unter dem Küchenschrank versteckte. Ich erinnerte mich jetzt daran, weil sich die momentane Situation nicht besser erfassen ließ. Aber war es wirklich so? Hatten die Gedankenpolizisten, Späher und Wortwächter nicht schon längst in unsere Hirne und Herzen geschaut, nur dass wir noch immer glaubten, wir könnten sie wie Heiligtümer vor dem Zugriff der allmächtigen Staatsmacht retten?
Der Cowboy stellte sich jetzt demonstrativ neben den Generalsekretär, die Arme behielt er ineinanderverschränkt. Den Kopf leicht zur Seite gelegt, beobachtete er mich mit einer gewissen Anspannung.
Schmidt registrierte das nicht. Seine Zeigefinger eilten suchend über das Tastenfeld. Hier und dort blieben sie stehen und gingen nach kurzem Zögern ruckartig nieder. Dabei klatschten die Buchstabenstempelchen auf kleinen Ärmchen gegen das weiße Papier, das sich langsam um eine schwarze Rolle drehte. Seine Fragen kamen wie eingeübt. Wie heißen Sie? Wann sind Sie geboren? Wo wohnen Sie? Welchen Beruf üben Sie aus? Wo ist Ihre Arbeitsstelle? Seit wann arbeiten Sie dort? Weiß Ihre Arbeitsstelle von Ihrem Urlaub? Wie haben Sie ihn beantragt? Hatten Sie schon einmal Konflikte mit der sozialistischen Ordnung? Wenn, dann wie oft und in welcher Weise? Welche gesellschaftlichen Aktivitäten können Sie vorweisen? Was wollen Sie auf Hiddensee? Haben Sie hier Bekannte oder Verwandte? Wann waren Sie das letzte Mal auf Hiddensee? Wie oft waren Sie hier? Wie sind Sie angereist? Hatten Sie Kontakt mit anderen Menschen? Was haben Sie mit ihnen besprochen? So ging es in fortlaufend und die Buchstabenstempelchen schlugen unaufhörlich gegen das weiße Papier, sodass sich die schwarze Rolle Stück für Stück drehte. Dann blieb die Rolle stehen. Und auch Schmidts Finger wollten nicht weiter.
Hatten Sie die Absicht, unser Land zu verlassen?, lautete die Frage, bei der sich Schmidt und der blonde Genosse gegenseitig beobachteten, als hätten sie sich insgeheim darauf verständigt, jetzt am Höhepunkt des Verhörs, die Falle zuschnappen zu lassen.
Unser Land, wiederholte ich leise und wusste gar nicht, was das war. Unser? War es nicht eigentlich ihr Land? Jedenfalls war es irgendwie nicht meines, mir jedenfalls ein fremdes Land, obgleich ich gelernt hatte, mit den Organen der Staatsmacht und ihrer »auf der Grundlage der marxistisch-leninistischen Prinzipien basierenden sozialistischen Rechtsordnung und ihren Gesetzen« – ob ich sie nun kannte oder nicht – zu leben. Und doch war es noch mehr, zumal mich mit dem Land so viel verband: Heimat, die Eltern, Verwandte, Freunde, viel Geschichte, Kultur und Alltag, ein unendliches Leben, Freude und Leid. Wenn es verlangt worden wäre – eine Aufzählung hätte kein Ende gefunden.
So war ich unsicher, wie ich auf die Frage reagieren sollte. War sie eine Falle oder glaubten beide wirklich, dass ich auf diese geradezu lächerlich absurde Weise die geheiligte sozialistische Rechtsordnung verletzen wollte, wo jedem Kind bewusst war, dass man dem blühenden Heimatland der Werktätigen niemals den Rücken kehren durfte. Und das schon gar nicht per Flucht. Es zu verlassen stand gemeinhin unter Strafe, selbst wenn Abertausende den Wunsch, natürlich hinter vorgehaltener Hand oder zuweilen auch offen, hegten und gegebenenfalls sogar das Risiko eingingen, über das Meer zu entkommen. Letzteres galt sogar als »Anschlag auf die Staatsgrenze« und war damit ein Verbrechen.
