Fachbücher therapie kreativ
Band 3

Klingen, um in sich zu wohnen

Methoden und Modelle leiborientierter Musiktherapie

Band 3.2: Von den Klängen der Stille bis zum musikalischen Sharing

Baer, Udo / Frick-Baer, Gabriele

Klingen, um in sich zu wohnen: Methoden und Modelle leiborientierter Musiktherapie

Band 3.2: Von den Klängen der Stille bis zum musikalischen Sharing

Neukirchen-Vluyn : 2. Auflage 2009 in 2 Bänden

ISBN 978-3-934933-46-0

© 2009 Affenkönig Verlag, Neukirchen-Vluyn

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Lore Remke, Unna / Barbara Maier, Bonn

Satz: TRITUM, Jena

Schneider Visuelle Kommunikation unter

Verwendung eines Bildes von © Klaus Schneider

eBook-Herstellung und Auslieferung:
Brockhaus Commission, Kornwestheim
www.brocom.de

Udo Baer, Gabriele Frick-Baer

Klingen, um in sich zu wohnen

Methoden und Modelle leiborientierter Musiktherapie

Band 3.2: Von den Klängen der Stille bis zum musikalischen Sharing

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Neukirchen-Vluyn – Jg. 1952. Dipl. Pädagogin, Kreativer Leibtherapeut (HPG). Mitbegründerin der Zukunftswerkstatt therapie kreativ. Sie arbeitet seit vielen Jahren in therapeutischer Praxis und als Leiterin von Seminaren und Ausbildungsgruppen in künstlerischen Therapien, u. a. in Kreativer Traumatherapie. Autorin zahlreicher Fachbücher und Artikel. www.therapie-kreativ-baer.de

Udo Baer

Neukirchen-Vluyn – Jg. 1949. Dr. phil., Dipl. Pädagoge, Kreativer Leibtherapeut (HPG). Leiter der Zukunftswerkstatt therapie kreativ, die er auch mitbegründete. Er arbeitet seit vielen Jahren in therapeutischer Praxis und leitet Aus- und Fortbildungen in künstlerischen Therapien. Zahlreiche Veröffentlichungen. www.zukunftswerkstatt-tk.de

Inhalt

Band 3.2:

Von den Klängen der Stille bis zum musikalischen Sharing

11 Klänge der Stille

12 Die Klänge des Atems

12.1 Atemerleben – Atem-Achtsamkeit

12.2 Vom Atem in die Stimme

12.3 Atem-Rhythmen

13 Aktives Symbolisieren

13.1 Symbole und Symbolisieren in der Musiktherapie

13.2 Heilgesänge und -lieder

14 Wort und Klang

14.1 Der Klang der Sprache

14.2 Vom Gespräch zum Musizieren

14.3 Vom Musizieren zum Reden

14.4 Wort + Musik = Lied

15 Rezeptive, aktive und themenzentrierte Musiktherapie

15.1 Rezeptive Musiktherapie und leibliches Hören

15.1.1 Das Haus der Stimmungen

15.1.2 Das Rad des Musikerlebens

15.2 Aktive Musiktherapie

15.3 Themenzentrierte Musiktherapie

16 Die Kunst des Niedrigschwelligen

16.1 Zwölf Wege zum Tönen und Musizieren

16.2 Minimale Dialoge

16.3 Rituale

16.4 Gehe zurück auf …

17 Rahmen und Veränderung

17.1 Rahmen als Halt und Sicherheit

17.2 Aus dem Rahmen fallen

18 Musiktherapeutische Arbeit mit bestimmten Personengruppen

18.1 Rahmenbedingungen

18.2 Kinder und Jugendliche

18.3 Demenziell erkrankte Menschen

18.4 Psychiatrisch erkrankte Menschen

19 Unser Theorieverständnis

20 Was uns am Herzen liegt oder: Die sieben Unentbehrlichkeiten unserer Musiktherapie

20.1 Musiktherapie ist Leibtherapie

20.2 Musiktherapie verändert Leibmuster

20.3 Musiktherapie ist Beziehung

20.4 Musiktherapie achtet KlientInnenkompetenz

20.5 Musiktherapie achtet Tönen und Hören als Primäre Leibbewegung

20.6 Musiktherapeutische Diagnostik ist prozessual und interaktiv

20.7 Musiktherapie verfolgt eher Absichten als Ziele

21 Musik und Erleben: Was dem Musizieren und Musikhören innewohnt

21.1 Musik, Musizieren, Musikhören

21.2 Die neun wichtigsten Erlebnisqualitäten

21.2.1 Musik wirkt leiblich

21.2.2 Musik bewegt

21.2.3 Musik intensiviert Gefühle

21.2.4 Musik erinnert

21.2.5 Musik führt weg

21.2.6 Musik transzendiert

21.2.7 Musik verbindet

21.2.8 Musik ist machtvoll

21.2.9 Musik revoltiert und verändert

22 Der therapeutische Prozess

22.1 Musikalisch-künstlerischer und therapeutischer Prozess

22.2 Wirkfaktoren in der musiktherapeutischen Begegnung

23 Vom Musizieren zum Muster – vom Muster zum Musizieren

23.1 Gestalten, Strukturen, Muster …

23.2 Strukturen und Muster im freien Musizieren

23.3 Harte Muster musizierend schmelzen

24 Die therapeutische Beziehung

24.1 Szene, Übertragung, Resonanz

24.2 Tridentität in der therapeutischen Beziehung

24.3 Fragen, Feedback, Sharing

25 Der Baum leiborientierter Musiktherapie

Nachklänge

Literaturverzeichnis

11

Klänge der Stille

Zur Musik gehören auch die Pausen, in denen nichts erklingt, zur Musik gehört die Stille. Der Dirigent Simon Rattle sagte in einem programmatischen Interview, nachdem er zum Leiter der Berliner Philharmoniker gewählt worden war: „Man muss das Stück von der Stille her denken und nicht vom Forte. (…) Es gibt diesen wunderbaren Satz von Leopold Mozart, den ich den Musikern immer und immer wieder sage: Jeder Ton beginnt mit der Stille und kehrt zur Stille zurück.“ (Rattle 2002, S.35)

Wenn Sie mögen, dann achten Sie einmal auf die Momente der Stille, wenn Sie Musik hören, und nehmen Sie wahr, welche Wirkung diese Phasen der Stille auf Sie haben. Wahrscheinlich werden auch Sie die Erfahrung gemacht haben, dass bei manchen Konzerten unmittelbar nach dem letzten Ton ein Beifallssturm losbricht. Bei anderen herrscht Schweigen, aber kein Schweigen der Ablehnung, sondern ein Schweigen der Ergriffenheit. Durch die dargebotene Musik ist eine Atmosphäre der Stille entstanden, in der jede Beifallsäußerung störend wäre. Verschiedene Qualitäten der Stille können Sie auch im Alltag erfahren: die erhabene und weitende Stille auf dem Berggipfel; die ertappte Stille, wenn eine Person den Raum betritt, über die gerade gesprochen wurde; die Stille nach einem berührenden Vortrag; die leise Stille des ersten Schnees; die laute Stille nach einem Ehekrach; die schweigende Stille, wenn die Liebe erstorben ist; die klirrende Stille der Verachtung; die bedrückende Stille eines Familientabus; die tödlich anmutende Stille nach erfahrener Gewalt; die stolze Stille eines liebevoll anvertrauten Geheimnisses; die staunende Stille bei einem Naturereignis; die schlaffe Stille in der Mittagshitze; die Stille des unverhofften Beschenktwerdens usw.

Stille ist nicht nur Verneinung von Klängen oder Fernbleiben von Lärm. Stille ist eine eigene Qualität des Erlebens. Richtiger gesagt: Stille kann eine Vielzahl von Erlebensqualitäten beinhalten. Stille ist Nachhall und Vorbereitung, Erwartung und Lösung … George Steiner hat einmal gesagt: „Ich bin in meinem allzu gesprächigen Leben ein Sammler von Stillen gewesen.“ (Steiner 1999, S.189)

Es lohnt sich, auf Stillen zu achten, sie nicht zu „überhören“, auch wenn den meisten Menschen der Reichtum ihrer Qualitäten kaum bewusst ist. Was hat Stille nun mit Therapie zu tun? Zweierlei: Zum einen haben KlientInnen unterschiedliche, oft leidvolle Erfahrungen mit Stille und bringen diese mit in die Therapie, zum anderen kann die Beschäftigung mit den Klängen der Stille Türen zum inneren Reichtum öffnen.

