MARY HOOPER
Aus dem Englischen
von Marlies Ruß
Vollständige eBook-Ausgabe der Buchausgabe
bloomoon, München 2013
Copyright © Mary Hooper, 2010
Titel der Originalausgabe: Fallen Grace
Die Originalausgabe erschien 2010 bei Bloomsbury, London.
© 2013 bloomoon, ein Imprint der arsEdition GmbH, München
Der Titel erschien erstmals 2010 im Bloomsbury Verlag GmbH, Berlin
Alle Rechte vorbehalten
Text: Mary Hooper
Übersetzung: Marlies Ruß
Covergestaltung: Rothfos & Gabler, Hamburg, unter Verwendung des Designs der Originalausgabe und einer Fotografie von © Getty Images
Umsetzung eBook: Zeilenwert GmbH
ISBN eBook 978-3-8458-0329-6
www.bloomoon-verlag.de
Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.
[Titelinformationen]
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
ANMERKUNGEN DER AUTORIN ZUM HISTORISCHEN HINTERGRUND
Glossar
Für Richard, in Liebe
Die Beisetzung von MISS SUSANNAH SOLENT findet am MONTAG, DEN 8. JUNI 1861, in der LONDON NEKROPOLIS, BROOKWOOD, statt.
Trauergäste, die der Verstorbenen das letzte Geleit erweisen möchten, mögen sich im Wartesaal der ersten Klasse am Waterloo Bahnhof der Nekropolis Gesellschaft einfinden.
Abfahrt des Zuges ist um 11.30 Uhr.
Grace, die ihr kostbares Bündel fest an sich drückte, fand den Bahnhofseingang ohne große Mühe. Die Nekropolis-Bahn lief, genau wie ihr die Hebamme Mrs Smith erklärt hatte, auf einer eigens dafür eingerichteten Schienenstrecke von Waterloo Station in London bis nach Brookwood in der Grafschaft Surrey. Hier am Londoner Bahnhof versammelten sich um kurz vor elf die Hinterbliebenen, unschwer zu erkennen an den für die erste Phase der Volltrauer vorgeschriebenen Kleidern: Die wenigen Frauen, deren nervliche Konstitution es ihnen erlaubte, dem Begräbnis beizuwohnen, trugen dicke Schleier und schwarze Gewänder aus Kreppstoff bar jeglicher Verzierung – kein glänzender Schmuck, keine bunten Knöpfe oder edlen Borten lockerten die strenge Tracht auf; die Männer trugen Zylinder mit Trauerflor, förmliche Gehröcke und schwarze Schalkrawatten aus feinem Kammgarn. Alle warteten auf den Zug, der sie zusammen mit ihrem Verstorbenen aufs Land hinausbringen sollte, in den Garten des ewigen Schlafs in Brookwood. Dort, fernab vom Getöse und Gestank Londons, konnten ihre Verstorbenen unter Rosenbüschen und immergrünen Kiefern in ewigem Frieden ruhen.
Grace hielt sich ein wenig abseits und beobachtete, wie die Trauernden vor die Glasscheibe des Fahrkartenschalters traten, um ihre Karte zu lösen. Sie war ängstlich und unsicher, da sie noch nie mit der Eisenbahn gefahren war, und konzentrierte sich darauf, alles richtig zu machen. Nachdem nahezu alle Reisenden den Fahrkartenschalter passiert und sich in die jeweiligen Wartesäle für ihre Klasse begeben hatten, trat sie vor die Scheibe.
»Nach Brookwood bitte«, sagte sie. »Hin und zurück.«
Der Schalterbeamte blickte auf. »Erster, zweiter oder dritter Klasse, Miss?«, fragte er in dem mitfühlenden Tonfall, zu dem die Mitarbeiter der Nekropolis-Bahn angehalten waren.
»Dritter Klasse«, antwortete Grace und schob ihm die zwei Shillinge hin, die die Hebamme ihr gegeben hatte.
»Sie fahren ganz allein? Nicht mit einer Trauergesellschaft?«
Grace nickte. »Nur ich allein. Ich … ich besuche das Grab meiner Mutter«, log sie.
Der Beamte schob ihr eine Fahrkarte aus dickem, schwarz umrandetem Papier hin. »Sie können sich einstweilen in den entsprechenden Wartesaal begeben. Man wird Ihnen dann zeigen, wo Sie hinmüssen«, sagte er. »Der Zug fährt pünktlich um halb zwölf Uhr ab. Einen guten Tag noch.«
Grace nahm die Fahrkarte entgegen, stammelte ein Dankeschön und ging weiter.
Es gab drei Wartesäle, für jede Klasse einen, und den Leuten darin sah man, obschon natürlich alle Schwarz trugen, ihren sozialen Stand unschwer an. Die in der zweiten Klasse waren lange nicht so elegant und förmlich gekleidet wie die der ersten, und manche aus der dritten Klasse schienen, ihren geflickten Gewändern und verwahrlostem Äußeren nach zu urteilen, fast dem Armenstand anzugehören. Grace stellte erleichtert fest, dass sie hier in ihren zerschlissenen und gestopften Kleidern nicht weiter auffiel. Und da ein jeder sowieso in seine eigene Trauer versunken war und darum rang, seine Fassung zu bewahren, blickte auch niemand zu dem zierlichen, blassen Mädchen auf, das jünger als seine fünfzehn Jahre wirkte, die Augen zu Boden geschlagen hatte und ein kleines, in Leinen gewickeltes Bündel unterm Arm hielt. Hätte jemand sich gefragt, was sie da bei sich trug, so hätte er vermutlich auf ein extra Paar Schuhe oder einen zusätzlichen Schal getippt, für den Fall, dass der Boden des Friedhofs schlammig sein oder der Himmel sich plötzlich bewölken sollte.
Um Punkt zwanzig nach elf setzten sich die verschiedenen Grüppchen in Bewegung, um den Zug zu besteigen, wobei die Passagiere der ersten Klasse von beflissenen Vertretern der Beerdigungsgesellschaften zu privaten Waggons geleitet wurden. Sie stiegen zuerst ein, damit ihnen jeglicher Kontakt mit den Reisenden der dritten Klasse – oder auch nur deren bloßer Anblick – erspart bliebe. Auch die Särge ihrer Verstorbenen reisten getrennt von denen der niederen Klassen; alles andere wäre eine Zumutung für sie gewesen.
Sobald die lebenden Passagiere sicher auf ihren Plätzen angelangt waren, kamen die Särge an die Reihe. Sie wurden nun in den Leichenwaggon geladen, was aus Rücksicht auf die Angehörigen mit der allergrößten Diskretion vor sich ging. All jene, die nicht in Begleitung eines Sargs reisten, sondern sich nur um ein Grab kümmern oder zu einem stillen Gedenken auf den Friedhof fahren wollten, stiegen in einen separaten Waggon. Ihnen schloss sich Grace an. Jemand machte eine Bemerkung, wie angenehm es doch sei, dass die Sonne schien, was rundum zustimmendes Gemurmel erntete, doch Grace blickte weder auf noch steuerte sie selbst einen Kommentar bei. Zu sehr war sie mit ihren eigenen verzweifelten Umständen beschäftigt.
