Roman
Originalausgabe:
© 2011
ePUB-Edition:
© 2013
édition el!es
www.elles.de
info@elles.de
Alle Rechte vorbehalten.
ISBN 978-3-95609-039-4
Coverillustrationen:
© Loraliu, ysk_hrsw_i – Fotolia.com
Ich liebe den Herbst. Auch wenn ich immer wieder mit dieser Meinung gegen den Strom schwamm. Während ich frohlockend die warmen Sachen aus meinem Kleiderschrank suchte, fluchten meine Mitmenschen über das Wetter, die dunkler werdenden Tage und das Laub, das von den Bäumen fiel. Meine Nachbarin begann schon jeden Morgen das Laub aus der Einfahrt zu fegen, als wäre es ihr ganz persönlicher Todfeind. Und ich war glücklich und genoss jeden einzelnen Tag, den ich mit Nektar im Sternwald verbrachte. Der Duft der frischen Erde im Wald und die bunten Blätter, die den Boden wie ein knisternder Teppich bedeckten. Es erinnerte mich immer an früher, an damals. Meine Mutter hatte es mir vorgelebt, obwohl mein Vater zeitweise kurz vorm Wahnsinn gestanden hatte, wenn wir mit dreckigen Schuhen und unzähligen Mitbringseln aus der Natur durch unser Haus gestapft waren. Und dann hatten wir unsere Schätze auf dem Küchentisch ausgebreitet und das ganze Herrenhaus damit dekoriert. Ich musste lachen, als ich mir Jos Gesicht in Erinnerung rief. Nein, mein Vater hatte es wirklich nicht leicht mit uns gehabt.
Ich strich mir eine der störrischen Locken aus dem Gesicht und suchte in meiner Hosentasche nach einem Haargummi. Normalerweise hatte ich neben einem obligatorischen Kugelschreiber und Taschentüchern auch immer ein Haarband bei mir. Ich konnte nie wissen, wann mir meine Lockenmähne auf die Nerven ging. Und auch heute hatte ich, ohne mir großartig davor Gedanken gemacht zu haben, Glück. Meine Fingerspitzen ertasteten den kleinen Gummi und ich band mir die nervigen Locken aus dem Gesicht. Das flauschige, kleine Wollknäuel, das neben mir herflitzte wie ein unkontrollierbarer Flummiball, kläffte aufgeregt und zerrte räuberisch an einem Stock. Ich musste lachen, als ich in die strahlenden Augen meines Zwergspitzrüdens sah. Ich erinnerte mich noch genau an den Tag, als ich ihn von meinem Vater geschenkt bekommen hatte. Es war mein zwanzigster Geburtstag und ich war von zu Hause ausgezogen. Und da Jo genau wusste, dass die Einsamkeit für mich nicht immer leicht zu ertragen war, hatte er mir Nektar zur Seite gestellt. Ein kleines, wuscheliges Etwas, mit pechschwarzen Knopfaugen. Schon damals war ich Nektar hoffnungslos verfallen gewesen.
Wir machten uns auf den Weg nach Hause durch den Sternwald, über die Brücke und dann noch ein paar Straßen weiter, bis zu dem großen Altbauhaus, dessen Dachgeschoss ich bewohnte. Die alten, abgewetzten Stufen knarrten unter meinem Gewicht, Nektar hüpfte hechelnd neben mir nach oben. In meiner Jackentasche fand ich gleich den Schlüssel, drehte ihn ins Schloss und betrat zufrieden die mollig warme Wohnung. Nektar tapste mit seinen kleinen, völlig verdreckten Pfoten über das Parkett. Typisch, und wer durfte das wohl wieder wegputzen? Ich! Schnell lief ich ins Bad, schnappte mir ein Handtuch und säuberte provisorisch Hund und Boden. Nektar klaute mir das Tuch aus der Hand und lief schwanzwedelnd mit seiner Beute unter den Wohnzimmertisch. Dort zerrte er sich das Handtuch zurecht und legte sich dann mit einem zufriedenen Schnaufen darauf. Ich schüttelte den Kopf über so viel Dreistigkeit und setzte Teewasser auf.
»Du bist ein unmöglicher Hund!« Ich hob drohend meinen Zeigefinger und Nektar linste wohl wissend über seine Tat unter dem Tisch hervor. Das Schlimme war, dass ich ihm nicht böse sein konnte. Ergeben ließ ich mich auf meine rot-gelb gestreifte Couch plumpsen und schaltete den Fernseher ein. Gelangweilt zappte ich mich durch die Programme und stellte mir vor, was mein Vater sagen würde, wenn er sehen könnte, was ich mir da gerade antat. Er würde vermutlich nicht nur seine Erziehung in Frage stellen, sondern sie gleich nachholen wollen. Ich entschied mich gegen die Glotze und klappte stattdessen den Laptop auf. Dann würde ich eben noch ein bisschen arbeiten. Das Protokoll vom letzten Elterngespräch schrieb sich leider auch nicht von allein. Ich hörte leise das Telefon klingeln und räumte die gemütlichen Kissen, die ich mit einem braunen Leinenstoff bezogen hatte, zur Seite. Irgendwo hatte ich es doch hingeräumt.
»Vandersen?«
»Steh sofort auf und geh zur Tür!«
»Was?« Ich blinzelte verwirrt. Was sollte das denn?
