Ein Sommer mit Wölfen
Aus dem Englischen von Hans-Georg Noack
Für Angeline
Als ich vor elf Jahren begann, dieses Buch zu schreiben, spielten die Wölfe dabei eine eher untergeordnete Rolle. Ursprünglich wollte ich eine Satire über ein ganz anderes Tier schreiben – nämlich über die eigentümliche Abart der menschlichen Rasse, die unter dem Namen Bürokrat firmiert. Der Wolf sollte nur als Folie für die Ausführungen über den homo bürokratis dienen – diese Missgeburt unserer Zivilisation, der, obgleich er ein in der Gewohnheit erstarrter engstirniger Pfennigfuchser und bildungsfeindlicher Ignorant ist und schon an den läppischsten praktischen Sachverhalten scheitert, sich dennoch als einzig legitimer Inhaber der nackten Wahrheit betrachtet und sich folglich zum selbsternannten Richter über die Angelegenheiten der Menschen erhebt.
In bewusst böser Absicht machte ich mich daran, diese neuen Herrscher zu entlarven, oder vielmehr, ihnen Gelegenheit zu geben, sich selbst bloßzustellen. Doch schon nach den ersten Kapiteln des Buches stellte ich fest, dass ich das Interesse an den bürokratischen Hanswurstiaden verloren hatte. Ohne mein Zutun hatte mich meine ursprüngliche Nebenfigur mehr und mehr in ihren Bann gezogen, der Wolf. Schließlich nahm mir der Wolf das Buch ganz aus der Hand, sodass es zu einem eindringlichen Appell wurde, ein außergewöhnlich hoch entwickeltes und attraktives Tier zu verstehen und zu erhalten, das heute wie gestern von den blutrünstigen Neigungen und der todbringenden Feindschaft des Menschen bis hin zur Ausrottung verfolgt wird. Ein Sommer mit Wölfen wurde von den zuständigen Behörden nicht gerade erfreut aufgenommen. Da ich nie etwas anderes schreibe als die Wahrheit und weil ich der Ansicht bin, dass der Humor selbst auf dem nüchternen Gebiet der Wissenschaft durchaus seine Berechtigung hat, wurde das Buch von vielen Experten als völlig erfundene Geschichte verspottet. Sie bestritten sogar, dass der Bericht auf den Erfahrungen von zwei Sommern und einem Winter beruhe, die ich in der Arktis in engster Nachbarschaft mit Wölfen verbracht habe. Heute ist es mir eine kleine Genugtuung festzustellen, dass nahezu jedes Verhaltensmerkmal der Wölfe, das ich beschrieben habe, inzwischen von der «anerkannten» Wissenschaft bestätigt worden ist. Leider wird meine Hauptthese – dass der Wolf weder eine Bedrohung für das übrige Wild noch eine Gefahr oder ein ernst zu nehmender Rivale des Menschen ist – immer noch weitgehend abgelehnt.
1973 waren bereits etliche Gattungen des nordamerikanischen Wolfs – Präriewolf, grauer Wolf und Rotwolf eingeschlossen – so gut wie ausgerottet. Auf dem gesamten Festland der USA (Alaska ausgenommen) haben bis heute vermutlich nicht mehr als 1200 Wölfe überlebt. Etwa 500 davon leben im Norden Minnesotas, wo sie teilweise im Quetico Nationalpark unter Schutz stehen. Im Herbst 1972 jedoch stellte das Forstministerium des Staates Minnesota einen Antrag, wonach jedes Jahr 200 Wölfe geschossen, vergiftet oder mit Schlingen und Fallen gefangen werden sollten – «bis die Bedrohung durch die Wölfe beseitigt ist». In den riesigen unbesiedelten Wäldern Kanadas gab es bis vor kurzem noch ca. 15 000 Timberwölfe. Durch die steigende Zahl von Kleinflugzeugen und besonders von Schneefahrzeugen können jedoch immer mehr Jäger in diese relativ unzugänglichen Gebiete vordringen – was zwangsläufig dazu führt, dass die Zahl der Elene, Hirsche, Elche und anderer Großwildarten drastisch zurückgeht. Dies hat bei Jägern, Pelzhändlern, Jagdführern, Besitzern von Jagdhäusern und anderen finanziell interessierten Gruppen die wohl bekannte Klage ausgelöst: «Die Wölfe rotten das Wild aus – das Wild, das uns gehört! Wir müssen sofort etwas unternehmen, um den Wolf auszurotten.»
