Cédric Villani
Das lebendige Theorem
Aus dem Französischen von Jürgen Schröder
Illustrationen von Claude Gondard
FISCHER E-Books
Cédric Villani, geboren 1973, gehört zu den weltweit führenden und innovativsten Mathematikern. Für seine Forschung erhielt er mehrere Preise, u.a. 2010 die renommierte Fields-Medaille, das Äquivalent zum Nobelpreis. Villani ist Professor für Mathematik an der École Normale Supérieure in Lyon und Direktor des Institut Henri Poincaré in Paris.
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Erschienen bei FISCHER E-Books
Covergestaltung: hißmann, heilmann, hamburg / Simone Andjelković
Coverabbildung: Sébastien Godefroy
Die französische Originalausgabe erschien 2012 unter dem Titel »Théorème vivant« im Verlag Bernard Grasset, Paris
Copyright © 2012 Editions Grasset & Fasquelle
Für die deutsche Ausgabe:
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2013
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-402566-7
Im Original auf Deutsch, A.d.Ü.
Anspielung auf einen japanischen Zeichentrickfilm mit dem Titel »Goldorak«. Darin startet die Hauptfigur manchmal ihren Kampfroboter mit dem Ausruf »Goldorak go!«, A.d.Ü.
Pour des histoires que j’aime bien / J’ai parfois pris du retard / Mais c’est rien (Aus dem Lied »Oh j’cours tout seul« von William Sheller, A.d.Ü.)
Mon cœur vaincra sans coup férir. Zeile aus dem Gedicht »L’espionne« von Guillaume Apollinaire, A.d.Ü.
Arnaud Desplechin, preisgekrönter französischer Filmemacher, zu dessen Film »Conte de Noël« (Weihnachtsgeschichte) Cédric Villani und Wendelin Werner (Fields-Medaille 2006) als Berater für eine Szene her-an-gezogen wurden, die eine mathematische Überlegung enthält, A.d.Ü.
Zitat aus dem Zeichentrickfilm »Der König und der Vogel« von Paul Grimault, A.d.Ü.
Französische Sängerin der 1960er Jahre, A.d.Ü.
Anmerkungen von Clément Mouhot (Notes de Clément Mouhot), A.d.Ü.
Anspielung auf zwei Lieder der kanadischen Gruppe Mes Aïeux »Dégénération« und »Ton père est un croche«, A.d.Ü.
Zeile aus einem Chanson von Dominique A, A.d.Ü.
Ich werde oft gefragt, wie das Leben eines Forschers, eines Mathematikers aussieht, worin unser Alltag besteht, wie sich unser Werk entwickelt. Diese Frage versucht die vorliegende Arbeit zu beantworten.
Die Erzählung verfolgt die Entstehung eines Fortschritts in der Mathematik, und zwar von dem Augenblick an, in dem man beschließt, sich ins Abenteuer zu stürzen, bis zu dem Moment, wo der Aufsatz, der das neue Ergebnis – das neue Theorem – verkündet, von einer internationalen Zeitschrift zur Veröffentlichung angenommen wird.
Zwischen diesen beiden Zeitpunkten nimmt die Suche der Forscher, weit davon entfernt, eine geradlinige Bahn zu verfolgen, wie so oft im Leben einen langen Weg voller Rückwärtsbewegungen und Windungen.
Abgesehen von einigen unbedeutenden Umgestaltungen, die den Erfordernissen der Präsentation geschuldet sind, stimmt alles in der Erzählung mit der Wirklichkeit überein oder zumindest mit dem, wie ich sie empfunden habe.
Einige längere Passagen auf Englisch werden am Ende des Bandes übersetzt.
Ich danke Olivier Nora, der dieses Projekt bei einer überraschenden Begegnung angeregt hat; ich danke Claire für ihre aufmerksame, wiederholte Lektüre und ihre Vorschläge; ich danke Claude für seine schönen Illustrationen; ich danke Ariane Fasquelle und dem Team von Grasset für die Qualität ihres Zuhörens und ihrer Verlagsarbeit; schließlich danke ich Clément für eine unvergessliche Zusammenarbeit, ohne die es den Gegenstand dieses Buches nicht gäbe.
Leser und Leserinnen, die mir ihre Fragen und Kommentare auf elektronischem Wege mitteilen wollen, sind herzlich willkommen.
Cédric Villani
Paris, Dezember 2011
Ein Sonntag um 13 Uhr; das Labor wäre menschenleer, wenn es nicht zwei geschäftige Mathematiker gäbe. Eine vertrauliche Verabredung für eine ungestörte Arbeitssitzung in dem Büro, das ich seit acht Jahren im dritten Stock der École Normale Supérieure von Lyon innehabe.
Auf einem bequemen Sessel sitzend, klopfe ich energisch auf den großen Schreibtisch, wobei ich die Finger wie Spinnenbeine auseinanderspreize, wie es mir mein Klavierlehrer einst beigebracht hat.