»Du sollst zur Tür gehen. RAUS AUS DER WOHNUNG!«
Erschrocken über den aggressiven Ton fuhr ich gegen meinen Willen vom Sofa hoch. Mein Blick suchte Nektar, der zufrieden unter dem Tisch lag und mich aus seinen dunklen Augen fixierte. Ohne lange darüber nachzudenken, zog ich ihn zu mir, hastete zur Wohnungstür und hakte die Leine ein. Ich kam mir ziemlich idiotisch vor, aber gleichzeitig spürte ich auch einen Hauch von Angst in mir. Was, wenn das kein Scherz war? Das Telefon in meiner Hand fiel zu Boden, als meine heißgeliebte, mannshohe Fensterscheibe in tausend Scherben zerbarst und sich neben mir in die Wand eine Kugel bohrte. Ich hörte auf zu atmen. Der Hagel aus spitzen, glitzernden Scherben regnete auf mein Wohnzimmer herab, bohrte sich in den Boden und in mein Sofa. Ich blinzelte ungläubig, drehte mich wie in Zeitlupe um und starrte auf das Loch in der Wand. Nektar winselte und drückte sich an mein Bein. Verzerrt hörte ich eine Stimme und sah wie betäubt auf das Telefon.
»Lauf!« Dieses Mal reagierte ich sofort und rannte. Rannte aus der Wohnung hinaus ins Treppenhaus. Dort sah ich mich panisch um. Nach oben oder nach unten? Hilflosigkeit ergriff mich, während eine lähmende Panik in mir hochstieg, die es fast unmöglich machte, mich zu bewegen. Von unten konnte ich ein Klirren hören, als würde schon wieder eine Scheibe in Scherben zerspringen, und ohne nachzudenken hastete ich nach oben. Über meiner Wohnung waren nur noch der Dachboden und dann das Dach. Nektar fiepte. Mein Versuch, die Tür des Dachbodens zu öffnen, schlug fehl. Der Schlüssel lag unten auf der Kommode. Was nun? Schritte hallten durch das Treppenhaus und die Angst schnürte mir die Kehle zu. Obwohl es nichts brachte, rüttelte ich an der Tür. Eine dunkle Gestalt, kaum mehr als ein Schatten, war plötzlich neben mir, drängte mich von der Tür weg und tat etwas, was ich nicht sehen konnte. Ich schrie! Es schien mir das Einzige zu sein, was in dieser Situation Sinn zu machen schien. Es musste raus, die ganze Angst, die meinen Körper lähmte, so dass ich nicht einmal wegrennen konnte – obwohl der dunkle Schatten neben mir mich noch nicht einmal festhielt. Doch plötzlich presste sich eine schwarz behandschuhte Hand auf meinen Mund und erstickte meinen Schrei. Nektar kläffte und sprang an meinem Bein hoch. Ich schlug wahllos um mich und der Schatten verdrehte mir kurzerhand mit der freien Hand die Arme auf dem Rücken. Für einen Moment zuckten grelle Blitze aus Schmerz durch meinen Kopf, dann hörte ich zum ersten Mal ihre Stimme.
»Still!« Ich atmete hektisch und starrte in ein weibliches, angespanntes Gesicht.
»Was?«
Die Frau schüttelte energisch den Kopf. »Wenn du hier lebend raus willst, dann tust du ab jetzt das, was ich dir sage!«
Ich konnte mich kaum konzentrieren, vor meinen Augen verschwamm alles zu einem Meer aus Tränen und ich wollte einfach nur noch aufwachen. Aufwachen aus einem Traum, der mir den Wahnsinn näher brachte.
»Hey!«
Eine Ohrfeige traf mich mitten im Gesicht und erschrocken schrie ich auf. »Was?«
»Sieh mich an!«
Ich spürte, wie mein ganzer Körper gegen die Angst zu rebellieren versuchte. Meine Beine waren so schrecklich wackelig, mein Magen drehte sich unablässig und der Schweiß war mir aus allen Poren ausgetreten. Nur mit größter Willensanstrengung schaffte ich es, den Blick auf die fremde Frau zu fokussieren
»Gut so, und jetzt reiß dich zusammen, ich bin hier, um dir zu helfen!«
»O-o-okay . . .« Die Stimme kam mir vage bekannt vor. Hatte sie mich angerufen?
»Könntest du gnädigerweise deine Fingernägel aus meinem Oberarm nehmen?«
Erschrocken sah ich auf und zog hastig meine Hand zurück. »Sorry . . .«
»Pfff . . .« Die schwarzhaarige junge Frau drehte sich um und meinte knapp: »Du bleibst hinter mir!«
Die Tür zum Dachboden stand offen, ich bemerkte es erst jetzt. Sie musste das Schloss vorher geöffnet haben. Grüne Augen musterten mich prüfend. Katzengrün war das Erste, was mir zu ihren Augen einfiel. Wie auch immer ich es schaffte, in dieser Situation über die Augenfarbe einer fremden, brutalen Frau nachzudenken, es lenkte mich doch erfolgreich von meiner Panik ab.
»Du musst keine Angst haben, wir haben es so gut wie geschafft. Ich bring dich zu Johannes.«
Zu Jo? Überrascht starrte ich sie an und versuchte zu verstehen, was sie mit meinem Vater zu tun hatte. Mit einer unmissverständlichen Geste deutete die Frau auf die wackelige Treppe, die zu dem mit alten Holzbalken versehenen Dachstuhl führte. Ich bückte mich nach Nektar und schlug innerlich drei Kreuze, dass er so klein war. Mit dem Rüden auf meiner Schulter und einer fremden Frau im Rücken kletterte ich die Leiter nach oben und öffnete das kleine Dachfenster. Unsicher drehte ich mich um, begegnete einem belustigten Blick und weigerte mich weiterzugehen.
