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Julia Schöning

DIAGNOSE: LIEBE

Roman

Originalausgabe:
© 2011
ePUB-Edition:
© 2013

édition el!es

www.elles.de
info@elles.de

Alle Rechte vorbehalten.

ISBN 978-3-941598-71-3

Coverillustrationen:
© krabata, Sashkin – Fotolia.com

In dem Moment, in dem Prof. Eckhardt den Frühbesprechungsraum betrat, wusste Hannah, dass es kein gewöhnlicher Morgen werden würde. Eine junge Frau folgte ihm. Sie blieb direkt neben ihm stehen. Mit ihren Shorts und dem engen T-Shirt passte sie nicht in das alltägliche Bild, das sich Hannah sonst im Krankenhaus bot.

»Guten Morgen«, begrüßte Prof. Eckhardt seine Mitarbeiter. »Irgendwelche besonderen Vorkommnisse in der Nacht?«

Der diensthabende Arzt berichtete, was sich in den letzten Stunden ereignet hatte.

Hannah hörte ihm nicht zu. Stattdessen betrachtete sie die Frau genauer. Sie schien etwa ihr Alter zu haben. Blonde Haare umrahmten ihr Gesicht. Was machte diese Fremde hier? Vielleicht ein Praktikum? Aber normalerweise kündigte Prof. Eckhardt Studentinnen für die Semesterferien an.

In der Zwischenzeit berichteten die anderen von ihren Stationen. Hannah, die in der Notaufnahme arbeitete, hatte dazu nichts beizutragen.

Diese Frau war attraktiv. Sie hatte eine sehr sportliche Figur. Die Fremde ließ ihren Blick durch den Raum schweifen, dabei wippte sie von einem Fuß auf den anderen.

War es nur Einbildung, oder verharrte sie bei ihr länger als bei allen anderen?

»Frau Rehfeld?« Prof. Eckhardt hatte seine Augen direkt auf Hannah gerichtet.

Hannahs Wangen erröteten, als hätte er ihre Gedanken gelesen. Sie hatte keine Ahnung, ob er ihr eine Frage gestellt hatte. Ihre Aufmerksamkeit war in den letzten Minuten mit etwas anderem beschäftigt gewesen.

»Könnten Sie noch einen Moment bleiben? Ich habe etwas mit Ihnen zu besprechen.«

Die Worte ihres Chefs ließen Hannahs Finger feucht werden. Was hatte das zu bedeuten? Um sie herum verließen alle mit schnellen Schritten den Raum. Nur Prof. Eckhardt und die Fremde blieben zurück. Hannah erhob sich und ging auf ihren Chef zu.

Prof. Eckhardt lächelte sie an. »Ich habe eine kleine Bitte an Sie.«

Erleichtert atmete Hannah tief aus. Eine Bitte. Wenn es nicht mehr war. »Was kann ich für Sie tun?«

»Wahrscheinlich haben Sie unseren Besuch schon bemerkt.«

Hannah nickte. Das konnte man so sagen.

»Frau Benecke ist Journalistin und möchte eine Reportage über die Notaufnahme schreiben. Ich dachte, Sie könnte Ihnen ein wenig über die Schulter schauen.«

Frau Benecke streckte Hannah ihre Hand entgegen. »Hallo. Freut mich.«

Hannah erwiderte den Gruß, wenn auch widerwillig. Das hieß eindeutig mehr Arbeit für sie. Eine nervige Journalistin wäre ein lästiger Klotz am Bein. Darauf hatte Hannah keine Lust. Doch sie hatte keine andere Wahl. »Mich auch.«

»Gut, dann lass ich Sie beide nun allein. Viel Spaß, Frau Benecke. Und sollten Sie noch Fragen haben oder sollte es irgendwelche Probleme geben, melden Sie sich einfach bei mir.« Kaum hatte Prof. Eckhardt diese Worte ausgesprochen, war er auch schon verschwunden.

»Ich bin übrigens Hannah. Wenn das in Ordnung ist, würde ich vorschlagen, dass wir uns duzen. Das erleichtert die Arbeit.« Hannahs Versuch, ein möglichst freundliches Gesicht aufzusetzen, misslang.

»Natürlich. Ich heiße Sophie.« Sophie schenkte Hannah ein umwerfendes Lächeln, das Hannah ihren Unmut fast vergessen ließ.

Hannah räusperte sich. »In Ordnung. Dann zeige ich dir jetzt mal das Haus.«

Sophie lief vorneweg, auch wenn sie gar nicht genau wissen konnte, wohin sie laufen musste.

Hannah schüttelte den Kopf, während sie Sophie kritisch musterte. So wie sie herumlief, konnte sie hier im Krankenhaus nicht bleiben. »Moment«, rief Hannah ihr hinterher.

Verwundert blieb Sophie stehen. »Ist was?«

»In der Tat.« Hannah runzelte die Stirn. »Shorts sind nicht gerade eine geeignete Berufsbekleidung.«

Sophies Hände strichen ihre kurze Hose glatt. Daran hatte sie gar nicht gedacht, als sie sich am Morgen für dieses Outfit entschieden hatte. Es war Anfang August und brüllend heiß. Da war ihr etwas Luftiges angemessen erschienen.

»Wir gehen an der Wäscherei vorbei. Die haben bestimmt etwas Passendes für dich.« Das hieß, sie mussten auch noch einen Umweg gehen. Das konnte ja heiter werden. Ohne ein weiteres Wort führte Hannah Sophie in die Wäscheabteilung. Sie wechselte ein paar Worte mit der zuständigen Dame, die wenig später mit einem Kittel und einer Hose wiederkam.

»Probieren Sie das mal an«, forderte sie Sophie auf und zeigte ihr den Weg in die Umkleidekabine.

Es dauerte einige Minuten, bis Sophies Stimme durch die verschlossene Tür drang. »Mit dieser Hose komme ich auf keinen Fall raus. Das sieht ja schrecklich aus.«

Hannah konnte diese Reaktion verstehen. Diese Hosen mit den Gummizügen waren wirklich alles andere als schön. Aber das war unwichtig. »Wir machen hier keine Modenschau. Ich muss an die Arbeit. Also beeil dich«, forderte Hannah in scharfem Tonfall.

Grummelnd öffnete Sophie die Tür und trat hinaus.

»Geht doch.« Hannah betrachtete Sophie. Die unvorteilhafte Hose tat ihrer Attraktivität keinen Abbruch.

»Das sieht fürchterlich aus.« Sophies Blick haftete am Boden.

Erstmals hatte Hannah das Gefühl, einen Hauch von Selbstunsicherheit in Sophies Gesicht zu bemerken.

»Unsinn. Lass uns mal gehen.«

Sophie versuchte, mit Hannahs schnellen Schritten mitzuhalten, hatte aber ihre Mühe. Hannah flog beinahe durch die Gänge. »Rennst du immer so?«, keuchte Sophie.

