DAS BUCH

Nach einem rätselhaften Lichtphänomen entdecken Astronomen einen Himmelskörper, der die Erde auf einer langgestreckten Ellipse umkreist. »Der Stein«, wie er bald genannt wird, ist an die dreihundert Kilometer lang und hat hundert Kilometer Durchmesser. Als amerikanische Astronauten darauf landen, stellen sie fest, dass er künstlich ausgehöhlt und in sieben riesige Kammern unterteilt ist. Und sie stoßen auf ein erstaunliches Phänomen: Die siebte Kammer liegt jenseits der dreihundert Kilometer Außenlänge und erstreckt sich Tausende von Kilometern in die Dunkelheit. Wohin führt dieser Korridor? In eine andere Dimension? In eine Parallelwelt? Oder durch die Zeit? Und wer hat dieses Gebilde geschaffen? Während auf der Erde ein erbitterter Kampf um den »Stein« entbrennt, treten die ersten Wissenschaftler die lange Reise in die Tiefen des Korridors an. Ein fantastisches Abenteuer beginnt.

DER AUTOR

Greg Bear wurde 1951 in San Diego geboren und studierte dort englische Literatur. Seit 1975 als freier Schriftsteller tätig, gilt er heute als einer der ideenreichsten wissenschaftlich orientierten Autoren der Gegenwart. Etliche seiner Romane wurden zu internationalen Bestsellern. Im Wilhelm Heyne Verlag sind zuletzt erschienen: Blutmusik, Die Stadt am Ende der Zeit und Das Schiff.

GREG BEAR

ÄON

ROMAN

Mit einem wissenschaftlichen Anhang
von Uwe Neuhold

WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN

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Titel der amerikanischen Originalausgabe

EON

Deutsche Übersetzung von Reinhard Heinz

Redaktion: Alexander Martin
Copyright © 1985 by Greg Bear
Copyright © 2013 der deutschsprachigen Ausgabe
und der Übersetzung
by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München.
Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München
Satz: C. Schaber Datentechnik, Wels

ISBN 978-3-641-10403-0
V002

www.heyne-magische-bestseller.de

»Wenn du nicht weißt, wo du bist,
weißt du nicht,
wer du bist.«

WENDELL BERRY

PROLOG: VIER ANFÄNGE

Heiliger Abend 2000: New York City

»Es geht in eine weite, elliptische Erdumlaufbahn«, sagte Judith Hoffman. »Größte Erdnähe zirka zehntausend Kilometer, größte Erdferne zirka fünfhunderttausend. Es wird bei jeder dritten Umkreisung eine Kurve um den Mond machen.« Sie beugte sich zurück und gab den Blick auf den Video-Bildschirm für Garry Lanier frei. Vorerst glich der Stein einer gebackenen Kartoffel mit wenig sinnvollen Details.

Außerhalb der Bürotür erinnerte der gedämpfte Partylärm an die vernachlässigten sozialen Verpflichtungen.

»Ein unwahrscheinlicher Zufallstreffer.«

»Das ist kein Zufallstreffer«, sagte Hoffman. Sie hatte ihn vor wenigen Minuten in ihr Büro geholt. Lanier saß auf der Kante ihres Schreibtisches. Er war groß und hatte kurzes, dichtes, schwarzes Haar, womit er wie ein hellhäutiger amerikanisch-indianischer Mischling wirkte, obwohl in ihm kein Indianerblut floss. Hoffman empfand seine Augen als besonders beruhigend; er hatte den Späherblick eines Mannes, der es gewohnt ist, in die Ferne zu schauen. Allerdings fasste sie nicht aufgrund des Aussehens zu Leuten Vertrauen.

Sie hatte sich an Lanier gewandt, weil sie von ihm etwas gelernt hatte. Manche bezeichneten ihn als herzlos, aber Hoffman wusste es besser. Der Mann war einfach kompetent, gelassen und aufmerksam.

Für die Schwächen in anderen war er gewissermaßen blind, was ihn zu einem besonders tüchtigen Manager machte. Belanglose Beleidigungen, Gemeinheiten oder Verleumdungen schien er kaum wahrzunehmen. Er betrachtete Menschen nur dahingehend, ob sie effektiv waren oder nicht, was zumindest seine öffentlichen Reaktionen zeigten. Er durchdrang die Schlacke an der Oberfläche und fand, was an echtem Gold darunter verborgen lag. Hoffman hatte einiges Interessante über verschiedene Leute gelernt, indem sie deren Reaktion auf Lanier beobachtete. Und sie hatte am eigenen Stil gearbeitet, indem sie von seiner Finesse dazulernte.

Lanier war bisher noch nie in Hoffmans privatem Arbeitsbereich gewesen. Im kalten Licht des Videos betrachtete er nun die Regale mit den Memoblöcken, den breiten, leeren Schreibtisch mit dem Sekretärinnenstuhl, den kompakten Wortprozessor unter dem Video.

Wie die meisten Partygäste hatte Lanier ein wenig Respekt vor Hoffman. Auf dem Kapitolshügel hieß sie »Beraterin«. In offiziellen und inoffiziellen Funktionen war sie als Wissenschaftsexperte für drei Präsidenten tätig gewesen. Ihre Videoprogramme, die das Interesse an und die Beschäftigung mit der Wissenschaft wiederbelebten, waren populär in den späten 1990er-Jahren – in einer Welt, die sich gerade vom Schock des Kleinen Tods erholte. Sie saß im Vorstand des Jet Propulsion Laboratory und nun im Vorstand des International Space Cooperation Committee ISCCOM, des Komitees für internationale Zusammenarbeit im Weltraum. An ihrem Geschmack für Kleidung war nichts auszusetzen, obwohl sie ihren robusten Körperbau nicht verbergen konnte. Ihre Aufmachung hielt sich bewusst in Grenzen; ihre Fingernägel waren kurz und unlackiert, gepflegt und unauffällig; mit Make-up ging sie sparsam um. Das brünette Haar durfte sich ohne große Manipulation legen, wie es wollte, und bildete einen Nimbus feiner Locken ums Haupt.