»Wir müssen aufs Dach!« Mit diesen Worten kletterte die junge Frau aus der Dachluke und streckte mir die Hand entgegen. Unsicher ergriff ich sie und wurde kraftvoll zu ihr hochgezogen. Auf einer kleinen Treppe kletterten wir bis auf den First, ich klammerte Nektar an mich und hatte unglaubliche Angst, dass er herunterfallen könnte.
»Wir sind oben, beeilt euch!« Die fremde Frau sprach energisch in ein Handy und drehte sich dann zu mir um. »Bist du verletzt?«
Ich blinzelte und zuckte dann mit den Schultern. »Ich weiß nicht.«
»Na, dann kann’s ja nichts Schlimmes sein. Gleich kommt der Hubschrauber.«
»Hubschrauber?«
Ein abfälliges Schnauben ob meiner wohl wenig intelligenten Frage folgte auf dem Fuß. »Was sonst?«
Ich verzog das Gesicht, spürte aber, wie mein Puls sich langsam wieder beruhigte. Um mich weiter abzulenken, betrachtete ich meine Begleiterin etwas genauer. Was ich sah, irritierte mich. Sie war eine Frau, ganz ohne Zweifel, dennoch strahlte sie eine Kraft und eine Stärke aus, die nicht unbedingt typisch für das weibliche Geschlecht war. Ganz zu schweigen von ihrer Kleidung, die eher an einen Jungen als an eine Frau erinnerte. Sie war völlig in Schwarz gekleidet, trug eine schwarze, tief sitzende Baggyhose, dazu schwarze Stiefel und eine schwarze Lederjacke. Erschreckend war der dunkle Waffengurt, an dem eine gefährlich blitzende Anzahl an Messern, eine Pistole und andere, für mich nicht klar definierbare Waffen hingen. Sie wirkte furchteinflößend. Dazu die stechend grünen Augen, kantige Gesichtszüge und schwarze, zu einem Zopf zusammengebundene Haare.
»Wer . . . wer bist du?«
Die Angesprochene drehte sich um, sah mich an. »Dein Schutzengel, Kleines, wer sonst?« Ein spöttisches Lächeln huschte über die angespannten Züge. Fand sie das etwa witzig?
»Hat mein Schutzengel«, ich betonte dieses Wort besonders, »auch einen Namen?«
»Davon kannst du ausgehen.«
Wollte sie mich verarschen, oder was?
»Und hat mein Schutzengel auch die Güte, mir diesen Namen zu verraten?«
»Wenn du ganz lieb bitte sagst.«
Ich schnappte fassungslos nach Luft, während die andere nun wirklich lachte und dann versöhnlich meinte: »Dafür, dass du mich in dieser Situation zum Lachen bringst, bin ich dir meinen Namen wohl schuldig.« Sie zwinkerte mir zu.
Ich zog erwartungsvoll eine Augenbraue in die Höhe.
»Sascha.«
»Nelly.«
»Ich weiß.«
Das Rotieren der Hubschrauberblätter zerriss die Nacht.
»Na, da ist ja unsere Rettung, wurde auch Zeit . . .«
Die Art und Weise, wie wir vom Dachfirst zum Hubschrauber gelangt waren, versuchte ich sofort aus meinem Gedächtnis zu streichen. Meine Angst um Nektar hatte mich fast umgebracht und die wackelige Strickleiter hatte ihr Übriges dazugetan. Meine Begleiterin hatte sich köstlich über mein ungeschicktes Verhalten amüsiert, mir aber dennoch versucht zu helfen. Immerhin. Der Hubschrauber war nicht, wie ich erwartet hatte, einfach vor Jos Herrenhaus gelandet, sondern auf einem Parkplatz ganz in der Nähe. Von da hatte mich Sascha zu einem schwarzen, völlig verdreckten Jeep gezerrt und wir waren die letzte Strecke gefahren. Wobei »fahren« dafür nicht der richtige Ausdruck war. Die Frau neben mir hatte nichts mehr gesagt; ich versuchte, in ihrem Blick zu lesen, doch es gelang mir nicht. Und das war irritierend. Allein meines Berufs wegen musste ich förmlich in Menschen hineinschauen können. Ich war Erzieherin, seit einem Jahr fertig mit der Ausbildung und glücklicherweise fest angestellt in einer Kindertagesstätte. Und dank zahlloser, nicht Deutsch sprechender Kinder hatte ich im Laufe der Zeit gelernt, in Augen, Mimik und Gestiken mehr zu lesen, als es vielleicht andere Menschen konnten. Aber bei Sascha konnte ich nichts lesen, nichts erkennen. Ihr Gesicht hatte einen Ausdruck, den ich nicht deuten konnte. Sie schien konzentriert und angespannt, aber es schwang noch etwas anderes mit, etwas, was ich nicht verstehen konnte.
»Fährst du immer so?«
Ich erntete nur ein leises Schnauben und die rechte, gepiercte Augenbraue wurde abschätzig nach oben gezogen. Freundlichkeit schien nicht ihr Metier zu sein. Eine weitere Antwort erhielt ich nicht und so zog ich es vor, mich an meinem Anschnallgurt festzuklammern und zu hoffen, dass Sascha uns bei dem Tempo, mit dem sie über die Straße raste, nicht gegen den nächsten Baum fahren würde. Das wäre ja auch eher kontraproduktiv, wenn sie auf mich aufpassen sollte.
Wir überlebten.
Allerdings war mir nun wirklich schlecht, als ich die Beifahrertür aufstieß und erleichtert die frische Abendluft einatmete. So ein Fahrtstil sollte verboten werden. Definitiv.
