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Nora Roberts

Rote Lilien

Roman

Aus dem Amerikanischen
von Bea Reiter

Die Autorin

Durch einen Blizzard entdeckte Nora Roberts ihre Leidenschaft fürs Schreiben: Tagelang fesselte 1979 ein eisiger Schneesturm sie in ihrer Heimat Maryland ans Haus. Um sich zu beschäftigen, schrieb sie ihren ersten Roman. Zum Glück – denn inzwischen zählt Nora Roberts zu den meistgelesenen Autorinnen der Welt. Unter dem Namen J.D. Robb veröffentlicht sie seit Jahren ebenso erfolgreich Kriminalromane. Auch in Deutschland sind ihre Bücher von den Bestsellerlisten nicht mehr wegzudenken.

Epilog

Die Sonne schien durch die Blätter der Platanen und Eichen und warf hübsche Muster aus Licht und Schatten auf das Grün des Rasens. Auf den Ästen saßen Vögel, die die milde Luft mit ihrem Gesang erfüllten.

Grabsteine ragten auf, aus weißem Marmor und grauem Granit, aufgestellt, um der Toten zu gedenken. Auf einigen lagen Blumen, deren verwelkte Blüten sich in der leichten Brise bewegten. Ein Gruß an die, die bereits gegangen waren.

Harper stand zwischen seiner Mutter und Hayley und hielte ihre Hände, während der Sarg in die Erde gesenkt wurde.

»Ich bin nicht traurig«, sagte Hayley. »Nicht mehr. Das hier fühlt sich richtig an. Richtig und barmherzig.«

»Sie hat sich das Recht verdient, hier zu sein. Neben ihrem Sohn.« Roz sah auf die Gräber und die Namen auf den Grabsteinen. Reginald und Beatrice, Reginald und Elizabeth.

Und dort drüben lagen ihre Eltern. Ihre Onkel und Tanten, ihre Cousins, alle Glieder in der langen Kette der Harpers. »Im Frühling«, sagte sie, »werden wir einen Grabstein für sie aufstellen lassen. Amelia Ellen Connor.«

»Das hast du eigentlich schon getan.« Mitch küsste ihr Haar. »Du hast ihr die Rassel ihres Sohnes und ein Bild von ihm in den Sarg gelegt. Hayley hat Recht. Es ist barmherzig.«

»Ohne sie wäre ich jetzt nicht hier. Ohne sie wären Harper, Austin und Mason nicht hier. Und die Kinder, die sie haben werden, auch nicht. Sie hat sich ihren Platz hier verdient.«

»Was auch immer sie getan hat, sie hat etwas Besseres verdient als das, was sie ihr angetan haben.« Stella seufzte. »Ich bin stolz darauf, dass ich ein Teil davon gewesen bin. Dass ich mitgeholfen habe, ihr ihren Namen und, wie ich hoffe, ihren Frieden zu geben.« Sie lächelte Logan an, dann ging ihr Blick zu den anderen. »Wir alle sind ein Teil davon gewesen.«

»Man hat sie einfach in den Teich geworfen.« Logan strich Stella über den Rücken. »Und alles nur, um das Ansehen der Familie zu bewahren.«

»Aber wir haben sie gefunden«, fügte David hinzu. »Roz, es war gut, dass du deinen Einfluss genutzt hast, um sie hier begraben zu lassen.«

»Der Name Harper hat immer noch so viel Gewicht, dass sich einige Bürokraten davon beeindrucken lassen. Um ehrlich zu sein, ich wollte unbedingt, dass sie hier begraben wird, fast ebenso sehr, wie ich gewollt hatte, dass sie aus meinem Haus verschwindet, weg von denen, die ich liebe.« Sie legte Harper die Hand auf die Wange. »Mein tapferer Junge. Das hat sie vor allem dir zu verdanken.«

»Der Meinung bin ich nicht«, widersprach er.