Lanier war bei seiner Tätigkeit als PR-Manager von AT&T Orbicom Services zu ihrem Kreis gestoßen. Vor seiner Stelle bei Orbicom war er sechs Jahre bei der Marine gewesen – zuerst als Kampfpilot, dann als Pilot hochfliegender Tankflugzeuge. Er hatte beim Kleinen Tod die berühmte Charlie-Baker-Delta-Route über Florida, Kuba und Bermuda geflogen und die Maschinen der Atlantikwache betankt, deren Achtsamkeit eine so entscheidende Rolle in der Begrenzung des Krieges spielte.

Nach dem Waffenstillstand erhielt er von der Marine die Erlaubnis, sein Können in der Luft- und Raumfahrt in den Dienst von Orbicom zu stellen, das seinem zivilen Mononet weltweit auf die Beine helfen wollte.

Zunächst wurde er einige Male in die Orbicom-Zentrale im kalifornischen Menlo Park gerufen, dann sollte er bei der Erstellung von Positionspapieren helfen, dann wurde er plötzlich und unerwartet ins Orbicom-Haus nach Washington versetzt, was – wie er später erfuhr – von Hoffman veranlasst worden war. Von einer Romanze – wie oft hatte er dieses Gerücht schon zerstreut? – konnte keine Rede sein. Aber ihre Fähigkeit zur Zusammenarbeit war erstaunlich in dieser Washingtoner Atmosphäre ständiger Partisanengeplänkel und finanzieller Zwistigkeiten.

»Du bist bestimmt auf dem Drachen«, sagte Lanier.

»Ja, aber das hier ist ein DST-Bild.1 Der Drache ist noch auf Perseus eingestellt.«

»Und die schwenken nicht auf den Stein?«

Sie schüttelte den Kopf und grinste füchsisch. »Die alten Schlauköpfe haben einen straffen Stundenplan – wollen nicht mal einen kurzen Schwenk auf das wichtigste Ereignis des einundzwanzigsten Jahrhunderts machen.«

Lanier runzelte die Stirn. Der Stein war seines Wissens nur ein Asteroid. Das längliche Objekt würde nicht gegen die Erde prallen, sondern sie im Orbit umkreisen, was eine ideale Position zur wissenschaftlichen Erforschung wäre. Interessante Aussichten, die aber kaum so viel Begeisterung rechtfertigten.

»Das Zwanzigste dauert noch diesen Monat«, gab er zu bedenken.

»Und dann kriegen wir alle Hände voll zu tun.« Sie wandte sich ihm zu und verschränkte die Arme. »Garry, wir arbeiten schon ’ne Weile zusammen. Ich vertraue dir.«

Er spürte, dass sich in seinem Kreuz etwas zusammenzog. Hoffman wirkte den ganzen Abend schon verkrampft. Er hatte die nervöse Zappelei abgetan – nicht seine Sache. Jetzt machte sie seine Sache daraus.

»Was weißt du über den Stein?«, fragte sie.

Er überlegte kurz vor der Antwort. »DST lokalisierte ihn vor acht Monaten. Er ist ungefähr dreihundert Kilometer lang und hat in der Mitte hundert Kilometer Durchmesser. Mittlere Albedo2, vermutlich Silikatkörper mit Nickeleisenkern. Hatte bei der Entdeckung eine Art von Halo, der sich allerdings auflöste. Daraus folgerten einige Wissenschaftler, dass es sich um einen außerordentlich großen, alten Kometenkern handle. Einige widersprüchliche Meldungen über die geringe Dichte belebten die alte Schklovskij’sche Marsmond-Spekulation wieder.«

»Wo hast du die Meldungen über die Dichte gehört?«

»Hab ich vergessen.«

»Das beruhigt mich etwas. Wenn du nicht recht viel mehr erfahren hast, dann hat wohl keiner mehr erfahren. Bei DST gab’s ein Leck, aber das haben wir inzwischen abgedichtet.«

»Warum die Geheimnistuerei?«

»DST ist beauftragt, alle Daten zu beschönigen, die der Allgemeinheit gegeben werden.« Womit sie die Wissenschaft meinte.

»Aber warum nur? Das Verhältnis zwischen Regierung und Wissenschaft ist seit ein paar Jahren gespannt. Dadurch wird’s nun bestimmt nicht besser.«

»Richtig, aber diesmal stimme ich zu.«

Wieder schauderte er. Hoffman war der Wissenschaft sehr ergeben.

»Wie weißt du es, wenn alles verschleiert wird?«

»Verbindungen durch ISCCOM. Mir wurde vom Präsidenten die Aufsicht übertragen.«

»Du meine Güte!«

»Während unsre Freunde draußen also feiern, muss ich von dir wissen, ob ich mich auf dich verlassen kann.«

»Judith, ich bin nur ein zweitrangiger PR-Typ.«

»Unsinn! Orbicom hält dich für den besten Personalmanager, den es gibt. Ich musste drei Monate mit Parker um deine Versetzung nach Washington kämpfen. Weißt du, dass dir eine Beförderung bevorstand?«

Offen gestanden hatte er gehofft, um eine neue Beförderung herumzukommen. Er hatte das Gefühl, sich immer mehr von der richtigen Arbeit zu entfernen, je höher er in der Pyramide der Macht aufstieg. »Und du hast es geschafft, dass ich stattdessen versetzt worden bin?«

»Ich hab genügend Fäden gezogen, um mir den Anschein des Drahtziehers zu geben, der ich bin. Ich brauche dich vielleicht. Du weißt, ich such mir einen Kandidaten nur aus, wenn ich sicher bin, dass er irgendwann später meinen Arsch aus dem Feuer zieht.«

Lanier nickte. Wenn man zu Hoffmans Kreis gehörte, war man zwangsläufig wichtig. Bis jetzt hatte er versucht, über diese Binsenwahrheit hinwegzusehen.

»Erinnerst du dich an die Supernova, die in etwa zur gleichen Zeit wie der Stein gesichtet wurde?«

Er nickte; es hatte einige Wogen in der Presse geschlagen. Freilich war er damals zu beschäftigt gewesen, um sich über das spärliche Echo in den Medien zu wundern.