Der Jeep hatte auf dem weißen Kies der Auffahrt geparkt und stellte einen krassen Kontrast zu dem hellen Boden dar. Nektar kläffte und wich nicht von meiner Seite. An ihm schien das Ganze auch nicht spurlos vorbeigegangen zu sein. Sascha tauchte plötzlich neben mir auf, ich versuchte, mir meinen Schreck nicht ansehen zu lassen, und richtete meinen Blick auf die kleine Empore, die zu den großen, ganz in Weiß gestrichenen Flügeltüren führte. Mein Vater stand, an dem verschnörkelten Metallgeländer abgestützt, vor der Tür und sah zu uns herunter. Wie passend. Ich verzog das Gesicht und fühlte mich schon jetzt wieder völlig seinem Kontrollzwang unterlegen. Jetzt hatte er gerade angefangen zu lernen, dass ich auch allein überleben konnte, und dann passierte so etwas. Ich wurde fast erschossen! Allein der Gedanke daran löste in mir ein gähnend schwarzes Loch aus, das alles zu verschlingen drohte, was rationale Gedanken waren. Als wollten nur noch Angst und Panik übrig bleiben, die mir den Verstand raubten. Ich schüttelte den Kopf so heftig, dass mir schwindlig wurde, und versuchte, mich auf meinen Hund zu konzentrieren. Eine sanfte Berührung auf meiner Schulter ließ mich erschrocken zusammenfahren, und als ich mich umdrehte, begegnete mir ein mahnender Blick aus blitzend grünen Augen.
»Jetzt nicht . . .«
Hilflosigkeit ergriff mich, und die Tatsache, dass man mir wohl sehr genau ansah, wie es mir ging, machte mich wütend. Tränen schossen mir in die Augen, ich sah weg und schämte mich. Sie lachte leise, melodisch neben mir mit überraschend tiefer Stimme. Jo sah uns immer noch an und ich entschloss mich, ihn nicht länger warten zu lassen, und eilte auf meinen Vater zu. Fest schloss er seine Arme um mich, zu fest, so wie er es tat, seit meine Mutter gestorben war. Seine rechte Hand krallte sich schmerzhaft in meinen Rücken, ich ertrug es wie immer. Jo atmete schwer, er machte sich Sorgen.
»Bist du verletzt?«
»Alles in Ordnung.« Ich versuchte zu lächeln, entschlüpfte seinem Griff und drehte mich zu Sascha um.
»Dank ihr.«
Jo und Sascha wechselten einen für mich nicht definierbaren Blick, dann lächelte Jo einfach und nickte.
»Lass uns reingehen, Spatz.« Er zog mich am Arm in das Innere des alten Gebäudes, den langen Flur entlang an der Küche vorbei und bis zu dem überdimensional großen Wohnzimmer. Wie immer standen die beiden weißen Ledersofas mitten im Raum, davor der kleine, stets blitzend polierte Glastisch, auf dem das geliebte Teeservice meiner Mutter stand. In den grünen Tassen mit dem Goldrand dampfte bereits heißer Tee. Ich lächelte glücklich, als ich Martas mit den Jahren immer gebeugtere Gestalt sah, und fiel ihr einfach um den Hals.
»Kind!« Sie lachte leise auf und drückte mich dann herzlich an ihre Brust. Bei Marta fühlte ich mich immer, wie sich Kinder wohl bei ihrer Oma fühlen mussten. Sie hatte diesen sanften Ausdruck in ihrem Gesicht, welches mit vielen kleinen Lachfältchen gezeichnet war. Ihre hellblau schimmernden Augen waren voller Sorge, und die Art und Weise, wie Marta mich musterte, machte deutlich, dass ich hier so schnell nicht wegkommen würde. Erst wenn sie sich persönlich davon überzeugt hatte, dass ich in Ordnung war.
»Geht es dir gut? Jetzt setz dich erst mal, ich hab dir deinen Lieblingstee gemacht.« Sie bückte sich und streichelte Nektar über das verwuschelte Fell. »Und dir kleiner Rabauke bringe ich natürlich auch noch was.« Sie zwinkerte mir zu, drehte sich um, und Nektar wich ihr nicht mehr von der Seite. Er war einfach viel zu sehr verwöhnt worden von Marta . . .
»Pass auf, dass du ihn wieder zurückbekommst.« Jo setzte sich auf das Sofa und bedeutete mir, mich zu ihm zu setzen.
»Wie geht es dir?« Seine vorher noch belustigte Stimme klang auf einmal ernst, besorgt. Und als ich in sein Gesicht sah, erkannte ich die Sorgenfalten, die sich tief in die Mundwinkel und Stirn eingegraben hatten. Ein Zeichen dafür, wie wahnsinnig er vor Angst gewesen sein musste. Natürlich konnte ich ihn ein bisschen verstehen. Nachdem meine Mutter verstorben war, waren er und ich übrig geblieben. Die Vorstellung, mich ebenfalls zu verlieren, musste grausam sein.
»Mir geht es gut, ich bin nicht verletzt, nur irgendwie . . . durcheinander.« Ein unglückliches Lächeln konnte ich nicht unterdrücken, aber ich wollte Jo nicht zu viel Anlass zur Panik geben. Immerhin hatte ich nicht vor, hier wieder einzuziehen.
»Sascha?«
Überrascht sah ich auf und registrierte erst jetzt, dass die junge Frau im Türrahmen des Wohnzimmers lehnte, die Arme vor der Brust verschränkt und irgendwie unpassend in dem hellen Zimmer.
»Hm?«
»Was genau ist geschehen?« Jo griff nach einer der Teetassen, drehte sie aber nur unentschlossen in der Hand, ohne von dem heißen Gebräu zu kosten. Ich sah, wie die Flüssigkeit fast überschwappte und wartete auf Saschas Antwort. Es irritierte mich ein bisschen, dass die beiden so vertraut wirkten. Nachdenklich versuchte ich mich zu erinnern, ob ich die junge Frau schon mal irgendwo gesehen hatte, aber es tauchte kein passendes Bild auf.