Wer hört auf diese Klage? Die Regierungen. Gegen Ende des Jahres 1972 und trotz der Einwände seiner eigenen Biologen ordnete der Minister für Fischerei und Jagdwesen in Quebec einen Massenmord an den Wölfen in Form eines Wettbewerbs an, an dem sich Jäger aus Kanada und den USA beteiligen konnten, mit einer Zielvorgabe von 5ooo toten Wölfen! An die erfolgreichsten Jäger sollten besondere Preise verliehen werden: Der Unterkiefer eines Wolfes, in einem transparenten Kunststoffblock eingeschlossen, passenderweise mit einer Widmung als dauerhaftes Zeugnis für die Geschicklichkeit, den Mut und die Kühnheit des Schlächters versehen.
Immerhin gibt es für die Wölfe einen schwachen Hoffnungsschimmer. In den vergangenen zehn Jahren haben sich viele Menschen zu Initiativen zusammengeschlossen, um den Interessengruppen entgegenzutreten, die den Tod der Wölfe auf ihre Fahnen geschrieben haben. Sie haben schon einige Erfolge zu verzeichnen. Es ist vor allem den anhaltenden Bemühungen einer bloßen Hand voll Leute zu verdanken, der «Ontario Wolf League»1, dass die Regierung von Ontario kürzlich die verabscheuungswürdige Kopfprämie für getötete Wölfe rückgängig machte. Diese werden außerdem von einigen Biologen unterstützt, die sich mehr für das Studium lebender als toter Tiere interessieren.
Auf ähnliche Weise haben vermutlich die «Canadian and American Wolf Defenders»2 die Regierung von Minnesota gezwungen, ihre Pläne zur Ausrottung der Wölfe in diesem Staat aufzugeben.
Als das vorliegende Buch in der Sowjetunion erschien, hatten die Übersetzer leichte Schwierigkeiten mit dem Titel. Schließlich kam dann folgende Version dabei heraus: Wölfe, bitte nicht heulen. Ich hoffe, dass dies ein gutes Omen für die Zukunft ist. Noch ist vielleicht Zeit, die Menschheit davor zu bewahren, der langen Liste ihrer Verbrechen gegen die Natur ein weiteres hinzuzufügen – die Auslöschung einer Kreatur dieser Erde, die zumindest das gleiche Recht auf Leben hat wie der Mensch. Wenn wir den Wolf retten können, wehren wir uns damit in bescheidenem Maßstab gegen ein Verbrechen, das ausschließlich vom Menschen begangen wird: die Zerstörung der Natur.
Farley Mowat
Isles de la Madeleine 1973
Vom Badezimmer meiner Großmutter Mowat in ihrem Haus in Oakville, Ontario, bis in die Tiefen einer Wolfshöhle im tundraähnlichen Land des Distrikts Keewatin im nordwestlichen Kanada führt räumlich wie zeitlich ein sehr weiter Weg, und ich habe nicht die Absicht, ihn in allen Einzelheiten zu beschreiben. Immerhin braucht jede Erzählung einen Anfang, und die Geschichte meines Lebens unter Wölfen beginnt tatsächlich in Großmutters Badezimmer.
Als ich fünf Jahre alt war, hatte ich noch keinerlei Hinweise darauf erkennen lassen, wie sich meine Zukunft entwickeln würde, obwohl das doch die meisten begabten Kinder in einem weit jüngeren Alter tun. Vielleicht waren meine Eltern enttäuscht, dass ich mich in dieser Hinsicht nicht erklärte, jedenfalls überließen sie mich der Obhut meiner Großeltern in Oakville, während sie in den Urlaub fuhren.
