Durch einen Blizzard entdeckte Nora Roberts ihre Leidenschaft fürs Schreiben: Tagelang fesselte sie 1979 ein eisiger Schneesturm in ihrer Heimat Maryland ans Haus. Um sich zu beschäftigen, schrieb sie ihren ersten Roman. Zum Glück – denn inzwischen zählt Nora Roberts zu den meistgelesenen Autorinnen der Welt. Ihre Bücher wurden weltweit mehr als 30 Millionen Mal verkauft. Unter dem Namen J.D. Robb veröffentlicht sie seit Jahren ebenso erfolgreich Kriminalromane. Auch in Deutschland sind ihre Bücher von den Bestsellerlisten nicht mehr wegzudenken.
Eine Decke über den Schultern, saß Reena am Küchentisch ihrer Mutter und trank kühlen Wein. Sie brauchte keinen Arzt, auch nicht ihren Bruder, der ihr erklärte, dass sie einen Schock erlitten habe. Außerdem hatte sie nicht die geringste Lust auf die Notaufnahme und auf ein Beruhigungsmittel.
Sie wollte nur ruhig dasitzen. Die Salbe, mit der An ihre Verbrennungen behandelt hatte, war angenehm lindernd.
»Du hast eine Rippenprellung, aber soweit ich feststellen kann, ist nichts gebrochen.« Zweifelnd musterte Xander ihr zerbeultes Gesicht. »Du musst dich röntgen lassen, Reena.«
»Später, Doc.«
»Verbrennungen zweiten Grades.« Vorsichtig bandagierte An ihren Knöchel. »Du hast Glück gehabt.«
»Ich weiß.« Reena griff nach Bos Hand und lächelte ihrem Vater zu. »Ich weiß.«
»Zuerst wird sie etwas essen, und dann ruht sie sich aus. Keine Polizeiarbeit mehr heute Nacht«, wandte sich Bianca an Younger.
»Nein, Ma’am. Wir kümmern uns morgen früh darum«, erwiderte er, an Reena gerichtet.
»Wenn wir alles untersuchen, werden wir sicher Zeitschaltvorrichtungen finden. Wahrscheinlich hat er sich erst im letzten Augenblick entschlossen, zu sterben. Er … er konnte es nur nicht ertragen, gedemütigt zu werden und eine Niederlage einstecken zu müssen wie sein Vater. Dieser Gedanke oder die Vorstellung eines langsamen Todes waren zu viel für ihn. Deshalb hat er sich so entschieden.«
»Du isst jetzt etwas. Ich brate Eier, und dann gönnt ihr euch alle einen Happen.« Bianca riss den Kühlschrank auf. Doch im nächsten Moment schlug sie schluchzend die Hände vors Gesicht.
Als Gib einen Schritt auf sie zu machte, nahm Reena ihn kopfschüttelnd am Arm. »Lass mich.«
Vor Schmerz schnappte sie beim Aufstehen nach Luft. Doch sie ging auf ihre Mutter zu und legte die Arme um sie. »Mama, alles ist gut. Wir haben es geschafft.«
»Mein Baby. Mein kleines Mädchen. Bella bambina.«
»Ti amo, Mama. Und es geht mir gut. Ich habe nur Hunger.«
»Va bene. Okay.« Sie wischte sich die Wangen ab und küsste Reena. »Setz dich. Ich koche etwas.«
»Ich helfe dir, Mama.« Auch Bella musste die Tränen zurückdrängen, als Bianca sie mit hochgezogenen Augenbrauen musterte. »Ich weiß noch, wie man Frühstück macht.«
Ja, genau das brauchte sie jetzt, dachte Reena. Das Geklapper, die Geschäftigkeit, die Geräusche und Gerüche in der Küche ihrer Mutter. Sie verspeiste ihre Portion mit einem Appetit, der sie selbst angenehm überraschte.
Später gesellte sie sich zu ihrem Vater und John, die mit ihren Kaffeetassen auf der Vordertreppe saßen. Über dem Viertel ging die Sonne auf, und der weißliche Dunst verhieß einen weiteren brütend heißen Tag.
Reena war sicher, noch nie etwas so Schönes gesehen zu haben.
»Seit wir das erste Mal hier draußen gesessen haben, ist viel Zeit vergangen«, sagte John.