Zu meiner Linken befindet sich auf einem extra Tisch ein Computer. Zu meiner Rechten steht ein Schrank, der ein paar hundert Bücher über Mathematik und Physik beherbergt. Hinter mir befinden sich, sorgfältig auf langen Regalen aufgereiht, Abertausende von Aufsatzseiten, die in einer altehrwürdigen Zeit raubkopiert wurden, in der die wissenschaftlichen Zeitschriften noch kein elektronisches Format hatten; außerdem Reproduktionen zahlreicher Forschungsarbeiten, die in einer Zeit raubkopiert wurden, in der mein Gehalt es mir nicht gestattete, meinen Durst nach Büchern zu stillen. Es gibt auch einen guten Meter Entwürfe, die während vieler Jahre akribisch archiviert wurden; und ebenso viele handschriftliche Notizen, Zeugen unzähliger Stunden, die ich mit dem Anhören von Forschungsberichten verbracht habe. Auf dem Schreibtisch vor mir steht Gaspard, mein Notebook, benannt zu Ehren von Gaspard Monge, dem großen Mathematiker der Revolutionszeit; und ein Stapel Blätter, die mit mathematischen Symbolen bedeckt sind, welche in allen acht Winkeln der Welt hingekritzelt und für diese Gelegenheit zusammengestellt wurden.
Mein Mitstreiter, Clément Mouhot, steht mit funkelnden Augen und einem Stift in der Hand neben der großen weißen Tafel, die die gesamte Wand vor mir bedeckt.
– Nun sag’ schon, warum ich kommen sollte, worum geht es bei deinem Projekt? In deiner Mail hast du ja nicht allzu viele Einzelheiten erwähnt …
– Ich fange wieder mit meinem alten Dämon an, natürlich ist das sehr ehrgeizig, nämlich die Regularität für die inhomogene Boltzmann-Gleichung.
– Bedingte Regularität? Du meinst, modulo minimaler Regularitätsschranken?
– Nein, unbedingte.
– Sapperlot! Nicht in einem störungstheoretischen Rahmen? Glaubst du, dass wir dafür schon bereit sind?
– Ja, ich habe wieder damit angefangen, ich habe recht gute Fortschritte gemacht, ich habe zwar einige Ideen, aber hier komme ich nicht weiter. Ich habe die Schwierigkeit anhand mehrerer vereinfachter Modelle analysiert, aber selbst das einfachste funktioniert nicht so richtig. Ich habe geglaubt, die Sache mit einer Art Maximumprinzip in den Griff zu bekommen, aber nein, alles brach zusammen. Ich muss darüber reden.
– Also los, ich höre dir zu.
Meine Ausführungen ziehen sich in die Länge: das Ergebnis, das mir vorschwebt, meine Ansätze, die verschiedenen Teile, die ich nicht miteinander verknüpfen kann, und das logische Rätsel, das sich nicht auflöst, die Boltzmann-Gleichung, die widerspenstig bleibt.
Die Boltzmann-Gleichung, die schönste Gleichung der Welt, wie ich zu einem Journalisten gesagt habe! Ich bin in sie hineingestürzt, als ich noch klein war, d.h. während meiner Dissertation, und ich habe sämtliche Aspekte von ihr untersucht. In der Boltzmann-Gleichung findet man alles: die statistische Physik, den Zeitpfeil, die Mechanik der Fluiden, die Wahrscheinlichkeitstheorie, die Informationstheorie, die Fourieranalyse … Manche sagen, dass niemand auf der Welt besser als ich die mathematische Welt kennt, die von dieser Gleichung erzeugt wird.
Vor sieben Jahren habe ich Clément in dieses geheimnisvolle Universum eingeführt, als er unter meiner Betreuung seine Dissertation begonnen hat. Clément hat wissbegierig gelernt, er ist gewiss der Einzige, der alle meine Arbeiten zur Boltzmann-Gleichung gelesen hat; jetzt ist er ein angesehener, selbständiger, brillanter und begeisterter Forscher.
Vor sieben Jahren habe ich ihm in den Sattel geholfen, heute brauche ich seine Hilfe. Ich habe mit einem überaus schwierigen Problem zu tun, und ganz alleine schaffe ich es nicht; zumindest muss ich meine Anstrengungen jemandem erzählen können, der die Theorie durch und durch kennt.
– Nehmen wir an, dass streifende Kollisionen vorhanden sind. Einverstanden? Ein Modell ohne Cut-off. Dann verhält sich die Gleichung wie eine fraktionäre Diffusion, die zwar degeneriert ist, aber doch eine Diffusion, und sobald wir Schranken für die Dichte und Temperatur haben, kann man es mit einem Moser-Schema versuchen, das angepasst werden muss, um der Nichtlokalität Rechung zu tragen.
– Moser-Schema? Hmmm … Warte mal, ich werde mir Notizen machen.
– Ja, ein moserähnliches Schema. Der Schlüssel ist, dass der Boltzmannoperator … es stimmt, dieser Operator ist bilinear, er ist nichtlokal, aber trotzdem hat er die Form einer Divergenz. Und das ist es, was das Moser-Schema in Gang setzt. Du nimmst eine Änderung an der nichtlinearen Funktion vor, du erhöhst die Potenz … Und tatsächlich brauchen wir etwas mehr als die Temperatur, man muss die Matrix der Momente 2. Ordnung kontrollieren. Aber trotzdem ist das Wesentliche die Positivität.
