Uwe-Karsten Heye, geboren 1940, von 1974 bis 1979 Pressereferent und Redenschreiber für Willy Brandt, danach freier Autor für ARD und ZDF. Ab 1990 Regierungssprecher für Gerhard Schröder in Niedersachsen und Berlin. Gründer der Initiative »Gesicht Zeigen!«. Von 2006 bis 2010 Chefredakteur der SPD-Parteizeitung Vorwärts, heute freier Publizist. Von ihm erschien u. a. das Buch Vom Glück nur ein Schatten, das vom ZDF unter dem Titel Schicksalsjahre mit Maria Furtwängler verfilmt worden ist.
Hugo Müller-Vogg, geboren 1947, Studium der Volkswirtschaftslehre und Promotion in Politikwissenschaft an der Universität Mannheim. Stationen: Wirtschaftsredakteur beim Mannheimer Morgen sowie bei der FAZ, deren Mitherausgeber er von 1988 bis 2001 war. Heute freier Publizist, u. a. Kolumnist für Bild, Kommentator für N24 und häufiger Gast in Talkrunden. Er veröffentlichte zahlreiche Bücher zu politischen und wirtschaftlichen Fragen.
Steinbrück
oder Merkel?
Deutschland hat die Wahl
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
Quadriga Verlag, Berlin, in der Bastei Lübbe AG
Redaktionsschluss: 8. April 2013
Originalausgabe
Copyright © 2013 by Quadriga Verlag, Berlin in der Bastei Lübbe AG, Köln
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Layout und Satz: fuxbux, Berlin
E-Book-Produktion: le-tex publishing services GmbH, Leipzig
ISBN 978-3-8387-0909-3
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Anstiftung wählen zu gehen
Die beiden, die da als Kandidat und Kandidatin für das Kanzleramt antreten, könnten gegensätzlicher nicht sein. Angela Merkel steht in der Union konkurrenzlos an der Spitze. An ihrem Stehvermögen haben sich denkbare Widersacher vergeblich abgearbeitet. Sie ist eher abwartend und geduldig und führt unangefochten die Skala der beliebtesten Politiker an.
Peer Steinbrück dagegen zeigt zupackendes Temperament. Er gibt lieber die Richtung vor und greift selbst in die Speichen, um den politischen Karren voranzubringen. Mit anderen Worten: Bei den Personen jedenfalls haben die Wähler eine klare Wahl.
Aber Personen sind von ihren Programmen nicht zu trennen. Und da beginnt der journalistische Begleittross oft die Übersicht zu verlieren. Wie sozialdemokratisiert ist eigentlich die CDU/CSU? Wie viel von der Schröder’schen Agenda-Politik steckt noch in der SPD? Und wie sieht es mit den möglichen Koalitionspartnern aus? Wollen die Grünen nur mit der SPD koalieren – und sonst gar nicht? Oder könnte die FDP sich nicht doch in eine »Ampel« mit SPD und Grünen retten?
Es gilt also, genau hinzusehen. Deshalb versuchen wir aus verschiedenen Perspektiven, die programmatischen Unterschiede zu ermitteln, nennen Fakten und Zahlen, interpretieren diese bisweilen gegensätzlich. Gleichwohl haben wir ein gemeinsames Ziel: Wir wollen mit dieser Streitschrift einen Beitrag leisten, die Qual der Wahl zu minimieren, und dazu animieren, am Wahltag – egal bei welchem Wetter – wählen zu gehen.