Hannah verlangsamte ihr Tempo. »Entschuldige. Im Krankenhaus habe ich es irgendwie immer eilig.«

Sie waren an der Notaufnahme angekommen. Hannah betätigte den Türöffner und die schwere Eisentür, hinter der sich die Notaufnahme befand, schwang auf.

»Hereinspaziert.« Kaum hatten sie die Tür passiert, ertönte ein Klingeln, das ihren Besuch ankündigte.

Sophie sah sich um. Direkt hinter der Tür befand sich eine Anmeldung. Die Frau, die etwas in ihren PC tippte, grüßte die beiden, ohne hochzusehen.

»Hier können sich die Patienten melden, die von allein in die NFA kommen oder von ihrem Hausarzt geschickt werden«, erklärte Hannah. »Also alle Patienten, die noch selbst laufen können.«

»NFA?« Sophie hatte schon gehört, dass es im Krankenhaus für alles eine Abkürzung gab und sich vorgenommen, immer direkt zu fragen, wenn sie etwas nicht verstand.

»Notfallaufnahme.« Hannah verdrehte die Augen. Das war ja nun wirklich logisch.

Sophie nickte. »Ah, okay.«

»Die Tür daneben führt in den Wartebereich. In dieser Notaufnahme gibt es sowohl chirurgische, neurologische als auch internistische Patienten. Die internistischen Patienten sind die, um die ich mich kümmere.«

»Hm«, war alles, was Sophie von sich gab.

Um Sophie zu verdeutlichen, was das bedeutete, fügte Hannah noch hinzu: »Wir haben Patienten mit Lungen- oder Herzkrankheiten, mit Diabetes, mit irgendwelchen Erkrankungen im Bauchraum und noch viel mehr. Ich denke, du kannst hier viel sehen.«

»Bestimmt nicht so viel wie bei den Chirurgen«, fuhr Sophie Hannah unvermittelt an.

»Dann geh doch zu den Chirurgen. Ich habe auch ohne dich genug zu tun«, pampte Hannah zurück.

»Das wollte ich auch. Aber der dortige Chef war dagegen. Stattdessen bin ich bei euch gelandet.« Für Sophie klang das deutlich weniger spannend und aufregend.

»Schade«, zischte Hannah. Ihr Gesicht verdunkelte sich. Was bildete sich diese Journalistin denn ein?

»Guten Morgen, Hannah.« Eine zierliche Frau stand plötzlich neben ihnen.

»Das ist Laura. Sie ist hier Krankenschwester«, stellte Hannah die Frau Sophie vor.

»Angenehm. Ich bin Sophie Benecke und arbeite beim Blickpunkt. Ich mache hier eine Reportage«, übernahm Sophie ihre eigene Vorstellung.

»Sie hat noch vergessen zu erwähnen, dass sie lieber bei den Chirurgen statt bei mir wäre«, konnte Hannah sich einen erneuten Seitenhieb nicht verkneifen.

»Glauben Sie mir, mit Hannah haben Sie es deutlich besser getroffen als mit jedem der Chirurgen hier.« Laura konnte ein Kichern nicht zurückhalten. »Hannah ist wenigstens höflich und charmant.«

»Davon habe ich noch nichts gemerkt.« Sophies Augen verengten sich zu einem bedrohlich engen Spalt.

»Ich sehe, ihr habt viel Spaß miteinander. Dann will ich mal lieber nicht weiter stören.« Laura gab Hannah einen aufmunternden Klaps auf die Schulter, bevor sie im Wartezimmer verschwand.

»Wir können das hier auch bleibenlassen. Wie gesagt, ich kann mich auch ohne dich gut beschäftigen.« Hannah stemmte ihre Hände in die Hüften.

Sophie rieb über ihren Nasenrücken. »Tut mir leid. So war das nicht gemeint«, entschuldigte sie sich.

Hannah seufzte. »In Ordnung. Vielleicht sollten wir einfach erst einmal einen Kaffee trinken. Komm, ich zeig dir unseren Aufenthaltsraum.«

Sie bogen um eine Ecke und folgten dem Duft von frischem Kaffee, der sich bereits im Flur ausgebreitet hatte.

Hannah öffnete die Tür. Es war niemand dort. »Hier gibt es immer Kaffee, natürlich auch Wasser. Und wenn man Glück hat, stehen hier auch ein paar Plätzchen oder Süßigkeiten. Nimm Platz.«

Um einen großen Tisch herum standen zahlreiche Stühle. Sophie setzte sich direkt neben die Tür.

Hannah nahm zwei Tassen aus einem Schrank und schenkte Kaffee ein. »Milch oder Zucker?«

»Ein bisschen Milch, bitte.«

Kurz darauf stellte Hannah die dampfende Tasse vor Sophie ab und nahm neben ihr Platz. »Jetzt erzähl mir doch erst einmal genauer, was du vorhast. Dann weiß ich, was ich dir zeigen kann.«

Sophie nippte an ihrer Tasse und verbrannte sich prompt die Zunge. »Aua. Heiß«, fluchte sie.

»Verbrennungen behandeln wir auch, kein Problem.« Erstmals war Hannah tatsächlich nach einem ernstgemeinten Lächeln zumute.

Sophie verzog kurz das Gesicht, ehe sie fortfuhr: »Also, wie schon erwähnt, ich arbeite als Journalistin beim Blickpunkt in Essen. Vielleicht kennst du uns.«

Hannah nickte. »Ja, ich glaube schon. Das ist so ein Magazin, was einmal in der Woche erscheint, oder?«

»Ganz genau. Überregional«, ergänzte Sophie, nicht ohne Stolz in ihrer Stimme. »Schon ein recht großes Blatt. Jedenfalls arbeite ich normalerweise im Kulturressort. Aber . . .« Sie machte eine kleine Pause. »Ein Kollege von mir ist längerfristig krank geworden und wir brauchten jemanden, der so lange in der Gesundheit aushilft. Rate, auf wen die Wahl gefallen ist!«

»Verstehe.« Hannahs Finger trommelten auf die Tischplatte. »Nicht nur, dass das mit den Chirurgen nicht geklappt hat, eigentlich ist das nicht einmal dein Ressort. Kein Wunder, dass du so lustlos bist.«

»Bin ich gar nicht!«, protestierte Sophie. Sie verschränkte ihre Hände ineinander. »Gut, vielleicht ein kleines bisschen«, gab sie schließlich zu.

»Und über was willst du jetzt schreiben?«, fragte Hannah weiter.