»Du bist zurückgegangen.« Hayley presste die Lippen zusammen. »Obwohl sie versucht hat, dich umzubringen, bist du noch einmal zurückgegangen und hast geholfen, sie aus dem Teich zu holen.«

»Ich hatte es ihr versprochen. Ashbys halten ihr Wort genauso wie die Harpers. Und ich bin beides.« Er nahm eine Hand voll Erde, hielt sie über das Grab und ließ sie auf den Sarg rieseln. »Jetzt ist es vollbracht.«

»Was können wir über Amelia sagen?« Roz hob eine rote Rose. »Seien wir ehrlich – sie war verrückt. Sie ist einen grausamen Tod gestorben, und gelebt hat sie auch nicht viel besser. Aber sie hat mir vorgesungen, mir und meinen Kindern. Ihr Leben hat mir das meine gegeben. Ruhe in Frieden, Urgroßmutter.« Sie ließ die Rose auf den Sarg fallen.

Einer nach dem anderen ließ eine rote Rose in das Grab fallen und trat dann zurück. »Lassen wir die beiden allein«, sagte Roz, während sie auf Harper und Hayley wies.

»Sie ist weg.« Hayley machte die Augen zu und konzentrierte sich. »Ich kann es spüren. Noch bevor du wieder nach oben gekommen bist, habe ich gewusst, dass sie weg ist. Ich wusste, dass du sie gefunden hattest, noch bevor du es uns gesagt hast. Es war, als würde jemand das Seil zerschneiden, das mich an sie gefesselt hat.«

»Das war der glücklichste Tag meines Lebens. Bis jetzt.«

»Was auch immer sie gesucht hat, jetzt hat sie es gefunden.« Sie starrte auf den Sarg und die Blumen, die darauf lagen. »Ich hatte solche Angst, als du im Teich gewesen bist. Ich dachte, du kommst nicht mehr zu mir zurück.«

»Ich war noch nicht fertig mit dir. Noch nicht annähernd.« Er legte ihr die Hände auf die Schultern und drehte sie zu sich, weg vom Grab, hin zum Sonnenlicht. »Wir haben ein Leben zu leben. Jetzt sind wir an der Reihe.«

Er nahm den Ring aus der Tasche und steckte ihn ihr an den Finger. »Jetzt passt er dir. Er gehört dir.« Er küsste sie. »Lass uns heiraten.«

»Das halte ich für eine großartige Idee.«

Hand in Hand gingen sie weg vom Tod, hin zur Liebe und zum Leben.

In den breiten Korridoren und den prächtigen Räumen von Harper House war es still. Die Vergangenheit war zu Ende. Jetzt konnte die Zukunft beginnen.

Niemand sang mehr.

Doch im Garten blühten die Blumen.

Erstes Kapitel

Harper House
Juli 2005

 

Hayley war müde bis auf die Knochen und gähnte, bis ihr Kiefer knackte. Lilys Kopf lag schwer an ihrer Schulter, doch jedes Mal, wenn sie aufhörte zu schaukeln, zuckte das Baby wimmernd zusammen und grub seine kleinen Finger in das knappe Baumwoll-T-Shirt, in dem Hayley schlief.

Versuchte zu schlafen, korrigierte Hayley sich, während sie ihre Tochter leise murmelnd beruhigte und den Schaukelstuhl wieder in Bewegung setzte.

Es war fast vier Uhr morgens, und sie war jetzt schon zweimal aufgestanden, um die unruhige Lily wieder in den Schlaf zu schaukeln.

Gegen zwei Uhr morgens hatte sie versucht, sich mit dem Baby zusammen ins Bett zu legen, um wenigstens etwas Schlaf zu bekommen. Doch Lily gab sich mit nichts zufrieden. Sie wollte in den Schaukelstuhl.

Und so schaukelte und döste Hayley vor sich hin. Gähnend fragte sie sich, ob sie jemals wieder acht Stunden am Stück schlafen würde.

Sie konnte sich einfach nicht vorstellen, wie andere Mütter zurechtkamen. Vor allem allein erziehende. Wie wurden sie damit fertig? Wie schafften sie es, den Ansprüchen gerecht zu werden, die ein Kind emotional, geistig, körperlich und finanziell an sie stellte?

Wie wäre sie zurechtgekommen, wenn sie mit Lily ganz allein gewesen wäre? Welches Leben würden sie jetzt führen, wenn es niemanden geben würde, der all die Sorgen, Mühen und Freuden des Mutterseins mit ihr teilte? Allein schon der Gedanke daran machte ihr Angst.

Sie war so hoffnungslos optimistisch und zuversichtlich gewesen – und dumm, dachte sie.