Das Haus in Oakville war außergewöhnlich vornehm, und ich fühlte mich dort nicht recht heimisch. Mein Vetter, der dort wohnte und ein paar Jahre älter war als ich, hatte seinen künftigen Beruf bereits gefunden, der auf militärischem Gebiet lag, und er hatte eine eindrucksvolle Bleisoldatenarmee gesammelt, mit der er sich zielbewusst darauf vorbereitete, ein zweiter Wellington zu werden. Die täppische Unbeholfenheit, mit der ich den Napoleon spielte, verärgerte ihn so sehr, dass er sich strikt weigerte, noch irgendetwas mit mir zu tun zu haben, es sei denn unter höchst unausweichlichen Umständen.
Großmutter, eine aristokratische Dame walisischer Herkunft, die ihrem Mann niemals verziehen hatte, dass er nur Eisenwarenhändler war, duldete mich zwar, doch sie ängstigte mich auch. Sie ängstigte die meisten Menschen, den Großvater nicht ausgenommen, der seit langem seine Rettung in einer vorgetäuschten Taubheit suchte. Er pflegte seine Tage ruhig und unbewegt wie Buddha in einem tiefen Ledersessel zu verbringen und scheinbar die Stürme gar nicht wahrzunehmen, die durch alle Gänge und Flure seines Hauses tobten. Und doch weiß ich sehr zuverlässig, dass er das Wort «Whisky» auch dann noch hören konnte, wenn es in einem Raum, der durch drei Stockwerke von seinem Platz getrennt war, auch nur geflüstert wurde.
Weil es also wirkliche Seelenfreundschaft für mich in diesem Haus nicht gab, beschäftigte ich mich mit mir selbst, vermied entschieden jede Energieverschwendung an irgendetwas, was auch nur entfernt nützlich sein konnte; und dadurch verriet ich für jeden, der einen Sinn dafür hatte, deutlich genug, wie meine Zukunft sich gestalten sollte.
Eines Tages schlenderte ich ziellos an einem Bach entlang und gelangte an einen unbewegten Teich. Auf dem Boden lagen, nur mit grünem Schleim bedeckt, drei Katzenwelse und japsten ihr Leben aus. Sie interessierten mich. Mit einem Stock zog ich sie ans Ufer und erwartete gespannt ihren Tod; doch sie weigerten sich zu sterben. Gerade dann, wenn ich überzeugt war, sie müssten nun wohl tot sein, öffneten sie die breiten hässlichen Mäuler und schnappten noch einmal nach Luft. So sehr war ich von ihrer störrischen Weigerung, ihr Schicksal hinzunehmen, beeindruckt, dass ich eine Blechbüchse suchte, die Fische zugleich mit ein wenig schlammigem Wasser hineintat und mit nach Hause nahm.
Ich hatte begonnen, sie auf eine sehr seltsame Weise zu lieben, und ich wollte sie besser kennen lernen. Allerdings war es kein ganz leichtes Problem, wo ich sie aufbewahren sollte, während unsere Bekanntschaft reifte. Waschschüsseln gab es nicht im Haus meiner Großmutter. Es gab zwar eine Badewanne, doch der Stopfen passte nicht richtig, und folglich hielt sie nur wenige Minuten das Wasser. Zur Schlafenszeit hatte ich das Problem noch immer nicht gelöst, und weil ich überzeugt war, dass selbst diese zähen Fische nicht eine ganze Nacht lang in einer Blechbüchse überleben konnten, kam ich auf die – zugegebenermaßen – nicht eben glückliche Lösung, die Fische in das Becken von Großmutters altmodischer Toilette zu setzen.
Damals war ich noch zu jung, um die besonderen Probleme zu begreifen, die das Alter mit sich bringt. Eines dieser Probleme war jedoch unmittelbar für die dramatische und unerwartete Begegnung meiner Großmutter mit den drei Katzenwelsen in den frühen Morgenstunden der folgenden Nacht verantwortlich.