»Mehr oder weniger einfach über den Alltag in einer deutschen Notaufnahme. Nichts Bestimmtes. Wir wollen den Lesern zeigen, wie es im Krankenhaus so zugeht.«

»Dann erzähl ich dir am besten erst einmal ein bisschen von unserem normalen Ablauf hier.«

Sophie holte einen Notizblock aus ihrer Kitteltasche. »Gern.« Ihr Kugelschreiber klickte.

»Wie du bereits gemerkt hast, ist um sieben Uhr dreißig unsere Frühbesprechung. Danach komme ich normalerweise hierher. Manchmal sind noch Patienten übrig aus der Nacht, oft ist aber erst mal nichts zu tun. Dann gehe ich einen Kaffee trinken, denn wenn die ersten Patienten kommen, ist es mit der Ruhe für die nächsten Stunden vorbei. Eigentlich kann man fast die Uhr danach stellen, so um neun geht es los.«

Sophie notierte eifrig alles, was Hannah ihr erzählte. »Und dann?«

»Tja, das kommt drauf an, was die Patienten haben und wie sie hierherkommen. Manche kommen mit dem Notarzt, dann ist es meist ernster und muss schneller gehen. Manche werden von ihrem Hausarzt eingewiesen, andere kommen von allein. Meist kommt erst jemand von der Pflege oder der Zivi und schreibt schon mal ein EKG. Dann komme ich, lege einen Zugang und nehme Blut ab.«

»Zugang?« Sophie sah Hannah fragend an. Sie unterstrich das Wort.

»Okay, mit dem Gesundheitsressort hattest du wohl vorher wirklich nichts zu tun.« Hannahs Mund verzog sich zu einer Grimasse. »Ein Zugang ist die berühmte Nadel, die man in den Arm bekommt, über die dann die Infusionen laufen. Nur dass in Wahrheit ein Plastikschlauch im Gefäß bleibt und natürlich keine Nadel mehr.«

»Ja, das kenne ich.« Sophie nickte.

Hannah erzählte noch ein bisschen mehr. »Aber du wirst das ohnehin alles in den nächsten Tagen sehen«, schloss sie ihre Erklärungen ab.

Sophie fuhr sich durch ihre blonden Haare. »Klingt alles ganz schön kompliziert.«

Hannah machte eine wegwerfende Handbewegung. »Keine Sorge. Das wird schon. Du kannst mich gern jederzeit fragen. Wie lange bleibst du überhaupt?« Hannah biss sich auf die Unterlippe. Zwar schien Sophie doch nicht so schlimm zu sein, wie sie am Anfang befürchtet hatte, doch sie hatte trotzdem keine große Lust, sie wochenlang mit sich herumzuschleppen.

»Nur drei Tage. Ich hoffe, die Zeit reicht aus.« Sophie nahm einen Schluck aus ihrer Kaffeetasse. Mittlerweile war der Kaffee kalt.

»Wo kommst du eigentlich her? Du hast einen norddeutschen Akzent, oder?« Schon als sie das erste Mal mit Sophie gesprochen hatte, hatte sie bemerkt, dass Sophie auf keinen Fall im Ruhrgebiet aufgewachsen war.

»Stimmt. Ich komme aus Hamburg.«

In diesem Moment klingelte Hannahs Telefon. Sie wechselte ein paar Worte. »So, ich fürchte, den Rest unseres Gesprächs müssen wir vertagen. Da ist eben eine Patientin für uns gekommen.

Hannah verließ den Aufenthaltsraum und Sophie folgte ihr. Ihr Herz klopfte schneller. Nun ging es also los. Trotz Hannahs Ausführungen hatte sie keine Ahnung, was sie in der Realität erwarten würde.

»Ich habe hier eine neunundfünfzigjährige Frau mit Dyspnoe für dich.« Laura, die fast einen Kopf kleiner war als Hannah, überreichte ihr einen Stapel Papier. »Lars schreibt gerade das EKG. Labor habe ich dir so weit gestellt. D-Dimere habe ich auch angekreuzt. Die Sättigung beträgt zweiundneunzig Prozent. Soll ich ihr schon Sauerstoff geben und eine BGA machen?«

Sophie verstand nur Bahnhof. Sie notierte sich alles, was sie später nachfragen wollte.

»Ja, mach das bitte. Erst mal zwei Liter.« Hannah ließ ihren Blick über die erste Seite schweifen. Offensichtlich war die Patientin von zu Hause gekommen. »Danke, Laura.« Sie drehte sich zu Sophie um. »Komm mit, dann erklär ich dir alles.«

Die beiden gingen in den Untersuchungsraum. Hinter einem Vorhang sprach ein junger Mann mit einer Frau. »Das ist Lars, unser Zivi. Er leitet gerade ein EKG bei unserer Patientin ab. Daran könnten wir beispielsweise sehen, ob ein Herzinfarkt oder Herzrhythmusstörungen für die Luftnot verantwortlich sind.« Hannah flüsterte, damit die Patientin die beunruhigenden Worte nicht hörte. »Wenn er fertig ist, gehen wir zu ihr und unterhalten uns mit ihr. Und dann nehme ich ihr das Blut ab. Auch hier können wir Parameter bestimmen, die auf einen Herzinfarkt hinweisen können, und noch einen anderen Wert, der vielleicht für eine Lungenembolie sprechen würde.«

Sophie machte große Augen. Das war ganz schön viel, was Hannah ihr da alles erklärte. Das würde sie sich niemals merken können.

Lars kam aus der Kabine und überreichte Hannah ein Stück Papier mit für Sophie wirr aussehenden Zacken.

»Alles bestens«, befundete Hannah nach wenigen Sekunden mit einem geübten Blick das EKG. »Ich werde Frau Sicking fragen, ob es in Ordnung ist, wenn du mitkommst. Warte bitte so lange hier.« Hannah verschwand hinter dem Vorhang. Sie erklärte der Patientin kurz, wer Sophie war und was sie hier machte. Die Patientin gab ohne Zögern ihre Zustimmung.

»Sophie, du kannst kommen.«

Um Selbstsicherheit bemüht, trat Sophie in die Kabine. »Hallo. Benecke«, begrüßte sie die Patientin.

»Frau Sicking, dann erzählen Sie uns doch mal, was Sie ins Krankenhaus geführt hat.«

Die Patientin berichtete in allen Einzelheiten, was vorgefallen war. Immer wieder unterbrach Hannah ihre Ausführungen und stellte Nachfragen. Nebenbei nahm sie der Patientin noch Blut ab und legte den Zugang.

»In Ordnung. Dann ziehen Sie sich bitte aus, damit ich Sie untersuchen kann.« Hannah holte ihr Stethoskop aus ihrer Kitteltasche und hörte damit Herz und Lunge ab. Sie sah der Patientin in den Mund, tastete ihren Bauch ab. Klopfte hier und da, drückte hier und dort.