»Damals haben wir Bier getrunken.«
»Das machen wir sicher bald mal wieder.«
»Ich war ziemlich schlechter Laune. Wie ich mich heute Morgen fühle, weiß ich noch nicht genau. Du hast gemeint, ich sei ein Glückspilz, weil ich so eine schöne Frau und reizende Kinder hätte. Du hattest recht. Und du fandest, dass Reena ausgesprochen klug ist. Und damit hattest du wieder recht. Fast hätte ich sie verloren, John. Letzte Nacht hätte ich fast mein kleines Mädchen verloren.«
»Aber es ist nicht dazu gekommen. Und du bist immer noch ein Glückspilz.«
»Habt ihr vielleicht Platz für mich?« Reena trat aus dem Haus. »Wird ein heißer Tag heute. Als Kind habe ich diese heißen Sommertage geliebt, die bis weit in die Nacht hinein zu dauern schienen. Dann lag ich im Bett und lauschte. Fran kam von einer Verabredung mit einem Jungen zurück. Der alte Mr Franco ging mit seinem Hund spazieren. Johnnie Russo fuhr mit seinem frisierten Motorrad vorbei. Du hast ihm immer wieder deswegen zugesetzt, Dad.«
Sie bückte sich, um ihn auf den Scheitel zu küssen. »An einem Morgen wie diesem kommen die Leute früh aus ihren Häusern, bevor es heiß wird. Sie gehen in den Park oder zum Markt, plaudern am Gartenzaun oder auf der Vordertreppe und fahren zur Arbeit. Wenn sie freihaben, gießen sie ihre Blumen und schnappen den neuesten Tratsch auf. Wenn du mich fragst, sind wir alle Glückspilze.«
Eine Weile saßen sie schweigend da und sahen zu, wie der Tag heller wurde. Dann tätschelte John Reena das Knie. »Ich muss nach Hause und sehen, wie viel Arbeit dort auf mich wartet.«
»Das mit deinem Haus tut mir leid, John.«
»Das mit deinem auch, Liebes.«
»Wir alle werden dir beim Wiederaufbau helfen«, sagte Reena. »Außerdem kenne ich einen guten Tischler.«
Er küsste sie auf den Scheitel. »Dein Partner wäre stolz auf dich. Ich melde mich. Und du passt auf dich auf, Gib.«
»Danke für alles, John.«
Reena blickte ihm nach, als er davonfuhr. »Ihm habe ich es zu verdanken, dass ich es so weit gebracht habe. Hoffentlich bist du einverstanden damit.«
»Wenn ich dich so ansehe, freue ich mich darüber.« Tränen standen in seinen Augen, und sie sah sie funkeln, als er die Straße entlangblickte. »Es wird noch ein paar Tage dauern, bis deine Mutter und ich uns wieder beruhigt haben, aber wir schaffen das schon.«
»Ich weiß.« Kurz lehnte sie sich an ihn, und sie saßen gemeinsam auf der Treppe und beobachteten, wie die Sonne aufging. »Auch du hast mich zu dem gemacht, was ich heute bin«, sagte sie leise. »Du und Mama. Ti amo. Molto.« Sie schmiegte sich ein wenig fester an ihn. »Molto.«
Gib legte den Arm um sie und streifte mit den Lippen ihr Haar. »Wirst du den Tischler heiraten?«
»Ja, werde ich.«
»Eine weise Entscheidung.«
»Das glaube ich auch. Ich gehe hinein, verabschiede mich von allen und überrede sie, auch nach Hause zu fahren. Du und Mama, ihr solltet ein wenig schlafen.«
»Du ebenfalls.«
Sie traf Bella allein in der Küche an. »Du kochst und putzt?«
»Fran hat Krämpfe. Mama ist mit ihr nach oben gegangen?«
»Haben die Wehen angefangen?«
»Kann sein. Vielleicht ist es auch nur falscher Alarm. Aber sie hat ja zwei Ärzte, ihre Mutter und ihren Mann, die sich um sie kümmern. Sie kommt schon zurecht.« Bella hob die Hand und schüttelte dann den Kopf. »Ich wollte nicht so ungnädig klingen.« Sie warf das Geschirrtuch hin. »Aber irgendwie bin ich machtlos dagegen.«
»Wir sind alle müde, Bella. Niemand nimmt es dir übel.«
»Ich beneide sie. Nicht nur um die Gelassenheit, die sie trägt wie ein maßgeschneidertes Kostüm, sondern auch um die Blicke, die Jack ihr zuwirft. Man könnte dahinschmelzen. Ich missgönne ihr das alles nicht, ich hätte nur selbst gern ein bisschen davon.«
»Tut mir leid.«
»Jammern ist zwecklos. Ich habe es mir ja selbst eingebrockt.« Sie legte sich den Hand auf den Bauch.
»Bist du sicher?«
»Heutzutage kann man es herausfinden, praktisch bevor es passiert ist. Ich erwarte ein Kind. Ich bin absichtlich schwanger geworden. Das war dumm und vielleicht auch egoistisch von mir, doch nun ist es eben geschehen. Und ich bereue es nicht, dass ich ein Baby bekomme.«
»Hast du es Vince schon erzählt?«
»Er ist begeistert. Auch wenn er mich nicht so liebt, wie ich es mir wünsche, hat er Kinder sehr gern. Also wird er in nächster Zeit reizend und aufmerksam sein und sich mit seiner nächsten Affäre ein bisschen zurückhalten – sofern er nach deiner Standpauke überhaupt noch einen Seitensprung wagt.«
»Und wirst du glücklich sein, Bella?«
»Ich arbeite daran. Ich werde mich nicht scheiden lassen und all das aufgeben, was ich habe. Also werde ich das Beste daraus machen. Aber sag der Familie noch nichts. Fran soll ihr Baby bekommen, ohne dass ihr jemand die Schau stiehlt.«
Reena lächelte. »Du bist wie immer wunderbar, Isabella.«
Als Reena mit Bo nach Hause fuhr, betrachtete sie das Viertel durch das Wagenfenster. Wie sie vorausgesehen hatte, waren die Menschen früh unterwegs, gingen im Park spazieren oder joggten, spielten mit ihren Kindern oder führten ihre Hunde aus. Andere machten sich eilig auf den Weg zur Arbeit. Aus einer Bäckerei stieg Reena der Duft frischen Brotes in die Nase.
Selbst der feuchte Brandgeruch, der noch im Haus hing, konnte ihre Hochstimmung nicht dämpfen.
Sie nickte dem Polizisten zu, der vor dem Haus Posten stand.
»Ich brauche eine Mütze voll Schlaf. Anschließend gehe ich in die Kirche, um für O’Donnell eine Kerze anzuzünden«, meinte sie zu Bo. »Und du willst sicher zu Mrs M., O’Donnells Schwester.«
»Ja.« Er strich ihr über den Arm. »Aber erst später.«
»Ich komme mit, und ich würde mich freuen, wenn du mich zu dem Besuch bei seiner Frau begleitest. Doch zuerst muss ich rein.«
»Du schläfst bei mir, und danach zünden wir in der Kirche eine Kerze an und besuchen seine Familie. Allerdings solltest du dich im Krankenhaus untersuchen lassen.«
»Es ist nichts gebrochen, und die Verbrennungen sind nur zweiten Grades. Das heißt jedoch nicht, dass ich mir von Xander nicht ein paar bunte Pillen beschaffen werde. Doch momentan sehne ich mich nur noch nach einem Bett, und deines kommt mir da gerade recht. Aber zuerst muss ich da rein und mir alles ansehen.«
Als sie aufschloss, stieg ihr Rauchgeruch in die Nase, und sie bemerkte Rußflecken an der Wand. Schweigend ging sie die Treppe hinauf. Es krampfte ihr den Magen zusammen.