Es war für die Großmutter, für mich und vermutlich auch für die Fische ein traumatisches Erlebnis. Für den Rest ihres Lebens weigerte sich die Großmutter, noch irgendwelchen Fisch zu essen, und sie trug nun immer eine starke Taschenlampe bei ihren nächtlichen Wanderungen mit sich. Über die Wirkung auf die Katzenwelse kann ich nichts so Genaues berichten, denn nachdem die Aufregung ein wenig abgeebbt war, zog mein ruchloser Vetter die Spülung. Auf mich aber übte dieses Erlebnis die Wirkung aus, dass in mir eine bleibende Neigung für die minderen Geschöpfe des Tierreiches entstand. Mit einem Wort: Die Sache mit den Katzenwelsen bedeutete den Anfang meiner Laufbahn als Naturfreund und Biologe. Ich hatte meinen Weg in die Wolfshöhle angetreten.
Meine anfängliche Neigung zum Studium der belebten Natur entwickelte sich schnell zu einer ausgewachsenen Liebe. Ich fand, dass selbst die Menschen, mit denen mich dieses Studium in Berührung brachte, faszinierend sein konnten. Mein erster Lehrmeister war ein Schotte mittleren Alters, der seinen Lebensunterhalt als Eismann verdiente, tatsächlich aber ein leidenschaftlicher Amateur-Säugetierforscher war. In sehr zartem Alter hatte er die Räude, die Lepra oder sonst eine dieser Kinderkrankheiten gehabt und dabei sein gesamtes Haar verloren. Diese Tragödie war vielleicht mit entscheidend für die Tatsache, dass er zu der Zeit, als ich ihn kennen lernte, bereits fünfzehn Jahre seines Lebens dem Studium der Beziehungen zwischen dem sommerlichen Fellwechsel und dem beginnenden Narzissmus bei Taschenratten gewidmet hatte. Mit Taschenratten hatte dieser Mann so enge Beziehungen entwickelt, dass er sie mit kleinen Pfiffen aus ihren unterirdischen Schlupfwinkeln hervorlocken und sie dazu bringen konnte, dass sie bewegungslos ihr Rückenfell betrachten ließen.
Die Berufsbiologen, mit denen ich später in Berührung kam, waren übrigens um keinen Deut weniger interessant. Als ich achtzehn war, verbrachte ich einen Sommer als Helfer in Gesellschaft eines anderen, eines siebzigjährigen Säugetierforschers, der mit akademischen Graden überhäuft war und dessen überragende Stellung in der Welt der Wissenschaft hauptsächlich auf seinen Studien über Gebärmutternarben bei Spitzmäusen beruhte. Dieser Mann, ein sehr geachteter Professor einer großen amerikanischen Universität, wusste mehr über die Gebärmutter der Spitzmäuse als jeder andere Mensch vor ihm. Außerdem konnte er über dieses Thema mit wirklicher Begeisterung sprechen. Bis zu meinem Tod werde ich an einen Abend in der Gesellschaft dieses Mannes denken, an dem er eine recht gemischte Gesellschaft, die aus einem Pelzhändler, einer alten Indianerin und einem anglikanischen Missionar bestand, stundenlang über sexuelle Abweichungen bei Zwergspitzmäusen belehrte. (Der Pelzhändler missverstand den Sinn des Vortrages anfänglich, doch der Missionar, der an jahrelangem Umgang mit humorlosen Abhandlungen litt, setzte ihm bald den Kopf zurecht.)
Meine frühen Jahre als Naturforscher waren frei und erregend, doch als ich zum Mann heranwuchs und fand, dass meine Vorliebe sich zu einem Beruf entwickeln müsse, wurden die Grenzen schnell enger. Die glücklichen Tage eines Studenten, der sich für alles interessieren durfte, waren vorbei; ich musste die unbestreitbare Notwendigkeit der Spezialisierung anerkennen, wenn ich als Berufsbiologe Erfolg haben wollte. Trotzdem fand ich es zu Beginn meines Studiums an der Universität sehr schwierig, einen engen Pfad zu wählen.
Eine Zeit lang schwankte ich, ob ich dem Beispiel eines Freundes folgen sollte, der sich auf Skatologie spezialisierte, also auf das Studium tierischer Ausscheidungen, und der später ein berühmter Skatologe beim Biologischen Dienst der Vereinigten Staaten wurde. Aber obgleich ich den Studiengegenstand durchaus recht interessant fand, konnte er mich doch nicht so sehr begeistern, dass ich ihn gern zu meinem Lebenswerk erhoben hätte. Außerdem war dieses Studiengebiet auch überlaufen, und ich war zu entbehren.