Denn welchen Unterschied hätte es schon gemacht, ob es heute regnete oder schneite – oder gar die ganze Welt vom Nebel verschluckt wurde und kein Mensch je wieder das Licht der Sonne erblickte? Sie hatte ein Kind zur Welt gebracht, und das Kind war gestorben. In so einem Augenblick war nichts anderes mehr von Bedeutung.
Auf die Minute pünktlich setzte sich der Zug mit gewaltigem Dröhnen und Rattern in Bewegung. Dampf- und Rauchschwaden hüllten den Waggon ein wie eine Wolke. Von weiter hinten ertönte ein erschrockenes »Um Himmels willen!«, und einige Frauen schrien vor Angst auf. Grace war nämlich nicht die Einzige, die noch nie mit der Eisenbahn gefahren war. Angesichts des Lärms und des zischenden Dampfs sprang sie erschrocken auf, zog prompt sämtliche Blicke auf sich und setzte sich daher rasch wieder hin.
Sie wusste, dass die Fahrt ungefähr eine Stunde dauern würde, und hatte genaue Anweisungen erhalten, was sie zu tun habe: Nachdem die Fahrt begonnen hatte, sollte sie in den Waggon mit den Särgen gehen, sich einen davon aussuchen (keinen Armensarg, hatte die Hebamme sie angewiesen, sondern einen aus der ersten Klasse, aus gutem Holz und mit Messinggriffen), an einer Ecke den Deckel ein wenig anheben und ihr kostbares Bündel hineinlegen. Das war schon alles. Wenn der Zug dann den Friedhof erreichte, würden die Särge ausgeladen und, nachdem die Deckel fest zugeschraubt worden waren, an ihre letzte Ruhestätte gebracht, wo im privaten Kreis der Angehörigen die Beerdigungszeremonie stattfand.
Wenn Grace es zügig anstellte, so die Hebamme weiter, dann würde niemand bemerken, dass einer der Särge eine kleine Zugabe erhalten hatte. Und eine solche Bestattung wäre doch viel, viel besser für den toten Säugling, als in einem Armengrab in London beerdigt zu werden.
»Ich rate dies allen jungen Mädchen, die solch einen Verlust erlitten haben«, hatte die Hebamme hinzugefügt. »Und danach musst du die ganze Sache vergessen. Erzähl niemals einer Menschenseele von dem Kind – nein, nicht einmal, wenn du heiratest. Du bist eine gefallene Frau, und solch eine Sünde verzeiht niemand.«
Aber es sei doch nicht ihre Sünde gewesen, hatte Grace einwenden wollen, sie habe den Vorfall, der zu dem Kind geführt habe, doch weder gewollt noch herausgefordert, doch Mrs Smith hatte sie unterbrochen und ihr befohlen, kein Wort mehr darüber zu verlieren. Auf diese Weise werde sie das Ganze am schnellsten vergessen, so die Hebamme.
Der Zug fand allmählich in einen monotonen, schaukelnden Rhythmus, und als der Schmutz und Gestank Londons nach und nach dem lieblichen Grün des Umlands wichen, richtete Grace den Blick aus dem Fenster. Während sie noch überlegte, wo sie wohl gerade waren, wanderten ihre Gedanken zu den vergangenen Tagen zurück.
Die letzte Phase ihrer Wehen war qualvoll gewesen, aber Gott sei Dank kurz – was allerdings auch daran lag, dass Grace sich ihre heftigen Schmerzen stundenlang nicht eingestanden hatte. Und davor hatte sie sich monatelang nicht eingestanden, überhaupt schwanger zu sein, und tatsächlich hätte es ihr bis zu den letzten paar Wochen auch niemand angesehen. Erst ab da war ihr öfters aufgefallen, wie Leute auf der Straße vielsagende Blicke tauschten oder jemand spöttisch bemerkte: »Da braucht aber eine ziemlich dringend einen Ehemann!« oder »Dieser Bauch kommt ganz gewiss nicht vom Bier!«, wenn sie an einem Samstagabend an einem Wirtshaus vorbeiging. Natürlich hatte sie Lily davon erzählt, hegte jedoch ihre Zweifel, wie viel wohl jemand wie ihre Schwester von Babys verstand und davon, wie man sie bekam.
Als die Geburt näher rückte (wobei Grace selbst nicht sagen konnte, woher sie das wusste, denn sie hatte ja keine Ahnung, wie lange eine Schwangerschaft dauerte), machte sie sich auf die Suche nach jemandem, der ihr helfen würde, denn immerhin wusste sie, dass dabei nicht nur ordentliche Schmerzen mit im Spiel waren, sondern auch Blut und Leintücher und Schüsseln mit Wasser. Einmal hatte sie ein Mädchen, das sich offensichtlich in derselben Situation befand, dazu befragt, und es hatte ihr den Namen einer Hebamme genannt, doch die Frau hatte Grace mit den Worten abgewiesen, sie sei ja viel zu jung und die Angelegenheit sei ihr zuwider; einem unehelichen Balg auf die Welt zu verhelfen, damit wolle sie nichts zu tun haben. Auch in dem großen Entbindungsheim an der Westminster Bridge hatte sie es versucht, war jedoch auf eine Tafel mit dem Hinweis gestoßen, dass nur verheiratete Frauen zur Entbindung aufgenommen würden, und diese als Nachweis ihre Heiratsurkunde mitzubringen hätten.
So musste Grace es dem Schicksal überlassen, wann und wo sie ihr Kind zur Welt bringen würde. Sehr früh am vorhergehenden Morgen waren ihre Wehen mit einem Mal häufiger gekommen, und so hatte sie Lily Anweisungen für den folgenden Tag gegeben und sich zu Fuß zum nächstgelegenen Krankenhaus am Charing Cross aufgemacht. Dort wurde sie zwar abgewiesen, doch eine mitfühlende Schwester riet ihr, ins Berkeley House in Westminster zu gehen. »Wo auch gefallene Mädchen aufgenommen werden«, wie ihr die Schwester zugeraunt hatte.
Berkeley House lag nur ein kurzes Wegstück entfernt – ein hässliches Gebäude mit rußigen Mauern und geschlossenen Fensterläden –, doch als sie es erreichte, kamen die Wehen bereits in so kurzen Abständen, dass Grace schon befürchtete, auf der Türschwelle entbinden zu müssen, hätte man sie nicht rasch aufgenommen. Eine außen angebrachte Notiz wies darauf hin, dass nur unverheiratete Frauen, die ihr erstes Kind bekamen, aufgenommen würden, und erinnerte in schonungsloser Deutlichkeit daran, was für ein gefahrvolles Unterfangen eine Entbindung bedeutete:
Aufgenommene Patientinnen werden gebeten, dafür Sorge zu tragen, dass im Falle eines tragischen Ausgangs die Kosten für eine Beerdigung aufgebracht werden können. Das Hospital übernimmt keine Beerdigungskosten für Mutter oder Kind.