Um persönlichen Qualitäten der Stille und Zusammenhängen zwischen ihr und dem Musizieren auf die Spur zu kommen, schlagen wir Ihnen und unseren KlientInnen folgende Experimente vor:

„Spielen Sie, was Sie gerade bewegt …

Halten Sie dann inne und lauschen Sie der Stille …“

Oder:

„Seien Sie einige Minuten lang still. Lauschen Sie der Stille …“

Jeder Mensch erlebt Stille unterschiedlich. Manchmal wird dies daran deutlich, welche Gefühle, Bilder, Klänge, Assoziationen in der Stille Gestalt annehmen, manchmal wächst die persönliche Bedeutung der Stille aus dem, was nach der Stille entsteht, was die Stille gebiert. Einige einfache Experimente, um dies zu erfahren, sind:

„Lauschen Sie einige Zeit, mindestens eine Minute, wenn möglich aber auch länger, Ihrer Stille. Lassen Sie dann mit Ihrer Stimme den Ton entstehen, der nach der Stille entstehen möchte.“

Oder:

„Lauschen Sie mindestens eine Minute Ihrer Stille und greifen Sie dann zu einem Instrument und lassen Sie die Klänge erklingen, die aus der Stille heraus erklingen wollen.“

Spannende Erfahrungen sind möglich, wenn die Stille in das Musizieren eingebettet wird. Wichtig dabei ist, dass die Pause, dass das Schweigen sich über eine ausreichende Länge erstreckt. Wir schlagen oft vor, dass es mindestens eine Minute dauern sollte. Für manche Menschen ist dies zu lang, weil für sie Schweigen kaum aushaltbar ist. Andere brauchen länger, um sich dem Schweigen hinzugeben, um der Qualität des Erlebens im Schweigen auf die Spur kommen zu können.

„Spielen Sie Musik und drücken Sie aus, was gerade ist …

Zu irgendeinem Zeitpunkt, der Ihnen passend erscheint, lassen Sie Ihre musikalische Improvisation ausklingen und lauschen der Stille, die danach entsteht …

Irgendwann, wenn Sie dem, was Sie in der Stille erleben, etwas näher gekommen sind, beginnen Sie wieder zu musizieren, mit einem Instrument oder mit Ihrer Stimme. Lassen Sie sich überraschen, was nun entsteht …“

Hilfreich zur Vorbereitung dieses Experimentes oder zur Ergänzung bzw. zur Vertiefung ist der Bezug auf den Atemrhythmus. Wer bewusst auf seinen Atem achtet, wird feststellen, dass es zwischen dem Ausatmen und dem Wiedereinatmen eine Pause gibt. Diese Pause mag winzig klein sein oder als längere wahrgenommen werden, in jedem Fall liegt zwischen jedem Atemzug ein Moment der Stille, ein Moment des Innehaltens. Wir weisen auf diesen Umstand hin und erklären, dass somit auch in unserem Atemrhythmus wiederkehrende Pausen, Momente der Stille eingebaut sind. Um dies zu erfahren, kann das folgende Experiment unterstützend wirken:

„Achten Sie auf Ihren Atem. Nehmen Sie ihn wahr, ohne ihn verändern zu wollen …

Achten Sie nun besonders auf Ihr Ausatmen. Nehmen Sie wahr, wie Ihr Ausatmen beginnt, wie es sich erstreckt, wie es endet …

Achten Sie nun besonders auf die Pause nach dem Ausatmen, auf den Moment der Stille, auf den Moment des Innehaltens zwischen dem Ausatmen und dem Wiedereinatmen. Vielleicht kommt Ihnen diese Pause nur sehr klein vor, vielleicht länger. Ganz egal, bewerten Sie nicht, messen Sie nicht, nehmen Sie nur wahr und schicken Sie Ihre Konzentration in diese Pause …

Lauschen Sie dieser Pause, hören Sie in diese Pause hinein …

Was hören Sie in dieser Pause? Welche Gedanken, Bilder, Gefühle entstehen? …“

Wir haben es schon erwähnt und jede Erfahrung, von der wir in diesem Buch berichten, bekräftigt es: Das Erleben ist subjektiv! Jeder Mensch empfindet die Stille unterschiedlich, je nach den persönlichen Verknüpfungen, Vorerfahrungen, Bewertungen, usw.