– Warte, nicht so schnell, warum genügt die Temperatur nicht?
Ich gebe eine lange Erklärung; wir diskutieren, wir werfen Zweifel auf. Die Tafel wird übersät mit mathematischen Symbolen, Clément will mehr über die Positivität wissen. Wie kann man die strenge Positivität ohne Regularitätsschranke beweisen? Ist das überhaupt möglich?
– Wenn Du es genau betrachtest, ist es gar nicht so krass. Die Kollisionen führen zu unteren Schranken, der Transport in einem beschränkenden Bereich ebenfalls, das geht in die richtige Richtung; die beiden Effekte sollten sich verstärken, es sei denn, man hätte wirklich Pech. Zeitweise hatte Bernt es versucht und sich festgefahren. Nun, eine ganze Reihe von Leuten hat es versucht, zwar ohne Erfolg, aber es bleibt plausibel.
– Bist du sicher, dass die Fortpflanzung ohne Regularität zur Positivität führt? Ohne Kollisionen transportierst du doch den Dichtewert, dann wird das nicht noch mehr positiv …
– Ja, aber wenn man über die Geschwindigkeit mittelt, verstärkt das die Positivität … etwa so wie die Lemmata der kinetischen Mittelwerte, aber da ist es keine Regularität, da ist es Positivität. Es stimmt zwar, dass niemand es unter diesem Blickwinkel intensiv untersucht hat. Da fällt mir ein … schau mal, vor zwei Jahren hat mir ein chinesischer Postdoktorand in Princeton eine Frage von ungefähr dieser Art gestellt. Du nimmst eine Transportgleichung, sagen wir auf dem Torus, du setzt null Regularität voraus, du willst beweisen, dass die räumliche Dichte streng positiv wird. Ohne Regularität! Er konnte es für den freien Transport beweisen oder für etwas Allgemeineres in einem kleinen Zeitintervall, aber bei einem größeren Zeitintervall war er aufgeschmissen … Damals habe ich seine Frage an andere Leute weitergegeben, aber keine überzeugende Antwort bekommen.
– Aber warte mal, was machst du mit dem blöden freien Transport?
Freier Transport, das ist der Fachbegriff zur Bezeichnung eines idealen Gases, in dem die Teilchen nicht miteinander interagieren. Ein so sehr vereinfachtes Modell, dass es kaum noch realistisch ist. Dennoch ist es oft sehr lehrreich.
– Na ja, mit der expliziten Lösung müsste es klappen, warte, wir versuchen mal, es zu finden.
Jeder von uns macht sich auf die Suche, Dong Lis Gedankengang wiederzufinden. Es ist kein großes Ergebnis, sondern eher eine kleine Übung. Aber vielleicht wird uns das Verständnis der Lösung dieser kleinen Übung auf den Weg bringen, um das große Rätsel zu lösen. Und dann ist es ja auch ein Spiel! Nach einigen Minuten stillen Gekritzels bin ich der Gewinner.
– Ich glaube, ich hab’s.
Ich gehe zur Tafel, um die Lösung anzuschreiben, wie in einer Stunde, in der die Übungen korrigiert werden.
– Man zerlegt die Lösung nach Torusrepliken … in jedem Teil ändert man Variablen … heraus kommt eine Jacobi-Matrix, du nimmst die Lipschitz-Regularität … und schließlich findest du eine Konvergenz gemäß 1/t (»eins über t«). Das ist zwar langsam, klingt aber gut.
– Wie, dann hast du aber keine Regularisierung … die Konvergenz wird im Mittel erreicht … im Mittel …
Clément denkt angesichts meiner Rechnung laut nach. Plötzlich verklärt sich sein Gesicht, er ist ganz erregt und deutet mit dem Zeigefinger in Richtung Tafel:
– Aber dann sollte man untersuchen, ob das nicht für die Landau-Dämpfung nützlich sein könnte!
Ich bin verblüfft. Drei Sekunden Schweigen. Ein undeutliches Gefühl von etwas Bedeutendem.
Ich verlange Erklärungen. Clément wird unsicher, gibt sich Mühe, erklärt mir, dass dieser Beweis ihn an eine Diskussion erinnert, die er vor drei Jahren über diese Dinge mit einem anderen chinesischen Forscher namens Yan Guo in Providence an der Ostküste der Vereinigten Staaten hatte.
– Bei der Landau-Dämpfung sucht man nach einer Relaxation für eine reversible Gleichung …
– Ja, ja, ich weiß, aber spielt denn die Interaktion keine Rolle? Man sollte nicht an Wlassow denken, hier geht es nur um den freien Transport!
– Vielleicht sollte die Interaktion doch eine Rolle spielen, ja, und dann … müsste die Konvergenz exponentiell sein. Glaubst du, dass 1/t optimal ist?
– Klingt doch gut, oder?
– Aber wenn die Regularität stärker wäre? Wäre das nicht besser?
– Hmrmrm.
Ich brumme vor mich hin. Eine Mischung aus Zweifel und Konzentration, aus Interesse und Frustration.