Die Frage war aber auch deshalb wirklich lächerlich, da ausgerechnet mir, einer ausgewiesenen Landratte zugetraut wurde, mein Schicksal diesem unberechenbaren Meer in die Arme oder besser in die Fluten zu legen. Dabei war ich alles andere als ein Held, wenn ich nur in die Nähe des Wassers geriet. Genauso gut hätte man mich fragen können, ob ich den Mont Everest ersteigen oder über den Ärmelkanal schwimmen wollte. Insofern war diese Unterstellung, ich könnte möglicherweise das Heimatland der Werktätigen über den Seeweg verlassen, wirklich absurd. Ich war weder ein guter Schwimmer, noch Taucher, noch seemännisch erfahren genug, um mich der Gefahr des Meeres auszusetzen. Nein, jedes Gericht musste irren, wenn es mich auf einer Luftmatratze oder in einem Schlauchboot stundenlang, ja tagelang gen Norden treiben sehen wollte, dort wo irgendwann am Horizont dänischer oder schwedischer Boden oder wenigstens ein Fischerboot wartete. Ein solches Unternehmen erschien mir schon immer halsbrecherisch und ich schauderte schon bei dem Gedanken, mir das auch nur vorstellen zu müssen.
Einmal träumte ich sogar davon, wie ich nachts allein in einem aufgeblasenen Traktorschlauch, wie wir ihn als Kind beim Baden verwendeten, in See stach und schnell das Ufer aus dem Gesichtskreis verlor. Weit draußen auf offener See und im Kampf mit den Wellen versuchte ich vergeblich, mithilfe der Sterne die Richtung zu bestimmen. Ein Albtraum, der mich immer dann einholte, wenn ich an einen Jugendfreund aus der Nachbarschaft dachte, der von Rostock aus versucht hatte, unbemerkt im Schatten eines der großen Handelsschiffe zu entkommen. Vergeblich, denn so schlau die Idee auch war, irgendwann wurde er doch geortet, sodass seine Flucht mit einer zweijährigen Haft in einem schmeichelhaft »Roter Ochse« genannten Gefängnis endete.
Aber nicht nur dieser Traum hatte eine abschreckende Wirkung bei mir hinterlassen. Da waren auch noch die vielen grausigen Erzählungen über Ertrunkene, die dann irgendwo als angeschwemmte Flüchtlingsleichen auftauchten und die bei mir nicht einmal ansatzweise den Mut zu einer Flucht über ein Wasser geweckt hätten. Nirgendwo, so berichtete ein Hafenmeister einmal, würden so viele Wasserleichen angeschwemmt, wie zwischen Moen, Hiddensee und Rügen.
Nein, diese Frage war absurd und blieb lächerlich. Der Versuch, mich und meine Freunde als Verbrecher, die einen »Anschlag auf die Staatsgrenze« planten, zu überführen, sollte nach meiner festen Überzeugung scheitern, zumal es nicht den geringsten Beweis gab. Und wir selbst wollten uns auch nicht ans Messer liefern und uns einer Tat bezichtigen, die wir nicht geplant hatten. Nein, nochmals nein, für wie selbstmörderisch halten Sie mich eigentlich!
Aber das, was mir durch den Kopf ging und mir schon auf den Lippen lag, konnten weder Schmidt noch der Cowboy ahnen. Zum Glück, denn allein der Gedanke an die verbotene Tat erzeugt ja manchmal schon eine Schuld. Dennoch, die Unsicherheit im Umgang mit ihrer Frage, ob ich das Land verlassen wollte, das lange Nachdenken, Abwägen, Warten, die Selbstbefragung und die Selbstvergewisserung, machte mich in ihren Augen schon verdächtig, so wie man verdächtig ist, wenn man erst einmal vor einem Richter steht.
Mit aufgeworfenen Augenbrauen und großen Augen starrten sie mich neugierig an und auch der Generalsekretär schien in diesem Moment, der zweifelsfrei den Höhepunkt des Verhörs beschrieb, sein Lächeln mit der angespannten Miene eines Vernehmers ausgetauscht zu haben.