Einige Beispiele:

Ebenso unterschiedlich sind die Erfahrungen damit, was aus der Stille heraus individuell entstehen kann: Da hört aus der Stille heraus eine Klientin plötzlich die harte Stimme der Mutter, während für eine andere eine Szene des Schweigens entsteht, des strafenden Schweigens im Elternhaus. Ein Klient fühlt sich eins mit der Natur und hört (und pfeift) die Geräusche des Windes auf einem Berggipfel, während ein anderer den Klang seines Herzens wahrnimmt, zum Monocord geht und ihn damit wiederzugeben versucht.

Ähnlich unterschiedlich sind die Klänge, mit denen KlientInnen sich ausdrücken. Häufig hören wir klare und nicht allzu laute Klänge, Töne bzw. Tonfolgen, aber auch dumpfe Trommelrhythmen oder ein kreischendes Crescendo.

Besondere Aspekte des Erlebens der Stille werden deutlich, wenn die Stille geteilt wird. Es besteht ein Unterschied, ob zwei Menschen sich im gleichen Raum aufhalten und jede oder jeder für sich still ist und Erfahrungen mit der Stille macht oder ob z. B. folgende Aufforderung ausgesprochen wird:

„Ich schlage Ihnen ein Experiment vor: Teilen Sie mit mir Stille. Sie haben vorhin erwähnt, dass Sie immer irritiert sind, wenn jemand schweigt und dass Sie versuchen, das Schweigen dann zu übertönen.

Hier, in dieser therapeutischen Situation können Sie mit mir probieren, was geschieht, wenn wir beide schweigen.“

Der Klient ließ sich auf dieses Experiment ein. Schon nach wenigen Sekunden begann er, unruhig mit den Augen zu flackern und hin und her zu rutschen. Nach einigen weiteren Sekunden errötete er und sagte: „Ich bin mir ganz sicher, Sie durchschauen mich! Wenn ich nicht rede, kann ich nicht von dem ablenken, was mich wirklich beschäftigt. Wenn ich schweige, durchschauen sie mich.“ Therapeut und Klient unterhielten sich über die Angst, durchschaut zu werden. Der Klient wollte die Fähigkeit beibehalten, sich durch Reden zu tarnen und sich dadurch auch zu schützen. Er wollte aber auch versuchen, nicht immer zu diesen Schutzreaktionen gezwungen zu sein, und wollte sich bemühen, einmal zu wagen, das, worin er nicht durchschaubar werden wollte, mit einem anderen Menschen zu teilen. Sie verabredeten, dass sie noch einmal versuchen wollten, sich gegenseitig anzuschweigen und die Stille zu teilen. Der Therapeut bat: „Wenn Sie spüren, dass etwas in Ihnen ist, was nun bedroht ist, durchschaut zu werden, dann greifen Sie zu einem Instrument und lassen dies erklingen, so viel oder so wenig, wie es Ihnen gerade möglich ist.“ Der Klient entdeckte für ihn überraschende und wertvolle Gefühle, Meinungen, Überzeugungen, die nun, aus der Stille heraus, erstmals Gehör finden konnten.

Dass Schweigen befremdlich ist, damit steht der Klient in unserer Kultur nicht allein, das gehört zu unseren Gepflogenheiten. Wenn in einem Gespräch Phasen der Stille auftreten, dann gehört es zum „guten Ton“, diese zu überbrücken. Wenn eine unbekannte Person zu einem Gespräch hinzutritt, werden alle Beteiligten bemüht sein, diese Person schnell den anderen vorzustellen – alles andere wäre missachtend, befremdlich oder peinlich. Angehörige anderer Kulturen würden sich eher über unsere Gepflogenheiten wundern. In der traditionellen Kultur der Navajo-Indianer ist es üblich, dass eine neu hinzu tretende Person zuerst einmal längere Zeit schweigt und auch von anderen nicht angesprochen wird, um ihr Gelegenheit zu geben, über die Stille Verbindung zur vorhandenen Atmosphäre aufzunehmen. Alles andere wäre unhöflich bis beleidigend.

In der therapeutischen Arbeit setzen wir das Teilen der Stille in verschiedenen Varianten ein. Wie immer ist das Erleben individuell unterschiedlich. Eine Klientin erzählte einmal nach einem gemeinsamen Schweigen, dass sie dies als einen „Dialog der Stille“ bzw. einen „Dialog der Stillen“ erlebt hätte. Sie konnte ziemlich genau beschreiben, welche unterschiedlichen Klangfarben und Atmosphären die Stille nacheinander angenommen hatte. Wir haben diese Anregung aufgegriffen und gelegentlich KlientInnen zu einem Dialog der Stille bzw. der Stillen aufgefordert. Oft entstanden intensive Begegnungen, oft waren wir überrascht über den Klangreichtum, den Stille enthalten kann.