Sophie beobachtete jeden Handgriff ganz genau. Es sah sehr professionell aus, was Hannah machte. Sie hätte sich bei ihr in guten Händen gefühlt. Hannah strahlte sehr viel Kompetenz aus. Sophie hätte ihr als Patientin bedingungslos vertraut.

»Jetzt nimmt Ihnen die Schwester noch einen Tropfen Blut aus dem Ohr ab. Daran können wir sehen, wie viel Sauerstoff und Kohlenstoffdioxid in Ihrem Blut sind.«

Wie gerufen stand Laura plötzlich im Raum.

»Und wir gehen das jetzt mal alles aufschreiben«, sagte Hannah und verschwand wieder durch den Vorhang.

Kurze Zeit später war Sophie mehr als nur erstaunt, dass Hannah sich das alles hatte merken können, was die Patientin ihr erzählt hatte. Das war nicht wenig gewesen.

Als hätte Hannah Sophies Gedanken erraten, meinte sie: »Ich muss nur das Wichtigste herausfiltern und aufschreiben. Die meisten Patienten erzählen einem viel zu viel und völlig Unwichtiges. Es ist schon eine kleine Kunst, sie in die richtige Richtung zu lenken. Meist hat man nach wenigen Worten, manchmal auch schon vorher eine bestimmte Verdachtsdiagnose, und die kann ich durch eine gezielte Anamnese überprüfen oder verwerfen. Die Untersuchung gibt dann oft einen weiteren entscheidenden Hinweis.«

Sophie nickte. Wenn Hannah das sagte, würde es schon stimmen.

»Hannah?« Laura rief durch die gesamte Notaufnahme.

»Hier!«, meldete sich Hannah, und kurz darauf stand Laura vor ihr.

»Gleich kommt der Notarzt mit einem Patienten für dich. Brustschmerzen. Mehr weiß ich noch nicht.« Kaum hatte sie zu Ende gesprochen, kündigte das Klingeln schon den Besuch an.

Gemeinsam mit zwei Rettungsassistentinnen schob der Notarzt einen Mann auf einer Trage in die Notaufnahme. Laura und Hannah empfingen ihn.

»Was habt ihr uns denn hier gebracht?«, begrüßte Hannah den Notarzt, mit dem sie schon oft zusammengearbeitet hatte.

»Hallo Hannah, das hier ist Herr Willecke. Dreiundsechzig Jahre. Ausstrahlende Brustschmerzen seit einer Stunde. Bekannte Angina pectoris. Sonst keine Vorerkrankungen. Unser EKG war unauffällig. Er hat trotzdem das gesamte Herzinfarktprogramm bekommen. Zwei Hub Nitro. Darunter keine wesentliche Besserung. Fünftausend Einheiten Heparin. Fünfhundert Aspisol. Betablocker, Morphium und Sauerstoff. Die Dosierungen habe ich aufgeschrieben. Der Druck war in Ordnung.«

Hannah nahm das Protokoll vom Notarzt entgegen. »Alles klar. Danke.«

»Wo sollen wir hin?« Die kleinere der beiden Rettungsassistentinnen sah Laura fragend an.

Sie musste neu sein. Hannah hatte sie vorher noch nie gesehen.

»Kabine eins ist frei«, sagte Laura und half kurz darauf der Rettungsassistentin, den Patienten auf der Trage in den Raum zu schieben und dann umzulagern. Auch Laura war die Neue sofort aufgefallen. Mit ihren kurzen braunen Haaren und ihrer kräftigen Figur wirkte sie ein wenig burschikos.

Sophie beobachtete das Geschehen lieber aus sicherer Entfernung. Nicht, dass irgendjemand sie für eine Verantwortliche hielt, nur weil sie einen weißen Kittel trug.

»Willst du nicht mitkommen?« Ein sanfter Stoß gegen den Rücken riss Sophie aus ihren Gedanken. Es war Hannah gewesen, die für einen kurzen Augenblick mit ihrer Hand ihren Rücken berührt hatte.

»Ähm, doch . . .«, stotterte Sophie. Was war denn plötzlich los mit ihr? Ihre Wangen röteten sich.

Hannah lächelte Sophie zu. Irgendwie war sie schon süß, vor allem, wenn sie unsicher wirkte.

Im Prinzip passierte mit dem Patienten das Gleiche wie zuvor mit der anderen Patientin. Hannah befragte und untersuchte ihn. Sie studierte das EKG und nahm Blut ab. Es ging nur alles etwas schneller. Sophie konnte den Abläufen lediglich bedingt folgen, und Hannah hatte keine Zeit, ihr alles detailliert zu erklären.

»Der Patient geht gleich ins Katheterlabor und dann gucken sich unsere Kardiologen die Herzkranzgefäße an«, verkündete Hannah schließlich an Sophie gewandt. »Im Labor haben sich deutliche Hinweise auf einen Herzinfarkt gezeigt, auch wenn das EKG noch normal war.« Sie strich ihren Kittel glatt. »Und das Labor und die Blutgasanalyse von Frau Sicking sind auch da. Sie bekommt gleich eine Computertomographie der Lunge. Ich glaube nämlich, sie hat eine kleine Lungenembolie. Zumindest sprechen alle bisherigen Ergebnisse dafür. Das müssen wir überprüfen.« Hannah unterschrieb einen Röntgenschein für Frau Sicking. »Kannst du noch folgen?«

Sophie zuckte mit den Schultern. »Wenn ich ehrlich bin, nicht so richtig.«

Das hatte Hannah erwartet, und es tat ihr fast ein wenig leid, aber in all dem Trubel konnte sie Sophie nicht mehr erzählen. Das musste warten, bis wieder etwas Ruhe herrschte.

»Ich habe noch etwas für dich.« Laura hielt Hannah erneut einen Zettel unter die Nase. »Eingewiesen vom Hausarzt. Neu aufgetretenes Vorhofflimmern.«

Hannah seufzte. »Heute nimmt es wohl gar kein Ende.« Sie nahm das Blatt entgegen. »Frau Sicking geht jetzt ins CT. Den Röntgenschein habe ich ausgefüllt, und die Radiologen wissen Bescheid. Ich habe bereits Nathalie gebeten, sie ins CT zu bringen.«

»Wie immer perfekt organisiert.« Laura zwinkerte Hannah zu. »Ich bin es nicht anders gewohnt.« Ihre warmen braunen Augen strahlten Hannah fröhlich entgegen.