Meine persönlichen Neigungen lagen auf dem Gebiet des Studiums lebender Tiere in ihrer natürlichen Umgebung. Da ich es mit Worten genau nehme, nahm ich auch das Wort Biologie, das doch Lehre vom Leben bedeutete, sehr wörtlich. Mich überraschte schmerzlich der Widerspruch, dass viele meiner Altersgenossen dazu neigten, sich von allem Lebendigen so weit wie möglich entfernt zu halten. Sie verkrochen sich lieber in die saubere Atmosphäre der Laboratorien, wo sie totes – und oft schon sehr totes – Tiermaterial zum Gegenstand ihrer Studien machen konnten. Tatsächlich wurde es während meiner Universitätsjahre geradezu unfein, wenn man irgendetwas mit Tieren zu tun hatte, sogar mit toten Tieren. Die neuen Biologen konzentrierten sich auf statistische und analytische Forschungen, bei denen das Rohmaterial des Lebens zum bloßen Futter für Rechenautomaten wurde.
Meine Unfähigkeit, mich diesen neuen Richtungen anzupassen, hatte eine sehr hinderliche Wirkung auf meine beruflichen Erwartungen. Während meine Mitstudenten sich bereits in den verschiedensten Spezialitäten niederließen, von denen sie die meisten selbst erst erfanden, weil sie davon ausgingen, dass man auf einem Felde keine Konkurrenz zu fürchten hatte, auf dem man der einzige Spezialist war, konnte ich mein Interesse noch immer nicht vom Allgemeinen auf das Besondere lenken. Als die Zeit des Staatsexamens näher rückte, fand ich, dass meine Jahrgangskollegen fast ausnahmslos gute Forschungsaufträge in Aussicht hatten, während ich auf dem biologischen Markt offenbar nichts Besonderes zu bieten hatte. Daher war es unvermeidlich, dass ich schließlich für die Regierung arbeitete.
Die Würfel waren gefallen, als ich eines Winterabends eine Nachricht vom Dienst für Wildpflege erhielt, der mich darüber informierte, dass ich mit dem fürstlichen Gehalt von 120 Dollar im Monat eingestellt sei und mich sofort in Ottawa zu melden habe.
Ich gehorchte diesem herablassenden Befehl mit einem bloßen Anflug unterdrückter Auflehnung; denn wenn ich an der Universität überhaupt etwas gelernt hatte, dann dies, dass die wissenschaftliche Hierarchie einen hohen Grad an Gehorsam verlangt, wenn nicht gar an Unterwürfigkeit.
Zwei Tage später kam ich in der winddurchfegten grauseligen Hauptstadt Kanadas an und erfragte meinen Weg in das enge Labyrinth, in dem der Dienst für Wildpflege hauste. Hier meldete ich mich beim Chefmammalogen, den ich in sorgenfreieren Tagen als Schulfreund gekannt hatte. Jetzt hatte er sich jedoch leider in einen vollständig aufgeblasenen Wissenschaftler verwandelt und war so voller beruflicher Würde, dass ich mich nur mühsam von einem tiefen Hofknicks zurückhalten konnte.
In den nächsten Tagen wurde ich einer «Einführung» unterzogen, die meines Erachtens nur dazu dienen sollte, mich in den Zustand hoffnungsloser Niedergeschlagenheit zu versetzen. Jedenfalls war das Heer von Bürokraten, die ich in ihren düsteren, nach Desinfektionsmitteln riechenden Höhlen aufsuchte, wo sie endlose Stunden damit verbrachten, langweilige Daten zu sammeln oder geschwätzige Denkschriften zu verfassen, nicht dazu angetan, mich für meine neue Beschäftigung zu begeistern. Tatsächlich lernte ich in dieser Zeit nur, dass im Vergleich zur bürokratischen Hierarchie in Ottawa die Hierarchie der Wissenschaftler einer Bruderschaft von Anarchisten glich.