»War keine Supernova. War zwar hell genug, aber es wurde keine der Voraussetzungen erfüllt. Zunächst wurde es von DST als infrarotes Objekt an der Grenze unseres Sonnensystems registriert. Binnen zweier Tage wurde der Feuerschein sichtbar, und DST entdeckte Strahlen mit Frequenzen im atomaren Bereich. Die Brenntemperatur begann bei einer Million Kelvin und erreichte etwas über eine Milliarde. Inzwischen verzeichneten satellitengestützte Detektoren für Nuklearexplosionen – die neuen GPS Super-Vela – thermisch erregte Gammastrahlen nuklearer Transitionen. Es war am Nachthimmel deutlich sichtbar, sodass DST eine Titelgeschichte aufmachen musste, und das war die Entdeckung einer Supernova durch Anlagen der Weltraumverteidigung. Aber sie wussten nicht, mit was sie’s wirklich zu tun hatten.«

»Und?«

»Das Licht ging aus, alles wurde still. Und dann war etwas Neues zu sehen an der gleichen Stelle des Himmels. Es war der Stein. Mittlerweile wusste jeder, dass es mehr war als ein simpler Asteroid.« Die Videobilder flackerten über den Monitor, und ein Signal ertönte.

»Tja, da haben wir’s nun. Joint Space Command hat sich den Drachen geschnappt und ihn geschwenkt.«

Der »Drache« war das stärkste optische Teleskop in der Erdumlaufbahn. Obwohl gerade größere Anlagen auf der erdabgewandten Mondseite gebaut wurden, konnte kein in Betrieb befindliches System dem Drachen das Wasser reichen. Er unterstand nicht dem Verteidigungsministerium. Joint Space Command war nicht zuständig – außer in Zeiten einer nationalen Sicherheitskrise.

Der Stein erschien, umringt von Zahlen und wissenschaftlichen Graphen, stark vergrößert auf dem Monitor. Viel mehr Einzelheiten waren erkennbar – ein großer Krater an einem Ende des länglichen Gebildes und viele kleinere überall und als latitudinales Band.

»Sieht nach wie vor wie ein Asteroid aus«, kommentierte Lanier, dessen Stimme nicht überzeugend klang.

»Tja«, meinte Hoffman. »Wir kennen den Typ. Ein sehr großer Mesosiderit. Wir kennen die Zusammensetzung. Aber es fehlen ungefähr vierzig Prozent seiner Masse. DST hat’s heute Morgen bestätigt. Der Querschnitt des Brockens erinnert an einen Geoden.3 Geoden kommen aber im All nicht vor, Garry. Der Präsident hat meinen Vorschlag zur Vorbereitung einer Untersuchung angenommen. Das war vor der Wahl, aber ich glaube, wir können das bei der neuen Regierung durchsetzen – ob Pulverfassmentalität oder nicht. Vorbeugend sind sechs Orbitaltransferflüge bis Ende Februar geplant. Und ich decke frühzeitig die Karten auf. Ich glaube, wir brauchen ein Team von Wissenschaftlern, und das sollst du auf die Beine stellen. Ich bin sicher, wir können da mit Orbicom was arrangieren.«

»Aber warum die Geheimnistuerei?«

»Warum, fragst du, Garry?« Sie lächelte herzlich. »Wenn die Aliens kommen, dann setzt die Regierung immer auf Geheimhaltung.«

August 2001: Podlipki-Flugplatz bei Moskau

»Major Mirski, Sie konzentrieren sich auf Ihre Aufgabe.«

»Mein Anzug leckt, Oberst Majakowski.«

»Das ist irrelevant. Sie können noch fünfzehn bis zwanzig Minuten im Tank aushalten.«

»Jawohl, Oberst.«

»Nun passen Sie auf! Sie müssen dieses Manöver vollständig beenden.«

Mirski zwinkerte, weil der Schweiß in den Augen brannte, und blickte angestrengt zur Landeluke amerikanischer Bauart. Das Wasser in seinem Druckanzug stand schon bis zu den Knien; er spürte, wie es durch den Saum an der Hüfte einströmte. Es war unbeschreiblich unangenehm, das rieselnde Wasser; hoffentlich wusste Majakowski das.

Mirski hatte den Auftrag, einen gebogenen Metallriegel in die beiden Sensorschlitze zu drücken. Um die nötige Kraft zu haben, verkeilte er sich mit den Knöcheln und der rechten Hand am Rand des runden Lukendeckels, wobei er die L-förmigen Haken an Stiefel und Handschuh zu Hilfe nahm. Und mit der linken Hand.

… (wie hatten sie auf ihn eingeredet in der Schule in Kiew, die nicht mehr war, alle seine Lehrer mit ihren Vorstellungen aus dem neunzehnten Jahrhundert; wie hatten sie versucht, ihm einzubläuen, ausschließlich die rechte Hand zu verwenden, bis kurz vor seinem zwanzigsten Lebensjahr ein offizieller Erlass herauskam, der Linkshänder duldete) …

Mirski rammte den Riegel hinein. Er hakte Hand und Füße aus und wich zurück.

Das Wasser stand ihm bis zur Hüfte.

»Oberst …«

»Die Luke braucht bis zum öffnen drei Minuten.«

Mirski biss sich auf die Lippe. Er drehte den Hals im Helm, um zu sehen, wie es seinen Teamkameraden erging. Die fünf Luken in einer Reihe waren besetzt – zwei Männer und Jefremowa. Wo war Orlov?

Da. Als Mirski den Helm zurückschob, sah er Orlov, der an die Oberfläche des Tanks geschafft wurde von drei Tauchern mit Atemgeräten, die ihn aus dem Blickfeld ins Düstere, Schemenhafte zerrten. An die Luft, die süße Luft an der Oberfläche, wo kein Wasser einschießt. Davon spürte er nichts mehr, denn das Wasser stand höher als bis zur Hüfte.

Der Lukendeckel setzte sich in Bewegung. Er hörte den Mechanismus surren. Dann blieb die Luke, nur zu einem Drittel offen, stehen.

»Klemmt«, sagte er verdutzt. Er war sich ziemlich sicher, dass die Übung damit beendet wäre, dass er die Luke passiere. Die Luke galt als narrensicher: Sie öffne sich immer, wenn korrekt gejimmied4 – amerikanisches Wort, amerikanische Technik, verlässlich, nein?

»Lockern! Offenbar haben Sie den Riegel nicht korrekt eingelegt.«

»Doch!«, betonte Mirski.

»Major …«

»Jawohl!« Er klopfte mit der Kante seines gepanzerten Handschuhs noch einmal auf den Riegel. Da er die Füße und die rechte Hand nicht eingehakt hatte, wurde er von der Luke weggeschleudert; es kostete ihn wertvolle Sekunden, sich wieder zur Luke zu ziehen. Verkeilen. Klopfen. Aushaken. Es tat sich nichts.