12

Die Klänge des Atems

12.1 Atemerleben – Atem-Achtsamkeit

Dem Atem kommt in der Musiktherapie eine besondere Bedeutung zu. Viele KlientInnen begegnen in der Musiktherapie Themen, die ihnen Angst machen. Angst engt ein, auch den Atem. Auch Erregung jeder Art beeinflusst den Atem, lässt ihn stocken oder tief fließen. Blasinstrumente werden mit dem Atem „gespielt“. Und, last not least, wird in der Musiktherapie vielfach mit der Stimme gearbeitet. Stimme ist schließlich nichts anderes als tönender Atem.

Um das Spiel eines Musikinstrumentes zu erlernen, bedarf es manchmal des Erlernens einer dafür richtigen Atemtechnik. In der Musiktherapie, wie wir sie verstehen, spielt das technisch richtige oder falsche Atmen keine Rolle. Unsere Musiktherapie ist leiborientiert, folglich interessiert uns das Atemerleben. Was erlebt eine Klientin, wenn sie auf ihren Atem achtet? Welche Gefühle treten auf, wenn sie fünf Minuten lang ihrem Atem lauscht? Welche Klänge und Bilder entstehen, wenn sie auf die Pause zwischen den Atemzügen fokussiert? Wie beeinflusst der Atem den Kontakt, die Resonanz zwischen verschiedenen Menschen? Wie spiegelt sich in der Nähe bzw. Entfernung zu anderen Menschen der Atem wieder? Solche und viele ähnliche Fragen interessieren uns und die KlientInnen. Solchen Fragen gehen wir nach.

Wir arbeiten in erster Linie mit der Achtsamkeit für den Atem. Auf den Atem zu achten, ihm zu lauschen, ohne ihn verändern zu wollen, lässt uns und die KlientInnen drei Qualitäten des Atmens erfahren:

Übungen zur Atem-Achtsamkeit gibt es sehr viele, wir werden einige aus der Gruppenarbeit exemplarisch vorstellen, die sich genauso gut für die Arbeit mit einzelnen KlientInnen eignen. Einige dieser Einheiten beinhalten die Möglichkeit des Körperkontaktes. Dazu als grundsätzliche Anmerkung: Wir sind in Bezug auf körperliche Berührungen vorsichtig und behutsam, schließen sie aber nicht grundsätzlich aus. Bei manchen KlientInnen verbieten sie sich generell oder in bestimmten Phasen der Therapie. Bei anderen auf Berührungen zu verzichten, würde kränken und therapeutische Möglichkeiten außen vor lassen. Immer fragen wir, ob die Berührung gewünscht bzw. akzeptiert wird, und bieten Alternativen an.

„Sucht euch einen Platz, auf dem ihr bequem einige Minuten stehen könnt …

Nehmt euren Atem wahr …

Nehmt wahr, wie ihr einatmet, wie ihr ausatmet und wie ihr eine vielleicht kleine, vielleicht größere Pause zwischen den Atemzügen macht …

Wenn ihr einatmet, begleitet euch innerlich mit den Worten ‚ich atme ein’, wenn ihr ausatmet, begleitet euch innerlich mit den Worten ‚ich atme aus’ …

Wenn ihr einatmet, begleitet euch innerlich mit dem Wort ‚ein’, wenn ihr ausatmet, begleitet euch innerlich mit dem Wort ‚aus’ …

Wenn ihr einatmet, sagt ihr euch ‚ein’, wenn ihr ausatmet, sagt ihr euch ‚ich begrüße mich’ …

Die Idee, den Atem innerlich mit den Worten „ich atme ein“ und „ich atme aus“ zu begleiten, stammt von dem vietnamesischen Buddhisten Thich Nhat Hanh (1996, 1997, 1998). Dieser arbeitet viel mit der Atem-Achtsamkeit und hat diese meditationsfördernde Arbeit in seinen Büchern beschrieben. Häufig gibt er beim Ausatmen Bilder und Qualitäten in den Erlebensprozess hinein, z. B. „Frische“. Wir arbeiten eher mit Begrüßungen, beispielsweise:

„… Wenn du einatmest, sage dir innerlich ‚ein’, wenn du ausatmest sage dir, guten Morgen’ (oder: guten Abend, guten Tag) …’’

Oder:

„… Wenn du einatmest, sage dir innerlich ‚ein’ und wenn du ausatmest begrüße dein Herz …“

Sehr schön finden wir:

„… Wenn du einatmest, sage dir innerlich ‚ein’, wenn du ausatmest, schenke dir ein Lächeln …“

Oder wir fragen nach dem Erleben: „… Wenn du einatmest, sage dir innerlich ‚ein’, wenn du ausatmest, nimm wahr, was du erlebst …“

Eine Übung der Atem-Achtsamkeit, die vor allem dem erlebten Atemraum Aufmerksamkeit schenkt, ist folgende:

„Sucht euch einen Platz im Raum, an dem ihr es euch gemütlich machen könnt. Nehmt euch Decken oder Matratzen und legt euch bequem auf den Boden …

Nehmt wahr, wie ihr ein- und ausatmet …

Nehmt die Pausen und den Fluss eures Atems wahr …

Nehmt wahr, wie sich euer Brustkorb beim Atmen bewegt. Legt eine Hand oder beide Hände dorthin und spürt, wie euer Atem die Hand oder die Hände bewegt …

Nehmt nun wahr, wie sich euer Bauch beim Atmen bewegt, legt die Hand oder die Hände dorthin und nehmt wahr, wie der Atem die Hände berührt …

Geht nun zu der Region unterhalb des Bauchnabels, legt auch dort die Hände hin und nehmt wahr, ob und wie der Atem euch bewegt, beeinflusst, berührt. Wenn ihr keine Bewegung der Hände wahrnehmt, ist auch dies kein Makel, seid nur achtsam und nehmt wahr, was ist, registriert, spürt hin …

Legt nun eure Hände rechts und links seitlich, etwa in die Gegend der Nieren. Und nehmt auch dort wahr, ob und wie euer Atem die Hände bewegt, berührt …

Führt nun die rechte Hand unter die linke Achsel, berührt die obere linke Rippengegend. Nehmt auch dort die Atembewegung wahr …

Führt nun die linke Hand unter die rechte Achsel und berührt die rechte Rippengegend …

Legt nun eine Hand oder beide Hände auf den Hals und den Bereich des Schlüsselbeins und spürt auch dort die Atembewegungen …

Geht nun mit euren Händen auf eine Entdeckungsreise im Kopfbereich, legt sie hierhin und dorthin und spürt nach, ob und gegebenenfalls wie ihr etwas von euren Atembewegungen wahrnehmt …

Legt nun die Hände dorthin, wo ihr sie gern liegen haben wollt, und lasst den Atem fließen …

Nehmt nun den ganzen Raum wahr, den der Atem in euch ausfüllt. Es geht nicht um Anatomie, sondern darum, welchen Raum ihr erlebt, welchen Atemraum in eurem Körper …

Nehmt wahr, wie der Atem in diesen Raum hineinfließt und wie er wieder hinausfließt …

Nehmt wahr, wie euer Atem für euch sorgt, indem er Altes hinausnimmt und Neues, Frisches in euch hineinbringt, wie er dies tut, ohne dass ihr etwas dafür leisten müsst, wie er es immer für euch tut …

Nehmt auch wahr, wie der Atem dankbar ist für die Achtsamkeit, die ihr ihm schenkt, vielleicht hat er sich etwas verändert gegenüber dem Atem, den ihr am Anfang dieser Einheit wahrgenommen hat. Nehmt ihn wahr, wie er jetzt ist, auch die Veränderungen …

Nehmt wahr, wie es euch jetzt geht, wie ihr euch erlebt …

Und gebt nun zum Ausklang eurem Atem ein Wort, einen Begriff, vielleicht auch einen Satz oder stellt ihm eine Frage, ganz allein für euch, ganz privat …

Und nun bereitet euch wieder darauf vor, die Augen zu öffnen, wenn ihr sie geschlossen habt, und mit der Aufmerksamkeit wieder in den Raum und in die Gruppe zurückzukehren. Der Atem wird weiter für euch sorgen, dankbar, dass ihr ihm Achtsamkeit geschenkt habt …