Dies wurde mir besonders an dem denkwürdigen Tag deutlich, an dem man endlich meinte, mich vorzeigen zu können, und ich deswegen in das Büro des stellvertretenden Ministers geführt wurde. Dabei vergaß ich mich so sehr, dass ich den hohen Herrn schlicht mit «Mister» anredete. Daraufhin führten mich meine Begleiter sofort mit bleichen Gesichtern und schlotternden Gliedern aus der hohen Gegenwart und auf Umwegen auf die Herrentoilette. Nachdem sie zunächst niedergekniet waren und mit Blicken durch die Ritze unter der Tür festgestellt hatten, dass wir tatsächlich allein waren und dass niemand uns hören konnte, erklärte man mir gequält flüsternd, dass ich den hohen Herrn niemals anders als mit «Chef» anreden dürfe oder höchstens noch mit seinem Titel aus dem Burenkrieg, als «Colonel». Nun ja, wie konnte ich denn jemals so etwas ahnen.
Militärische Titel standen in der Behörde hoch im Kurs. Alle auf unterer Ebene verfassten Denkschriften waren zumindest von Kapitänen oder Leutnants unterzeichnet, und jene, die von oben auf uns herabschwebten, trugen gar den kühnen Namenszug von Obersten oder Generälen. Diejenigen Stabsmitglieder, die keinerlei Gelegenheit gehabt hatten, wenigstens einen militärischen Status zu erreichen, waren darauf angewiesen, geeignete Ränge zu erfinden, recht ansehnliche, wenn sie schon älter, geringere, wenn sie noch jung waren. Nicht jeder behandelte diese Angelegenheit mit der gebührenden Feierlichkeit. Ich erinnere mich an einen neuen Mitarbeiter in der Fischerei-Abteilung, der sich für kurze Zeit dadurch hervortat, dass er seinem Chef einen Aktenvermerk zuleitete, den er unterschrieb: «J. Smith, Korporal der Harpunen-Kavallerie». Eine Woche darauf war dieser tollkühne junge Mann unterwegs zum nördlichsten Zipfel der Insel Ellesmere. Dort konnte er in einem Iglu leben und die Lebensgeschichte des neunstacheligen Stichlings studieren.
Leichtfertigkeit wurde in diesen nüchternen Büros nirgends geschätzt, wie ich feststellte, als ich an einer Konferenz über meinen ersten Auftrag teilnahm.
Eine provisorische Liste für die materiellen Erfordernisse dieses Auftrags lag auf dem Konferenztisch, der von vielen sehr ernsten Gesichtern umgeben war. Die Liste war ein sehr umfangreiches in fünffacher Ausfertigung erstelltes Dokument, wie es der Gewohnheit entsprach, und die Überschrift lautete:
ERFORDERNISSE FÜR PROJEKT LUPUS
Da mich die Ernsthaftigkeit der Versammlung bereits entnervt hatte, verlor ich vollends die Fassung, als die Versammlung über den zwölften Punkt in dieser Wunschliste beriet:
Papier, Toiletten-, Regierungsqualität, 12 Rollen.
Der trockene Hinweis des Vertreters der Finanzabteilung, im Interesse der Sparsamkeit könne die angegebene Menge vielleicht eingeschränkt werden, falls der Außenmitarbeiter (das war ich) sich die schuldige Zurückhaltung auferlege, ließ mich in ein hysterisches Gekicher verfallen. Ich beherrschte mich zwar fast augenblicklich wieder, doch es war zu spät. Die beiden ältesten Herren, beides «Majore», standen auf, verbeugten sich kühl und verließen wortlos den Raum.
Die Leidenszeit in Ottawa näherte sich ihrem Ende, doch der Höhepunkt stand mir noch bevor. An einem Frühlingsmorgen wurde ich in das Büro meines direkten Vorgesetzten gerufen. Vor meiner Abreise in den Außendienst sollte ein letztes Gespräch stattfinden.