Wasser an der Brust. Kalt, nass floss es durch die Halsdichtung in seinen Helm, als er eine Schräglage einnahm. Er schluckte es versehentlich und würgte. Jetzt. Der Oberst wird denken, dass ich ertrinke, und sich erbarmen.

»Rütteln Sie dran!«, schlug der Oberst vor.

Seine Handschuhe waren so dick, sie passten fast nicht in den Schlitz, in dem der Riegel steckte und durch die teilweise geöffnete Tür eingeklemmt war. Er drückte. Seine Ärmel liefen mit kaltem Wasser voll, und die Finger wurden taub. Er drückte noch einmal.

Sein Anzug war nicht mehr auftriebsneutral. Mirski fing zu sinken an. Der Tankboden lag dreißig Meter tiefer, und alle drei Taucher hatten Orlov begleitet. Es stand also keiner mehr zwischen ihm und dem Ertrinken, falls er es nicht aus eigener Kraft in die simulierte sowjetische Luke schaffen sollte. Und wenn er jetzt nicht rausginge …

Aber das wagte er nicht. Seit er erwachsen war, versuchte er, nach den Sternen zu greifen, und die wären ein für alle Mal außerhalb seiner Reichweite, falls er in Panik geriete. Er brüllte in seinem Helm und rammte die Handschuhspitze in den Schlitz, dass ein scharfer Schmerz durch seinen Arm zuckte und die Finger sich ins Innenfutter bohrten.

Der Lukendeckel setzte sich wieder in Bewegung.

»Klemmt nur ein bisschen«, sagte der Oberst.

»Ich saufe ab, verdammt noch mal!«, schrie Mirski. Er hakte die Hände in den Deckelrand und hustete Wasser. Die Anzugluft wurde unmittelbar über dem Halsring des Helms eingespeist und abgezogen, und schon hörte er, wie es gluckste und gurgelte.

Rings um den Tank ging Flutlicht an. Das Wasser bei den Luken wurde taghell. Mirski spürte Hände unter den Achseln und an den Beinen und sah die drei übrigen Kosmonautenanwärter nur mehr verschwommen durchs beschlagene Helmvisier. Sie stießen sich von den Luken ab und zogen ihn höher, immer höher in den alten, gastfreundlichen Himmel seiner Großmutter.

Sie saßen an ihrem besonderen Tisch abseits von den übrigen zweihundert Rekruten und bekamen zu ihrer Kascha gute, pralle Würste. Das Bier war kühl und köstlich, wenn auch etwas bitter und dünn, und es gab auch Kohlherzen und Karotten und Orangen. Und zur Nachspeise wurde ihnen von einem lächelnden Messeoffizier in einer großen Edelstahlschüssel frisch gemachtes, feines Vanilleeis vorgesetzt, das sie in der Ausbildung seit Monaten nicht mehr bekommen hatten.

Nach dem Essen spazierten Jefremowa und Mirski über das Gelände der Kosmonautenschule mit seinem tückischen schwarzen Stahlwassertank, der halb in den Erdboden eingelassen war.

Jefremowa stammte aus Moskau und hatte einen leicht östlichen, vornehmen Einschlag mit angedeuteten Schlitzaugen. Mirski aus Kiew hätte auch Deutscher sein können. Freilich hatte es seine Vorteile, aus Kiew zu stammen. Ein Mann ohne Heimat: Das erregte Mitleid, Wehmut, Sympathie bei den Russen.

Sie redeten sehr wenig. Sie glaubten, ineinander verliebt zu sein, aber das war irrelevant. Jefremowa war eine von vierzehn Frauen im Kosmonautenprogramm. Als Frau war sie sogar mehr gefordert als die Männer. Sie hatte eine Ausbildung als Pilot der Luftwaffe hinter sich und Tu 22M Trainingsbomber und alte Sukhoi-Kampfflugzeuge geflogen. Mirski war nach dem Abschluss einer Ingenieurakademie für Luft- und Raumfahrttechnik zum Militär gekommen. Seine Zurückstellung vom Wehrdienst war ein Glücksfall gewesen; anstatt mit achtzehn eingezogen zu werden, qualifizierte er sich für ein Stipendium der Neuen Reindustrialisierung.

Auf der Ingenieurakademie erwarb er eine ausgezeichnete Beurteilung in Politischen Wissenschaften und Management. Er wurde sofort für eine heikle Position in einem kämpfenden Verband in Ostdeutschland vorgesehen, aber dann in die Weltraumverteidigung versetzt, die als eigener Bereich erst seit vier Jahren existierte. Er hatte vor seiner Versetzung nie davon gehört … Aber was für ein Glück! Er hatte schon immer Kosmonaut werden wollen.

Jefremowas Vater war ein hochgestellter Bürokrat in Moskau. Er hatte sie lieber in eine für seine Begriffe sichere Militärausbildung gesteckt, als zu riskieren, dass sie mit den berüchtigten Jungen Wilden von Moskau auf die Straße ginge. Sie hatte sich als hochbegabt erwiesen; ihre Zukunft war vielversprechend, wenn auch nicht ganz im Sinne des alten Herrn.

Sie stammten also aus ganz unterschiedlichen Verhältnissen und hätten kaum eine Chance gehabt, sich kennen oder gar lieben zu lernen oder gar zu heiraten.

»Schau!«, sagte Jefremowa. »Heute Abend sieht man ihn klar.«

»Ja?« Er wusste sofort, was sie meinte.

»Da.« Sie steckten die Köpfe zusammen, und Jefremowa deutete in den langen, blauen Sommerabend, zu einem winzigen Lichtpunkt beim Mond.

»Sie werden vor uns dort sein«, sagte Jefremowa traurig. »Wie jetzt immer.«

»So pessimistisch?«, meinte Mirski.

»Wie sie ihn wohl nennen werden?«, überlegte sie. »Wie sie ihn wohl taufen, wenn sie landen?«

»Sicher nicht Kartoffel!« Mirski schmunzelte.

»Kaum«, stimmte sie zu.

»Eines Tages«, bemerkte Mirski und kniff die Augen zusammen, um den Lichtpunkt besser zu sehen.

»Eines Tages – was?«

»Vielleicht wird der Tag kommen, wo wir ihn ihnen wegnehmen.«

»Du Träumer«, sagte Jefremowa.