Das Feuer hatte den Rahmen der Schlafzimmertür verkohlt und sich über den Boden ausgebreitet. Ihre Frisierkommode war angesengt, das Holz wölbte sich, und das Brandmuster an der Wand zeigte, wie gierig die Flammen in Richtung Decke gezüngelt hatten.
Dann sah sie, wo Joeys Körper gestürzt war und die Flammen unter sich erstickt hatte.
»Am Anfang war er noch nicht verrückt, zumindest nicht so wie zum Schluss. Die Vergangenheit hat an ihm genagt und seinen Verstand und vielleicht auch seine Seele zersetzt. So wie ein Feuer Brennstoff verzehrt. Oder wie der Krebs, der seinen Vater zerfrisst. Und letztlich hat es ihn verschlungen.«
»Aber du warst nie der Anlass, sondern nur ein Vorwand.«
Erstaunt drehte sie sich zu Bo um. »Du hast recht. Mein Gott, du hast absolut recht. Und das fühlt sich in gewisser Weise an wie eine Absolution.«
Reena lehnte den Kopf an Bos Schulter. »Ich weiß, wie viel Glück ich gehabt habe, mit ein paar Beulen, blauen Flecken und Verbrennungen davonzukommen. Aber es macht mich traurig, wenn ich mir dieses Zimmer anschaue. Es war zwar nicht vollkommen, aber es war meins.«
»Das ist es immer noch.« Sanft legte er ihr den Arm um die Taille. »Ich kann das wieder in Ordnung bringen.«
Reena lachte auf und schmiegte sich an ihn. »Ja, ja, das kannst du.«
Mit diesen Worten kehrte sie der Verwüstung den Rücken zu und folgte dem Jungen von nebenan nach Hause.
Catarina Hales Kindheit endete an einem schwülen Augustabend, einige Stunden nachdem die Orioles die Rangers im Memorial Stadium mit neun zu eins vernichtend geschlagen hatten, also ihnen – wie ihr Vater sich ausdrückte – einen kräftigen Tritt in ihre texanischen Hintern verpasst hatten. Ihre Eltern hatten sich, was nur selten vorkam, einen Abend freigenommen, um mit der ganzen Familie zum Spiel zu fahren. Das versüßte den Gewinn noch mehr. Meistens waren sie, allein oder zu zweit, bis spätabends in der Pizzeria Sirico, die sie vom Vater ihrer Mutter übernommen hatten. Dort hatten sie sich vor achtzehn Jahren kennengelernt. Ihre Mutter war damals, so erzählte man sich, eine temperamentvolle Achtzehnjährige gewesen, als der zwanzigjährige Gibson Hale hereinstolziert war, um sich einen Happen zu kaufen.
»Wollte nur ’ne Pizza und bekam eine italienische Göttin«, sagte er häufig.
Ihr Vater drückte sich oft so merkwürdig aus, aber Reena gefiel das.
Zehn Jahre später, als Oma und Opa beschlossen, sich auf die Reise zu machen, bekam er auch noch eine Pizzeria. Bianca, die jüngste von fünf Geschwistern und die einzige Tochter, übernahm sie zusammen mit ihrem Gib, da keiner ihrer Brüder daran interessiert war.
Das Sirico stand seit über dreiundvierzig Jahren am selben Fleck im italienischen Viertel von Baltimore. Reena fand das erstaunlich, denn das waren mehr Jahre, als ihr Vater alt war. Jetzt führte ihr Vater, der keinen einzigen Tropfen italienisches Blut in seinen Adern hatte, den Laden gemeinsam mit ihrer Mutter, die durch und durch Italienerin war.
Das Sirico war fast immer gut besucht. Es gab jede Menge Arbeit, aber Reena machte es nichts aus, wenn sie helfen musste. Ihre ältere Schwester Isabella beklagte sich, weil sie manchmal an den Samstagabenden dort arbeiten musste, anstatt sich mit einem Jungen oder ihren Freundinnen treffen zu können. Aber Bella beklagte sich ohnehin ständig.
Vor allem regte sie sich darüber auf, dass ihre älteste Schwester Francesca im zweiten Stock ihr eigenes Zimmer hatte, während sie sich ihres mit Reena teilen musste. Sogar Xander, der jüngste von allen, hatte ein eigenes Zimmer, weil er ein Junge war.
Das Zimmer mit Bella zu teilen war in Ordnung gewesen. Es hatte sogar Spaß gemacht, bis Bella ein Teenager wurde und beschloss, dass sie zu alt war, um etwas anderes zu tun, als über Jungs zu reden, Modezeitschriften zu lesen oder mit ihrem Haar herumzuspielen.
Reena war elf Jahre und fünf Sechstel. Die fünf Sechstel waren ausgesprochen wichtig, weil sie bedeuteten, dass Reena nur noch vierzehn Monate warten musste, bis auch sie ein Teenager war. Im Augenblick war das ihr innigster Wunsch – viel erstrebenswerter als ihre früheren Ziele wie, Nonne zu werden oder Matt Dillon zu heiraten.