Mein Chef saß hinter einem schweren Schreibtisch, dessen verstaubte Oberfläche mit vergilbenden Waldmurmeltierschädeln übersät war. (Seit seinem Eintritt in den Staatsdienst im Jahre 1897 hatte er sich mit Waldmurmeltieren beschäftigt.) Hinter ihm hing das stirnrunzelnde bärtige Porträt eines verstorbenen Mammalogen, der gelangweilt auf mich herabsah. Überall war der Geruch von Formalin.
Nach einem langen Schweigen, während dessen er mit einigen seiner Schädel spielte, begann mein Chef seine Belehrung. Er wandte dafür eine Feierlichkeit auf wie bei der Einweisung eines Geheimagenten, der den Auftrag erhält, das Staatsoberhaupt zu ermorden.
«Ihnen ist sicher bekannt, Leutnant Mowat», begann mein Chef, «dass heute das Problem des Canis lupus zu einem Problem von nationaler Wichtigkeit geworden ist. In den vergangenen Jahren hat allein unsere Abteilung nicht weniger als 37 Denkschriften von Mitgliedern des Abgeordnetenhauses erhalten, die alle die tiefe Besorgnis ihrer Verfasser ausdrückten, ob wir uns auch ernsthaft genug mit diesem Problem beschäftigten. Die meisten Klagen kamen von so bürgerlich gesinnten und desinteressierten Gruppen wie verschiedenen Fisch- und Jagdclubs, während Herren aus der Geschäftswelt, insbesondere die Hersteller gewisser bekannter Munitionsmarken, ihr ganzes Gewicht einsetzten, um die berechtigten Klagen der wahlberechtigten Bürger zu unterstützen. Diese Klagen laufen nämlich darauf hinaus, dass die Wölfe alles Wild reißen, und immer mehr unserer Mitbürger kommen von immer mehr Jagden mit immer weniger Beute zurück.
Wie Sie vielleicht gehört haben, hat mein Vorgänger dem Minister eine Erklärung der Sachlage unterbreitet, in der er darlegte, die Abnahme des Wildes sei vielleicht darauf zurückzuführen, dass die Zahl der Jäger so sehr zugenommen habe, dass sie an Zahl jetzt die Kopfzahl des Wildbestandes im Verhältnis von fünf zu eins überträfen. Der Minister hat dieses peinliche Dokument in gutem Glauben vor dem Abgeordnetenhaus verlesen, und er wurde prompt von den Abgeordneten niedergeschrien, die ihn als Lügner und als Wolfsfreund beschimpften.
Drei Tage später zog mein Vorgänger sich in das Privatleben zurück, und der Minister veröffentlichte eine Presseerklärung: ‹Das Ministerium ist fest entschlossen, alles in seiner Macht Stehende zu tun, um die unter dem Wild durch Wolfsrudel angerichteten Verheerungen einzudämmen. Eine gründliche Untersuchung dieses wichtigen Problems wird sofort unter Einsatz aller verfügbaren Mittel eingeleitet werden. Das Volk dieses Landes darf überzeugt sein, dass die Regierung, der anzugehören ich die Ehre habe, nichts unversucht lassen wird, um dieser unerträglichen Lage ein Ende zu bereiten.›»
An dieser Stelle ergriff mein Chef einen besonders kräftigen Waldmurmeltierschädel und ließ seine Kiefer aufeinanderklappen, als wollte er damit seine abschließenden Worte betonen:
«Sie, Leutnant Mowat, sind für diese große Aufgabe ausersehen worden! Es bleibt Ihnen nur noch, hinauszugehen und Ihre Arbeit auf eine Weise anzupacken, die der großen Tradition unserer Abteilung würdig ist. Der Wolf, Leutnant Mowat, ist hinfort Ihr Problem!»
Irgendwie kam ich auf die Füße und legte in einer ganz unbewussten Bewegung die Hand zum Gruß an den Kopf, ehe ich den Raum verließ.
Noch am selben Abend flog ich an Bord einer Transportmaschine der Luftwaffe von Ottawa ab. Mein erstes Ziel war Churchill an der westlichen Küste der Hudson-Bucht. Aber irgendwo jenseits von Churchill, irgendwo in den trostlosen Weiten des subarktischen Landes, lag mein eigentliches Ziel: der Wolf!