Hayley rief sich in Erinnerung, wie sie, im fünften Monat schwanger, ihre Stelle gekündigt, die meisten ihrer Sachen verkauft, den Rest in ihre alte Klapperkiste gepackt und die Stadt verlassen hatte.

Wenn sie gewusst hätte, was danach alles kommen würde, hätte sie es nie getan. Und so hatte es vielleicht auch sein Gutes, dass sie es nicht gewusst hatte. Denn sie war nicht allein. Sie schloss die Augen und legte ihre Wange auf Lilys weiches, dunkles Haar. Sie hatte Freunde – nein, eine Familie. Menschen, die sich um sie und Lily kümmerten.

Und sie und ihre Tochter hatten nicht nur einfach ein Dach über dem Kopf, sondern das wunderschöne Dach von Harper House. Hayley hatte Roz, eine entfernte Cousine – noch dazu angeheiratet –, die ihr ein Zuhause, einen Job und eine Chance gegeben hatte. Sie hatte Stella, ihre beste Freundin, mit der sie reden und lästern konnte.

Roz und Stella waren beide allein erziehend – und wurden damit fertig, sagte sich Hayley. Sogar sehr gut. Stella war Mutter von zwei kleinen Jungen, die sie allein großzog. Roz hatte drei Kinder, die schon erwachsen waren.

Und sie saß hier und fragte sich, ob sie jemals mit einem Kind zurechtkommen würde, obwohl es immer jemanden im Haus gab, der bereit war, ihr zur Hand zu gehen.

Da war David, der den Haushalt führte und alle Mahlzeiten kochte. Und noch dazu eine Seele von Mensch war. Was würde sie tun, wenn sie jeden Abend nach der Arbeit kochen müsste? Wenn Sie einkaufen, putzen, aufräumen müsste, alles zusätzlich zu ihrem Job und der Betreuung eines vierzehn Monate alten Kindes?

Sie war froh, dass sie sich darum nicht zu kümmern brauchte.

Dann war da Logan, Stellas frisch angetrauter, blendend aussehender Mann, der ihr altes Auto reparierte, wenn es wieder einmal bockte. Und Stellas Jungs, Gavin und Luke, die nicht nur bereitwillig mit Lily spielten, sondern Hayley auch einen Vorgeschmack darauf gaben, was ihr in den nächsten Jahren so alles bevorstand.

Und Mitch, der kluge, nette Mitch, der Lily auf seine Schultern setzte und sie mit sich herumtrug, während sie vor Vergnügen jauchzte. Wenn er und Roz aus den Flitterwochen zurück waren, dachte sie, würde er auch offiziell hier wohnen.

Es war so schön gewesen zu erleben, wie Stella und Roz sich verliebt hatten. Sie hatte mit den beiden gefühlt – all die Aufregungen, die Veränderungen, das Größerwerden ihrer neuen Familie.

Roz’ Heirat bedeutete natürlich, dass sie sich jetzt endlich einen Ruck geben und eine eigene Wohnung suchen musste. Frisch Verheiratete brauchten ihre Privatsphäre.

Sie wünschte, sie könnte eine Wohnung ganz in der Nähe finden. Vielleicht sogar auf dem Gelände des Anwesens. Ideal wäre natürlich so etwas wie das Kutscherhaus. Harpers Haus. Sie seufzte leise, während sie mit der Hand über Lilys Rücken strich.

Harper Ashby. Rosalind Harper Ashbys Erstgeborener und eine ausgesprochene Wohltat für das Auge. Das kam ihr natürlich nicht in den Sinn, wenn sie an ihn dachte. Jedenfalls nicht oft. Er war Freund, Kollege und die erste Liebe ihrer Tochter. Und allem Anschein nach wurde diese Liebe auch erwidert.

Sie gähnte wieder, da sie von dem regelmäßigen Schaukeln und der Stille des frühen Morgens genauso in den Schlaf gewiegt wurde wie Lily.

Harper war einfach großartig im Umgang mit Lily. Geduldig, lustig und liebevoll. Insgeheim war er für sie Lilys Ersatzvater – obwohl er gar nicht mit Lilys Mutter liiert war, was sie sehr schade fand.