In dieser schwülheißen Nacht im August, als Reena elf Jahre und fünf Sechstel alt war, wachte sie im Dunkeln mit heftigen, krampfartigen Bauchschmerzen auf. Sie zog die Beine an, rollte sich zusammen und biss sich auf die Lippen, um ein Stöhnen zu unterdrücken. Auf der anderen Seite des Zimmers schnarchte Bella leise – so weit von ihr entfernt wie nur möglich, seit sie vierzehn Jahre alt war und sich mehr für ihre Frisur als für ihre Rolle als große Schwester interessierte.
Reena rieb sich den schmerzenden Bauch und dachte an die Hot Dogs, das Popcorn und die Süßigkeiten, die sie während des Spiels verschlungen hatte. Ihre Mutter hatte sie gewarnt, dass sie das bereuen würde.
Konnte ihre Mutter nicht ein einziges Mal im Unrecht sein?
Sie versuchte, die Bauchschmerzen als Opfer darzubringen, damit ein armer Sünder daraus Nutzen ziehen konnte – so wie die Nonnen es ihr immer sagten. Aber es tat einfach nur weh!
Vielleicht kam es auch gar nicht von den Hot Dogs, sondern von dem Schlag in die Magengrube, den Joey Pastorelli ihr verpasst hatte. Er hatte großen Ärger bekommen, weil er sie auf den Boden geworfen, ihr T-Shirt zerrissen und sie mit einem Ausdruck beschimpft hatte, den sie nicht kannte. Mr Pastorelli und ihr Vater hatten einen Streit angefangen, als ihr Dad die Sache mit ihm »besprechen« wollte.
Sie hatte gehört, wie sie sich anbrüllten. Ihr Vater schrie nie – na ja, fast nie. Es war eher ihre Mutter, die laut wurde, weil sie eine hundertprozentige Italienerin war und Temperament besaß.
Meine Güte, hatte er Mr Pastorelli angeschrien. Und als sie wieder zu Hause waren, hatte er sie ganz fest in den Arm genommen.
Und dann waren sie zu dem Baseballspiel gefahren.
Vielleicht wurde sie dafür bestraft, weil sie sich darüber gefreut hatte, dass Joey Pastorelli Ärger bekommen hatte. Und weil sie auch ein wenig froh darüber gewesen war, dass er sie geschubst und ihr T-Shirt zerrissen hatte. Schließlich waren sie anschließend zu dem Spiel gefahren, und sie hatte zusehen können, wie die Orioles die Rangers plattgemacht hatten. Oder sie hatte möglicherweise innere Verletzungen.
Sie wusste, dass es so etwas gab und dass man davon sterben konnte, weil sie es im Fernsehen gesehen hatte, eine ihrer und Xanders Lieblingsserien. Der Gedanke daran rief einen weiteren scheußlichen Krampf hervor, der ihr Tränen in die Augen trieb.
Langsam kroch sie aus dem Bett, um zu ihrer Mutter zu gehen. Dann spürte sie etwas Nasses zwischen ihren Schenkeln.
Schniefend und peinlich berührt, weil sie sich womöglich wie ein Baby in die Hose gemacht hatte, schlich sie sich aus dem Schlafzimmer den Gang hinunter zum Bad. In dem Raum mit der pinkfarbenen Badewanne und den gleichfarbigen Fliesen zog sie ihr Ghostbusters-T-Shirt hoch.
Heiße Wogen der Angst überrollten sie, während sie auf das Blut an ihren Schenkeln starrte. Sie würde sterben. In ihren Ohren begann es zu rauschen. Als sich ihr Unterleib wieder zusammenkrampfte, öffnete sie den Mund, um zu schreien.
Und dann begriff sie.
Nicht der Tod, dachte sie. Und auch keine inneren Verletzungen. Sie hatte ihre Periode bekommen. Zum ersten Mal. Ihre Mutter hatte ihr alles darüber erzählt. Über die Eier, die Zyklen und darüber, wie man zur Frau wurde. Ihre Schwestern hatten beide ihre Periode jeden Monat, ebenso wie ihre Mutter.
In dem Schränkchen unter dem Waschbecken fand sie Binden. Mama hatte ihr gezeigt, wie man sie benützte, und sie hatte sich eines Tages im Bad eingeschlossen, um sie auszuprobieren. Sie wischte sich sauber und befahl sich, sich nicht wie eine Heulsuse zu verhalten. Es war nicht das Blut, das sie so ängstigte, vielmehr ekelte sie sich vor der Stelle, wo es herkam.
Aber sie war jetzt erwachsen. Erwachsen genug, um damit fertig zu werden, was ihre Mama als natürliche Sache bezeichnet hatte, als Frauensache.
Weil sie nicht mehr müde war und außerdem jetzt eine Frau, beschloss sie, in die Küche hinunterzugehen und sich ein Gingerale zu holen. Im Haus herrschte brütende Hitze. »Hundstage« nannte ihr Dad das. Jetzt, da sie etwas geworden war, musste sie über vieles nachdenken; also nahm sie ihr Glas mit nach draußen, setzte sich auf die weißen Marmorstufen und grübelte, während sie an ihrem Getränk nippte.
Es war so ruhig, dass sie Pastorellis Hund auf seine für ihn typische harte, keuchende Weise bellen hörte. Die Straßenlaternen leuchteten, und sie hatte das Gefühl, als Einzige auf der ganzen Welt wach zu sein. Zumindest war sie im Moment die Einzige auf der Welt, die wusste, was in ihrem Körper geschehen war.
Sie trank einen Schluck und überlegte, wie es wohl sein würde, im nächsten Monat wieder zur Schule zu gehen. Wie viele der Mädchen hatten wohl im Sommer ihre Periode bekommen?