»Du hast mich eben gut erzogen.«

»Was hältst du von Mittagessen?« Hannah hielt sich den Bauch. Es war den gesamten Vormittag so geschäftig weitergegangen. Die Lungenembolie bei Frau Sicking hatte sich im CT bestätigt. Sie hatten noch den Patienten mit dem Vorhofflimmern aufgenommen, bei einer Patientin einen Diabetes mellitus festgestellt, einen Patienten mit unklarem Fieber gesehen und schließlich eine junge Dame, die hyperventiliert hatte, wieder nach Hause geschickt. »Ich verhungere gleich, und diese Ruhe vor dem Sturm müssen wir nutzen.«

Sophie hatte gar nicht bemerkt, wie schnell die Zeit vergangen war. »Sehr gern«, stimmte sie dem Vorschlag zu. Sie hatte bereits viel gesehen und einen guten Eindruck davon bekommen, wie es in der Notaufnahme zuging. Die Abläufe waren sehr standardisiert. Es wiederholte sich alles. Und ganz so langweilig, wie sie es sich vorgestellt hatte, war es doch nicht gewesen. Es waren zwar keine blutüberströmten Unfallopfer mit Knochenbrüchen gekommen, aber spannend war es trotzdem.

Laura tippte Hannah auf die Schulter. »Hast du einen kleinen Moment Zeit?«

»Eigentlich wollten wir gerade essen gehen.«

»Es geht auch schnell, ich brauche deinen fachmännischen Rat.«

Dem Funkeln in Lauras Augen konnte Hannah entnehmen, dass es nicht um die Medizin ging. Hannah lächelte. »Also gut. Was kann ich für dich tun?«

Laura beugte sich dicht zu Hannah. Eine Strähne ihrer langen braunen Haare, die sich aus ihrer Hochsteckfrisur gelöst hatte, kitzelte Hannahs Wange. »Hast du diese süße Rettungsassistentin vorhin bemerkt? Die sah wirklich umwerfend aus. Fandest du nicht auch?«, flüsterte sie Hannah ins Ohr.

Hannah konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. »Mein Typ ist sie jetzt nicht. Aber schlecht sah sie wirklich nicht aus.«

»Vielleicht sollte ich versuchen, sie näher kennenzulernen. Meine letzte Beziehung . . .« Laura seufzte.

Hannah klopfte ihr auf die Schulter. »Du hast recht. Die ist schon viel zu lange her. Das ist eine gute Idee. Und halt mich auf dem Laufenden.«

Sophie konnte nur ein paar Fetzen verstehen. Doch sie war sich sicher, dass es dabei um eine Frau ging.

»Entschuldige die Verzögerung. Es kann losgehen«, wandte sich Hannah schließlich wieder an Sophie.

Sophie folgte Hannah. Sie mussten die Treppe aus dem Keller nehmen, um zur Mitarbeiterkantine zu gelangen.

»Das duftet ja mal wieder herrlich«, kommentierte Hannah die herannahende Duftwolke aus altem Fett. Sie verdrehte die Augen. »Es gibt Pommes.«

Hannah zeigte Sophie, wo sie die Speisekarte fand, wo Tabletts und Geschirr standen und wo es das Essen gab.

Mit zwei randvoll gefüllten Tellern suchten sie sich einen Tisch und fanden schließlich sogar noch einen freien Platz auf dem Balkon. So konnten sie sogar die Sonnenstrahlen genießen. Hannah zog ihren Kittel aus, bevor sie sich setzte. Was für ein herrlicher Tag.

Sophie folgte ihrem Beispiel und entledigte sich ebenfalls ihres Kittels.

Unwillkürlich glitt Hannahs Blick an Sophies hautengem blauen Top entlang, das ihre Vorzüge mehr als deutlich zur Geltung brachte. Hannah räusperte sich. So genau sollte sie sich Sophie besser nicht ansehen. Sie senkte ihren Kopf, um sich stattdessen ihrem Essen zu widmen. »Sie könnten ruhig an der Menge sparen und dafür die Qualität verbessern.« Hannah stocherte in ihren Nudeln mit Tomatensoße herum. »Das schmeckt immer alles gleich. Und vor allem salzig.«

Sophie nahm eine Kostprobe. Sie hatte sich ebenfalls für die Nudeln entschieden. »Na ja, wenn ich koche, ist es schlimmer.« Sie grinste und entlockte Hannah so ebenfalls ein Grinsen. Mit ihren zu einem Pferdeschwanz gebundenen schwarzen Haaren sah Hannah ein wenig streng aus. Ein Lächeln stand ihr deutlich besser und ließ sie weniger verbissen wirken. »Du und Laura, ihr kennt euch aber gut, oder?« Sophie hatte sich den ganzen Weg zur Kantine gefragt, ob die beiden wohl befreundet waren, so vertraut, wie sie miteinander umgingen. Nun konnte sie ihre Neugierde nicht länger im Zaum halten. Außerdem interessierte sie brennend, worüber sie getuschelt hatten. Das war wohl ihr journalistisches Gen.

»Das kann man so sagen.« Wie gut sie sich wirklich kannten, das wollte Hannah Sophie nicht verraten. »Wir sind gute Freundinnen.« Hannahs Finger fuhren über ihr Schlüsselbein.

Den leicht geröteten Wangen und deiner Verlegenheit nach, ward ihr aber nicht immer nur Freundinnen, dachte Sophie, sprach es aber nicht aus. Sie schob sich eine weitere Gabel Nudeln in den Mund. Dabei suchte sich ein kleiner Soßenspritzer seinen Platz auf Sophies Nase.

»Du hast da etwas«, machte Hannah Sophie darauf aufmerksam, indem sie auf ihre eigene Nasenspitze tippte.

Sophie wischte den Fleck weg. Hannah fand, dass sie im Gegensatz zu sich selbst eine schöne, kleine Nase hatte.

»Besser?«

Hannah nickte. »Und jetzt erzähl mir noch einmal, wo du herkommst und was dich ins Ruhrgebiet verschlagen hat. Hoffentlich werden wir dieses Mal nicht unterbrochen.«

»Wie gesagt, ich bin in Hamburg geboren und auch dort aufgewachsen. Ich habe sogar in Hamburg studiert. Aber irgendwann fehlte mir dort die Perspektive. Da kam ein unwiderstehliches Angebot vom ‚Blickpunkt‘, das ich nicht ablehnen konnte. Dass ich dafür nach Essen ziehen musste, habe ich gern in Kauf genommen. Das war vor zwei Jahren. Und du?«

Erst jetzt fielen Hannah Sophies strahlend grüne Augen auf. Für einen Moment vergaß sie zu antworten. Sie liebte Grün.

»Bist du hier geboren?«, hakte Sophie noch einmal nach, als Hannah keine Anstalten machte, etwas zu sagen.