Potsdam, im April 2013
Uwe-Karsten Heye
Bad Homburg, im April 2013
Dr. Hugo Müller-Vogg
Uwe-Karsten Heye
Gern schmückt sich die schwarz-gelbe Regierung mit der Arbeitsmarktstatistik: »Erneut Rekordwert«, meldet das Statistische Bundesamt und meint damit die Zahl der Erwerbstätigen: 41,5 Millionen. Nur sagt die Statistik wenig darüber aus, ob die Menschen von dem, was sie verdienen, auch leben können: »Erwerbstätig« ist jeder über einem Alter von 15 Jahren, der oder die irgendwann im Jahr einer bezahlten Beschäftigung nachgeht – egal wie kurz, und wenn es nur ein paar Stunden sind. Minijobber, Erntehelfer, mithelfende Familienangehörige, jobbende Studierende – sie alle sind »erwerbstätig« im Sinne der Statistik. Die für den Arbeitsmarkt wichtigste Zahl klingt schon nicht mehr ganz so toll: 28,8 Millionen sind versicherungspflichtig beschäftigt. Auch dieser Wert ist gestiegen – 2012 um 1 Prozent.
Die Kehrseite: Der Jobzuwachs vollzieht sich vor allem im Niedriglohnsektor. Fast jeder zehnte Festangestellte muss einen zusätzlichen Job annehmen, um über die Runden zu kommen. Dazu addieren sich knapp drei Millionen Arbeitslose – und weitere rund zehn Millionen Menschen, die auf dem Arbeitsmarkt vergeblich auf eine auskömmliche Arbeit hoffen. Insgesamt stecken 7,4 Millionen Erwerbstätige in sogenannter geringfügiger Beschäftigung. Seit Januar 2013 darf man im Minijob maximal 450 Euro im Monat verdienen – leben kann davon niemand. Wer sonst kein Einkommen hat, bezieht zusätzlich Hartz IV – und verstärkt trotzdem die erfreuliche Statistik.
Es ist Zeit für einen flächendeckenden Mindestlohn und für einen gerechten Anteil der Arbeitnehmer am gemeinsam erarbeiteten Reichtum. Und es ist Zeit, Hartz IV als Lohneinsparungssystem zu beenden, damit am Ende des Arbeitslebens eine Rente steht, mit der man nicht unter die Armutsgrenze fällt.
Arbeitsmarkt
Hugo Müller-Vogg
Davon können andere Länder nur träumen: Bei uns sind trotz Euro-Krise 41,5 Millionen Menschen erwerbstätig – 2,7 Millionen mehr als 2005 und so viele wie nie zuvor. Noch ein Rekord: Ende 2012 gab es 2,8 Millionen Arbeitslose – knapp drei Millionen weniger als zu rot-grünen Zeiten und die wenigsten seit 1991. Und das in einer Zeit, in der halb Europa unter Massenarbeitslosigkeit stöhnt.
Dieses »Jobwunder« ist das Ergebnis vieler Faktoren. Produkte »Made in Germany« sind gefragter denn je. Die von den Gewerkschaften mitgetragene zurückhaltende Tarifpolitik hat die Wettbewerbsfähigkeit unserer Unternehmen gestärkt. Umfassende Arbeitsmarktreformen (siehe Hartz IV) haben Arbeitslose »gefordert und gefördert«, sich um Arbeit zu bemühen. Die Hürden für Neueinstellungen sind dank Zeitarbeit und Arbeitszeitkonten niedriger als früher.
Es gibt auch eine Kehrseite: Die Reallöhne sind im vergangenen Jahrzehnt kaum gestiegen, die Teilzeitarbeit hat zugenommen. Auch zwingen manche Arbeitgeber ohnehin schlecht entlohnte Mitarbeiter mit üblen Tricks zu unbezahlter Mehrarbeit. Doch stimmt es einfach nicht, dass neue flexible Jobs die Normalarbeitsverhältnisse verdrängt hätten. Heute haben knapp 24 Millionen Menschen unbefristete Vollzeitstellen, so viele wie vor zehn Jahren. Zugleich erreichen die sozialversicherungspflichtigen Stellen mit etwa 30 Millionen einen neuen Höchststand.