Jetzt würden ihr Brüste wachsen. Sie sah nach unten auf ihren Brustkorb und fragte sich, wie das wohl sein würde. Wie es sich anfühlen würde. Man spürte sein Haar und seine Fingernägel nicht wachsen, aber vielleicht war das bei Brüsten anders.
Unheimlich, aber interessant.
Begännen sie jetzt zu wachsen, hätte sie welche, wenn sie endlich ein Teenager war.
Sie saß auf den Marmorstufen, ein noch flachbrüstiges Mädchen mit schmerzendem Bauch. Ihr kurz geschnittenes honigblondes Haar kräuselte sich in der feuchten Luft, ihre Lider über den goldbraunen Augen wurden schwer. Auf der rechten Seite über ihrer Oberlippe hatte sie ein kleines Muttermal, und sie trug eine Zahnspange.
In dieser schwülen Nacht schien die Gegenwart absolut sicher, die Zukunft aber nur ein verschwommener Traum zu sein.
Sie gähnte und blinzelte schläfrig. Als sie aufstand, um wieder ins Haus zu gehen, schweifte ihr Blick die Straße hinunter zum Sirico, dorthin, wo es schon vor der Geburt ihres Vaters gestanden hatte. Zuerst hielt sie das flackernde Licht in dem großen vorderen Fenster für eine Spiegelung. Hübsch, dachte sie.
Bei näherem Hinsehen schürzte sie die Lippen und neigte verwundert den Kopf zur Seite. Es sah nicht wirklich aus wie eine Reflexion oder so, als hätte jemand vergessen, beim Abschließen alle Lichter zu löschen.
Sie hielt immer noch das Glas in der Hand und ging interessiert hinunter auf den Gehsteig.
Reena war so neugierig, dass sie beim Weitergehen nicht einmal daran dachte, was sie von ihrer Mutter zu hören kriegen würde, wenn sie mitten in der Nacht allein auf die Straße ging.
Ihr Herz begann heftig zu klopfen, als das Gesehene sich langsam den Weg durch ihre träumerische Schläfrigkeit bahnte. Rauch drang aus der offen stehenden Vordertür, und die Lichter, die sie sah, waren Flammen.
»Feuer.« Zuerst war es nur ein Flüstern, dann schrie sie das Wort heraus, während sie zurück zum Haus und zur Tür hineinrannte.
Ihr ganzes Leben lang würde sie nicht vergessen, wie sie mit ihrer Familie dabeistand, als das Sirico abbrannte. Das Brüllen des Feuers, das durch zerborstene Fensterscheiben schlug und in schnellen goldfarbenen Türmen emporloderte, hallte in ihren Ohren wider. Sirenen heulten, Wasser zischte aus dicken Schläuchen, überall Weinen und Geschrei. Aber das Geräusch des Feuers, seine Stimme, übertönte alles andere.
Sie konnte das Feuer in ihrem Bauch spüren wie ihre Krämpfe. Das Erstaunen und Entsetzen, die schreckliche Schönheit des Feuers pulsierten in ihr.
Wie war es wohl in seiner Mitte, dort, wohin die Feuerwehrmänner gingen? Heiß und dunkel? Undurchdringlich und hell? Einige der Flammen sahen aus wie große Zungen, die hervor- und zurückschnellten, als könnten sie schmecken, was sie versengten.
Rauchschwaden stiegen wabernd in die Luft. Der Qualm brannte in ihren Augen und in ihrer Nase, und der wirbelnde Tanz der Flammen blendete sie. Sie war immer noch barfuß, und der Asphalt fühlte sich an wie glühende Kohlen. Aber sie konnte nicht zurücktreten, konnte ihren Blick nicht von dem Spektakel abwenden, das einem verrückten, wilden Zirkus gleichkam.
Irgendetwas explodierte, und weitere Schreie folgten. Die Feuerwehrmänner, ihre Gesichter unter den Helmen geschwärzt von Rauch und Asche, bewegten sich wie Gespenster im Dunst des Qualms. Wie Soldaten, dachte sie. Es sah aus wie in einem Kriegsfilm.
Und doch glitzerten die Wasserfontänen, die durch die Luft spritzten.
Sie fragte sich, was dort drin geschah. Was machten die Männer? Was tat das Feuer? Wenn es sich um einen Krieg handelte, versteckte es sich, um dann zu einem Angriff hervorzuspringen, goldfarben glänzend?
Asche schwebte herunter wie schmutziger Schnee. Gebannt trat Reena einen Schritt nach vorne.
Ihre Mutter packte sie am Armgelenk und hielt sie zurück. Sie legte einen Arm um sie und zog Reena an sich.
»Bleib hier«, murmelte Bianca. »Wir müssen zusammenbleiben.«
Aber sie wollte es einfach sehen. Der Herzschlag ihrer Mutter dröhnte wie ein hektischer Trommelwirbel in ihrem Ohr. Sie drehte den Kopf und hob das Gesicht, um zu bitten, ob sie noch näher hingehen konnte. Nur noch ein wenig näher.
Aber das Gesicht ihrer Mutter spiegelte keine Aufregung wider. Nicht Staunen ließ ihre Augen schimmern, sondern Tränen.
Sie war wunderschön; das sagten alle. Doch jetzt wirkte ihr Gesicht, als sei es aus einem festen Material gemeißelt, mit harten, tiefen Linien. Die Tränen und der Rauch hatten ihre Augen gerötet, und ihr Haar war mit grauer Asche bedeckt.
Neben ihr stand Dad und legte ihr die Hand auf die Schulter. Bestürzt sah Reena, dass auch er Tränen in den Augen hatte. Sie sah den Schein der Flammen darin, als wäre es ihnen irgendwie gelungen, in ihn hineinzukriechen.