»Nein.« Hannah schüttelte den Kopf. Nicht, um ihrer Antwort Nachdruck zu verleihen, sondern um die Gedanken an diese wunderschönen Augen zu vertreiben. Sie holte einmal tief Luft. »Ich bin in Duisburg geboren und aufgewachsen. Zum Studium bin ich dann nach Bochum gegangen und irgendwie hier hängen geblieben. Es gibt hier so viel zu entdecken.«

Sophie runzelte die Stirn. »Das ist mir bis jetzt nicht wirklich aufgefallen. Ich finde es hier eher eintönig.«

»Dann hast du dir noch nicht das Richtige angesehen.« Die Sonnenstrahlen brannten auf Hannahs Haut. Es war beinahe unerträglich heiß. Die wenigen Bäume, die um das Krankenhaus herumgepflanzt waren, spendeten kaum Schatten.

»Daran könnte es liegen. Um ehrlich zu sein, ich habe mir bisher fast nichts angesehen.«

»Zwei Jahre Ruhrgebiet, und du hast dir nichts angesehen?« Hannah konnte das kaum glauben.

Sophie zuckte mit den Schultern. »Irgendwie nicht. Entweder war ich arbeiten oder in Hamburg. Oder . . .« Sie stockte. »Ach . . .« Sie machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ist auch egal.«

Mittlerweile waren sie satt, auch wenn die Teller so aussahen, als hätten die beiden sie kaum angerührt. Ein Blick auf die Armbanduhr verriet Hannah, dass es an der Zeit war, zurück in die Notaufnahme zu gehen. »Ich glaube, wir müssen weiterarbeiten.«

»Ist es in Ordnung für dich, wenn ich schon in die Redaktion fahre? Ich habe dort noch einiges zu erledigen.« Sophie kratzte den letzten Löffel Schokoladenpudding aus ihrem Schälchen.

»Selbstverständlich. Ich kenne den Alltag in der Notaufnahme schon.« Sie schenkte Sophie ihr schönstes Lächeln. Wenn sie ehrlich war, war sie sogar ein bisschen traurig, den Rest des Tages allein verbringen zu müssen. Auch wenn sie sich das heute Morgen kaum hätte vorstellen können. Sophie war wirklich nett. Mehr als nur nett . . .

»Wo kann ich mich denn umziehen?«

Hannah zeigte Sophie auf dem Weg zurück die Personalumkleide der Notaufnahme und schloss ihr auf. »Wenn du fertig bist, zieh die Tür einfach zu. Wir können uns morgen um zwanzig nach sieben hier treffen. Dann sind wir pünktlich bei der Frühbesprechung.«

~*~*~*~

Außer Atem kam Sophie an der Umkleide an. Heute war bereits ihr dritter und letzter Tag. Auch gestern hatte es ihr viel Spaß gemacht. Hannah hatte ihr alles Mögliche gezeigt und erklärt, obwohl wieder viel los gewesen war. Sie hatte sich zwischendurch immer Zeit für Sophie genommen. Es war schon ein bisschen schade, dass die Stunden so schnell vergangen waren.

Sophie klopfte an die Tür. Sie war einige Minuten zu spät und hoffte, dass Hannah noch dort war und nicht bereits im Frühbesprechungsraum.

Die Tür öffnete sich. »Guten Morgen.« Hannah strahlte ihr entgegen. Sie war bereits vollständig umgezogen.

»Entschuldige. Es war so viel los unterwegs.« Sophie drängte sich an Hannah vorbei in die Umkleide.

Erst jetzt bemerkte Hannah den Fahrradhelm, der an Sophies Arm hing. »Bist du von Essen mit dem Rad nach Bochum gekommen?« Ungläubig starrte sie Sophie an. Das waren gut und gern zwanzig Kilometer. Diese Distanz hätte Hannah niemals auf zwei Rädern zurückgelegt, und erst recht nicht am frühen Morgen.

»Natürlich. Ich fahre fast überall mit meinem Fahrrad hin. Was gibt es Schöneres, als sich morgens zu bewegen? Und bei diesem Sommerwetter. Das muss man nutzen!« Sophie knöpfte ihre Jeans auf und ließ sie zu Boden gleiten, als wäre es das Normalste der Welt.

Hannahs Blick fiel unvermittelt auf Sophies schöne Beine und die makellose Haut. Sie musste schlucken. Alle guten Vorsätze, sich sofort umzudrehen und keinen fremden Frauen beim Umziehen zuzusehen, versandeten. Hannah konnte ihre Augen nicht von Sophie lösen. Sophies Oberschenkel waren sehr trainiert. Es stand ihr ausgezeichnet. Auch ihre Waden wirkten muskulös. Nicht übertrieben, sondern genau richtig. Das kam bestimmt vom Radfahren, folgerte Hannah.

Viel zu schnell streifte Sophie ihre Arbeitshose über. Dann schloss sie den Kittel. »Fertig. Wir können los.« Ihre Blicke trafen sich.

Hannah versuchte, tief durchzuatmen und so ihr klopfendes Herz zu beruhigen. Dass Sophie sie aber auch so aus der Ruhe bringen musste!

Nach der Frühbesprechung setzten sie sich wie bereits an den letzten Tagen in den Aufenthaltsraum, um gemeinsam einen Kaffee zu trinken.

»Mit Milch.« Hannah reichte Sophie eine Tasse.

Ein kleines Lächeln umspielte Sophies Lippen. Hannah hatte sich gemerkt, wie sie ihren Kaffee trank.

»Und hast du alles erfahren, was du wissen musst?« Hannah strich sich eine schwarze Haarsträhne aus der Stirn.

»Ich denke schon. Zur Not komme ich morgen noch einmal wieder.«

»Da musst du dich dann aber wem anders anschließen. Ich habe heute Dienst.« Hannah zog eine Grimasse.

»Dienst? Hast du nicht jeden Tag Dienst?« Offensichtlich waren drei Tage noch nicht genug gewesen, um alles im Krankenhaus zu verstehen.

Hannah nickte. »Natürlich. Aber mit ‚Dienst‘ meinen wir hier einen Vierundzwanzig-Stunden-Dienst. Also, ich muss die ganze Nacht hier bleiben, bis morgen früh. Irgendwer muss sich ja nachts um die Kranken kümmern. Und heute hat es mich getroffen.« Hannah seufzte. »Dafür habe ich danach frei. Deswegen bin ich morgen nicht hier.«

Sophie nahm einen Schluck aus ihrer Tasse. »Die ganze Nacht? Und was ist mit Schlafen?«

»Wenn ich Glück habe, kann ich mich zwischendurch hinlegen. Je nachdem, was so los ist.« Hannah deutete auf ihr Telefon, das sie vor sich auf den Tisch gelegt hatte. »Wenn es still bleibt, kann ich schlafen.«

»Bleibt bei so viel Arbeit eigentlich noch Zeit für Hobbys?« Sophie hob fragend eine Augenbraue.