Grace war dankbar, dass sie nicht mit irgendwelchen Fragen konfrontiert, sondern sogleich in einen Raum mit sechs Betten geführt wurde, jedes nur durch einen dürftigen Baumwollvorhang vom nächsten getrennt und mit einer Holzkiste am Fußende versehen, die als Kinderbettchen herhalten musste. Weitere Möbel oder sonstigen Schmuck gab es nicht in dem Raum, außer einem großen Schwarzweißbild von Königin Viktoria an der Wand.
Grace sank auf das hinterste Bett in der Reihe. Sie hörte zwei Babys schreien und jemanden stöhnen, eine Frau flehte Gott um Beistand in der Stunde ihrer Not an. Dazwischen war die ruhige Stimme einer Hebamme zu vernehmen, die von Bett zu Bett ging und den in den Wehen liegenden Frauen Ermahnungen, Anweisungen und Zuspruch zuteilwerden ließ.
»Nun, Mary, es kann nicht mehr lange dauern«, sagte sie, während sie Grace untersuchte. Als Grace ihren Namen richtigstellen wollte, erhielt sie zur Antwort, alle Mädchen würden hier im Hospital Mary genannt, und die Hebamme würde mit Mrs Smith angeredet.
»Hast du ein paar Dinge vorbereitet?«, fragte Mrs Smith. »Hast du einen Schlafplatz für das Kind, wo es nicht zieht, und ein paar saubere Baumwolltücher, die man auskochen kann?«
Grace hatte bloß den Kopf geschüttelt.
»Hast du etwas zum Anziehen für das Kind? Windeln und Wolltücher? Jäckchen und Kleider?«, fuhr Mrs Smith fort. »Diese Dinge kommen nämlich nicht einfach mit dem Kind auf die Welt! Hast du denn gar nicht darüber nachgedacht, was es alles brauchen wird?«
Grace drehte das Gesicht zur Wand. Sie hatte nämlich, trotz ihres sich rundenden Bauchs, trotz ihres rudimentären Wissens über die Körperfunktionen, trotz dem, was vor neun Monaten passiert war, nie wirklich geglaubt, dass sie ein Kind erwartete. Wie hatte so etwas nur geschehen können? Es konnte doch nicht sein, dass sie da gar nichts mitzureden gehabt hatte?
Die Hebamme schnalzte mit der Zunge. »Wo wohnst du denn, Kind?«
»Ich habe ein Zimmer in Mrs Macreadys Mietshaus in Seven Dials«, brachte Grace zwischen zwei Wehen hervor.
»Gütiger Himmel!«, hatte Mrs Smith kopfschüttelnd ausgerufen. »Dort? In dem Elendsviertel?«
»Es ist ein sauberes Zimmer«, verteidigte sich Grace. »Nur ich und meine Schwester wohnen darin.«
»Hast du keine Familie? Wissen deine Eltern von dem Kind? Hast du dich an wohltätige Einrichtungen gewandt, die dich aufnehmen könnten? Gütiger Himmel, Kind, hast du überhaupt genügend Geld, um für eine Beerdigung aufzukommen, sollte es für dich oder das Kind zum Schlimmsten kommen?«
Grace hatte keine Lust, auf irgendeine dieser Fragen zu antworten, und so verzog sie angesichts der nächsten Wehe schon vorzeitig schmerzvoll das Gesicht.
Als die Wehe vorbei war, fragte die Hebamme: »Weiß der Vater des Kindes Bescheid? Wird er dir helfen? Ist er – Gott bewahre –, ist er womöglich verheiratet?«
»Er weiß nichts«, antwortete Grace flüsternd. »Und er wird es auch nie erfahren.«
»Du hast also niemanden, der sich nach der Niederkunft um dich kümmern wird? Niemand, der das Kind willkommen heißt und dir beim Aufziehen zur Seite steht?«
Grace schüttelte den Kopf. Sie hatte sich einfach nicht vorstellen können, dass das einmal Realität würde: so ein rotgesichtiges schreiendes Bündel, das sich arme Frauen auf den Rücken banden, wenn sie zur Arbeit gingen.
»Ja, in Gottes Namen, willst du denn das Kind bloß als ein Requisit, um damit betteln zu gehen?«, fragte die Hebamme plötzlich.
»Nein!«, entgegnete Grace mit so viel Empörung, wie sie zwischen den Wehen zustande brachte.
Die Wehen wurden stärker und kamen in immer dichteren Abständen, und einmal hielt Mrs Smith Grace ein Fläschchen mit starkem Riechsalz hin, von dem ihr so schummrig wurde, dass sie in eine Art Dämmerzustand nahe der Bewusstlosigkeit versank, obwohl die Wehen sie nach wie vor plagten. Als die Wirkung des Salzes nachließ und Grace wieder ganz zu sich kam, war es dunkel geworden in dem Raum. Die Hebamme kümmerte sich um ein Mädchen zwei Betten weiter. Erschöpft kämpfte sich Grace in eine sitzende Position auf und beugte sich ans Fußende ihres Betts vor, um in die Kiste zu sehen.
Sie war leer.
Grace rief nach Mrs Smith, die einen Augenblick später zu ihr kam. Ein sanfter, tröstender Ausdruck lag auf ihrem Gesicht, und sie strich Grace übers Haar, während sie sprach. »So traurig es auch ist, ’s ist wohl das Beste so«, sagte sie.
»Was ist passiert? Wo ist das Baby?«
»Ach. Es tut mir leid, dir das sagen zu müssen, mein liebes Kind, aber das Baby ist gestorben.«
Es trat eine lange, lange Stille ein, und Grace war selbst überrascht, als sie bemerkte, dass ihr dicke Tränen über die Wangen kullerten. Sie hatte sich das Kind nicht einmal als echtes, lebendes Baby vorstellen können, überlegte sie verwundert, warum war es dann so niederschmetternd, zu erfahren, dass das Baby tot war?
»Was war es denn?«, fragte sie schließlich.