Das war kein Film, es war Realität. Etwas, was ihnen gehörte, schon ihr ganzes Leben lang gehört hatte, brannte direkt vor ihr nieder. Jetzt konnte sie über das hypnotisierende Licht und das Flackern des Feuers hinausschauen und die schwarzen Schlieren an den Wänden des Sirico sehen, den nassen Ruß, der die Marmorstufen befleckte, die gezackten Glasscheiben.
Auf den Gehsteigen standen die Nachbarn. Die meisten trugen Nachtwäsche. Einige hielten Kinder oder Babys auf dem Arm. Manche weinten.
Plötzlich fiel ihr ein, dass Pete Tolino mit seiner Frau und dem Baby in dem kleinen Apartment über dem Lokal wohnte. Ihr Herz zog sich zusammen, als sie nach oben blickte und den Rauch aus den oberen Fenstern quellen sah.
»Daddy! Daddy! Pete and Theresa.«
»Es geht ihnen gut.« Er hob sie hoch, als sie sich von ihrer Mutter losriss. So, wie er es immer getan hatte, als sie noch klein war. Und er drückte das Gesicht gegen ihren Nacken. »Es geht allen gut.«
Beschämt verbarg sie das Gesicht an seiner Schulter. Sie hatte nicht an die Menschen gedacht, nicht einmal an die Sachen – die Bilder und die Barhocker, die Tischdecken und die großen Öfen.
Sie hatte nur an das Feuer gedacht, an seinen hellen Glanz und sein Gebrüll.
»Es tut mir leid.« Sie weinte, ihr Gesicht an die nackte Schulter ihres Vaters gedrückt. »Es tut mir leid.«
»Sch! Wir werden das wieder in Ordnung bringen.« Seine Stimme klang so rau, als hätte er den Rauch geschluckt. »Ich werde das schaffen.«
Beruhigt ließ sie den Kopf auf seine Schultern sinken und betrachtete die Menschen und das Feuer. Sie sah, wie ihre Schwestern sich umarmten und ihre Mutter Xander festhielt.
Der alte Mr Falco saß auf den Stufen und ließ einen Rosenkranz durch seine gichtigen Finger gleiten. Mrs DiSalvo von nebenan kam herüber und legte ihrer Mutter einen Arm um die Schulter. Ein wenig erleichtert entdeckte sie Pete. Er saß auf dem Randstein, und seine Frau presste sich an ihn, das Baby fest an sich gedrückt.
Dann sah sie Joey. Er hatte die Daumen in die Taschen gesteckt, die Hüften vorgeschoben und starrte ins Feuer. Sein Gesicht war von einer Art Freude erleuchtet, wie bei den Märtyrern auf ihren Heiligenbildchen.
Das veranlasste Reena, sich noch enger an ihren Vater zu schmiegen.
Dann wandte Joey sich um, sah sie an und grinste.
»Daddy«, flüsterte sie, aber da kam ein Mann mit einem Mikrofon angelaufen und begann, Fragen zu stellen.
Sie versuchte, sich an ihm festzuhalten, als er sie auf den Boden stellte. Joey starrte sie immer noch grinsend an, und das war erschreckender als das Feuer. Aber ihr Vater schubste sie zu ihren Schwestern hinüber.
»Fran, du bringst deine Geschwister nach Hause.«
»Ich will aber bei dir bleiben.« Reena packte seine Hand. »Ich muss bei dir bleiben.«
»Du musst nach Hause gehen.« Er bückte sich, bis sich seine rot geränderten Augen auf gleicher Höhe mit ihren befanden. »Es ist jetzt fast gelöscht. Alles ist beinahe erledigt. Ich sagte, ich werde das in Ordnung bringen, und genau das werde ich tun.« Er drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. »Geh heim. Wir werden bald nachkommen.«
»Catarina.« Ihre Mutter zog sie zurück. »Hilf deinen Schwestern, Kaffee und etwas zu essen zu machen. Für die Leute, die uns helfen. Das ist das Mindeste, was wir tun können.«
Für Verpflegung konnten sie sorgen. Kannen mit Kaffee, Krüge mit kaltem Tee und dick belegte Sandwiches. Ausnahmsweise gab es in der Küche keinen Streit unter den Schwestern. Bella weinte ständig vor sich hin, aber Fran versetzte ihr keinen Klaps deswegen.
Und als Xander verkündete, er würde einen der Krüge hinaustragen, belehrte ihn niemand, dass er dafür noch zu klein sei.
Die Luft war mit einem Gestank durchzogen, den sie niemals vergessen würde, und der Rauch hing darin wie ein schmutziger Vorhang. Trotzdem stellten sie einen Klapptisch für den Kaffee, den Tee und die Sandwiches auf dem Gehsteig auf, verteilten Tassen und reichten rußgeschwärzten Händen Brot.
Einige der Nachbarn waren nach Hause gegangen, aus dem Rauch und dem Gestank, aus der fliegenden Asche, die sich wie Schnee in einer dünnen Schicht auf die Autos und den Boden senkte. Das gleißende Licht war erloschen, und selbst aus der Ferne konnte Reena die geschwärzten Ziegel sehen, die Bäche von nassem Ruß und die gähnenden Löcher, die einmal Fenster gewesen waren.
Die Blumentöpfe, die sie gemeinsam mit ihrer Mutter im Frühling bepflanzt hatte, lagen zerbrochen, zertreten, tot auf den weißen Stufen.
Ihre Eltern standen vor dem Sirico auf der Straße und hielten sich an den Händen. Ihr Vater trug die Jeans, die er rasch übergestreift hatte, als sie ihn aufweckte, ihre Mutter das hellrote Kleid, das sie erst im letzten Monat zu ihrem Geburtstag bekommen hatte.
Selbst als die großen Lkws davonfuhren, blieben sie dicht beieinander stehen.