In der Woche darauf implodierte eine Zwei-Mann-Vakuumkammer am Rande des Flugfelds. Jefremowa testete gerade einen neuen Typ von Raumanzug in einer Hälfte der Kammer. Sie war auf der Stelle tot. Es herrschte große Sorge wegen der politischen Folgen, die der Unfall haben könnte, aber ihr Vater zeigte sich einsichtig. Besser einen Märtyrer in der Familie als einen Rowdy.

Mirski nahm einen Tag Sonderurlaub und schnappte sich eine Flasche geschmuggelten Schnaps aus Jugoslawien. Er schlief den ganzen Tag allein in einem Moskauer Park; die Flasche öffnete er nicht mal.

Nach einem Jahr beendete er die Ausbildung und wurde befördert. Er verließ Podlipki und verbrachte zwei Wochen in der Stadt der Sterne, wo er Juri Gagarins Zimmer besuchte, das zu einer Art Mekka für Raumfahrer geworden war. Von dort aus wurde er in eine geheime Stellung in der Mongolei geflogen und dann … auf den Mond.

Und stets behielt er die Kartoffel im Auge. Eines Tages, so wusste er, würde er sie betreten, und zwar nicht als russischer ISCCOM-Austauschgast.

Die Geduld einer Nation ist begrenzt.

Heiliger Abend 2004: Santa Barbara, Kalifornien

Patricia Luisa Vasquez öffnete die Wagentür, um den Sitzgurt zu lösen. Sie konnte es kaum erwarten, ins Haus zu kommen und mit dem Feiern zu beginnen. Die psychologische Untersuchung der letzten Tage in Vandenberg war anstrengend gewesen.

»Warte!«, sagte Paul Lopez. Er legte die Hand auf ihren Arm und blickte aufs Armaturenbrett. Vivaldis Vier Jahreszeiten erklangen aus den Stereoboxen. »Deine Leute werden nicht darauf erpicht sein …«

»Keine Sorge«, sagte sie und strich sich eine dunkle, fast schwarze Haarsträhne aus dem Gesicht. In die untere Hälfte ihres ovalen Gesichts schien das gelbe Licht einer Straßenlampe; die etwas fahle Haut schimmerte rosig im orangefarbenen Schein. Sie musterte Paul besorgt und knotete das in der Mitte geteilte Haar zu zwei Zöpfen. Ihre länglichen, scharfen Augen erinnerten ihn an den Blick einer Katze unmittelbar vor dem Sprung.

»Sie werden sich wahnsinnig freuen«, sagte sie, legte die Hand auf seine Schulter und streichelte ihm die Wange. »Du bist der erste Nichtanglo, den ich ihnen als Freund vorstelle.«

»Ich meine, dass wir zusammenziehen.«

»Was man nicht weiß, macht einen nicht heiß.«

»Irgendwie komm ich mir blöd vor. Du redest in einem fort davon, wie altmodisch deine Eltern sind.«

»Ich will nur, dass du sie kennenlernst und mein Zuhause siehst.«

»Das will ich auch.«

»Hör mal, bei der Nachricht, die ich heute bringe, wird sich keiner um meine Jungfernschaft scheren. Wenn Mom fragt, wie ernst es mit uns ist, lass ich dich antworten.«

Paul schnitt ein Gesicht. »Na prima.«

Patricia zog seine Hand an sich und drückte mit den Lippen einen schmatzenden Kuss darauf. Dann öffnete sie die Tür.

»Moment!«

»Was denn?«

»Ich … ich meine, du weißt, ich liebe dich.«

»Paul …«

»Es ist nur …«

»Komm rein und lern meine Familie kennen! Die Nervosität wird sich legen. Keine Sorge.«

Sie schlossen die Wagentür, öffneten den Kofferraum und holten die Einkäufe hervor. Patricia schleppte einen Karton die Vordertreppe hinauf. Ihr Atem dampfte in der kalten Abendluft. Sie streifte an der Türmatte den Schmutz von den Schuhen, schob die Tür auf, hielt sie mit dem Ellbogen offen und rief: »Mama! Ich bin’s. Und ich hab Paul mitgebracht.«

Rita Vasquez nahm ihrer Tochter den Karton ab und stellte ihn auf den Küchentisch. Mit ihren fünfundvierzig Jahren war Rita nur eine Spur pummelig, aber die Kleidung, die sie trug, entsprach nicht einmal den Erwartungen des Modemuffels Patricia.

»Was ist das? Eine Nahrungsmittelspende?«, fragte Rita und schloss Patricia in die offenen Arme.

»Mama, wo hast du den Polyester-Anzug her? So einen hab ich schon seit Jahren nicht mehr gesehen.«

»Fand ich weggepackt in der Garage. Den kaufte mir dein Vater, da warst du noch gar nicht auf der Welt. Wo ist Paul denn?«

»Er bringt noch zwei Kartons.« Sie zog den Mantel aus und schnupperte. Es roch nach Tamales in Maishülsen, brutzelndem Schinken und Kartoffelbrei. »Duftet wie zu Hause«, sagte sie, und Rita strahlte.

Im Wohnzimmer stand der noch kahle Alubaum – es war eine Tradition der Familie, den Baum am Heiligen Abend zu schmücken –, und das Gasfeuer brannte im offenen Kamin. Patricia machte sich von Neuem vertraut mit dem alten Stuckrelief aus Weinreben unter dem Kaminsims und den schweren Holzbalken an der Decke. Sie lächelte. Sie war in diesem Haus zur Welt gekommen. Wohin sie auch ginge, und wär’s noch so fern, hier war sie daheim. »Wo sind Julia und Robert?«

»Robert ist in Omaha stationiert«, antwortete Rita aus der Küche. »Sie können diesmal nicht kommen. Geht vielleicht bis März.«

»Oh«, sagte Patricia enttäuscht. Sie kehrte in die Küche zurück. »Wo ist Papa?«

»Der sieht fern.«

Paul erschien schwer beladen in der Küchentür. Patricia nahm ihm einen Karton ab und stellte ihn neben dem Kühlschrank zum Auspacken auf den Boden. »Wir haben eine ganze Kompanie erwartet, also haben wir ’ne ganze Menge mitgebracht«, erklärte sie.