Nach einigen Augenblicken Schweigen, starrer Blicke und zusammengepresster Lippen geht der Austausch weiter … So spannend sie auch sein mag, hat doch die mythische (und mystische?) Landau-Dämpfung nichts mit unserem ursprünglichen Forschungsprojekt zu tun; nach einigen Minuten gehen wir zu etwas anderem über. Die Diskussion geht lange weiter. Nach und nach setzt sich unsere Reise durch mathematische Fragen fort. Wir machen Notizen, wir argumentieren, wir entrüsten uns, wir lernen, wir bereiten einen Angriffsplan vor. Als wir uns trennen, steht die Landau-Dämpfung trotzdem auf der langen Liste der zu erledigenden Hausaufgaben.
Die Boltzmann-Gleichung
wurde um 1870 entdeckt. Sie modelliert die Entwicklung eines verdünnten Gases, das aus Abermilliarden von Teilchen besteht, die miteinander zusammenstoßen: Man stellt die statistische Verteilung der Positionen und Geschwindigkeiten dieser Teilchen durch eine Funktion f (t, x, v) dar, die zum Zeitpunkt t die Dichte der Teilchen angibt, deren Position (ungefähr) x und deren Geschwindigkeit (ungefähr) v ist.
Der österreichische Physiker Ludwig Boltzmann entdeckte den statistischen Begriff der Entropie oder Unordnung eines Gases:
Mit seiner Gleichung bewies er, dass die Entropie von einem beliebigen Anfangszustand aus im zeitlichen Verlauf nur zunehmen und niemals abnehmen konnte. Bildlich gesprochen wird das Gas, wenn es sich selbst überlassen bleibt, spontan immer ungeordneter, und diese Entwicklung ist irreversibel.
Mit dem Anwachsen der Entropie fand Boltzmann erneut ein Gesetz, das einige Jahrzehnte zuvor experimentell entdeckt wurde und unter der Bezeichnung Zweiter Hauptsatz der Thermodynamik bekannt war; aber er erweiterte dieses Gesetz durch mehrere außergewöhnliche begriffliche Beiträge. Zunächst ersetzte er ein empirisches Gesetz, das experimentell beobachtet und zu einem Prinzip erhoben wurde, durch einen auf Argumenten beruhenden Beweis; dann führte er eine äußerst fruchtbare mathematische Interpretation der geheimnisvollen Entropie ein; und schließlich brachte er die – unvorhersagbare, chaotische und reversible – Mikrophysik mit einer vorhersagbaren und irreversiblen Makrophysik in Einklang. Durch diese Beiträge verdient Boltzmann einen erlesenen Platz im Pantheon der theoretischen Physik sowie die immer wieder neue Aufmerksamkeit der Philosophen und Erkenntnistheoretiker.
Ludwig Boltzmann
Boltzmann definierte dann den Gleichgewichtszustand eines statistischen Systems als einen Zustand maximaler Entropie und begründete damit das unermessliche Gebiet der statistischen Gleichgewichtsphysik: Der ungeordnetste Zustand ist der natürlichste.
Der eroberungslustige junge Boltzmann machte nach und nach einem gequälten alten Mann Platz, der sich 1906 das Leben nahm. Seine Abhandlung der Theorie der Gase, die immer noch aktuell ist, erscheint im Nachhinein als eines der wichtigsten wissenschaftlichen Werke des 19. Jahrhunderts. Aber seine Vorhersagen, die durch die Erfahrung bestätigt wurden, warten immer noch auf eine vollständige mathematische Theorie; eines der fehlenden Teile des Puzzles ist die Untersuchung der Regularität der Lösungen der Boltzmann-Gleichung. Trotz dieses fortbestehenden Rätsels oder vielleicht auch zum Teil deswegen ist die Boltzmann-Gleichung jetzt Gegenstand einer blühenden Theorie; sie beschäftigt eine internationale Gemeinschaft von Mathematikern, Physikern und Ingenieuren, die sich zu Hunderten auf Konferenzen zum Thema Rarefied Gas Dynamics und bei vielen anderen Anlässen versammeln.
Die Landau-Dämpfung!
Nach unserem Arbeitstreffen gehen mir undeutliche Erinnerungen durch den Kopf: Gesprächsfetzen, unabgeschlossene Diskussionen … Allen Plasmaphysikern ist die Landau-Dämpfung vertraut, aber für die Mathematiker bleibt dieses Phänomen ein Rätsel.
Im Dezember 2006 befand ich mich in Oberwolfach in einem legendären Institut, verloren im Herzen des Schwarzwalds, ein Rückzugsort, wohin die Mathematiker in einem endlosen Reigen kommen und gehen, um über die verschiedensten Themen zu sprechen. Türen ohne Schlösser, freie Getränke, kleine Holzkisten, in die man das Geld legt, Kuchen in Hülle und Fülle, Tische, wo die Gäste sich an einen durch das Los ausgewählten Platz setzen müssen.