Manchmal malte sie sich aus, wie es mit ihm sein würde, und dabei ging es ihr nicht um den Vater, sondern nur um den Mann. Schließlich würde jedes gesunde amerikanische Mädchen – vor allem, wenn es gerade unter akutem Sexentzug litt – angesichts eines großen, dunkelhaarigen und unverschämt gut aussehenden Mannes ins Schwärmen geraten, vor allem, wenn dieser Mann auch noch ein umwerfendes Lächeln, wunderschöne braune Augen und einen knackigen, zum Kneifen verleitenden Po besaß.

Natürlich hatte sie ihn noch nie in den Po gekniffen. Sie hatte es sich nur vorgestellt.

Und intelligent war er auch noch. Er wusste alles, was es über Pflanzen zu wissen gab. Sie beobachtete ihn gern bei seiner Arbeit im Veredelungshaus des Gartencenters, konnte sich nicht satt sehen daran, wie seine Hände ein Messer hielten oder Bast verknoteten.

Er brachte ihr vieles bei, und sie war ihm dankbar dafür. So dankbar, dass sie sich zurückhielt und nicht wie eine ausgehungerte Katze über ihn herfiel. Aber schließlich war ja nichts dabei, wenn sie es sich vorstellte.

Sie brachte den Schaukelstuhl zum Stehen, hielt den Atem an und wartete. Lilys Rücken unter ihrer Hand hob und senkte sich rhythmisch.

Gott sei Dank.

Langsam stand sie auf und schlich sich leise und verstohlen zum Kinderbett, wie eine Frau, die gerade aus dem Gefängnis ausbricht. Mit schmerzenden Armen und benommen vor Müdigkeit beugte sie sich über das Bettchen und legte Lily so vorsichtig wie möglich auf die Matratze.

In dem Moment, in dem sie die Decke über sie zog, zuckte Lily zusammen. Ihr Kopf schoss nach oben, und sie fing an zu weinen.

»O Lily, bitte, jetzt schlaf doch endlich.« Hayley tätschelte und streichelte ihre Tochter, obwohl sie fast nicht mehr stehen konnte. »Sch! Jetzt schlaf schon. Gönn deiner Mama doch mal eine Pause.«

Das Streicheln schien zu funktionieren – solange ihre Hand auf Lilys Rücken lag, blieb der kleine Kopf unten. Daher setzte sich Hayley auf den Fußboden und steckte den Arm durch die Gitterstäbe des Bettchens. Und streichelte. Und streichelte …

Irgendwann schlief sie ein.

 

Der Gesang weckte sie. Ihr Arm war eingeschlafen und blieb es zunächst auch, als sie die Augen aufschlug. Im Zimmer war es kalt; die Stelle auf dem Boden, auf der sie an das Kinderbett gelehnt saß, fühlte sich wie ein Stück Eis an. In ihrem Arm krabbelten Millionen Ameisen von der Schulter bis zu den Fingerspitzen, als sie sich umdrehte und die Hand schützend auf Lilys Rücken ließ.

Im Schaukelstuhl saß eine Gestalt in einem grauen Kleid und sang leise ein altmodisches Wiegenlied. Ihre Blicke trafen sich, doch die Frau fuhr fort zu singen und zu schaukeln.

Der Schock ließ Hayley jede Müdigkeit vergessen. Das Herz klopfte ihr bis zum Hals.

Was sagte man zu seinem Geist, den man seit einigen Wochen nicht gesehen hatte?, fragte sie sich. Hallo, wie geht’s? Willkommen daheim? Wie sollte man in einer solchen Situation reagieren, vor allem, wenn besagter Geist einen Sprung in der Schüssel hatte?

Hayley spürte die Kälte auf ihrer Haut, als sie langsam aufstand, damit sie sich zwischen den Schaukelstuhl und Lilys Bettchen stellen konnte. Nur für den Fall. Da sich ihr Arm anfühlte, als würde er gerade mit Tausenden von Nadeln gestochen werden, presste sie ihn an sich und rieb mit der Hand darüber.

Merk dir jedes Detail, sagte sie zu sich selbst. Mitch wird alle Einzelheiten wissen wollen.

Für einen durchgeknallten Geist wirkte sie ziemlich ruhig, dachte Hayley. Ruhig und traurig, so wie beim ersten Mal, als sie die Harper-Braut gesehen hatte. Aber sie hatte sie auch schon mit weit aufgerissenen Augen und vor Wut verzerrtem Gesicht erlebt.