»Ein Hinterhalt, sechs Männer. Ted hat gedacht, er hätte sie vertrieben, aber wir haben den Schützen nicht gesehen. Zum Glück war der Typ ein Stümper.«
Jo schüttelte müde den Kopf. »Du hattest recht, es ist riskanter, als ich gedacht habe.«
Von Sascha kam ein zustimmendes Nicken.
»Nelly.«
Überrascht sah ich auf, als die dunkle Gestalt in der Tür direkt mich ansprach.
»Tu mir bitte einen Gefallen und hör das nächste Mal gleich auf mich. Das erspart uns allen viel Stress.«
Bildete ich mir das ein, oder hörte ich da tatsächlich einen Hauch von Spott in ihrer wirklich angenehm weichen Stimme? Das passte irgendwie nicht zusammen.
»Tust du mir auch einen Gefallen?« Marta tauchte hinter der jungen Frau auf und scheuchte sie in das Innere des Zimmers. Nektar war an ihrer Seite und sah sie unablässig aus den schwarzen Knopfaugen an. Im Betteln war er unschlagbar. »Setz dich hin und lass mich dein Bein anschauen.«
»Was?«
»Du blutest!«
Nicht nur ich schrak zusammen, auch Jo stellte die Tasse unsanft ab, so dass der heiße Tee sich über dem Glastisch ergoss. Marta würde sich freuen. Diese hatte Sascha mit sanfter Gewalt zum zweiten Sofa genötigt und forderte sie nachdrücklich auf, das Hosenbein hochzuschieben. Als die junge Frau schließlich fluchend nachgab, konnte ich den blutdurchtränkten Verband sehen. Wann hatte sie sich den angelegt?
»Nur ein Streifschuss . . .«
Mir wurde schwindlig, als ich das viele Blut sah, und wandte den Blick ab . . .
Ich hatte die Nacht in meinem alten Kinderzimmer verbracht. Es war ein merkwürdiges Gefühl von Heimat, das ich empfand, wenn ich in meinem Jugendbett lag, an die weiße Decke starrte, an welcher der verchromte Kronleuchter hing, und in meinen Armen mein Kindheitskuscheltier »Taddon« lag. Eine zerschlissene, ehemals weiße Robbe, die mich früher vor Alpträumen beschützt hatte. Ganz besonders grausam war die rosa Blümchentapete, die als kleines Mädchen mein ganzer Stolz gewesen war. Ich war froh, als die Nacht vorüber war. Laut Jo waren bereits Handwerker dabei, meine Wohnung, besser gesagt mein Fenster wieder instand zu setzen. Ich musste an den vergangenen Abend denken und spürte die Gänsehaut, wie sie sich über meinem Körper ausbreitete. Noch immer meinte ich den unwirklichen Ton zu hören, mit dem die Glasscheibe zersprungen war. Wie sehr ich in Gefahr gewesen war, versuchte ich zu verdrängen. Es fühlte sich wie eine dunkle Decke an, die über meinen Gefühlen lag und mir das Atmen schwermachte. Sie erstickte einfach die Emotionen, so dass ich nicht durchdrehen konnte oder besser musste. Noch nicht . . . Was, wenn ich ein Trauma hatte und mein Leben nicht mehr auf die Reihe kriegen würde? In meiner aufkeimenden Panik suchte ich nach meinem Handy und rief Dennis an.
»Hallo?« Seine verschlafene Stimme ließ mich innerlich aufstöhnen. Dennis war unausstehlich, wenn er nicht ausgeschlafen hatte.
»Ich bin’s, Nelly. Kannst du mich bei Jo abholen?«
»Jetzt?« Er klang alles andere als begeistert.
»Bitte, es ist wichtig.«
»Mann, Nelly, kannst du dir nicht ein Taxi nehmen?«
Ich spürte einen Hauch von Wut und war kurz davor, das kleine Telefon gegen die Blümchentapete zu schmeißen.
»Ich hätte dich nicht um diese Zeit angerufen, wenn es nicht wichtig wäre.«
»Ich muss noch duschen, dann bin ich da.«
»Danke!«
Er brummte etwas vor sich hin und legte dann auf.
Nachdem ich mich angezogen und frischgemacht hatte, trat ich den Weg in die alte Küche an. Hier war noch alles so wie zu Lebzeiten meiner Mutter. Ich liebte diesen Raum von allen Zimmern in dem großen Haus am meisten. Hier fanden das Leben, die wirklich wichtigen Gespräche und die großen Gefühle statt. Marta war die gute Fee, die zur Küche gehörte wie Nektar und sein Lieblingsfutter. Je näher ich dem gemütlichen Raum kam, desto mehr stieg mir ein ganz besonderer Duft in die Nase. Es roch nach Waffeln. Vielleicht sollte ich mir das mit dem Einzug doch noch mal überlegen. Ich liebte warme Waffeln zum Frühstück. Mein Stammplatz, der Stuhl direkt am Küchenfenster, war frei, doch auf dem Fensterbrett saß eine schlanke Gestalt. Ich seufzte leise, als ich Sascha sah, und musste gleichzeitig an gestern Abend denken. Von der Verletzung hatte ich nicht mehr viel mitbekommen, Marta und Sascha waren gnädigerweise aus dem Wohnzimmer gegangen.