»Ein Junge. Gott segne ihn.«
»Hat er überhaupt gelebt?«
Mrs Smith schüttelte den Kopf. »Eine Totgeburt. Hat keinen einzigen Atemzug getan.«
Grace sank auf die Matratze zurück. »Habe ich irgendetwas falsch gemacht – während ich ihn trug?«
»Nein, liebes Kind. So etwas passiert einfach manchmal bei ganz jungen Mädchen. Dein Körper war noch nicht bereit, ein Kind auszutragen. Ich denke, es ist am besten so. Du bist ja selbst noch ein Kind und hast niemanden, der sich um dich kümmert. Das Kleine hätte sowieso den ersten Winter nicht überstanden. Seven Dials ist kein Ort, um ein Kind aufzuziehen.«
»Aber tot … «
»Gar nicht am Leben«, verbesserte die Hebamme. Sie schob Grace eine Haarlocke hinters Ohr. »Du bist noch sehr jung. Du wirst noch andere Kinder bekommen, wenn es an der Zeit ist. Du wirst diese traurige Sache vergessen.«
»Kann ich …?« Grace zögerte, da sie sich selbst nicht sicher war, welche Antwort auf ihre Frage sie sich wünschte. Doch die Hebamme kam ihr zuvor.
»Es ist besser, ihn nicht mehr zu sehen«, sagte sie rasch. »Ich rate immer davon ab. Stell dir einfach vor, das Ganze war bloß ein Traum, eine Geschichte … etwas, was gar nicht wirklich passiert ist. So kommt man leichter drüber weg.«
Grace hatte wieder zu weinen angefangen.
»Wie gesagt, so ist’s am besten. Und jetzt schlaf und ruh dich aus über Nacht, dann bist du im Nu wieder bei Kräften und auf den Beinen.«
Und tatsächlich: Nach einer durchschlafenen Nacht und einer Schale Kartoffeln mit Fleisch – eine milde Gabe der Gesellschaft zur Rehabilitation mittelloser Frauen und Mädchen – wurde Grace aufgefordert, ihr Bett in Berkeley House für die nächste Bedürftige zu räumen. Bevor sie das tat, wurde ihr allerdings ein fest verschnürtes Bündel überreicht, und die Hebamme erzählte ihr von einem wunderbaren Parkfriedhof draußen auf dem Land.
»Ich mach das nicht für jedes Mädel«, hatte Mrs Smith gesagt und ihr dabei zwei Münzen in die Hand gedrückt. »Aber es tut mir besonders leid für dich.«
Grace schaute sie fragend an.
»Die zwei Shillinge sind das Fahrgeld, um dieses kleine Bündel aus der Stadt zu bringen, denn die Friedhöfe in London sind allesamt überfüllt und geschlossen worden, und du hättest es bestimmt nicht gern, wenn das Kleine ohne Sarg in einem Armengrab verbuddelt würde, oder?«
Grace schüttelte den Kopf. Die bloße Vorstellung war ihr schon unerträglich.
»Eben. Drum musst du nach Brookwood hinausfahren.«
»Was ist das?«
»Das ist so was wie ein wunderschöner Park, mit Bäumen und Blumen und Statuen drin. Wenn du dann an dein Kleines denkst, kannst du es dir dort draußen vorstellen, wo schöne Engel aus Stein über ihm wachen.« Die Vorstellung rief ein kleines Lächeln auf Graces Gesicht, und auch die Hebamme lächelte. Es war so, wie sie gedacht hatte: Die Beerdigung des Kindes, das vollzogene Ritual, würde helfen, die Trauer zu bewältigen. »Und wenn du ihn begraben hast«, setzte sie hinzu, »dann musst du mit deinem Leben noch mal von vorn beginnen … «
»Noch mal von vorn beginnen … «, murmelte Grace, als sie an das Gespräch zurückdachte. Auf einmal merkte sie, dass sie, eingelullt von dem rhythmischen Schaukeln des Nekropolis-Zugs, die Worte laut ausgesprochen hatte.
»Alles in Ordnung, Kind?«, fragte der Mann neben ihr. Er trug einen schäbigen Gehrock und einen zerbeulten schwarzen Zylinder.
Grace nickte und drückte ihr Bündel fester an sich.
»Du bist sehr jung, um schon allein mit diesem Zug zu fahren. Ist ein Familienmitglied von dir gestorben?«
Grace nickte, machte dazu eine Geste, als sei sie zu sehr von Trauer überkommen, um zu sprechen, und starrte durchs Fenster hinaus auf die vorbeigleitende Landschaft.
Noch mal von vorn, schien der Rhythmus der Eisenbahnräder zu raunen. Noch mal von vorn … Wenn sie nur diesen Tag überstehen und noch einmal neu anfangen könnte, betete sie im Stillen, dann wollte sie versuchen, etwas aus ihrem Leben zu machen. Dann würde sie sich anstrengen, um sich und Lily ein anderes und besseres Leben aufzubauen.
Ein schrilles Pfeifen ertönte, als der Zug unter einer Brücke hindurchfuhr. Der Krach riss Grace aus ihren Gedanken. Sie musste einen letzten Ruheplatz für ihr Kind finden …
Manche hätte diese Aufgabe mit Entsetzen erfüllt, die Vorstellung, einen Hort der Toten zu betreten, doch Grace hatte in ihrem Leben schon genügend Leid erfahren, um zu wissen, dass man sich nur vor den Lebenden zu fürchten brauchte, nicht vor jenen, die ins Jenseits hinübergegangen waren. Sie zog sich ihr Wolltuch fester um den Kopf, schob die Abteiltür auf und trat auf den Gang hinaus. Hier war alles still: Jede Trauergesellschaft hatte ihren eigenen, privaten Waggon (und im letzten saßen die Angestellten der Beerdigungsgesellschaften zusammen, erzählten sich Anekdoten und genossen ein Schlückchen aus der Whiskeyflasche).
Der Zug ging dröhnend und heftig schaukelnd in eine Kurve. Grace hielt sich am Fensterrahmen fest und wartete, bis er wieder geradeaus fuhr. Dann schob sie die Tür zu dem Waggon auf, in dem sich die Särge befanden, und ging hinein.
Der Wagen hatte kein Fenster und war nur spärlich vom Licht zweier Kerzen beleuchtet, die in Haltern an der Wand befestigt waren. Es dauerte ein paar Augenblicke, bis Graces Augen sich an das Dämmerlicht gewöhnt hatten. Sie sah, dass der Wagen drei Abteilungen aufwies, eine jede mit schmalen Eisenregalen ausgestattet, auf denen die Särge ruhten. Selbst in dem kümmerlichen Licht waren Reich und Arm leicht zu unterscheiden: Die Särge der dritten Klasse waren aus billigem Spanholz gefertigt und die Schildchen mit dem Namen des Verstorbenen und dem Todestag von Hand geschrieben, während die Särge der ersten Klasse aus lackiertem, auf Hochglanz poliertem Holz bestanden und Beschläge, Griffe und gravierte Schilder aus Messing oder Silber trugen.
Grace ging in die Abteilung der ersten Klasse und las ein paar der Namensschilder. Sie klangen wie Visitenkarten fürs Himmelreich: Sebastian Taylor, hingebungsvoller Gatte und Vater; Maud Pickersley, widmete ihr Tun den Mittellosen und Notleidenden; Jessy Rennet, führte ein Leben der Frömmigkeit und Hoffnung.