Die Politik hat dazu einen maßgeblichen Beitrag geleistet: die Regierung Schröder mit der Agenda 2010, die Regierungen Merkel mit ihrer Wachstumspolitik. Nicht zuletzt hat Schwarz-Gelb verhindert, dass SPD und Grüne die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes wieder rückgängig machen und dadurch Arbeitsplätze vernichten konnten. Massenarbeitslosigkeit war gestern – und das ist auch gut so.
Uwe-Karsten Heye
»Altersarmut«, seufzt Sozialministerin von der Leyen. Große Aufregung. Das sind ja ganz neue Töne! Sorgt sich da jemand im schwarz-gelben Look um die armen Rentner? Die CDU-Ministerin, mit einem Wirtschaftsminister Rösler und seiner FDP als Spaßbremse im Kreuz, erwartet demnächst eine wachsende Zahl alter Menschen, die zwangsläufig unter die Armutsgrenze rutschen werden. Die FDP und auch Frau von der Leyen wollen aber eine Politik fortsetzen, die prekäre Beschäftigungsverhältnisse hinnimmt. Warum sollten Unternehmer sozialpflichtige Jobs schaffen, wenn es auch mit Minijobs geht oder mit Leiharbeitsfirmen, die ihren Leuten bis zu 20 Prozent weniger zahlen? Auf immer mehr Menschen wird am Ende ihres Arbeitslebens eine Rente unterhalb der Armutsgrenze warten. Und die wird auch noch als »Lebensleistungsrente« verkauft. Das ist keine Sozialpolitik, das ist Zynismus.
»Verteilungsgerechtigkeit« scheint für manche im bürgerlichen Lager ein Schimpfwort zu sein. Dabei sollte es eigentlich das selbstverständliche Ziel in einer demokratischen Gesellschaft sein, die Gewinne des technischen Fortschritts mit denen zu teilen, die sie erarbeitet haben. Ein gerechter Anteil am gemeinsam erworbenen Wohlstand steht den Arbeitnehmern zu. Auch der Mindestlohn ist eine Frage der Gerechtigkeit – und zugleich eines der wirksamsten vorbeugenden Mittel gegen Armut (siehe Gerechtigkeit, Mindestlohn).
Darüber redet in der gegenwärtigen Koalition keiner gern, und die Schere zwischen Arm und Reich klafft immer weiter auseinander. Der FDP gefiel nicht, was im jüngsten Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung dazu zu lesen war – die Fakten entsprächen »nicht der Meinung der Bundesregierung«, hieß es aus dem Bundeswirtschaftsministerium. Und was sagt Angela Merkel, die Sphinx von Stralsund? »Die beste Bundesregierung seit der Vereinigung!« Selten so gelacht.
Armut
Hugo Müller-Vogg
Offiziell gelten 14 Prozent der Deutschen als von Armut bedroht, weil ihr Einkommen weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens ausmacht. Stellen wir uns vor, über Nacht würden sich alle Gehälter und Hartz-IV-Sätze verdoppeln. Dann blieben die 14 Prozent weiterhin arm – statistisch.
Es ist eben alles relativ. Wie fragwürdig solche Statistiken sind, zeigt sich daran, dass es in Tschechien, Slowenien oder in der Slowakei weniger Armutsgefährdete gibt als bei uns. Doch die dortigen Normalverdiener hätten sicher gern den Lebensstandard der deutschen »Armen«.
Zweifellos gibt es mitten im Wohlstand bittere Armut: Obdachlose oder verelendete Drogenabhängige. Die meisten »Armen« haben dagegen eine Wohnung und werden vom Sozialstaat recht gut versorgt. Es ist eher eine relative Armut, weil sie sich vieles nicht leisten und kaum am gesellschaftlichen Leben teilhaben können.
Armut ist ein politischer Kampfbegriff geworden. Deshalb geben wir immer mehr Geld im Kampf gegen die Armut aus. Es hat sich eine Hilfindustrie entwickelt; sie ist mit zwei Millionen Beschäftigten der größte Arbeitgeber des Landes. Diese Sozialarbeiter leben für die Armen – und von ihnen.