An diesem Tag in Oberwolfach hatte das Los mich an denselben Tisch wie Robert Glassey und Eric Carlen gesetzt, zwei amerikanische Experten für mathematische Gastheorie. Am Abend zuvor hatte ich bei der Eröffnung der Konferenz stolz eine Fülle neuer Ergebnisse präsentiert; und am selben Morgen hatte uns Eric ein fesselndes und vor Ideen übersprudelndes Exposé serviert, über das wir bei der dampfenden Suppe immer noch sprachen. All das zusammen war ein bisschen zu viel für Robert, der sich alt und nicht mehr up to date fühlte und stöhnte: »Time to retire« …
Eric protestierte lauthals: Warum in Rente gehen, wo es doch für die Gastheorie nie aufregendere Zeiten gegeben hat! Auch ich protestierte: Warum in Rente gehen, wo wir doch die Erfahrung, die Robert in den fünfunddreißig Jahren seiner Laufbahn angesammelt hat, so dringend brauchen!
– Robert, erzähle mir von dem rätselhaften Landau-Dämpfungseffekt, kannst du das erklären, gibt es den wirklich?
– Weird, strange waren die Worte, die in Roberts Antwort vorkamen. Ja, Maslov hat darüber gearbeitet; ja, es gibt das Paradoxon der Reversibilität, das mit der Landau-Dämpfung unvereinbar zu sein scheint; nein, es ist unklar. Eric hatte vorgeschlagen, dass diese Dämpfung ein Hirngespinst sei, die der fruchtbaren Phantasie der Physiker entsprang, ohne Hoffnung auf eine mathematische Formulierung. Ich habe kaum irgendwelche Informationen aus diesem Gespräch gezogen und habe es in einer Ecke meines Gehirns archiviert.
Jetzt schreiben wir das Jahr 2008, und ich weiß nicht mehr als 2006. Aber Clément hatte seinerseits Gelegenheit, lange darüber mit Yan Gao, dem »kleinen wissenschaftlichen Bruder« von Robert, zu sprechen – sie hatten denselben Doktorvater. Das Grundproblem, sagte Yan, besteht darin, dass Landau nicht über das ursprüngliche Modell, sondern über ein vereinfachtes, linearisiertes Modell gearbeitet hat. Niemand weiß, ob seine Arbeiten auch für das »wahre«, nichtlineare Modell gelten. Yan findet dieses Problem faszinierend, und er ist nicht der Einzige.
Yan Guo
Könnten Clément und ich uns daran wagen? Warum nicht. Aber um das Problem zu lösen, müssen wir zunächst genau wissen, wie die Frage lautet! In der mathematischen Forschung ist die deutliche Zielsetzung ein erster entscheidender und heikler Schritt.
Was auch immer dieses Ziel sein mag, das Einzige, dessen wir uns sicher sind, ist der Ausgangspunkt: die Wlassow-Gleichung
die mit ausgezeichneter Genauigkeit die statistischen Eigenschaften von Plasmen bestimmt. Der Mathematiker kann, wie die arme Lady von Shalott aus der Artussage, die Welt nicht direkt betrachten, sondern nur durch ihr Spiegelbild, das in diesem Fall ein mathematisches ist. Also müssen wir Landau in der Welt der mathematischen Ideen, die allein von der Logik regiert wird, stellen …
Weder Clément noch ich haben jemals über diese Gleichung gearbeitet. Aber die Gleichungen gehören allen, und wir werden uns die Ärmel hochkrempeln.
Lew Davidowitsch Landau, russischer Jude, geboren 1908, Nobelpreis 1962, ist einer der größten Physiker des 20. Jahrhunderts. Vom Sowjetregime verfolgt, aus dem Gefängnis dank der Selbstlosigkeit seiner Kollegen befreit, war er auch ein Tyrann der theoretischen Physik seiner Zeit und zusammen mit Jewgeni Lifschitz Autor einer Vorlesung, auf die man sich heute noch bezieht. Seine grundlegenden Beiträge kommen in allen Arbeiten der Plasmaphysik vor: zuerst die Landau-Gleichung, die kleine Schwester der Boltzmann-Gleichung, die ich jahrelang während meiner Dissertation studiert habe; und dann die berühmte Landau-Dämpfung, die eine spontane Stabilisierung von Plasmen nahelegt, eine Rückkehr zum Gleichgewicht ohne Entropiezunahme im Gegensatz zu den Mechanismen, die die Boltzmann-Gleichung regieren.
Gasphysik, Boltzmannphysik: Die Entropie nimmt zu, die Information geht verloren, der Zeitpfeil ist am Werk, man vergisst den Anfangszustand; allmählich nähert sich die statistische Verteilung einem Zustand maximaler Entropie, so ungeordnet wie nur möglich.
Plasmaphysik, Wlassowphysik: Die Entropie ist konstant, die Information wird bewahrt, kein Zeitpfeil, man erinnert sich immer an den Anfangszustand; keine Zunahme der Unordnung und kein Grund, sich was auch immer anzunähern.
Lew Landau
Aber Landau hat die Studie von Wlassow wieder aufgegriffen – von diesem Wlassow, den er geringschätzt und von dem er nicht zögert zu behaupten, dass beinahe alle seine Beiträge falsch sind – und schlug vor, dass die elektrischen Kräfte sich im zeitlichen Verlauf spontan abschwächen, ohne dass es eine Entropiezunahme oder Reibungen irgendwelcher Art gäbe. Ketzerei?