»Ähm, sie ist gestern geimpft worden. Und in der Nacht darauf ist sie dann immer etwas unruhig. Aber ich glaube, jetzt haben wir das Schlimmste überstanden. In zwei Stunden muss ich sie wecken, und dann wird sie vermutlich beim Babysitter rumquengeln, bis es Zeit für ihr Schläfchen ist. Aber … aber jetzt schläft sie ja. Du kannst ruhig wieder gehen.«

Die Gestalt verschwand, doch der Gesang war noch ein paar Sekunden lang zu hören.

 

David machte ihr Blaubeerpfannkuchen zum Frühstück. Sie hatte ihm gesagt, dass er für sie oder Lily nicht zu kochen brauche, solange Roz und Mitch weg seien, aber das ignorierte er einfach. Und da er so süß aussah, wenn er in der Küche herumfuhrwerkte, versuchte sie erst gar nicht, ihn davon abzubringen.

Außerdem waren seine Pfannkuchen ein Gedicht.

»Du siehst ein bisschen spitz um die Nase aus.« David kniff Hayley in die Wange, dann wiederholte er die Geste bei Lily, um sie zum Lachen zu bringen.

»Ich habe in letzter Zeit nicht viel geschlafen. Und letzte Nacht hatte ich Besuch.«

Sie schüttelte den Kopf, als seine Augenbrauen in die Höhe schossen und ein anzügliches Grinsen auf seinem Gesicht erschien. »Es war kein Mann – so viel Glück habe ich nicht. Amelia.«

Er wurde sofort ernst und setzte sich ihr gegenüber an den Tisch in der Küche. »Hat sie Ärger gemacht? Ist alles in Ordnung mit dir?«

»Sie hat nur im Schaukelstuhl gesessen und gesungen. Als ich ihr gesagt habe, dass es Lily gut geht und sie ruhig gehen kann, ist sie verschwunden. Es war vollkommen harmlos.«

»Vielleicht hat sie sich ja beruhigt. Hoffentlich. Hast du dir deshalb Sorgen gemacht?« Als er sie prüfend ansah, bemerkte er die dunklen Schatten unter ihren blauen Augen. »Hast du deshalb so schlecht geschlafen?«

»Das dürfte einer der Gründe sein. In den letzten Monaten ist hier eine ganze Menge losgewesen. Und jetzt ist alles so ruhig. Das ist fast noch gruseliger.«

»Aber ich bin doch hier.« Er beugte sich vor und strich ihr mit seinen langen, schlanken Pianistenfingern über die Hand. »Außerdem kommen Roz und Mitch heute zurück. Dann ist das Haus schon nicht mehr so groß und leer.«

Sie seufzte erleichtert. »Dir ist es genauso gegangen. Ich habe nichts gesagt, weil ich nicht wollte, dass du denkst, deine Anwesenheit reicht mir nicht. So ist es nämlich nicht.«

»Das gilt auch umgekehrt, mein Schatz. Aber wir sind ganz schön verwöhnt worden, nicht wahr? Ein Jahr lang hatten wir das Haus voll.« Er sah zu den leeren Stühlen am Tisch. »Ich vermisse die Jungs.«

»Werd jetzt nur nicht sentimental. Wir sehen sie doch ständig, jeden Tag. Aber du hast Recht – es ist schon komisch, wenn alles so ruhig ist.«

Als hätte sie ihre Mutter verstanden, warf Lily ihre Schnabeltasse in die Luft. Sie prallte gegen die Kücheninsel und landete mit einem lauten Knall auf dem Boden.

»Gut gemacht, Herzchen«, sagte David.

»Und weißt du was?« Hayley stand auf, um die Tasse aufzuheben. Sie war groß und schlaksig, und zu ihrer Enttäuschung hatten ihre Brüste inzwischen wieder die Größe, die sie vor der Schwangerschaft gehabt hatten. Für sie war es Körbchengröße A minus. »Ich glaube, so langsam wird meine Laune immer schlechter. Es ist nicht so, dass ich den Eindruck hab, mich auf ausgefahrenen Gleisen zu bewegen, weil mir die Arbeit in der Gärtnerei wirklich Spaß macht. Erst letzte Nacht, als Lily zum x-ten Mal aufgewacht ist, hab ich gedacht, wie froh ich bin, hier zu sein und so viele liebe Menschen um uns zu haben.«