Bei dem Versuch, unser Land arm zu rechnen, wird eine bedenkliche Entwicklung übersehen: In der Unterschicht hat sich ein Lebensstil eingebürgert, in dem reguläre Arbeit fast keine Rolle spielt. Das Geld kommt vom Amt wie der Strom aus der Steckdose.
Selbst wenn wir immer mehr Geld in die Armutsbekämpfung investierten: Solange sich bestimmte Eltern nicht um Bildung und Ausbildung ihrer Kinder kümmern, so lange helfen keine neuen Milliarden. Sozialleistungen und Eigenverantwortung gehören eben zusammen – aus der Armut muss man auch herauswollen.
Uwe-Karsten Heye
Herbst 2010: Die Koalition beschloss, die zivile Nutzung der Kernenergie »als Brückentechnologie« auszubauen. Die Atomlobby war glücklich und die CSU auch. Wenige Monate später, im März 2011, ereignete sich die Reaktorkatastrophe in Fukushima – und niemand konnte mehr übersehen, dass die »Brückentechnologie« unkalkulierbare Risiken birgt. Das veranlasste die Kanzlerin im Juni 2011 zum Satz des Jahres: »Fukushima hat meine Haltung zur Kernenergie verändert.« So sprach die CDU-Vorsitzende und Regierungschefin Merkel, und so geschah es. Seither gilt in Deutschland: Wir steigen aus. Klingt gut, hat aber Tücken – jedenfalls wenn es eine Koalition aus CDU/CSU und FDP ist, die nun eine nachhaltige Energieversorgung ohne Kernkraft organisieren soll. Die überraschende Volte der lange als politische Atomlobby agierenden CDU/CSU ist zu schwerem Gepäck geworden, weil sie – mühsam genug – die Wende mit Taten unterlegen müsste. Das Gegenteil geschieht: Dank der FDP wird der private Ausbau der Solarenergie nicht mehr gefördert. Wir können sicher sein, dass den Energieversorgern immer neue Argumente einfallen, um die abgeschriebenen Atomkraftwerke als Gelddruckmaschinen möglichst lange unter Dampf zu halten. Und dann bleibt ja noch das Problem mit dem Atommüll. Warum die strahlenden Hinterlassenschaften nicht einfach ins Ausland exportieren? Aus den Augen, aus dem Sinn. Das wird ernsthaft erwogen.
Die Überwindung der Kernkraft ist von Beginn an das politische Antriebsaggregat der Grünen. Und die SPD hat sich bereits 1986 auf dem Nürnberger Parteitag auf den Ausstieg festgelegt; vor elf Jahren hat ihn die rot-grüne Koalition gemeinsam mit der Energiewirtschaft sozialverträglich beschlossen. Demnächst kann er endlich energisch in Gang kommen. Noch ein Grund für Rot-Grün.
Atomkraft
Hugo Müller-Vogg
Nach der Reaktorkatastrophe von Fukushima und kurz vor den Wahlen in Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg gaben CDU/CSU und FDP der Atom-Hysterie in weiten Teilen der Bevölkerung nach. Die Bundesregierung beschloss Hals über Kopf den Ausstieg aus der Kernenergie. Acht deutsche Kernkraftwerke, die zu den sichersten auf der Welt gehören, wurden sofort abgeschaltet, die verbleibenden neun werden bis 2022 vom Netz genommen.
In anderen Ländern laufen die Meiler weiter, sogar neue werden geplant, selbst in Japan. Bei uns dagegen blieb die Vernunft auf der Strecke, zumal der Ersatz der Kernkraft durch erneuerbare Energien nicht auf Knopfdruck zu bewältigen ist. Dementsprechend überlastet sind unsere Stromnetze. Zur reinen Augenwischerei verkommt der Atomausstieg, wenn bei Versorgungsengpässen – wie schon zu rot-grünen Zeiten – Atomstrom aus Frankreich oder Tschechien importiert wird. Mehr Sicherheit schafft das nicht, dafür aber höhere Kosten für die deutsche Wirtschaft und die privaten Verbraucher.