»Morgen.«
»Guten Morgen.« Die Haushälterin lächelte mich an und stellte eine dampfende Tasse auf den Tisch. »Heißer Kakao.«
Ich lächelte dankbar, ließ mich auf dem Stuhl nieder und sah zu Sascha hoch. Ihre Augen hatten schon wieder dieses Blitzen, das mich völlig durcheinanderbrachte. Ich konnte einfach nicht einschätzen, ob sie sich amüsierte oder . . . mich vielleicht interessant fand. Sie war so undurchschaubar. Das ärgerte mich.
»Wie geht es deinem Bein?«
Sie zuckte mit den Schultern und pustete sich eine pechschwarze Haarsträhne aus dem Gesicht. »Geht schon.«
»Hm . . .« Besonders gesprächig schien sie ja nicht zu sein. »Wie geht es jetzt weiter? Bin ich . . . bin ich immer noch in Gefahr?« Die Frage kreiste schon die ganze Nacht unaufhörlich durch meinen Kopf.
Sie runzelte die Stirn und biss ein Stück Waffel ab. »Du wirst dich an mich gewöhnen müssen.«
Ich spürte einen Kloß in meinem Hals, der sich nicht herunterschlucken lassen wollte. Das bedeutete, dass es nicht vorbei war. Vielmehr war es vermutlich erst der Anfang gewesen. Sie, diese Frau, würde mich . . . vermutlich die ganze Zeit auf Schritt und Tritt begleiten. Ich kannte Jo.
»So begeistert?« Sascha grinste breit. Ich streckte ihr, einem Impuls folgend, die Zunge raus und kam mir im gleichen Moment furchtbar kindisch vor. Gegen meinen Willen lief ich rot an, und hastig sah ich weg. Ihr Lachen machte mir klar, dass sie es gesehen hatte. Sie beugte sich zu mir herunter, eine ihrer Haarsträhnen löste sich aus dem Zopf und streifte meine Wange. Ich konnte ihren Atem spüren und versuchte, meine Hautfarbe unter Kontrolle zu bekommen.
»Süß, wirklich süß . . .« Feixend lehnte sich Sascha wieder zurück. Eine innere Stimme sagte mir, dass es mir diese Frau noch schwermachen würde.
»So, jetzt hört aber auf, ihr zwei.« Marta schüttelte den Kopf und drückte mir eine warme Waffel, die dick mit Puderzucker bestäubt war, in die Hand. Ich meinte, den Kopf eines Kaninchens darauf zu erkennen.
»Wie hast du geschlafen, Nelly?« Sie sah mich aus ihren warmen Augen an und ich war ihr dankbar für diesen Blick. Es fühlte sich gut an, dass sich jemand um mich sorgte. Nicht auf die kontrollierende Art, wie Jo es tat, sondern so wie Marta, so wie man es einfach brauchte.
»Nicht so gut.« Ich lächelte traurig und zuckte mit den Schultern. Die Decke lag immer noch über mir und ich war dankbar dafür, auch wenn mir durchaus bewusst war, dass der Zusammenbruch zwangsläufig folgen musste. Aber nicht hier und nicht jetzt.
»Sag mal«, ich drehte mich wieder zu der Gestalt auf dem Fensterbrett um, fixierte ihren Blick, »was hatten die . . . von gestern eigentlich gegen mich?«
Sie verzog die Mundwinkel und stieß einen zischenden Laut aus. Sie schien nicht wirklich darüber reden zu wollen. »Das hat nichts mit dir zu tun.«
»Sondern?«
»Kannst du dir das nicht denken?«
Ich seufzte, sie hatte recht. Natürlich kannte ich die Antwort, vielleicht hatte ich sie nur nicht hören wollen. Sascha hatte plötzlich einen fast schon mitfühlenden Ausdruck in den Augen und ergänzte mit weicher Stimme: »Jo hat sich in ein Geschäft eingemischt. Wir wissen nicht, wem er eins ausgewischt hat, aber der- oder diejenige scheint nicht sehr begeistert zu sein. Wir haben eine Warnung bekommen. Nach dem Motto, dass du in Gefahr bist.«
Das hatte ich befürchtet. Es war wie damals, ich war Mittel zum Zweck. Und nur, weil mein Vater sehr dubiose, sicherlich nicht immer ganz legale Geschäfte führte, über die ich gar nicht Bescheid wissen wollte.
»Ist es ernst?«
»Wie ernst kann es denn sein, wenn du fast erschossen worden wärst?«
Was für eine beschissene Gegenfrage. Die Bilder rasten durch meinen Kopf, ich presste stöhnend meine Hand auf die Stirn.
»Dein Bein . . .«, ich zögerte und warf einen kurzen Blick auf Sascha, »ist das wegen mir passiert? Also . . . der Schuss hat mich verfehlt . . . war das wirklich nur Zufall, oder . . .« Ich traute mich nicht wirklich, den Gedanken zu Ende zu denken. Er machte mir Angst. Ich wollte mir nicht mal annährend vorstellen, dass jemand für mich verletzt wurde. In Saschas Gesicht trat wieder dieser spöttische Ausdruck.
»Kluges Mädchen.«
»Aber . . .«
Sie verdrehte die Augen. »Das ist mein Job, Nelly.«
»Toller Job . . .« Ich hatte es irgendwo tief in mir befürchtet, vielleicht sogar geahnt. Als ich gestern die Verletzung gesehen hatte . . . der Gedanke war flüchtig gewesen, hatte sich aber dennoch nicht vollständig verdrängen lassen. Wäre Sascha nicht gewesen, dann wäre ich jetzt vielleicht tot? Wie absurd . . .
Sascha lachte leise. »Zerbrich dir nicht deinen hübschen Kopf darüber. Das macht ohnehin keinen Sinn.«
Ich sah sie an, nachdenklich. Sie tat so, als würde es ihr gar nichts ausmachen, aber war es auch wirklich so? Oder konnte sie nur perfekt schauspielern? Ich wusste nicht, was ich ihr antworten sollte, und trank vorsichtig etwas von dem heißen Kakao.