Hilflos breitete sie die Arme aus und ließ sie dann fallen. »Ich weiß nicht, was los ist, David, aber irgendwie fühle ich mich so … bäh.«

»Höchste Zeit für einen Einkaufsbummel.«

Sie grinste und holte einen Waschlappen, um Lily den Sirup aus dem Gesicht zu wischen. »Das hilft so gut wie immer. Aber ich glaube, ich brauche eine Veränderung. Eine große Veränderung. Neue Schuhe reichen da nicht.«

David riss die Augen auf und starrte sie mit offenem Mund an. »Gibt es was Besseres als neue Schuhe?«, fragte er mit gespieltem Ernst.

»Ich glaube, ich brauche eine neue Frisur. Was meinst du – soll ich mir die Haare schneiden lassen?«

»Hm.« Er legte den Kopf schief und musterte sie mit seinen hinreißenden blauen Augen. »Du hast tolle Haare, und das glänzende Schwarz sieht umwerfend aus. Aber so, wie du es getragen hast, als du hier eingezogen bist, hat es mir am besten gefallen.«

»Wirklich?«

»Durchgestuft von oben bis unten. Zerzaust, lässig, rassig. Sexy.«

»Wenn du meinst …« Sie fuhr sich mit den Händen durch ihr Haar. Sie hatte es wachsen lassen, bis fast auf die Schultern. Es war eine praktische Länge, weil sie die Haare für die Arbeit in der Gärtnerei und bei der Betreuung Lilys einfach zu einem Pferdeschwanz binden konnte. Vielleicht war das ja das Problem. Sie hatte es sich so einfach wie möglich gemacht, weil sie keine Zeit mehr hatte oder sich keine Mühe mehr geben wollte, sich um ihr Aussehen zu kümmern.

Sie säuberte Lily und holte sie aus dem Hochstuhl, damit sie in der Küche herumlaufen konnte. »Vielleicht hast du ja Recht. Ich werde es mir überlegen.«

»Und neue Schuhe kaufst du dir trotzdem. Das kann nie schaden.«

 

Im Hochsommer war im Gartencenter nicht viel los. Es gab zwar nie Zeiten, in denen kein Betrieb war, aber im Juli war der Ansturm der Kunden, der gegen Ende des Winters begann und bis weit in den Frühling dauerte, lange vorbei. Der Westen von Tennessee stöhnte unter der schwülen Hitze, und nur die eifrigsten Gärtner machten sich die Mühe, Neuzugänge in ihren Blumenbeeten zu päppeln.

Hayley nutzte das aus und überredete Stella, ihr für einen Friseurtermin und einen einstündigen Einkaufsbummel freizugeben.

Als sie nach einer verlängerten Mittagspause zum Gartencenter fuhr, hatte sie eine neue Frisur, zwei Paar neue Schuhe und erheblich bessere Laune.

David hat immer Recht, dachte sie.

Sie liebte das Gartencenter. Es gab kaum einen Tag, an dem sie das Gefühl hatte zu arbeiten. Ihrer Meinung nach konnte es gar keinen besseren Beweis dafür geben, dass einem die Arbeit Spaß machte. Wie gern sie sich das hübsche weiße Gebäude ansah, das eher wie ein sorgsam gepflegtes Privathaus wirkte als wie das Verkaufsgebäude eines Gartenbaubetriebs, mit nach Jahreszeit bepflanzten Beeten vor der Veranda und vielen blühenden Topfpflanzen an der Tür.

Auch die Gartenbauabteilung auf der anderen Seite des großen, mit Kies bestreuten Freigeländes gefiel ihr – der angehäufte Torf und Mulch, die Pflanzkübel und das Bauholz. Die Gewächshäuser mit ihren vielen Pflanzen, die Lagerschuppen.

Wenn viele Kunden da waren, die über die geschwungenen Wege gingen, Wägelchen mit Pflanzen und Töpfen hinter sich herzogen und von Neuigkeiten und Plänen erzählten, sah das Gartencenter eher wie ein kleines Dorf aus.

Und sie war ein Teil davon.

Sie betrat das Gartencenter und drehte sich für Ruby, die weißhaarige Angestellte, die an der Kasse saß, einmal um die eigene Achse.

»Sieht flott aus«, meinte Ruby.