Einer der Männer mit den Helmen ging zu ihnen, und sie unterhielten sich für eine scheinbar sehr lange Zeit miteinander. Dann drehten ihre Eltern sich um und gingen, immer noch Hand in Hand, nach Hause.
Der Mann wandte sich wieder den Ruinen des Sirico zu, knipste eine Taschenlampe an und verschwand im Dunkeln.
Gemeinsam trugen sie die Reste des Essens und der Getränke ins Haus zurück. Reena fand, dass sie mit den schmutzigen Haaren und den müden Gesichtern alle aussahen wie die Überlebenden in diesen Kriegsfilmen. Als die Lebensmittel verstaut waren, fragte ihre Mutter, ob sich jemand schlafen legen wollte.
Bella fing wieder zu schluchzen an. »Wie können wir jetzt schlafen? Was sollen wir nur tun?«
»Was als Nächstes kommt. Wenn du nicht schlafen willst, dann räum auf. Ich werde Frühstück machen. Geh schon. Wenn wir uns gewaschen und etwas gegessen haben, wird es uns leichter fallen nachzudenken.«
Da Reena vom Alter her an dritter Stelle war, durfte sie auch immer erst als Dritte ins Bad. Sie wartete, bis sie Fran heraus- und Bella hineingehen hörte. Dann schlüpfte sie aus ihrem Zimmer und klopfte an die Schlafzimmertür ihrer Eltern.
Ihr Vater hatte sich das Haar gewaschen; es war noch nass. Er trug eine saubere Jeans und ein T-Shirt, und sein Gesicht sah aus, als würde er eine Grippe bekommen.
»Belagern deine Schwestern das Bad?« Das schwache Lächeln drang nicht bis in seine Augen vor. »Du kannst ausnahmsweise unseres benützen.«
»Wo ist dein Bruder, Reena?«, wollte ihre Mutter wissen.
»Er ist auf dem Boden eingeschlafen.«
»Oh.« Sie band sich das feuchte Haar mit einem Band
zurück. »Schon gut. Geh duschen. Ich hole dir frische Sachen zum Anziehen.«
»Warum ist der Feuerwehrmann hineingegangen, als die anderen wegfuhren?«
»Das ist ein Inspektor«, erklärte ihr Vater. »Er versucht herauszufinden, warum es passiert ist. Wenn du es nicht bemerkt hättest, wären sie nicht so schnell da gewesen. Pete und seine Familie sind in Sicherheit, und das ist das Wichtigste. Warum warst du so spät noch wach, Reena?«
»Ich …« Sie spürte, wie ihr die Röte in den Nacken stieg, als sie an ihre Periode dachte. »Das kann ich nur Mama sagen.«
»Ich werde nicht böse auf dich sein.«
Sie starrte auf ihre Zehen. »Bitte. Es ist privat.«
»Kannst du schon mal ein paar Würstchen braten, Gib?«, bat Bianca beiläufig. »Ich komme gleich nach unten.«
»Na gut.« Er presste die Hände auf die Augen. Dann ließ er sie fallen und sah Reena wieder an. »Ich werde nicht böse auf dich sein«, wiederholte er und ging hinaus.
»Was kannst du deinem Vater nicht erzählen? Warum verletzt du seine Gefühle in einer solchen Situation?«
»Das wollte ich nicht… Ich bin aufgewacht, weil ich … weil ich Bauchschmerzen hatte.«
»Bist du krank?« Bianca drehte sich um und legte eine Hand auf Reenas Stirn.
»Ich habe meine Periode bekommen.«
»Oh. Oh, mein armes Baby.« Bianca zog sie zu sich heran und drückte sie fest an sich. Dann begann sie zu weinen.
»Weine nicht, Mama.«
»Nur eine Minute. So viel, alles auf einmal. Meine kleine Catarina. So ein großer Verlust, so eine große Veränderung. Meine bambina.« Sie trat einen Schritt zurück. »Du hast dich heute Nacht verändert, und weil das so ist, hast du Leben gerettet. Wir werden dankbar für das sein, was gerettet werden konnte, und wir werden mit dem fertig werden, was wir verloren haben. Ich bin sehr stolz auf dich.«
Sie küsste Reena auf beide Wangen. »Hast du immer noch Bauchschmerzen?« Als Reena nickte, küsste Bianca sie erneut. »Du gehst jetzt duschen und nimmst dann ein schönes warmes Bad in meiner Badewanne. Dann wirst du dich besser fühlen. Möchtest du mich etwas fragen?«
»Ich weiß, was zu tun ist.«
Ihre Mutter lächelte, aber in ihren Augen lag eine gewisse Traurigkeit. »Dann stell dich unter die Dusche. Ich werde dir helfen.«
»Mama, ich konnte das nicht vor Dad erzählen.«
»Natürlich nicht. Das ist schon in Ordnung. Das ist Frauensache.«
Frauensache. Der Ausdruck verlieh ihr das Gefühl, etwas Besonderes zu sein, und das warme Bad linderte die Schmerzen. Als sie nach unten kam, war die Familie in der Küche versammelt, und an der sanften Art, wie ihr Vater ihr über das Haar strich, erkannte sie, dass er die Neuigkeiten erfahren hatte.
Am Tisch herrschte Trübsinnigkeit, eine Art erschöpftes Schweigen. Bella schien alle ihre Tränen vergossen zu haben – zumindest für den Augenblick.