»Na ja. Mit festen Terminen ist es schwierig. Aber ich gehe tanzen. In der Tanzschule. Glücklicherweise ist mein Tanzpartner recht flexibel, und so beschließen wir meistens spontan, wann wir zum Unterricht gehen.«

»Dein Tanzpartner?« Sophies Herz klopfte etwas schneller. Bisher hatte Hannah noch nie einen Mann erwähnt. Allerdings auch keine Freundin. Aber konnte ihr das nicht eigentlich vollkommen egal sein? Sie war schließlich nicht auf der Suche.

»Er heißt Jan. Wir sind seit der Schulzeit gute Freunde, und seitdem tanzen wir auch zusammen. Auf der Tanzfläche harmonieren wir perfekt. Im wirklichen Leben sind wir beide zu temperamentvoll, da gibt’s immer wieder Zoff zwischen uns.« Hannah zwinkerte Sophie vielsagend zu.

Aber Sophie wusste nicht, wie sie das deuten sollte. »Ich kann mir kaum vorstellen, dass du auf der Tanzfläche die Kontrolle abgeben kannst.« Zwar kannten sich die beiden kaum, aber Sophie hatte bisher den Eindruck gehabt, dass Hannah besonders in der Notaufnahme die unbedingte Kontrolle brauchte. Alles musste so laufen, wie sie sich das vorstellte. Sonst konnte sie sehr ungehalten werden.

Hannah lachte. »Man glaubt es kaum, ich weiß.«

Sophie zupfte an ihrem Ohrläppchen. »Entschuldige, wenn ich dir zu nahe getreten bin.« Manchmal war sie aber auch zu direkt und konnte ihren Mund nicht halten.

»Nein. Keine Sorge. Du hast ja recht.« Hannah band ihren Pferdeschwanz neu. »Ansonsten lese ich gern oder koche. Und was treibst du so, wenn du nicht arbeiten musst?«

»Sport. Ich fahre Rennrad oder gehe joggen.«

Das sieht man, dachte Hannah. Den Anblick von Sophies muskulösen Armen und Beinen hatte sie bereits genießen dürfen.

»Und wenn es sich ergibt, gehe ich ins Stadion zum Fußball«, fuhr Sophie fort.

Hannah verdrehte die Augen. »Fußball? Ich kann mir kaum etwas Langweiligeres vorstellen.«

»Langweilig? Warst du überhaupt schon mal im Stadion?«, protestierte Sophie.

Hannah verschränkte ihre Finger ineinander. »Nein, war ich nicht«, gab sie zu.

»Und das in einer Fußballmetropole wie dem Ruhrgebiet!« Sophie schüttelte den Kopf. »Das kann ich kaum glauben.«

Wieder war es das Klingeln des Telefons, das die Unterhaltung unterbrach.

»Wir haben Kundschaft. Ein Patient mit Verdacht auf eine Pneumonie«, erklärte Hannah, nachdem sie aufgelegt hatte.

»Pneumo. . . was?« Dass diese Ärzte aber auch ständig mit den merkwürdigsten Begriffen um sich werfen mussten, als wäre es das Normalste der Welt.

»Eine Lungenentzündung. Entschuldige. Du gehörst mittlerweile so sehr hierhin, dass ich manchmal vergesse, dass du von Medizin gar keine Ahnung hast.« Hannah zuckte mit den Schultern. »Dann wollen wir mal.«

Sie betraten die Kabine. Hannah stellte sich vor und begrüßte den fast sechzigjährigen Mann. »Herr Dietz, was führt Sie denn zu uns?«

»Ja, wenn ich dat mal wüsste! Irgendwie war ich so‘n bisschen tüddelich heute. Und dann musste ich die ganze Zeit husten. Und da hatte meine Frau auch schon nach‘em Arzt gerufen. Der hat gesacht, ich muss inne Notaufnahme – und jetzt bin ich hier.«

Sophie konnte ein Schmunzeln nicht unterdrücken. Das war ein absolutes Ruhrpott-Original, das vor ihnen saß.

»Dann wollen wir mal gucken«, erwiderte Hannah augenzwinkernd. Sie hatte Sophies Grinsen bemerkt.

»Ja, wenn Se dat sagen. Wissen Se, ich war die Tage mit meinen Enkeln im Schwimmbad. Ich glaub, da hab ich mir wat wechjeholt.«

Sophie biss auf ihre Unterlippe, um nicht loszuprusten. Sie hatte mittlerweile zwar schon viele Leute im Ruhrgebiet kennengelernt, aber manchmal amüsierte es sie dennoch, wenn jemand wie dieser Patient seinem Dialekt so freien Lauf ließ. Aber Hannah stand ihm in Nichts nach. Man merkte, dass sie hier aufgewachsen war. Während Sophie zwischendurch gar nicht verstand, was Herr Dietz ihnen mitteilen wollte, schien Hannah keinerlei Verständigungsprobleme zu haben.

»Möchtest du nicht langsam mal nach Hause gehen? Es ist schon nach fünf.« Hannah sah Sophie fragend an.

»Irgendwie kann ich mich nicht von der Notaufnahme trennen«, gestand Sophie. Auch wenn es nicht die ganze Wahrheit war. Ich kann mich nicht von dir trennen, dachte sie. Was war nur los mit ihr? Ohne Frage, Hannah war eine tolle Frau. Attraktiv, gebildet, charmant. Aber . . . Sophie drehte an ihrem Ring. Für den Bruchteil einer Sekunde blitzte Alinas Gesicht vor ihren Augen auf. Sophie schluckte.

»Meinetwegen kannst du die ganze Nacht bei mir bleiben und mir Gesellschaft leisten. Ich werde sowieso nicht viel zum Schlafen kommen«, unterbrach Hannah Sophies Überlegungen. Mit so einer wundervollen Frau verbringe ich gern die Nacht, ergänzte Hannah in Gedanken.

»Ich weiß nicht«, zögerte Sophie. Es wäre vernünftiger, einfach nach Hause zu gehen, den Artikel zu schreiben und Hannah ein für alle Mal zu vergessen. Es war doch zum Scheitern verurteilt. Außerdem war sie doch glücklich, so, wie es war.

»Du musst nicht. Es war nur ein Angebot.« Hannah lächelte sie an, während sie ihre Unterschrift unter einen Laborschein setzte und die bereits abgenommenen Blutproben dazulegte.

»Doch, ich würde gern bleiben«, beschloss Sophie. Warum sollte sie nicht? Was war schon dabei? Nur ein Abend unter Freundinnen. Mehr nicht. Kein Grund für ein schlechtes Gewissen. Und das konnte für ihre Recherche sicherlich interessant sein. »Ich muss nur noch einen Anruf erledigen.«

»Ich freue mich«, erklärte Hannah. Sie meinte es ernst. Mittlerweile konnte sie sich kaum mehr vorstellen, dass sie Sophie vor drei Tagen am liebsten noch verflucht hätte. »Aber jetzt müssen wir weitermachen. Es warten noch zwei Patienten auf uns.«

Sophie verschwand für einen Moment vor der Tür, um zu telefonieren.