Wenn das letzte Kernkraftwerk abgeschaltet ist, bleibt eine zentrale Frage ungelöst: Wohin mit dem Atommüll, der noch Jahrtausende strahlt? Er wird jetzt meist an den Reaktorstandorten zwischengelagert. Der Salzstock Gorleben, seit Jahrzehnten als Endlager vorgesehen, wurde von grünen Aktivisten kaputtdemonstriert. Nun soll im ganzen Land nach Alternativen für eine sichere und dauerhafte Endlagerung gesucht werden.
Wo immer das Endlager entstehen soll: Dann müssen Grüne und SPD Farbe bekennen. Doch sie werden wohl an der Spitze der Demonstranten spazieren, die grundsätzlich für ein Endlager sind – aber natürlich »nicht bei uns«. Wetten, dass …?
Uwe-Karsten Heye
Acht Jahre im Amt der Bundeskanzlerin hatte Angela Merkel Gelegenheit, sich mit den Widersprüchen in der Welt auseinanderzusetzen und einen wertegeleiteten außenpolitischen Kurs zu entwickeln. Davon ist wenig zu spüren.
Als Gerhard Schröder sich weigerte, die Bundeswehr in das Irak-Abenteuer zu schicken, hat Frau Merkel ihrem Freund George W. Bush via Washington Post ihre und die Solidarität ihrer Partei zugesagt. Ein Glück, dass sie damals nichts zu entscheiden hatte. Danach, in der Großen Koalition von 2005 bis 2009, lag das Kraft- und Ruhezentrum der Regierung in der Außenpolitik und in den Händen von Frank-Walter Steinmeier, der als Außenminister und Vizekanzler das internationale Ansehen Deutschlands festigte. Ganz im Sinne von Willy Brandt hat Steinmeier kulturelle Beziehungen als die »dritte Säule der Außenpolitik« wieder stark gemacht. So jemand fehlt, seit mit Schwarz-Gelb die Uneindeutigkeit im Mittelpunkt politischen Handelns steht. Der Blick nach Afghanistan zeigt, wie statisch deutsche Außenpolitik derzeit betrieben wird. Ähnliches gilt für Ägypten, Syrien, Tunesien; für den gesamten Nahen Osten. Wo ist die klare, selbstbewusste Haltung geblieben, die getragen ist von der Überzeugung, dass sich politische und soziale Konflikte nicht in erster Linie mit militärischen Mitteln lösen lassen? Wo ist das Primat für Menschenrechte vor den Interessen der globalisierten Wirtschaft?
Auf der wirtschaftspolitischen Weltkarte sind China, Indien, die asiatischen und südamerikanischen Schwellenländer längst zu starken Mitspielern geworden; »der Westen« hat als Weltenlenker ausgedient. Das scheint im Berliner Außenamt noch keiner gemerkt zu haben. Merkels Außenpolitik sei »ohne Kompass«, wetterte Helmut Kohl unvermutet aus dem Off. Da hat der Alte mal recht.
Außenpolitik
Hugo Müller-Vogg
Angela Merkels Außenpolitik ist nüchtern, aber mit innerem Kompass. Sie hat Guantanamo ebenso offen kritisiert wie russische Defizite bei den Menschenrechten. Gleichzeitig wirbt sie für die Einbindung Russlands in die westliche Wertegemeinschaft. Wenn Abgrenzung angezeigt ist wie bei Weißrussland, bemüht sie sich um eine einheitliche Linie in der EU. Alleingänge sind ihr suspekt.