Die Bremsen des Zugs quietschten, und der Zug verlangsamte seine Fahrt ein wenig, als ob er sich seinem Ziel näherte. Grace ließ den Blick nervös über die Särge wandern. Welchen sollte sie nehmen? Sie wollte auf jeden Fall, dass ihr Kind bei einer Frau ruhte, jemandem, der sich nach einem freundlichen Menschen anhörte und aus einer guten Familie kam. Sie blieb vor einem Sarg aus hellem Eichenholz stehen, der die sterblichen Überreste von Miss Susannah Solent, Fürsprecherin der Schwachen, Prinzessin der Armen enthielt.
Miss Susannah Solent. Es gab keinen Hinweis auf ihr Alter, und offenbar war sie selbst keine Mutter gewesen, doch die Beschreibung klang nach jemandem, der zu einem Kind freundlich gewesen wäre und ihm Schutz geboten hätte.
Die Zeit drängte. Grace hob den hellen Deckel des Sargs, in dem Miss Susannah Solent lag, an einer Ecke ein wenig an und legte, ohne hineinzublicken, ihr kleines Bündel hinein. Ein Gefühl sagte ihr, dass irgendeine Form von Abschied angebracht wäre, und so murmelte sie: »Mögest du in Frieden ruhen und wir eines Tages wieder vereint werden.« Sich die Augenwinkel tupfend, ging sie rasch in den Gang zurück.
Mr und Mrs Stanley Robinson freuen sich, Ihnen die sichere Ankunft ihres Sohnes, Albert Stanley Robinson, bekannt geben zu dürfen.
Mrs Robinson heißt Besucher und Gratulanten ab dem 1. Juli bei sich zu Hause willkommen.
Bitte senden Sie vorab Ihre Karte.
In einem Kinderzimmer, dessen Wände über und über mit Segelschiffen auf schaumgekräuselten Wellen bemalt waren, stand ein junges Paar, Mr und Mrs Stanley Robinson, über einen üppig verzierten Stubenwagen gebeugt. Unter den Spitzenvorhängen des Wagens schlief in einem mit weißen Bändern und Rüschen verzierten Bettchen ihr neugeborenes, noch ungetauftes Baby. Immer wenn ihr allerliebster Schatz und zukünftiger Erbe den geringsten Mucks machte, sich leise regte oder das Gesichtchen verzog, gerieten sie aufs Neue in Staunen.
»Ich fürchte, das wird wohl nicht so bleiben«, flüsterte der Mann. »Es heißt doch, dass Babys ziemlich viel schreien.«
Die Frau lachte leise, aber wohlwollend. »Meinst du etwa, das wüsste ich nicht? Oh, doch! Und ich bin sehr wohl darauf vorbereitet.«
»Sollen wir ein Kindermädchen einstellen? Mutter sagte, sie würde dafür aufkommen.«
»Auf gar keinen Fall«, erwiderte die Frau. »Nachdem ich so lange auf unser Baby gewartet habe, werde ich es doch nicht von jemand Fremdem versorgen lassen.«
»Ganz wie du willst, Liebste«, sagte der Mann. Er streckte einen Finger aus und strich dem Baby über die rosige Wange unter der allerliebsten Spitzenhaube. Das Baby zuckte im Schlaf, und das Paar erstarrte für einen Augenblick vor Angst, es könne aufwachen, doch es schlief ruhig weiter. »Liebes kleines Baby«, sagte der Mann.
»Liebes, kostbares Baby«, sagte auch die Frau, und sie und ihr Mann blickten einander zärtlich an. »Endlich … «
BETTLER Um Ihren Bettler loszuwerden, so er Ihnen lästig wird und es sich um einen Engländer handelt, schenken Sie ihm einfach keinerlei Beachtung. Er wird Ihnen nur so lange folgen, bis er ein erfolgversprechenderes Opfer erspäht hat. Falls er etwas zu verkaufen hat, sagen Sie einfach »Hab ich schon« und gehen weiter.
Dickens’s Dictionary of London, 1888
Seven Dials im Bezirk St. Giles war das vielleicht ärmste Viertel in ganz Westlondon, denn angeblich lebten hier nahezu dreitausend Menschen zusammengepfercht in wenig mehr als hundert Wohnhäusern. Der Name kam von den sieben Gassen, die unterhalb der Oxford Street zusammentrafen. Jeder Hof und jedes Gässchen, das von ihnen abzweigte, war gesäumt von Slums und Elendsquartieren. Baufällige Mietskasernen, Ladengeschäfte und stinkende Wirtshäuser reckten sich schief in die Höhe, abgestützt durch morsche Holzbalken und rostiges Blech; die kaputten Fenster waren mit Brettern vernagelt, Löcher im Mauerwerk zum Schutz gegen den Regen notdürftig mit Plane abgedeckt. Wer in diesen Häusern wohnte, war arm, jedoch nicht vollkommen mittellos. Keiner dieser Bewohner besaß feste Einkünfte, sondern sie alle lebten von der Hand in den Mund, hofften jeden Morgen aufs Neue, dass der Tag ihnen genug Geld einbringen würde, um sich und ihre Familie wieder für vierundzwanzig Stunden zu ernähren. Sie waren Gemüsehändler mit einem Stand auf einem der Märkte, Straßenhändler, die Streichhölzer und eingelegte Wellhornschnecken verkauften, Straßenkehrer, Wäscherinnen, Gossenreiniger und Jungen, die sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen suchten, indem sie einem Gentleman das Pferd hielten oder zur Unterhaltung der Passanten Purzelbäume schlugen. Noch eine Etage darunter, in den übelsten Löchern und Verschlägen, hauste Gauner- und Lumpenpack, Diebe und Bettler.
An den Ständen und in den Läden ringsum wurden all die Dinge feilgeboten, die selbst die Ärmsten nicht entbehren konnten: Viele mussten zwar ohne Schuhe auskommen, doch alle benötigten etwas zu essen und Kleidung. Die Kleider, die man in Seven Dials kaufen konnte, waren niemals neu, sondern immer aus zweiter, dritter oder vierter Hand: abgelegte Damenkleider, Hüte, Schuhe, Strümpfe, verknitterte Unterröcke, ausgefranste Jacken und löchrige Schultertücher. Eine ganze Reihe von Läden bediente Vogelfreunde, und so konnte man hier fast jede Art von Tauben, Vogelwild und Hühnern finden, nebst Drosseln, Finken und anderen Singvögeln. Einige Läden am Südrand von Seven Dials boten billige Haushaltsgegenstände zum Verkauf an: Besen, Kehrschaufeln, Staubwedel, Waschschüsseln und Putzlumpen, denn selbst die ärmste Frau wusste, dass Sauberkeit gleich hinter Frömmigkeit rangierte, und mühte sich, einen gewissen Standard zu halten.