»Holt er dich ab?«
»Wer?« Ich runzelte verwirrt die Stirn.
»Na, dein angehender Jurastudent. Blonde Haare und Hundeblick.«
Ungläubig drehte ich mich zu ihr um, starrte in die grünen Augen, in denen der Schalk blitzte, und wurde wütend. Woher wusste sie von Dennis?
»Seit wann?« Meine Stimme zitterte.
Sascha und Marta wechselten einen kurzen Blick und ich spürte einen schmerzhaften Stich in meiner Brust. Die beiden wirkten erstaunlich vertraut. Wieder stellte sich mir die Frage, inwiefern Sascha, Jo, Marta, dieses ganze Haus miteinander in Verbindung standen. Und Marta schien wohl auch in die ganze Geschichte involviert zu sein. Alle wussten Bescheid, nur ich nicht. Oh, wie ich so was hasste!
»Vor einem Monat ging die Warnung ein. Seitdem . . .«
Ein Monat! Ein Monat, ein ganzer Monat, indem ich ohne mein Wissen, rund um die Uhr beobachtet worden war?!
»Wieso habt ihr mich nicht informiert?« Meine Stimme bebte und ich versuchte krampfhaft, gegen die Tränen zu kämpfen.
»Jo wollte dich schonen.«
Natürlich, was auch sonst. Mir war der Hunger vergangen, und ich stand mit einem Ruck auf, so dass der Holzstuhl mit einem hässlich quietschenden Geräusch über die alten Dielen rutschte. Wortlos verließ ich die Küche, pfiff nach Nektar, der sofort an meiner Seite war, und marschierte mit großen Schritten auf die Haustür zu. Ich wollte raus, und zwar jetzt und sofort.
»Nelly . . .«
Erschrocken zuckte ich zusammen und fuhr zu Sascha herum, die anscheinend hinter mir her geeilt sein musste. Sie sah erstaunlich ernst aus und griff nach meinem Arm. Die Berührung jagte einen Schauer über meinen Körper, und irritiert löste ich mich aus dem Griff. Auch Sascha machte einen Schritt nach hinten und versuchte entschuldigend zu lächeln.
»Was willst du?« Ich war wütend, wütend auf Jo, dass er mir nichts gesagt hatte, und wütend auf Sascha, weil sie so völlig cool mit der ganzen Sache umgehen konnte. Außerdem war sie einfach gerade hier.
»Pass einfach auf, auch bei deinem Freund.«
Ich starrte sie fassungslos an und versuchte, nicht einfach zu explodieren. Was bildete sie sich eigentlich ein? Wie konnte sie, die keine Ahnung von mir hatte, die mich auch gar nicht kannte, so über meinen Freund urteilen? Krampfhaft fixierte ich meinen Blick auf Nektar, atmete ein paarmal ganz ruhig ein und aus, bevor ich schwungvoll die Tür öffnete.
Vor der Tür stand das Dennis’ knallrotes Cabriolet. Ich hasste das Teil. Aber Dennis schien es für sein Ego zu brauchen, und ich vermied es nach Möglichkeit, mit dem Auto zu fahren oder mich fahren zu lassen. Heute war eine Ausnahme, denn heute war ohnehin alles anders.
Er stand vor dem roten Ungetüm und wartete. Ganz offensichtlich schon eine geraume Weile, denn seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, starb er gerade vor Langeweile. Interessant, ich hatte mich eigentlich darauf eingestellt, auf ihn warten zu müssen. Nektar kläffte und rannte die Treppen nach unten, über den weißen Kies und sprang aufgeregt an Dennis hoch. Ein seltsames Phänomen, denn Dennis konnte im Verlauf des letzten halben Jahres nicht gerade viel Sympathie für den Rüden entwickeln.
»Nelly.«
Nein, nicht schon wieder! Warum konnte sie mich nicht endlich in Ruhe lassen?
Sascha trat neben mir aus der Tür, ich registrierte, wie sie ihr Bein etwas nachzog und meinte sogar ein schmerzhaftes Verziehen ihrer Lippen sehen zu können. Aber vielleicht irrte ich mich auch. Sie fuhr sich durch die Haare und musterte meinen Freund mit einem merkwürdigen Blick. Als hätte sie etwas gegen ihn. Aber was?
»Du solltest ihm nichts erzählen.«
»Wieso?«
»Vertrau mir einfach.«
Vertrauen? Wie sollte ich einer wildfremden Person vertrauen? Zudem war Sascha alles andere als eine Person, der ich mich normalerweise anvertrauen würde. Und Sascha gehörte zu Jo, und Jo wollte sowieso immer alles über mich wissen. Meine Bedenken mussten mir wohl ins Gesicht geschrieben sein, denn Sascha grinste plötzlich.
»Schau mich nicht so an.«
»Wie schau ich denn?«
»Hm, so ungläubig.« Ich zuckte mit den Schultern und wollte die Treppe nach unten gehen, sie hielt mich fest. Als ich aufsah und sich unsere Blicke kreuzten, schlug mein Herz fast schmerzhaft schnell in meiner Brust. Die grünen Augen funkelten mich an, voller Überzeugung.
»Wir müssen uns nicht mögen, Nelly, aber wir müssen miteinander auskommen. Mein Auftrag ist es, dich zu beschützen, mit meinem eigenen Leben. Was brauchst du noch, um mir zu vertrauen? Denkst du, ich bin Jo gegenüber nicht loyal? Ich kann dich beruhigen, ich verdanke deinem Vater viel, sehr viel, und ich würde diesen Job nicht machen, wenn ich ihn nicht ernst nehmen würde. Dein Freund . . .«
»Was ist mit ihm?«
Sie zögerte und sah kurz zu dem Cabriolet hinüber. Dennis gestikulierte ungeduldig.