»Und genau so fühle ich mich auch.« Sie fuhr mit den Fingern durch ihr kurzes, stufiges Haar. »Ich habe seit einem Jahr nichts mit meinen Haaren gemacht. Länger. Ich wusste schon gar nicht mehr, wie es ist, in einem Friseursalon zu sitzen und geschnitten zu werden.«

»Mit einem Baby hat man für so was eben keine Zeit mehr. Wie geht es denn unserer Süßen?«

»In der Nacht war sie ziemlich quengelig, weil sie geimpft worden ist. Aber heute Morgen war schon wieder alles in Ordnung. Ich war hundemüde. Aber dafür habe ich jetzt Muskeln.« Zum Beweis spannte sie die Arme an und zeigte Ruby die kleinen Beulen ihres Bizeps.

»Das trifft sich gut. Stella möchte, dass alles gegossen wird – und ich meine wirklich alles. Außerdem kommt gleich eine große Lieferung mit Pflanzkübeln. Wenn sie da sind, müssen sie ausgezeichnet und in die Regale geräumt werden.«

»Kein Problem.«

Sie fing draußen in der schwülen, drückenden Hitze zu arbeiten an und wässerte die Beetpflanzen, die Einjährigen und die Stauden, die noch keine Käufer gefunden hatten. Die Pflanzen erinnerten sie an jene ungeschickten Kinder in der Schule, die beim Sport nie für eine Mannschaft ausgewählt wurden. Daher hatte sie auch eine Schwäche für die armen Dinger und wünschte, sie hätte ein Haus, wo sie sie einpflanzen könnte, damit sie blühten und gedeihten.

Eines Tages würde sie ein eigenes Haus haben. Sie würde einen Garten anlegen und das, was sie hier gelernt hatte, in die Praxis umsetzen. Sie würde etwas Schönes, etwas ganz Besonderes schaffen. Und natürlich würden Lilien in ihrem Garten wachsen. Rote Lilien wie jene, die Harper ihr mitgebracht hatte, als sie mit Lily in den Wehen gelegen hatte. Ein großes Beet mit duftenden, leuchtend roten Lilien, die Jahr für Jahr wiederkommen und sie daran erinnern würden, wie viel Glück sie hatte.

Der Schweiß lief ihr über den Rücken, und das Wasser tropfte auf ihre Segeltuchschuhe. Der Wasserstrahl ärgerte die Bienen, die auf den Fetthennen saßen. Dann kommt eben wieder, wenn ich fertig bin, dachte Hayley, als sie mit einem wütenden Summen davonflogen. Schließlich wollen wir hier alle das Gleiche. Sie ging langsam weiter und goss, in Gedanken versunken, die schon recht ramponiert aussehenden Pflanzen auf den Tischen.

Wenn sie eines Tages einen Garten hatte, würde Lily dort auf dem Gras spielen. Mit einem Hündchen, beschloss sie. Ihre Tochter sollte einen Welpen bekommen, mit weichem Fell und dickem Bäuchlein. Und was sprach dagegen, einen Mann hinzuzufügen? Einen Mann, der sie und Lily liebte, jemand, der lustig und klug war und ihr Herz schneller schlagen ließ, wenn er sie ansah …

Er konnte ruhig gut aussehen. Schließlich hatte es keinen Sinn, von einem Mann zu träumen, der hässlich wie ein Molch war. Groß sollte er sein, mit breiten Schultern und langen Beinen. Braune Augen und jede Menge dichtes dunkles Haar, in das sich ihre Finger krallen konnten. Markante Wangenknochen, solche, an denen sie sich entlangknabbern konnte, bis sie seinen vollen, erotischen Mund erreicht hatte. Und dann …

»Großer Gott, Hayley, das Mädchenauge ersäuft ja.«

Sie zuckte zusammen und fuhr mit der Spritzbrause in der Hand herum. Nach einem erschreckten Aufschrei riss sie den Schlauch zur Seite, doch es war schon zu spät – sie hatte Harper erwischt.

Volltreffer, dachte sie, hin- und hergerissen zwischen verlegenem Schweigen und völlig unangebrachtem Kichern. Harper sah resigniert an seinem durchnässten Hemd und der tropfenden Jeans herunter.