Landaus komplexer und raffinierter mathematischer Kalkül hat die Wissenschaftsgemeinschaft überzeugt, die diesem Phänomen den Namen »Landau-Dämpfung« gegeben hat. Natürlich nicht, ohne dass sich ungläubige Stimmen erhoben.
Der im Flur stehende Couchtisch ist mit Skizzen bedeckt, und die schwarze Tafel ist übersät mit kleinen Zeichnungen. Durch das große Glasfenster sieht man eine Art riesige, schwarze, kubistische Spinne auf hohen Beinen, das berühmte Lyoner Labor P4, wo man Experimente an den gefährlichsten Viren der Welt durchführt.
Mein Gast, Freddy Bouchet, räumt seine Skizzen zusammen und stopft sie in seine Tasche. Eine gute Stunde lang haben wir über seine Forschungen geredet, über numerische Simulationen von Galaxien und über die geheimnisvolle Fähigkeit der Sterne, sich spontan zu stabilen Anordnungen zu organisieren.
Freddy Bouchet
Diese Stabilisierung ist nicht in das Gesetz der universellen Gravitation eingeschrieben, das vor 343 Jahren von Newton entdeckt wurde. Wenn man jedoch einen Sternennebel beobachtet, bei dem die Sterne von diesem Gravitationsgesetz regiert werden, scheint es doch so zu sein, dass das Ganze sich nach einer ziemlich langen Zeit stabilisiert. Man sieht das ganz gut bei den zahlreichen Berechnungen, die auf leistungsfähigen Computern durchgeführt wurden.
Lässt sich also diese Eigenschaft der Stabilisierung aus dem Gesetz der universellen Gravitation ableiten?
Der Astrophysiker Lynden-Bell, der fest wie … wie ein eiserner Asteroid daran glaubte, taufte dieses Phänomen auf den Namen heftige Relaxation. Ein schönes Oxymoron!
– Die heftige Relaxation, Cédric, verhält sich wie die Landau-Dämpfung. Außer dass die Landau-Dämpfung im perturbativen Regime und die heftige Relaxation in einem deutlich nichtlinearen Regime stattfindet.
Freddy hat eine doppelte Ausbildung als Mathematiker und als Physiker und hat einen Teil seines Lebens Problemen wie diesem gewidmet. Unter den grundlegenden Fragen, die er untersucht hat, gibt es eine, der es zukommt, mich heute zu unterhalten.
– Siehst du, Cédric, wenn man Galaxien modelliert, ersetzt man natürlich die Sterne, die kleinen Punkte im Universum, durch ein Fluidum, wie ein Gas aus Sternen. Man geht vom Diskreten zum Kontinuierlichen über. Aber wie groß ist der Fehler, den man bei dieser Näherung begeht? Wie hängt das von der Anzahl der Sterne ab? In einem Gas gibt es Abermilliarden Teilchen, in einer Galaxie gibt es nur hundert Milliarden. Ändert das die Dinge sehr?
Mein Gesprächspartner hat lange Ergebnisse besprochen, in Frage gestellt, bewiesen, Zeichnungen angefertigt, Quellenangaben notiert. Wir haben die Verbindung zwischen seinen Forschungen und einem meiner Lieblingsthemen angesprochen, die Theorie des optimalen Transports, die von Monge begründet wurde. Der Austausch war nutzbringend, und Freddy ist zufrieden. Was mich betrifft, so bin ich ganz begeistert davon, die Landau-Dämpfung abermals auftauchen gesehen zu haben, nur wenige Tage nach meinem Gespräch mit Clément.
Während Freddy sich verabschiedet und weggeht, schaltet sich mein Büronachbar ein, der sich bis dahin schweigsam mit dem Ordnen von Blättern beschäftigt hatte. Seine langen grauen Haare, die sorgfältig zurechtgeschnitten sind, verleihen ihm ein leicht rebellisches Aussehen.
– Weißt du, Cédric, ich wollte ja eigentlich nichts sagen, aber diese Abbildungen dort auf der Tafel kenne ich schon.
Plenarredner auf dem letzten internationalen Mathematikerkongress, Mitglied der Akademie der Wissenschaften, oftmals vorgestellt – und zweifellos auch zu Recht – als »der beste Redner der Welt« in der Mathematik, ist Étienne Ghys eine Institution für sich ganz allein. Als streitbarer Provinzbewohner hat er sich seit zwanzig Jahren der Entwicklung des Labors für Mathematik an der Ecole Normale Supérieure von Lyon gewidmet, zu dessen Verwandlung in eines der besten Zentren für Geometrie auf der Welt er mehr als jeder andere beigetragen hat. Ebenso mürrisch wie charismatisch hat Étienne immer zu allen Themen etwas zu sagen.
Étienne Ghys
– Die Abbildungen, die Freddy und ich aufgezeichnet haben, kennst du?
– Ja, diese hier findet man in der KAM-Theorie wieder. Und auch diese hier habe ich schon gesehen …
– Hast du eine gute Quellenangabe?