Mrs Macreadys Mietshaus am Brick Place in Seven Dials verfügte über vier Stockwerke mit je zwei Zimmern sowie einen feuchten, schimmlig-grünen Keller. Mrs Macready selbst wohnte im Erdgeschoss und wachte über das Kommen und Gehen im Haus, über ein Kontobuch mit den Mieten und eine Küche, die die Mieter für einen Halfpenny oder zwei benutzen durften. Es gab einen provisorischen Abtritt im Hinterhof und auch einen Brunnen, doch wegen der räumlichen Nähe der beiden zueinander war das Wasser aus dem Brunnen verschmutzt und nicht trinkbar – ein paar Jahre vorher waren einige von Mrs Macreadys Mietern und weitere aus dem Nebenhaus deswegen sogar an Cholera gestorben. Seither holten sich alle brav ihr Wasser in Eimern, Wasserkesseln und Töpfen an einem Standrohr auf der Straße.
Mrs Macready war eine resolute und heitere Dame, die die alten, zurückgelassenen Kleider ihrer Vermieter auftrug, wenn diese weiterzogen, egal wie zerlumpt sie sein mochten und ob es sich um Frauen- oder Männerkleider handelte. So konnte es sein, dass sie eine zerschlissene Spitzenbluse unter einem alten Jackett trug oder einen knittrigen Rock zu einem abgetragenen Schal und Weste und das Ganze mit einem Hut mit künstlichen Blumen krönte. Aus strikter Überzeugung und Menschenfreundlichkeit vermietete sie jedes Zimmer nur an eine einzige Familie, und ihre Mietpreise lagen deutlich unter dem üblichen Niveau. In der Tat verlangte sie so wenig, dass ihr nicht genügend Geld blieb, um das Haus instand zu halten, das inzwischen hoffnungslos baufällig war. Wenn es denn eines Tages um sie herum einstürzen sollte, pflegte sie zu sagen, so würde sie zu ihrem wohlhabenden Sohn in Connaught Gardens hinausziehen.
Während Grace mit dem Nekropolis-Zug zum Friedhof in Brookwood hinausfuhr, harrte ihre Schwester Lily im kleinsten Zimmer des zweiten Stocks von Mrs Macreadys Mietshaus ungeduldig ihrer Rückkehr. Ohne Unterlass vor sich hin seufzend, hielt sie durch das rußige Fenster hindurch nach ihr Ausschau. Grace war nun schon eine Ewigkeit lang fort, was um alles in der Welt trieb sie denn bloß die ganze Zeit? Dauerte es denn so lange, ein Baby zu bekommen? Nein, wirklich, sie war jetzt schon einen ganzen Tag und eine Nacht lang fort – oder waren es schon zwei?
Lily wusste, dass ihre Schwester mit einem Baby zurückkommen würde, denn Grace hatte ihr in einfachsten Worten erklärt, dass in ihrem Bauch ein kleines Baby war, und dass sie jemanden suchen musste, der ihr half, es herauszuholen. Währenddessen sollte Lily, so die Anweisungen ihrer Schwester, zum Markt gehen und Brunnenkresse kaufen (wie das ging, wusste sie, da sie Grace schon oft begleitet und zugesehen hatte, wie diese mit den Markthändlern feilschte), die Kresse in kleine Sträußchen zerteilen und sie dann, wie jeden Tag, auf der Straße feilbieten. Am Vortag hatte sie die Anweisungen auch getreu ausgeführt, doch weil sie sich zu lange nicht entscheiden konnte, welche Kresse sie kaufen sollte, hatte sie den morgendlichen Strom der Arbeiter verpasst. Zu allem Übel hatte es auch noch den ganzen Tag geregnet, so dass sich kaum eine Hausfrau auf der Straße blicken ließ, und obwohl Lily bis nach sechs unterwegs gewesen war, hatte sie nicht genügend von ihren Kressesträußchen verkauft, um ihre Ausgaben wieder wettzumachen. Sie hatte sich eine Fleischpastete zum Abendessen gekauft – das hatte Grace ihr ausdrücklich erlaubt –, doch auf dem Heimweg war sie auf einen Taschenspieler gestoßen, der ihr angeboten hatte, die Münzen in ihrer Tasche zu verdoppeln, wenn sie erraten konnte, unter welcher seiner drei Tassen sich eine Bohne befand. Sie war sich sicher gewesen, dass sie das richtig erraten konnte – es sah doch so einfach aus, und wäre Grace nicht hochzufrieden mit ihr? –, doch die Bohne war nie unter der Tasse, auf die sie zeigte.
Als Lily am nächsten Morgen erwachte, ging ihr mit Entsetzen auf, dass kein Geld mehr da war – nicht ein einziger Penny, mit dem sie zum Markt gehen und frische Brunnenkresse kaufen konnte, um sie feilzubieten. Es war allerdings nicht das erste Mal, dass ihnen das passierte, und im Bett liegend dachte Lily angestrengt nach, was sie tun sollte. Endlich stieß sie auf die Lösung: Natürlich, sie würde etwas zum Pfandleiher bringen! Das tat Grace auch immer, wenn sie nicht genügend Geld eingenommen hatten, um sich mit neuer Ware einzudecken.
Sie blickte sich im Zimmer nach einem geeigneten Gegenstand um, doch abgesehen vom Bett (das sowieso Mrs Macready gehörte), gab es nicht viel: eine Matratze aus Stroh, zwei Kissen, drei dünne Decken und mehrere Holzkisten. Ein paar der Holzkisten enthielten ihre spärlichen Kleider und Besitztümer, zwei waren leer und dienten, umgedreht, als Sitzgelegenheit. Grace hatte sich bereits überlegt – soweit sie überhaupt etwas in dieser Richtung überlegt hatte –, eine davon als Bettchen für das Baby zu verwenden.
Lily blickte sich stirnrunzelnd um. Die Decken würde Grace bestimmt nicht verkaufen wollen, das wusste sie, denn die brauchten sie, wenn es kalt wurde. Als sie bei Mrs Macready eingezogen waren, hatten sie noch fünf Decken gehabt und vier Kopfkissen. Und davor, als sie noch im Waisenhaus gewohnt hatten, hatten sie weiche, gebleichte Bettlaken und eine Decke mit richtigen Entendaunen gehabt und eine Tagesdecke, die Mama genäht hatte, mit den Segenssprüchen, die ihre Mutter als Mädchen daraufgestickt hatte: Herr, segne unser Haus und Behüt’ dich Gott. Ein paar von ihren Sachen waren allerdings über die Jahre gestohlen worden, der Rest verkauft oder verpfändet, samt dem Großteil ihrer Winterkleider. Der Verlust ihrer Kleider hatte Lily nicht viel ausgemacht, da sie sowieso kaum etwas darauf gab, wie sie aussah, doch ihre Puppe Primrose, die so groß wie ein richtiges Baby gewesen war und echtes Haar hatte und einen rosenroten Mund in einem Gesichtchen aus Porzellan, die vermisste sie sehr. Nun hoffte sie, dass das Baby, das Grace mitbrachte, ein wenig wie Primrose sein würde, ein hübsches kleines Ding, mit dem man spielen konnte und das man beim Kresseverkaufen als kleines Bündel verschnürt auf dem rücken trug. Bestimmt würden die Kunden stehen bleiben und das Baby bewundern und streicheln – und vielleicht um seinetwillen ein wenig mehr geben.