Sie beobachtete, wie ihr Vater den Arm ausstreckte, seine Hand über die ihrer Mutter legte und sie drückte, bevor er zu sprechen begann. »Wir müssen warten, bis man uns sagt, dass es sicher ist. Dann können wir mit dem Aufräumen anfangen. Noch wissen wir nicht, wie groß der Schaden ist und wann wir wieder aufmachen können.«
»Jetzt werden wir arm sein.« Bellas Unterlippe zitterte. »Alles ist zerstört, und wir werden kein Geld mehr haben.«
»Hast du jemals kein Dach über dem Kopf gehabt, kein Essen auf dem Tisch und keine Kleidung am Leib?«, fragte Bianca in scharfem Ton. »Ist das dein Verhalten, wenn es Probleme gibt? Du weinst und beschwerst dich?«
»Sie heulte die ganze Zeit«, erklärte Xander und spielte mit einer Scheibe Toast.
»Das wollte ich nicht von dir hören – ich habe es selbst gesehen. Euer Vater und ich haben fünfzehn Jahre lang jeden Tag gearbeitet, um aus dem Sirico ein gutes Lokal zu machen, einen bedeutenden Ort in diesem Viertel. Und mein Vater und meine Mutter haben mehr Jahre dafür gearbeitet, all das auf die Beine zu stellen, als ihr euch vorstellen könnt. Es tut weh. Aber nicht die Familie ist abgebrannt, sondern ein Lokal. Und wir werden es wieder aufbauen.«
»Aber was sollen wir jetzt tun?«, fragte Bella.
»Halt den Mund, Isabella!«, befahl Fran, als ihre Schwester zu sprechen begann.
»Ich meine, was sollen wir zuerst tun?«
»Wir sind versichert.« Gibson starrte auf seinen Teller, als sei er erstaunt, dort Essen vorzufinden. Aber dann nahm er seine Gabel in die Hand und begann zu essen. »Mit dem Geld werden wir alles neu aufbauen oder reparieren oder tun, was zu tun ist. Wir haben Ersparnisse. Wir werden nicht arm sein«, fügte er mit einem strengen Blick auf seine mittlere Tochter hinzu. »Aber solange es dauert, werden wir uns umsichtig verhalten müssen. Wir werden nicht zum Tag der Arbeit das Wochenende am Strand verbringen wie geplant. Wenn die Versicherungssumme nicht ausreicht, werden wir unsere Ersparnisse angreifen oder einen Kredit aufnehmen müssen.«
»Vergesst eines nicht«, fügte Bianca hinzu. »Die Leute, die für uns arbeiten, haben nun keinen Job mehr, nicht, bis wir wieder eröffnen können. Einige von ihnen haben Familie. Wir sind nicht die Einzigen, die betroffen sind.«
»Pete und Theresa und ihr Baby«, sagte Reena. »Sie haben vielleicht keine Kleidung, Möbel oder sonst etwas mehr. Wir könnten ihnen etwas geben.«
»Ja, das ist eine gute Idee. Alexander, iss deine Eier«, fügte Bianca hinzu.
»Ich möchte lieber Cocoa Puffs.«
»Und ich hätte gern einen Nerzmantel und eine mit Diamanten besetzte Tiara. Iss. Wir haben viel Arbeit vor uns, und ihr werdet alle euren Teil übernehmen.«
»Niemand, niemand«, betonte Gibson und richtete seinen Zeigefinger auf Xander, »wird dort hineingehen, bevor er die Erlaubnis dazu bekommen hat.«
»Opa«, murmelte Fran. »Wir müssen es ihm sagen.«
»Es ist noch zu früh, um ihm solche Neuigkeiten mitzuteilen.« Bianca schob ihr Essen auf dem Teller hin und her. »Ich werde ihn und meine Brüder bald anrufen.«
»Wie kann es nur passiert sein? Und wie können sie das herausfinden?«, fragte Bella.
»Ich weiß es nicht. Es ist ihr Job. Und unserer ist es, alles wieder in Ordnung zu bringen.« Gibson hob seine Kaffeetasse. »Und das werden wir.«
»Die Tür war offen.«
Gibson wandte sich Reena zu. »Was?«
»Die Tür. Die Vordertür war offen.«
»Bist du sicher?«
»Ich habe es gesehen. Die offene Tür und die Lichter – das Feuer im Fenster. Vielleicht hat Pete vergessen, sie abzuschließen.«
Dieses Mal legte Bianca die Hand auf die ihres Mannes. Bevor sie etwas sagen konnte, läutete es an der Tür.
»Ich gehe schon.« Sie stand auf. »Ich glaube, das wird ein langer Tag werden. Wer müde ist, sollte jetzt versuchen zu schlafen.«
»Esst auf«, befahl Gibson. »Und kümmert euch um das Geschirr.«
Als er aufstand, erhob Fran sich ebenfalls und ging um den Tisch herum, um ihn in den Arm zu nehmen. Mit ihren sechzehn Jahren war sie schlank und anmutig und besaß eine Weiblichkeit, um die Reena sie beneidete.
»Es wird alles wieder gut. Wir werden es noch besser machen, als es vorher war.«
»Das ist mein Mädchen. Ich zähle auf dich. Auf euch alle«, fügte er hinzu. »Reena? Komm für einen Augenblick mit mir.«
Als sie zusammen die Küche verließen, hörten sie, wie Bella genervt sagte: »Die heilige Franziska.« Gibson seufzte nur und schubste Reena in das Fernsehzimmer. »Äh, hör zu, Schätzchen, wenn es dir nicht gut geht, kann ich dich vom Küchendienst befreien.«
Ein Teil von ihr wollte die Chance ergreifen, aber das Schuldgefühl war ein wenig stärker. »Ich bin okay.«
»Sag es mir einfach, wenn du… dich nicht gut fühlst.«
Er tätschelte sie zerstreut und machte sich auf den Weg in den vorderen Teil des Hauses.
Sie sah ihm nach. Er wirkte immer so groß auf sie, doch jetzt waren seine Schultern gebeugt. Sie wollte es Fran gleichtun, das Richtige sagen, ihn umarmen, aber es war zu spät.