– Ja, nun eben KAM, weißt du, das findet man überall ein bisschen: Du gehst von einem vollständig integrierbaren, quasiperiodischen dynamischen System aus, du störst es ein bisschen, es gibt zwar ein Problem mit kleinen Teilern, das bestimmte Bahnen langfristig zerstört, aber trotzdem hast du eine Stabilität in Wahrscheinlichkeit.
– Ja, das kenne ich, aber die Abbildungen?
– Warte mal, ich werde für dich ein gutes Buch darüber finden. Aber es gibt viele Abbildungen, die in Kosmologiebüchern stehen und die man gewöhnlich auch in der Theorie dynamischer Systeme sieht.
Sehr interessant. Ich werde mich kundig machen. Wird mir das dabei helfen zu verstehen, was sich hinter der Stabilisierung verbirgt?
Das schätze ich vor allem in meinem Labor, das so klein und doch so leistungsstark ist: die Art und Weise, wie sich die Themen in den Gesprächen zwischen Forschern mit verschiedenem mathematischen Hintergrund um eine Kaffeemaschine herum oder in den Fluren miteinander vermischen, ohne dass man thematische Hindernisse zu befürchten bräuchte. Es gibt so viele neue Lösungsstrategien zu erforschen!
Ich habe nicht die Geduld zu warten, bis Étienne in seiner riesigen Sammlung eine Quellenangabe für mich findet, also hole ich, was ich kann, in meiner eigenen Bibliothek: eine Abhandlung von Alinhac und Gérard zur Nash-Moser-Methode. Ich habe dieses Werk schon vor einigen Jahren durchgeackert, und ich weiß, dass die Nash-Moser-Methode einer der tragenden Pfeiler der Theorie von Kolmogorow-Arnold-Moser ist, der sogenannten KAM, von der Étienne gesprochen hat. Ich weiß auch, dass hinter Nash-Moser das einzigartige Näherungsschema Newtons steht, jenes Schema, das mit einer unvorstellbaren Geschwindigkeit exponentiell-exponentiell konvergiert und das Kolmogorow auf so geistreiche Weise auszunutzen verstand!
Offen gestanden sehe ich keine Verbindung zwischen all diesen schönen Dingen und meinem Problem der Landau-Dämpfung. Aber vielleicht ist Étiennes Intuition richtig? Schluss mit der Träumerei, ich stopfe das Buch in meinen Rucksack, der ohnehin schon so schwer ist, und beeile mich, um meine Kinder am Ausgang der Schule abzuholen.
Kaum bin ich in der Metro, ziehe ich ein Manga aus meiner Jackentasche, und einen kurzen und kostbaren Moment lang verschwindet die Außenwelt, um Platz zu machen für ein Universum voller übernatürlicher Chirurgen, die mit ihren geflickten Gesichtern übernatürlich geschickt sind, hartgesottener Yakuzas, die ihr Leben für ihre kleinen Mädchen mit den großen Rehaugen geben, grausamer Monster, die sich plötzlich in tragische Helden verwandeln, kleiner Jungen mit blonden Locken, die allmählich zu grausamen Monstern werden. Eine ungläubige und zärtliche, leidenschaftliche und desillusionierte Welt ohne Vorurteil oder Manichäismus, die vor Gefühlen trieft, berührt das Herz und lässt Tränen in die Augen des Lesers schießen, der bereit ist, das Spiel des Naivlings mitzumachen.
Station Hôtel de Ville, Zeit auszusteigen. Während der Fahrt sickerte die Erzählung in mein Gehirn und meine Adern wie ein kleiner Sturzbach aus Tinte und Papier, und ich fühle mich innerlich gereinigt.
Alle mathematischen Gedanken sind ebenfalls in den Pausemodus übergegangen. Mangas und Mathematik vermischen sich nicht. Vielleicht später, im Traum? Und wenn Landau nach dem schrecklichen Unfall, der ihn das Leben kosten sollte, von Black Jack operiert worden wäre? Ich bin sicher, dass der dämonische Chirurg ihn wieder völlig zum Leben erweckt hätte und dass Landau sein übermenschliches Werk hätte fortführen können.
Sieh an, ich habe nicht mehr an Étiennes Bemerkung und an diese Geschichte der Theorie von Kolmogorow-Arnold-Moser gedacht. Kolmogorow und Landau … was für ein Zusammenhang? Beim Aussteigen aus der Metro beginnt das Rätsel wieder, in meinem Gehirn zu kreisen. Wenn es eine Verbindung gibt, werde ich sie finden.
Tatsächlich habe ich zu diesem Zeitpunkt keine Möglichkeit zu ahnen, dass ich länger als ein Jahr brauchen werde, um diese Verbindung zu finden. Noch auch die unwahrscheinliche Ironie zu verstehen: die Abbildung, die Étiennes Reaktion ausgelöst hat, die ihn an Kolmogorow denken ließ, war die Abbildung, die eine Situation illustrierte, in der die Verbindung zu Kolmogorow unterbrochen ist.