Rita kramte kopfschüttelnd in den gestapelten Nahrungsmitteln. »Tja, es wird schon gegessen. Mr. und Mrs. Ortiz von nebenan kommen und Cousin Enrique mit seiner neuen Frau. Das also ist Paul?«

»Jo.«

Rita umarmte ihn, wobei sie ihn kaum berührte. Dann trat sie, seine Hände haltend, einen Schritt zurück und betrachtete ihn. Er lächelte. Der große, schlanke Paul mit dem braunen Haar und der hellen Haut, der mehr wie ein Angloamerikaner aussah als die meisten der Seinen. Trotzdem lächelte Rita, als sie mit ihm plauderte. Paul konnte allein die Stellung behaupten.

Patricia ging durch die Diele in die gemütliche Stube, wo ihr Vater vor dem Fernseher liegen würde. Sie waren nicht reich, und der Fernseher hatte schon fünfundzwanzig Jahre auf dem Buckel und warf bei dreidimensionalen Ausstrahlungen bunte Schatten.

»Papa?«, fragte Patricia leise und schlich im Halbdunkel heran.

»Patty!« Ramon Vasquez schielte um die Lehne. Ein breites Lächeln sträubte seinen pfeffergrauen Schnauzbart. Er war seit drei Jahren nach einem Schlaganfall teilweise gelähmt, woran trotz Operationen nichts mehr zu ändern war. Patricia setzte sich neben ihn aufs Sofa.

»Ich habe Paul mitgebracht«, sagte sie. »Schade, dass Julia diesmal nicht hier sein kann.«

»Find ich auch. Aber so ist das mit der Air Force.« Ramon war zwanzig Jahre bei der Air Force gewesen bis zu seiner Pensionierung im Jahre 1996. Abgesehen von Patricia war die ganze Familie in die Luftwaffe eingebettet. Julia hatte Robert vor sechs Jahren bei einer Party in der March Air Force Base kennengelernt.

»Ich hab Neuigkeiten für alle, Papa.«

»So? Was denn?« Hatte sich seine Sprache verbessert seit ihrem letzten Gespräch unter vier Augen? Offenbar. Sie hoffte es.

Rita rief aus der Küche: »Tochter! Komm, hilf mir und Paul, die Sachen wegzuräumen!«

»Was siehst du?«, fragte Patricia, die nur ungern ging.

»Nachrichten.«

Ein Kommentator – und sein kaum weniger beeindruckender Schatten – leiteten über zu einer Meldung, die den Stein betraf. Obwohl die Mutter ein zweites Mal rief, blieb Patricia noch.

»Während immer mehr Personal auf den Stein geschickt wird, fordern Bürger und Wissenschaftler eine offene Diskussion. Heute, im vierten Jahr der gemeinsamen Erforschung durch die Nato und Eurospace, ist der Mantel des Schweigens, in den der Stein gehüllt ist, dichter denn je, und …«

Nachrichten, aber keine Neuigkeiten.

»… insbesondere russische Teilnehmer sind besonders unglücklich über die gebotene Geheimhaltung. Mittlerweile haben sich Mitglieder der Planetary Society, der L-5 Society, der Freunde Interstellarer Beziehungen und andrer Gruppierungen vor dem Weißen Haus und dem sogenannten Blauen Würfel im kalifornischen Sunnyvale versammelt, um gegen die Teilnahme der Militärs und für eine Aufdeckung der wichtigsten Erkenntnisse des Steininnern zu demonstrieren.«

Ein ernster, konservativ gekleideter junger Mann mit Kurzhaarschnitt erschien im Bild. Er stand vor dem Weißen Haus und sprach mit übertriebenen Gesten. »Wir wissen, er ist ein fremdartiges Artefakt, und wir wissen, dass er sieben Hohlräume enthält – riesige Kavernen, die nicht von Menschenhand geschaffen sind. In jeder Kaverne liegt eine Stadt – verlassen, bis auf die siebente. Da steckt irgendetwas Unglaubliches dahinter, etwas Unvorstellbares.«

»Was denn, Ihrer Meinung nach?«, wollte der Interviewer wissen.

Der Demonstrant warf die Hände hoch. »Wir glauben, alle sollten es wissen. Was immer da sein mag, wir als Steuerzahler haben das Recht, es zu erfahren!«

Der Kommentator merkte an, dass Sprecher der amerikanischen Weltraumbehörde NASA und des Gemeinsamen Weltraumkommandos, des Joint Space Command, sich nicht äußern wollten.

Patricia seufzte, legte die Hände auf die Schultern des Vaters und massierte ihm automatisch die Muskeln.

Beim Dinner beobachtete Paul sie in einem fort, denn er wartete darauf, dass sie eine passende Gelegenheit fände, die sich aber nicht einstellte. Patricia war etwas befangen angesichts der Freunde und Nachbarn am Tisch. Was sie zu sagen hatte, das ginge nur ihre Familie etwas an, und nicht einmal der konnte sie alles sagen, was sie gewollt hätte.

Rita und Ramon hatten offenbar nichts gegen Paul. Das war ein Plus. Irgendwann müssten sie erfahren, dass die beiden zusammenlebten – wenn sie nicht von selber darauf kämen, dass Patricia und Paul nicht nur zusammen Händchen hielten, sondern die räumliche Trennung aufgehoben hatten wie in einem gemischten Studentenheim.

Diese Geheimnistuerei! Vielleicht wären die Eltern schockiert, wie Patricia es erwartete – und wünschte? Es war etwas eigenartig, sich vorzustellen, dass ihre Eltern sie als erwachsenes Sexualwesen betrachteten. Sie war in diesem Punkt längst nicht so offen wie die meisten ihrer Freunde und Bekannten.

Irgendwann würden sie heiraten, das stand für Patricia fest. Aber sie waren beide noch jung, und Paul würde erst um ihre Hand anhalten, wenn er wüsste, er könne für sie beide sorgen. Oder sie könnte ihn überzeugen, dass sie genug verdiene, was trotz Doktor noch einige Jahre dauern würde.

Dabei unberücksichtigt bliebe natürlich das Geld, das sie bei Judith Hoffmans Gruppe verdiente. Dieses Geld ginge bis zur Rückkehr auf ein eigenes Sperrkonto.

Nachdem das Geschirr abgeräumt war und sich alle um den Baum versammelt hatten, der nun gemeinsam von Familie und Freunden geschmückt wurde, bedeutete Patricia ihrer Mutter, dass sie in der Küche zu reden hätten. »Und bring Papa mit!« Rita half Ramon auf seinen Alukrücken in die Küche, wo sie sich um den abgenutzten Holztisch setzten, der schon mindestens sechzig Jahre in der Familie Dienst tat.