»Wer hat dir eigentlich erlaubt, den Gartenschlauch anzufassen?«

»Tut mir Leid! Aber du hättest dich nicht so anschleichen dürfen.«

»Ich habe mich nicht angeschlichen. Ich bin ganz normal gegangen.«

Obwohl er sich etwas gereizt anhörte, klang seine Stimme immer noch so weich, wie das für die Gegend von Memphis typisch war. Wenn sie sich aufregte oder ärgerte, schlich sich immer ein scharfer Unterton in ihre Stimme. »Dann musst du nächstes Mal eben lauter gehen. Aber es tut mir wirklich Leid. Ich habe meine Gedanken wohl etwas zu sehr schweifen lassen.«

»Die Hitze verführt dazu, die Gedanken schweifen zu lassen und sich dann für ein Schläfchen hinzulegen.« Er hielt sich das nasse Hemd vom Bauch weg. An seinen Augenwinkeln bildeten sich kleine Fältchen, als er sie mit zusammengekniffenen Augen ansah. »Hast du was mit deinen Haaren gemacht?«

Instinktiv hob sie die Hand und fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. »Ich habe sie schneiden lassen. Gefällt’s dir?«

»Ja, sicher. Sieht gut aus.«

Ihre Finger an der Spritzbrause des Schlauchs zuckten. »Hör auf. Bei so überschwänglichen Komplimenten werde ich immer rot.«

Er lächelte. Sein Lächeln war so hinreißend – irgendwie lässig, sodass es seine Gesichtszüge völlig veränderte und in seinen dunkelbraunen Augen aufleuchtete … Beinahe hätte sie ihm verziehen.

»Ich geh nach Hause, zumindest für eine Weile. Mutter ist wieder da.«

»Sie sind wieder da? Wie geht es ihnen? Waren die Flitterwochen schön? Ach, das weißt du ja nicht, weil du noch nicht drüben warst. Sag ihnen, dass ich darauf brenne, sie zu sehen, und dass hier alles in bester Ordnung ist. Roz soll sich um Himmels willen keine Sorgen machen und nicht gleich herkommen und mit der Arbeit anfangen, wo sie doch gerade erst zur Tür hereingekommen ist. Und …«

Er hakte die Daumen in die Hüfttaschen seiner uralten Jeans und sah sie belustigt an. »Soll ich mir das alles aufschreiben?«

»Hau schon ab.« Doch sie lachte, als sie ihn wegscheuchte. »Ich sag’s ihnen selbst.«

»Bis später.« Tropfend ging der Mann ihrer Tagträume davon.

Sie war sich nicht einmal sicher, ob sie überhaupt eine neue Beziehung eingehen wollte – jetzt schien ein schlechter Zeitpunkt dafür zu sein. Lily war das Wichtigste in ihrem Leben, und gleich nach Lily kam ihre Arbeit. Sie wollte, dass ihre Tochter glücklich, gesund und geborgen war, und sie wollte noch mehr lernen, noch mehr Verantwortung im Gartencenter übernehmen. Je mehr sie lernte, desto schneller würde sie Karriere machen.

Es machte ihr nichts aus, ihr Bestes zu geben, aber sie wollte mehr erreichen.

Und außer Lily, ihrem Job und der Familie, die sie hier gefunden hatte, gab es ja auch noch das faszinierende und etwas unheimliche Projekt, die Identität Amelias, der Harper-Braut, herauszufinden und dafür zu sorgen, dass sie endlich zur Ruhe kam.

Dabei spielte Mitch natürlich eine große Rolle. Er war Ahnenforscher und von allen – Stella ausgenommen – am vernünftigsten. Es war so aufregend gewesen, wie er und Roz sich ineinander verliebt hatten, nachdem Roz ihn beauftragt hatte, den Stammbaum der Familie zu erstellen, um auf diese Weise herauszufinden, wer Amelia gewesen war. Allerdings hatte es der Geisterfrau gar nicht gefallen, dass die beiden ein Paar geworden waren. Sie war stocksauer gewesen.

Es konnte gut sein, dass sie wieder gefährlich wurde, dachte Hayley. Jetzt, da die beiden verheiratet waren und Mitch in Harper House wohnte. Amelia hatte sich eine Weile sehr zurückgehalten, aber das hieß beileibe nicht, dass es immer so bleiben würde.

Wenn es wieder losging, wollte Hayley darauf vorbereitet sein.