»Liebst du ihn?«
»Das geht dich nichts an!« Die Wut kehrte zurück, ich riss mich los, und dieses Mal war ich die Treppen nach unten gelaufen, bevor sie mich wieder festhalten konnte. Sie folgte mir nicht, vielleicht konnte sie es auch nicht wegen ihres Beins. Ich bekam ein schlechtes Gewissen, versuchte es aber zu verdrängen.
Dennis seufzte theatralisch und zog mich kurz an sich, um mir einen Kuss auf die Lippen zu drücken. Ich fühlte mich unwohl dabei, wusste ich doch, dass Sascha immer noch da oben stand und uns beobachtete.
»Ich hab noch nichts gefrühstückt, kannst du dich ein bisschen beeilen?«
Immer noch morgenmuffelig, ich hasste das. Dennis trat mit den Füßen nach Nektar, der unablässig an ihm hochsprang und gestreichelt werden wollte. Ich zerrte unsanft am Arm meines Freundes und warf ihm einen warnenden Blick zu. Dennis stieg in den Wagen ein, und als Nektar freudig hinterherspringen wollte, schlug mein Freund bereits die Tür zu. Oder besser, er war im Begriff, sie zuzuschlagen und dabei meinen Hund einzuquetschen. Ich schrie entsetzt auf, versuchte Nektar zurückzureißen, während Sascha – wie auch immer sie so schnell da sein konnte – gerade noch rechtzeitig die Autotür festhalten konnte.
»Ich muss mit Jo noch abklären, ob das Aufpassen auf dich auch deinen Nektar beinhaltet oder nicht.« Sie zwinkerte mir zu. Ich nahm ihr den Hund aus den Händen und drückte ihn endlos lange an meinen Körper.
»Danke . . .« Das Schlimmste, was ich mir vorstellen konnte, war, dass ihm etwas passierte. Ich zitterte, als ich in das Auto einstieg, und starrte Dennis an.
»Was ist?« Er hatte es noch nicht einmal gemerkt!
»Du hättest Nektar . . . du hättest Nektar fast umgebracht!«
Er verdrehte die Augen. »Bitte, Nelly, du reagierst immer total über, sobald es um deinen kleinen, süßen, putzigen Hund geht. Ich kann es langsam nicht mehr hören.«
»Aber du hättest ihn fast eingequetscht!«
»Jetzt übertreib doch nicht! Wer war die Frau?«
»Was?« Ich war so in meiner Sorge um Nektar gefangen, dass ich mich kaum auf Dennis konzentrieren konnte.
»Die Frau, wer war das?«
»Sascha . . .« Ich schüttelte abwesend den Kopf, presste die Augen fest zusammen, dann stieß ich die Beifahrertür wieder auf.
»Was wird das?«
»Ich hab’s mir anders überlegt.«
»Nelly!«
»Ich melde mich.« Dann schlug ich die Tür mit aller Kraft zu, so dass sie schepperte und ich Dennis im Auto zusammenzucken sah. Ja . . . sein heißgeliebtes Auto . . . Ohne auf Sascha zu achten, stiefelte ich zu Fuß in Richtung Hofeinfahrt, Dennis rauschte an mir vorbei, und ich verließ die Villa.
»Ich kann dich fahren.«
Ich wusste, dass sie mich nicht einfach so gehen lassen wollte. Aber ich ignorierte sie.
Die Nacht war unruhig gewesen, doch ich schien irgendwie noch immer unter Schock zu stehen, denn ich konnte mich nicht an Alpträume erinnern. Gleichwohl fühlte ich mich müde, ausgelaugt und irgendwie erschreckend nahe an einem Heulkrampf. Jo hatte mir vorgeschlagen, einen Termin bei einem Psychiater für mich zu machen, aber ich hatte rigoros abgelehnt. Ich wollte es selbst schaffen und hatte wenig Lust, meine freie Zeit bei irgendeinem Seelenklempner zu verbringen. Noch im Halbschlaf lief ich unter die Dusche und hoffte darauf, dass ich dadurch vielleicht aufwachen würde. Ich stellte das Wasser auf kalt, etwas, was ich sonst niemals tat, und schrie erschrocken auf, als der Wasserstrahl meinen Körper berührte. Hastig regulierte ich die Temperatur auf ein erträgliches Maß und seifte mich mit meinem Lieblingsduschgel ein. Eine Mischung aus Honig und Mandel, deren Duft mich wunderbar entspannen konnte. Als ich aus der Dusche trat und mich abgetrocknet hatte, schlüpfte ich in meine bequeme Lieblingsjeans und in meinen braunen Kapuzenpullover. Dazu meine braunen, mit Kunstfell gefütterten Stiefelchen, und ich war mit meinem Outfit zufrieden. Ich mochte es nicht, mich für den Kindergarten besonders schick zu machen, das lohnte sich schlicht und ergreifend nicht. Spätestens am Nachmittag würde ich mich am Maltisch wiederfinden und mit Kleister und Farbe irgendetwas Kreatives herstellen.
Schließlich ging ich mit halbtrockenen Haaren aus dem Haus und hatte mir sicherheitshalber noch eine Mütze aufgesetzt. Krank werden wollte ich nicht. Wobei der Gedanke, heute einfach im Bett liegen zu bleiben, etwas Verlockendes hatte. Nektar kläffte empört, als ich die Wohnung verließ.