»Ich muss euch etwas sagen«, begann Patricia.

»Madre de Dios«, begann Rita, schlug die Hände zusammen und lächelte verzückt.

»Nein, Mama, es geht nicht um Paul und mich«, erklärte sie. Die Züge der Mutter erstarrten; dann wurde ihre Miene wieder gelöst.

»Um was dann?«

»Letzte Woche bekam ich einen Anruf«, erklärte Patricia. »Ich kann euch nicht viel dazu sagen, aber ich werde für ein paar Monate oder auch länger verschwunden sein. Paul weiß Bescheid, aber ich kann ihm auch nicht mehr sagen, als ich euch gesagt habe.« Durch die Flügeltüren kam jetzt Paul in die Küche.

»Von wem wurdest du angerufen?«, fragte Ramon.

»Judith Hoffman.«

»Wer ist das?«, fragte Rita.

»Die Frau im Fernsehen?«, fragte Ramon.

Patricia nickte. »Sie ist eine Beraterin des Präsidenten. Ich soll bei einem besonderen Projekt mitarbeiten, und das ist schon alles, was ich euch verraten kann.«

»Warum wollen sie denn ausgerechnet dich?«, fragte Rita.

»Ich glaube, sie soll ihnen eine Zeitmaschine bauen«, bemerkte Paul. Immer wenn er das sagte, wurde Patricia sauer, aber dieses Mal tat sie es einfach mit einem Achselzucken ab.

Sie konnte nicht verlangen, dass Paul ihre Arbeit begriff. Nur sehr wenige begriffen ihre Arbeit – aber ganz bestimmt nicht die Eltern und Freunde. »Paul hat noch mehr solcher verrückten Theorien parat«, sagte sie. »Aber ich muss dazu schweigen.«

»Wie ein Grab«, meinte Paul. »Es war nicht einfach mit ihr in den letzten Tagen.«

»Wenn du nicht ständig versuchen würdest, mich zum Reden zu bringen!« Sie seufzte dramatisch – das tat sie neuerdings oft – und blickte zur cremefarbenen Küchendecke. Dann wandte sie sich an ihren Vater. »Es wird sehr interessant sein. Ich werde nicht direkt erreichbar sein. Ihr könnt mir unter dieser Adresse schreiben.« Sie schob den Telefonblock über den Tisch und notierte eine Militärpost-Adresse.

»Ist es wichtig für dich?«, fragte Rita.

»Natürlich«, antwortete Ramon.

Aber das wusste Patricia selber nicht. Es klang verrückt, selbst jetzt noch.

Nachdem die Gäste gegangen waren, machte sie mit Paul einen Abendspaziergang durch die Nachbarschaft. Eine halbe Stunde gingen sie schweigend von Straßenlaterne zu Straßenlaterne. »Ich komme ja zurück«, sagte sie schließlich.

»Ich weiß.«

»Ich wollte dir mein Zuhause zeigen, weil es sehr wichtig für mich ist. Rita. Ramon. Das Haus.«

»Ja«, sagte Paul.

»Ich glaube, ohne es wäre ich verloren. Ich verbringe so viel Zeit in meinem Kopf, und was ich da tue, ist so anders … so bizarr für die meisten Leute. Wenn ich kein Zentrum hätte, keinen Ort, zu dem ich heimkehren könnte, dann würde ich mich hoffnungslos verirren.«

»Das versteh ich«, meinte Paul. »Es ist ein schönes Zuhause. Ich mag deine Leute.«

Sie hielt ihn an, und so standen sie Hand in Hand in Armeslänge voneinander und sahen sich an. »Ich bin froh«, sagte sie.

»Ich möchte auch ein Zuhause mit dir schaffen«, sagte er. »Ein Zentrum für uns, in das wir gern heimkehren.«

Ihr Ausdruck war so gespannt, als wollte sie ihn gleich anspringen. »Katzenaugen«, bemerkte Paul lächelnd.

Sie machten kehrt und küssten sich auf der Veranda, bevor sie ins Haus gingen und sich zu Kaffee und Zimtkakao zu ihren Eltern setzten.

»Einen kleinen Rundgang noch«, sagte sie, als sie zum Aufbruch nach Caltech rüsteten.

Sie ging durch die Diele zum Bad, vorbei an den Abschlussfotos und dem gerahmten Inhaltsverzeichnis aus dem American Journal of Physics, in dem ihre erste Arbeit erschienen war. Davor blieb sie stehen und betrachtete es aufmerksam. Plötzlich schien ihr Herz einen Schlag auszusetzen, was eine eigentümliche Leere in ihrer Brust zurückließ, ein flüchtiges, fast angenehmes Gefühl zu fallen, zu vergehen und wieder in die Normalität zurückzukehren.

Das hatte sie schon einmal gespürt. Es war nichts Ernstes, nur ein eisiger Luftzug mitten durch die Brust – immer dann, wenn sie wirklich akzeptierte, wohin sie gehen sollte.

1174, Reisejahr 5 Nader: Axis City

Der Präsidierende Minister der Axis City, Ilyin Taur Ingle, stand in der breiten Beobachtungskuppel und blickte über den Weg hinaus durch den blauen Dunst der Stadt auf hell erleuchtete Straßen mit unablässig fließendem Verkehr zwischen den Toren. Hinter ihm standen zwei zugeteilte Geister und in corpora ein Repräsentant des Hexamon Nexus.

»Kennen Sie Olmy gut, Ser Franco?«, symbolisierte der Präsidierende Minister mittels Grafiksprache.

»Nein, Ser Ingle«, erwiderte der physische Vertreter, »obwohl er berühmt ist im Nexus.«

»Drei Inkarnationen, eine mehr, als das Gesetz erlaubt, aufgrund außergewöhnlicher Verdienste. Olmy ist einer unserer ältesten noch leibverbundenen Bürger«, sagte der Minister. »Eine undurchschaubare Persönlichkeit. Er hätte längst seine Mehrheitsrechte verwirkt und sich ins Stadtgedächtnis zurückgezogen, wäre da nicht sein Nutzen für den Nexus.« Der P. M. befahl einem Sprüher, seine Spezialmischung von Talsit freizusetzen. Der Nebel erfüllte einen würfelförmigen Raum, den ein leicht schimmerndes rotes Traktionsfeld umschloss. Ingle betrat das Feld und tat einen tiefen Atemzug.