Im Falle Libyens kam es dennoch zum Alleingang. Statt der Demokratiebewegung gegen Gaddafis Truppen militärisch beizustehen, hat sich Deutschland bei den Vereinten Nationen der Stimme enthalten – ein Fehler.
Kaum gewürdigt wurde Merkels Bemühen, der größten Demokratie der Welt die gebührende Aufmerksamkeit zu schenken. Schon früh in ihrer ersten Amtszeit ist sie nach Indien gefahren, hat seitdem eine hervorragende Beziehung zu Premierminister Manmohan Singh aufgebaut.
Ihr Vorgänger Gerhard Schröder hatte nur China im Blick. Im Blick hat Merkel China ebenfalls, aber sie hat aufgrund ihrer DDR-Biografie ein sehr distanziertes Verhältnis zu jeder Form der Ein-Parteien-Herrschaft. Indien ist nicht nur wie China ein aufstrebender Markt, es ist auch, trotz mancher Unzulänglichkeit, eine stabile Demokratie – und bald schon das bevölkerungsreichste Land der Welt.
Merkel hat viel von Helmut Kohl gelernt. Zum Beispiel, dass man den kleinen Partnern in Europa mit dem gleichen Respekt begegnen muss wie den großen. Sie praktiziert diese Regel sogar konsequenter als ihr manchmal ungeduldiger Lehrmeister. Welch ein Kontrast zu Gerhard Schröder, der meinte, im Bunde mit Frankreich mal eben die Euro-Stabilitätskriterien ignorieren zu können! Oder zu Peer Steinbrück, der es für angebracht hielt, einem unbotmäßigen kleinen Nachbarland flapsig mit der Kavallerie zu drohen!
Uwe-Karsten Heye
Das war ein gelungener Coup, an dem der Bankensektor weltweit beteiligt ist: Die von der Wallstreet mit dem Finanzplatz London und anderen verursachte Finanzkrise wurde in eine »Staatsschuldenkrise« umdefiniert. Kaum waren die staatlichen Rettungsschirme aufgespannt und damit die Großbanken mit Geld in unfassbarer Menge versorgt, um einen Börsenkollaps zu verhindern, wurde die Geschichte der Krise umgelogen (siehe Euro-Krise, Internationaler Finanzmarkt). Die Geldinstitute entledigten sich jeglicher Mitverantwortung. Kapitalismus aus dem Bilderbuch: Die mit krimineller Energie erbeuteten Spekulationsgewinne wurden privatisiert – und die daraus entstandenen Schäden sozialisiert. Seither taumeln die Regierungschefs der Euro-Staaten von einem Krisengipfel zum anderen. Kanzlerin Merkel ihrerseits verstolperte jede Möglichkeit, die Krise einzuhegen. Arrogant, selbstherrlich und unsolidarisch schallten Töne aus Deutschland und setzten seine Europatauglichkeit aufs Spiel. Die soziale Spaltung der Gesellschaft wurde vertieft, ungerührt strichen die Banker ihre Boni ein. Wir erinnern uns: Eine verantwortungsvoll handelnde Opposition rettete Merkel vor der Abstimmungsniederlage im Bundestag. Gegen viele Stimmen aus CDU/CSU, FDP (»Keinen Cent für Griechenland«) und gegen das geschlossene Nein der Linken akzeptierte der Bundestag mit den Stimmen von Rot-Grün den Kreditbedarf Griechenlands.
Der Einzige, der bislang ein taugliches und plausibles Konzept zur Lösung der Finanzkrise vorgelegt hat, heißt Peer Steinbrück. Übrigens auch deshalb wurde er von den Krisenverursachern gern als Redner geladen: Sie hatten nämlich den Überblick über ihre vergifteten Produkte, die das Finanzdebakel ausgelöst hatten, verloren und wollten endlich verstehen, wie es dazu kommen konnte, dass Milliarden Euro verbrannt sind.
Banken
Hugo Müller-Vogg
Masters of the Universe