Lily fing an, die Gegenstände in den Kisten durchzusehen. Eine Kiste beinhaltete, was sie »Mamas Schätze« nannten: eine Teekanne aus hauchdünnem Porzellan mit handgemalten Vögeln darauf und eine dazu passende Tasse mit Unterteller; eine leere Ringschachtel; eine aus Porzellan gefertigte Muschel, die in so zart schimmerndem Rosarot bemalt war, dass sie aussah wie echt; der Hut, den Mama bei ihrer Hochzeit getragen hatte, und ein Stück Spitze, das ihr als Schleier gedient hatte. Lily wickelte die Gegenstände der Reihe nach aus und bewunderte sie, dann packte sie alles wieder in die Kiste zurück, wobei sie fast zu atmen vergaß, so sehr konzentrierte sie sich darauf, nur ja nichts zu zerbrechen. Ein paar Kleidungsstücke befanden sich auch noch in der Kiste, allerdings leider nicht jene, die am kostbarsten waren – Schuhe; davon besaßen beide Mädchen jeweils nur das eine Paar, das sie an den Füßen trugen. Lily nahm einen Schal in die Hand und überlegte, ob sie lieber den verkaufen sollte anstatt einer Decke. Würde Grace verärgert sein, wenn sie es tat, oder sie im Gegenteil für ihr vernünftiges Handeln loben? Wenn sie den Schal auf einem Altkleidermarkt feilbot, wie viel sollte sie wohl dafür verlangen (denn er war ziemlich dünn und an einigen Stellen schon durchgewetzt), und wäre Grace dann wohl mit der Summe zufrieden? Würde es reichen, um davon frische Ware zu kaufen? Und sollte sie mit dem Ertrag Brunnenkresse kaufen oder doch lieber zwei Stück Kartoffelauflauf zum Abendessen, die sie in Mrs Macreadys Ofen aufwärmen könnten? Aber wenn Grace nun nicht rechtzeitig nach Hause kam, um den Auflauf zu essen, und er verdarb?
Die Fragen wirbelten nur so in Lilys Kopf herum und entlockten ihr einen gequälten Schrei, so verwirrt war sie angesichts all dieser Entscheidungen. Und was, wenn Grace nun überhaupt nicht mehr nach Hause kam? Lily hatte schon gehört, dass Kinderkriegen eine mühsame, gefahrvolle Angelegenheit war. Wenn nun Grace starb und in der Erde verscharrt wurde wie Mama? Die Vorstellung war so verstörend und entsetzlich, dass eine Welle von Panik sie ergriff. Ihre Beine fingen so stark an zu zittern, dass sie sich aufs Bett setzen musste. Wie sollte sie ohne Grace zurechtkommen?
Es dauerte eine ganze Weile, bis das Zittern nachließ und Lily wieder aufstehen konnte. Inzwischen war es allerdings zu spät, um zum Großmarkt zu gehen und Brunnenkresse zu kaufen. Außerdem hatte sie ja noch immer kein Geld. Erneut betrachtete sie die Sachen und rang plötzlich erschrocken nach Luft. Sie hatten ja gar keine Kleider für das Baby, das Grace heimbringen würde! Es hatte gar nichts zum Anziehen! Wie sollten sie es denn da mit nach draußen nehmen, wenn es nicht einmal ein Wolltuch zum Einwickeln hatte?
Das Baby musste eingekleidet werden, das war ganz klar! Mit dieser plötzlichen Erkenntnis ging Lily zu der ersten Kiste zurück und holte Mamas Teekanne hervor. Dafür bekäme sie beim Pfandleiher am meisten Geld. Bestimmt genug, um für ein paar Tage Brunnenkresse zu kaufen, für heute Abend etwas zu essen (natürlich würde Grace heute Abend heimkommen!) und eine Babyausstattung. Sie würde die Kleider für das Baby gleich selbst besorgen, und Grace wäre bestimmt so froh darüber, dass sie gar nicht fragen würde, was Lily denn dafür versetzt hatte. Sie würde Schlafkleidchen aus gekämmter Baumwolle kaufen, hübsche Babyhauben mit Spitze und einen kuschelweichen weißen Schal. Es wäre fast, als hätte sie Primrose wieder.
Lily wickelte die Teekanne aus dem Zeitungspapier und strich zärtlich mit der Hand darüber. Sie war aus feinstem Porzellan, das einen klingenden Ton abgab, wenn man sanft mit dem Fingernagel dagegenschlug, und war über und über mit kleinen blauen Vögeln bemalt – die blauen Vögel brachten Glück, hatte Mama immer gesagt. Sie hatte jedem Vogel einen Namen gegeben und den Mädchen erzählt, an welchen Blumen sie sich labten, doch Lily konnte sich an all diese Einzelheiten nicht mehr erinnern. Die Teekanne war jedenfalls sehr hübsch, aber warum sie nicht verkaufen, wo sie doch gar keine Verwendung dafür hatten, denn Tee war ja sowieso viel zu teuer, als dass sie sich welchen hätten leisten können.
Vorsichtig wickelte sie die Kanne wieder in das Zeitungspapier. Sie wusste, dass das die Times war, aber sie selbst konnte nicht einmal das Datum lesen. Grace dagegen, die konnte lesen. Manchmal brachte sie ein Blatt oder zwei, die auf dem Gehsteig herumgeflattert waren, mit nach Hause und las die Anzeigen auf der ersten Seite vor: »Mr Lucas sucht einen braunen Wallach«, stand da zum Beispiel, oder: »Gouvernante sucht Anstellung in einem aristokratischen Haushalt. Fünf-Pfund-Note in der Bishopsgate Street verloren. Madame Oliver singt heute Abend in Tremore Gardens. Hilfe gesucht für mittellose verkrüppelte Buben.« Manchmal erfand Grace Geschichten über die Leute, von denen sie in der Zeitung las – eine Gouvernante, die einen braunen Wallach zu verkaufen hatte, sich auf Mr Lucas’ Anzeige meldete, und die beiden verliebten sich ineinander. Einer der verkrüppelten Jungen fand eine Fünf-Pfund-Note und wusste nicht, ob er sie nun zurückgeben und die Belohnung verlangen oder sich davon ein ganzes Jahr lang jeden Tag eine Fleischpastete kaufen sollte. Madame Oliver hatte eigentlich in Tremore Gardens singen wollen, dann aber auf einem braunen Wallach reitend die Zeit vergessen.