An jenem Tag hatte Étienne eine gute Intuition aus einem schlechten Grund. Etwa so, als ob Darwin die Evolution der Arten erraten hätte, indem er Fledermäuse mit Flugsauriern verglichen hätte und zu Unrecht davon überzeugt gewesen wäre, dass eine enge Verbindung zwischen den beiden besteht.
Zehn Tage nach der unerwarteten Wendung meiner Arbeitssitzung mit Clément ist das die zweite wundersame Koinzidenz, die mir auf meinem Weg sehr gelegen kommt.
Allerdings muss man sie erst noch auswerten.
»Dieser russische Physiker, wie hieß er doch? Man hat ihn nach einem Autounfall wie dem meinen tot aufgefunden. Er war klinisch tot. Ich habe den Bericht über diesen außerordentlichen Fall gelesen. Die sowjetische Wissenschaft hat alle Mittel in Bewegung gesetzt, um einen unersetzlichen Forscher zu retten. Man hat sogar ausländische Ärzte gerufen. Man hat diesen Toten wiederbelebt. Wochenlang haben sich die größten Chirurgen der Welt an seinem Lager abgelöst. Viermal ist der Mann gestorben. Viermal hat man ihm ein künstliches Leben eingehaucht, die Einzelheiten habe ich vergessen, aber ich erinnere mich, dass mich die Schilderung dieses Kampfes gegen ein skandalöses Schicksal fasziniert hat. Sein Grab stand offen, und man hat ihn mit Gewalt herausgeholt. Er hat seinen Platz an der Moskauer Universität wieder eingenommen.«
Paul Guimard, Die Dinge des Lebens
Newtons Gesetz der universellen Gravitation besagt, dass zwei beliebige Körper sich mit einer Kraft anziehen, die sich proportional zum Produkt ihrer Massen und umgekehrt proportional zum Quadrat ihres Abstands verhält:
Dieses klassische Gravitationsgesetz erklärt recht gut die Bewegung der Sterne in den Galaxien. Aber auch wenn Newtons Gesetz einfach ist, macht die riesige Anzahl von Sternen in einer Galaxie sie zu einer schwierigen Theorie. Schließlich versteht man auch die Funktionsweise eines Menschen nicht, nur weil man die Funktionsweise jedes Atoms für sich genommen versteht …
Einige Jahre nach dem Gravitationsgesetz machte Newton eine weitere außergewöhnliche Entdeckung: Newtons Näherungsschema, das gestattet, die Lösungen einer beliebigen Gleichung
zu berechnen. Ausgehend von einer angenäherten Lösung x0 ersetzt man die Funktion F durch ihre Tangente Tx0 im Punkt (x0, F(x0)) (technisch gesprochen, linearisiert man die Gleichung um x0 herum), und dann löst man die angenäherte Gleichung Tx0 (x) = 0. Dadurch ergibt sich eine neue angenäherte Lösung x1, und man kann von vorne beginnen: Man ersetzt F durch ihre Tangente Tx1 in x1, man definiert x2 als Lösung von Tx1 (x2) = 0 und so weiter. In präziser mathematischer Notation ist die Beziehung, die xn mit xn+1 verknüpft
Die auf diese Weise gewonnenen Näherungen x1, x2, x3, … sind unglaublich gut; sie nähern sich der »wahren« Lösung mit phänomenaler Geschwindigkeit an. Oft genügen vier oder fünf Versuche, um eine Präzision zu erreichen, die größer ist als die jedes beliebigen modernen Taschenrechners. Man sagt, dass die Babylonier diese Methode bereits vor viertausend Jahren zum Ziehen von Quadratwurzeln verwendeten; Newton entdeckte, dass dieses Verfahren sich auf beliebige Gleichungen anwenden ließ und nicht nur auf die Berechnung von Quadratwurzeln.
Viel später wurde die übernatürlich schnelle Konvergenz von Newtons Schema verwendet, um einige der bedeutendsten theoretischen Resultate des 20. Jahrhunderts zu beweisen: Kolmogorows Stabilitätstheorem, Nashs isometrischer Einbettungssatz … Allein für sich betrachtet durchbricht dieses teuflische Schema die künstliche Unterscheidung zwischen reiner und angewandter Mathematik.
Isaac Newton
Der russische Mathematiker Andrei Kolmogorow ist eine legendäre Figur in der Wissenschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts. In den 1930er Jahren begründet er die moderne Wahrscheinlichkeitstheorie. Seine Theorie der Turbulenz von Flüssigkeiten, die 1941 ausgearbeitet wurde, wird immer noch zitiert, sei es, um sie zu bestätigen oder um sie anzugreifen. Seine Theorie der Komplexität lässt die Entwicklung der künstlichen Intelligenz erahnen.
1954 macht er auf dem Internationalen Mathematikerkongress eine verblüffende Aussage. Während Poincaré seine Fachkollegen schon 70 Jahre zuvor davon überzeugt hatte, dass das Sonnensystem inhärent instabil sei – dass eine noch so kleine Unsicherheit bezüglich der Position der Planeten jede Vorhersage der Position dieser Planeten in ferner Zukunft unmöglich macht –, argumentiert Kolmogorow, dass das Sonnensystem wahrscheinlich
Andrei Kolmogorow
KAM
1980