Unterdessen widmete sich Hannah bereits einem älteren Mann.

»Guten Tag. Ich bin Frau Dr. Rehfeld, Ihre Ärztin. Was führt Sie denn zu uns?« Hannah schob sich einen Hocker zurecht und nahm Platz.

Der Mann erzählte von Unwohlsein und Bauchschmerzen.

Dann stieß Sophie wieder dazu.

»Darf ich Ihnen Frau Benecke vorstellen? Sie ist Journalistin und begleitet mich ein paar Tage.«

Der Mann versuchte, Sophie freundlich zuzunicken, aber auf seinem Gesicht zeichnete sich der Schmerz deutlich ab.

»Und was fällt dir an diesem Patienten auf?« Hannah suchte Sophies Blick.

Sophies Herz schlug schneller. Diesen schönen blauen Augen hatte sie eindeutig noch nicht genug Aufmerksamkeit geschenkt. Doch jetzt war nicht die richtige Gelegenheit. »Ähm . . .«, stottere sie. Sie spürte die Hitze in ihr aufsteigen, als wäre sie in einer Prüfung. So ein Unsinn. Sie sah sich den Patienten genauer an, aber ihr fiel nichts auf.

»Wie würdest du denn die Hautfarbe beschreiben?«, fragte Hannah weiter nach. Für sie war es eine reine Blickdiagnose. Wenn man das einmal gesehen hatte, vergaß man das nie wieder.

Erst jetzt bemerkte Sophie, dass der Patient ziemlich gelb wirkte. »Irgendwie sieht er gelb aus.« Sie zupfte an ihrem Ohrläppchen.

Hannah klatschte einmal kurz in die Hände. »Ganz genau. Er hat einen Ikterus, also eine Gelbfärbung der Haut. Zusammen mit den Beschwerden, die er schildert, würde ich auf einen Stein im Gallengang tippen. Choledocholithiasis auf schlau.« Sie verließ kurz die Kabine und schob wenig später ein Ultraschallgerät hinein. Dann schaltete sie das Gerät ein und gab etwas von dem Ultraschallgel auf den Schallkopf. »Steine im Gang kann man normalerweise mit dem Ultraschall nicht sehen, dafür braucht man eine spezielle Untersuchung. Aber wir können vielleicht Steine in der Gallenblase sehen, oder wir können sehen, dass der Gallengang erweitert ist«, fuhr sie fachmännisch fort. »Es wird gleich mal kalt«, warnte sie den Patienten vor, bevor sie auch eine Portion des Gels auf dem Patienten verteilte.

Sophie musste schmunzeln. In ihrem Eifer vergaß Hannah wohl manchmal, dass sie nur etwas über den Alltag in der Notaufnahme erfahren wollte und nicht Medizin studierte. Aber es war niedlich, dass sie sich so bemühte.

Während Hannah mit zusammengekniffenen Augen auf den Monitor starrte und versuchte, in den schwarzweißen Bildern etwas zu erkennen, studierte Sophie sie genauer.

Hannah war ein ganzes Stückchen größer als sie. Die hohen Wangenknochen verliehen ihrem schmalen Gesicht ein markantes Profil. Auch wenn sie noch nicht über ihr Alter gesprochen hatten, so schätzte Sophie doch, dass sie in etwa gleich alt waren. Älter als dreißig war Hannah auf keinen Fall. Sie hatte eine sehr gute Figur. Ihre Rundungen waren nicht allzu üppig, dafür war ihre Haltung einzigartig. Das kam sicherlich vom Tanzen. Sie wirkte sehr graziös und elegant. Sophie musste sich immer wieder ermahnen, ihren Rücken gerade zu halten, bei Hannah sah das hingegen ganz mühelos aus. Wenn Hannah so vertieft in ihre Arbeit war, wirkte sie noch schöner.

»Siehst du hier die Steine?« Hannah riss Sophie aus ihren Gedanken. Mit ihrem Finger zeigte sie auf den Bildschirm.

Sophie konnte nicht wirklich etwas erkennen. »Na ja . . .«

»Dieses Helle hier, das sind Steine in der Gallenblase, und dahinter ist es dunkel, weil der Schall durch die Steine nicht durchdringt. Das ist also quasi der Schatten.«

Sophie nickte, auch wenn sie nicht ganz genau verstand, was Hannah ihr erklärte.

Hannah schaltete das Gerät wieder aus und teilte dem Patienten den Befund mit.

Nachdem sie mit diesem und auch dem nächsten Patienten fertig waren, hielt Hannah es für eine gute Idee, über das Abendessen nachzudenken. »Meistens bestelle ich mir eine Pizza oder so was, wenn ich Dienst habe. Wenn du Lust hast, könnten wir das heute auch so machen. Was meinst du?« Hannah und Sophie waren auf dem Weg in den Aufenthaltsraum.

»Pizza klingt immer gut.«

Aber sie kamen nicht dazu, weiter darüber zu reden, denn Hannahs Telefon klingelte erneut. »Verfluchtes Teil. Es klingelt immer im falschen Augenblick. Hier hat man auch niemals seine Ruhe.« Sie mussten zurück in die Notaufnahme, der nächste Patient wartete bereits.

So ging es eine ganze Weile weiter. Hannah blieb zwischendurch kaum Zeit, Luft zu holen.

Sophie hatte mittlerweile die Abläufe verstanden und konnte meistens bereits Hannahs nächste Schritte vorhersagen. Statt sich auf die Patienten zu konzentrieren, verlor sie sich immer wieder in dem dunklen Blau von Hannahs Augen. Sophie wusste selbst nicht, was mit ihr los war. Es war keine gute Zeit, sich zu verlieben. Besser gesagt, sie durfte sich nicht verlieben. Sophie biss auf ihre Unterlippe. Nein, es gab überhaupt keinen Grund dazu. Sie war schließlich glücklich.

»Ich glaube, jetzt können wir uns endlich etwas bestellen. Ich verhungere schon.« Hannah holte Sophie in die Realität zurück.

Auch Sophie bemerkte ein Knurren in ihrer Magengegend.

»Außerdem müssen wir uns beeilen. Um halb elf macht die Pizzeria zu. Ich hoffe, du brauchst nicht allzu lange, um dich zu entscheiden.« Hannah zwinkerte Sophie zu.

»Keine Sorge. Ich bin sehr entscheidungsfreudig. Und ich esse sowieso am liebsten Salamipizza.«

Im Aufenthaltsraum nahm Hannah den Prospekt der Pizzeria, wählte die Telefonnummer und gab ihre Bestellung auf.

Sophie schenkte sich ein Glas Wasser ein. »Möchtest du auch?«