So verbrachten die beiden Mädchen manch lustige Stunde zusammen, denn Grace war eine exzellente Geschichtenerfinderin, und wenn Lily wegen irgendetwas Angst bekam, dann erzählte Grace ihr zum Einschlafen Geschichten von Schlössern und Prinzessinnen. Sie erzählte die Geschichten so gut, dass Lily noch am nächsten Tag darüber nachdachte und manchmal nicht mehr genau wusste, ob sie nun erfunden oder tatsächlich so passiert waren.
Ganz erleichtert darüber, dass sie endlich zu einer Entscheidung gekommen war, machte Lily sich auf den Weg zu einem Pfandleiher, bei dem sie schon öfter etwas versetzt hatten, einem gutmütigen Mann, der – wie alle seiner Zunft – von den Leuten »Onkel« genannt wurde. Allerdings fand sie seine Tür verschlossen vor und die Rollläden heruntergelassen. Am Fenster klebte ein Blatt Papier mit einer Nachricht.
Lily fragte einen Mann, der eben vorbeikam und Kerzenstummel verkaufte, was auf dem Zettel stand. »Geschlossen wegen Ablebens«, bekam sie zur Antwort.
»Geschlossen wegen Ablebens«, wiederholte Lily und überlegte angestrengt, was das wohl heißen sollte.
»Das heißt, der Laden ist zu, weil einer gestorben ist«, sagte der Mann. »Der Inhaber wahrscheinlich.« Auf einmal betrachtete er Lily interessiert. »Wolltest wohl was beim Onkel versetzen, ha?«
Lily nickte und hielt ihr Päckchen hoch. »Eine Teekanne.«
»Nicht gerade großer Bedarf für so was«, merkte der Mann an, noch ehe sie das Wort ganz ausgesprochen hatte. »Aber ich sag dir, wer dir ’n besten Preis für so was macht – der alte Morrell, Parsnip Hill runter. Sag ihm, Ernie hat dich geschickt.«
Lily bedankte sich und ging weiter. Währenddessen huschte Ernie in ein Seitengässchen, rannte zwei Straßen entlang, sprang über die Mauer eines Hinterhofs und traf zwei Minuten vor Lily bei Morrells Pfandleihhaus ein. Ein rascher Blick die Straße hinauf und hinunter, dann schlüpfte er ungesehen in den Laden.
Morrell war spezialisiert auf Ankauf, Verkauf und Pfandleihe von Porzellan- und Glaswaren. In seinem schmutzigen Schaufenster reihten sich trübe Kristallvasen, angeschlagene Schmuckgegenstände, bunte Jahrmarkts-Tierfiguren und Glaskrüge. Eine solche Teekanne in seinem Sortiment wäre wie der Besitz der Kronjuwelen.
»Kannst gleich ’nen guten Fang machen«, platzte Ernie heraus, kaum dass er im Laden war. Morrell stand hinter seiner Ladentheke, besaß allerdings einen solchen Wanst, dass er kaum an diese heranreichte. »Junges Mädel, bisschen simpel in der Birne. Teekanne. Zieh deine Masche ab, und wir machen halbehalbe.«
Morrell nickte grinsend. Während Ernie wieder verschwand, holte er eine kleine Schachtel hervor und stellte sie auf ein verborgenes Regalbord an der Rückseite seines Ladentischs.
Lily betrat den Laden, erklärte, dass Ernie sie geschickt habe und dass sie eine Teekanne in die Pfandleihe geben wolle. Unterwegs hatte sie noch sehr mit sich gerungen, ob sie die Kanne wirklich versetzen sollte, sich dann aber damit beruhigt, dass sie sie ja nur in die Pfandleihe gab und nicht verkaufte. Wenn Grace wirklich ärgerlich war, dann könnten sie die Kanne ja später, wenn sie einmal reich waren, wieder zurückkaufen. In den Geschichten, die Grace erzählte, wurden sie immer reich.
Morrells Augen leuchteten, als er die Kanne sah. Meißner Porzellan, ging es ihm durch den Kopf. Ziemlich alt, handbemalt und einiges wert. Er schüttelte bedauernd den Kopf.
»Echt schade«, sagte er. »Dachte, du hättest was Besonderes, aber das is ja bloß so billiger Trödel. ’nen Sprung hat’s auch noch«, log er.
Lily war ganz geknickt, hegte aber noch immer kein Misstrauen. »Aber ein bisschen was muss sie doch wert sein?«, fragte sie. »Es war mal ein ganzes Service, das meiner Ma gehörte.«
»Zeig mal her«, sagte Mr Morrell. »Halten wir’s mal ins Fenster und gönnen der Sache ’nen Blick.«
Lily reichte ihm die immer noch halb eingewickelte Kanne über die Ladentheke. Als Morrell sie entgegennahm und sich zum Fenster umdrehte, rutschte die Kanne irgendwie aus dem Zeitungspapier.
»Hoppla!«, rief Morrell, als plötzlich etwas auf dem Steinfußboden zerschellte.
»Oh nein!«, schrie Lily entsetzt auf.
»Ach, du Schreck! Jetzt hast du’s zu früh losgelassen, Mädel.«
Lily hatte sich die Hände vor den Mund geschlagen und war leichenblass geworden. »Ist sie … ist sie ganz kaputt?«
»Mauskaputt! Lauter Scherben!«, rief Morrell aus.
»Kann man sie nicht wieder zusammenkleben?«
»Nie im Leben! Da, schau dir den Schlamassel an!«
Lily spähte ängstlich über die Ladentheke. Und tatsächlich, auf dem Steinboden lagen lauter Porzellanscherben.
»Schade«, sagte Morrell. »Aber mehr als ’n paar Pennys wär sie sowieso nich wert gewesen.«
Lilys Lippen zitterten. »Kann man denn … gar nichts … tun?«
»Haste noch mehr davon zu Haus?«, fragte Morrell munter.
Lily schüttelte den Kopf. Wie war das nur passiert? Vielleicht hatte sie einfach nicht aufgepasst. Grace tadelte sie manchmal wegen ihrer Ungeschicklichkeit. Und nun war die Teekanne kaputt, Mamas kostbare Teekanne! Und bald würde Grace nach Hause kommen, und es würde nichts zu essen da sein und auch keine Kleider für das Baby.
Lily wandte sich um und ging wie betäubt nach Hause. Nicht einmal die Tränen wollten fließen, so bestürzt war sie. Währenddessen bewunderten Mr Morrell, der Pfandleiher, und Ernie, der Trödelhändler, die Teekanne aus Meißner Porzellan, die sicher und unversehrt auf dem Geheimregal an der Rückseite der Ladentheke stand.