Die Geister hatten sich nicht bewegt; sie verharrten regungslos, bis sie angerufen wurden. Sichtbar waren sie nur deshalb, um zu verdeutlichen, dass ihre im Stadtgedächtnis gespeicherte Persönlichkeit auf die Kammer ausgerichtet war und mit Aug und Ohr achtgab.

»Er ist selbst von naderischer Herkunft, glaube ich«, sagte der leibliche Assistent.

»Ja«, sagte der Minister nickend. »Aber er dient dem Hexamon, ganz gleich wer an der Macht ist, und ich habe keinen Zweifel, wo seine Loyalität liegt. Ein höchst ungewöhnlicher Mann. Zäh im alten Sinne, ein Mann, der große Veränderungen, viel Leid mitgemacht hat. Ich ließ ihn zurückrufen aus eins Punkt drei mal neun. Er überwachte unsere Vorbereitungen für die Jart-Offensive. Aber hier kann er uns noch nützlicher sein. Er ist’s, den wir schicken müssen. Axis Nader kann ihn nicht ablehnen oder uns Vetternwirtschaft vorwerfen; seine Berichte an sie sind stets detailliert und akkurat. Sagen Sie dem Präsidenten, dass wir die Aufgabe übernehmen und Olmy schicken werden.«

»Ja, Ser Ingle.«

»Ich glaube, die Geister haben Ihre Fragen nun beantwortet?«

»Wir hören«, sagte der Geist. Der andere regte sich nicht.

»Schön. Jetzt rede ich mit Ser Olmy.«

Die Geister verschwanden, und Corprep Franco ging, wobei er seinen Halsring befingerte und einen offiziellen Flaggenschwenk über die linke Schulter piktographierte.

Der P. M. schaltete das Traktionsfeld ab, und die Kammer füllte sich mit mehr Talsitrauch. Der Geruch war unangenehm, scharf wie alter Wein, als Olmy eintrat.

Er näherte sich dem Minister leise, um ihn nicht aus seiner Versenkung zu reißen.

»Vorwärts, Ser Olmy!«, sagte der Minister. Er wandte sich um, während Olmy die Stufen zur Aussichtsplattform bestieg. »Sie sehen fit aus heute.«

»Und Sie erst, Ser.«

»Mm. Meine Frau hat mir letztes Mal ein wunderbares Vergessen bereitet. Hat mir viel Unangenehmes von meinem zwanzigsten Jahr genommen. Das war kein gutes Jahr, und der Verlust war eine Erleichterung.«

»Wunderbar, Ser.«

»Wann heiraten Sie, Olmy?«

»Sobald ich die Frau finde, die mein einundzwanzigstes Jahr der ersten Inkarnation läutern kann.«

Der Minister lachte herzlich. »Wie ich höre, pflegen Sie eine feine, fürsprechende Gesellschaft in Axis Nader … Wie heißt sie?«

»Suli Ram Kikura.«

»Ja, natürlich … Sie hat sich dafür eingesetzt, die Wogen zwischen dem Nexus und den korzenowskischen Hitzköpfen zu glätten, nicht wahr?«

»Ja. Darüber sprechen wir wenig.«

Der Minister holte tief Luft, machte ein betroffenes Gesicht und begann, die Treppe hinabzusteigen. »Soso. Tja, nun habe ich eine schwierige Mission für Sie.«

»Es ist mir eine Freude, dem Hexamon zu dienen.«

»Nicht dieses Mal vielleicht. Keine bloße Untersuchung illegaler Geschäfte am Tor. Alle paar Jahrzehnte schicken wir jemand zurück zur Thistledown, um die Stabilität zu überprüfen. Aber diesmal haben wir doppelten Grund. Die Thistledown ist wieder besetzt.«

»Es hat jemand die Verbotenen Territorien überquert?«

»Nein. Noch rätselhafter. Nichts hat unsre Wächter an der ersten Grenze gestört. Offenbar haben die Besetzer die Thistledown von außen betreten. Noch verblüffender – es sind vielleicht Menschen. Nicht in großer Zahl, aber organisiert. Es hat keinen Sinn, sich zu überlegen, woher sie kommen: Die Information ist zu zweideutig. Sie verfügen natürlich über die Vollmacht und die nötigen Transportmittel. Ser Algoli wird Sie über die anderen Erfordernisse in Kenntnis setzen. Verstanden?«

Olmy nickte. »Ser.«

»Gut.« Der Minister lehnte sich übers Geländer und blickte auf die Oberfläche zwanzig Kilometer darunter. Ein Mahlstrom von Lichtern wälzte sich über bestimmte Straßen. »Offenbar ist dieses Tor verstopft. Ach, eine sorgenvolle Zeit, der Monat des Gerechten.« Er wandte sich an Olmy. »Viel Glück. Oder, wie die Alten sagen: Stern, Schicksal und Pneuma seien Ihnen hold.«

»Danke, Ser.«

Er trat zurück von der Plattform und verließ die Kammer, indem er den Lift durch den langen, schlanken Pylon zur Central City nahm, wo er alles für eine längere Abwesenheit vorbereitete.

Die Aufgabe war ein Privileg. Rückkehr zur Thistledown war nur dann erlaubt, wenn es unerlässlich war für den Nexus. Olmy war gut vierhundert Jahre nicht mehr dort gewesen.

Andererseits konnte die Mission natürlich gefährlich werden – besonders angesichts solch zweideutiger Informationen. Er könnte dazu beitragen, den Erfolg der Mission zu gewährleisten, indem er einen Frant mitnähme.

Falls in der Thistledown Menschen wären – Menschen, keine Abtrünnigen aus der Stadt, was die wahrscheinlichere Erklärung wäre –, woher kamen die dann?

Viel zu beschränkt und zweideutig für seinen Geschmack.

1DST (Deep Space Tracking): Verfahren zur Beobachtung im Weltraum. – Anm. d. Übers.

2Albedo: Verhältnis der zurückgeworfenen Lichtmenge zur Gesamtlichtmenge bei nichtspiegelnden Oberflächen wie Planeten. – Anm. d. Übers.

3Geode: Mandel eines Ergussgesteins. – Anm. d. Übers.

4Amerikanisch »Jimmy«: Brecheisen. – Anm. d. Übers.