Und kehrt nun mit der Aufmerksamkeit in den Raum zurück.“

Solche Übungen kann man unendlich variieren. Aus ihnen können Bilder entstehen, Klänge und vieles andere mehr. Die Atem-Achtsamkeit kann auch dialogisch in Partnerübungen erfahren werden. Dazu ein Beispiel:

„Sucht euch eine Partnerin oder einen Partner eures Vertrauens …

Eine oder einer von euch legt sich bequem auf eine Decke, die andere Person setzt sich auch möglichst bequem daneben. Die liegende Person achtet nur auf ihren Atem, nimmt wahr, wie sie einatmet und ausatmet …

Die sitzende Person achtet ebenfalls auf den eigenen Atem und, so gut es geht, gleichzeitig auf den Atem der Partnerin oder des Partners …

Ihr Sitzenden, spürt nun einem Impuls nach, wo ihr euren liegenden Partner oder eure liegende Partnerin berühren wollt, wo eine Berührung eurer Hand seinem bzw. ihrem Atmen gut tun würde. Vielleicht fällt euch eine Stelle ein, indem ihr den Atem eurer Partnerin oder eures Partners beobachtet, vielleicht entspringt der Impuls aus eurer Resonanz zur Partnerin oder zum Partner …

Wenn ihr einen solchen Impuls habt, fragt die Partnerin oder den Partner, ob ihr dort die Hand auflegen könnt oder ob ihr lieber die Hand einen Zentimeter über diese Stelle halten sollt. Und dann tut dies …

Ihr könnt nach einiger Zeit eine weitere Stelle ausprobieren oder aber bei dieser einen Stelle bleiben. Seid frei in euren Impulsen. Auch wenn ihr den Impuls verspürt, z. B. die Füße zu berühren, also Körperregionen, die der Atem anatomisch nicht erreichen kann, folgt ihm. Geht euren Impulsen nach, nehmt sie ernst, nehmt euch ernst, nehmt eure Partnerin oder euren Partner ernst …

Zum Abschluss probiert noch eine Berührung, die ihr euch noch nicht getraut habt oder die ihr gerne zum Ausklang dieser Partnerarbeit eurer Kollegin oder eurem Kollegen gönnen wollt. Wenn ihr unsicher seid, ob ihr das dürft, fragt eure Partnerin oder euren Partner …

Löst nun eure Hand langsam in Zeitlupe von der Partnerin oder dem Partner ab …

Die liegende Person lässt die Berührung nachwirken …

Die liegende Person kommt nun, mit der Aufmerksamkeit wieder in den Raum zurück. Die Sitzenden streifen ihre Hände ab und tauschen sich mit ihrer Partnerin oder ihrem Partner über die Erfahrungen, die sie gemacht haben, aus.

Diese Einheit benötigt mindestens 20 Minuten Zeit und eine Stimmung der Muße. Es empfiehlt sich, anschließend einen Rollenwechsel zwischen den PartnerInnen vorzunehmen.

12.2 Vom Atem in die Stimme

Wir haben anfangs schon gesagt, dass die Stimme tönender Atem ist, Atem mit Klang. Doch auch das Atmen selbst ist hörbar und oft ist es sinnvoll, KlientInnen darauf aufmerksam zu machen:

„Sucht euch einen Platz zum Stehen oder Sitzen und schenkt eurem Atem Aufmerksamkeit …

Lauscht eurem Atem, hört auf ihn …

Vielleicht hört ihr Geräusche, vielleicht erahnt ihr nur die Klänge eures Atmens, lauscht ihnen …

Wenn ihr mit dem Mund geatmet habt, atmet nun durch die Nase und lauscht; wenn ihr durch die Nase geatmet habt, atmet nun durch den Mund und lauscht …

Was empfindet ihr, wenn ihr euren Atem hört, euer Einatmen und euer Ausatmen?“

Viele Menschen sind überrascht von den Klängen ihres Atems, manche angerührt, viele bezeichnen das, was sie hören, mit bestimmten Qualitäten wie z. B. zart, fordernd, gelassen, friedlich usw. Manche KlientInnen erinnern sich an störende Klänge ihres Atmens, z. B. beim Einschlafen oder wenn sie in der Nacht durch eigene Schnarchgeräusche erwachen. Und andere können ihren Atem nicht oder kaum hören, weil z. B. der Magen grummelt oder – am häufigsten – das eigene Herz plötzlich so laut wahrnehmbar ist, dass es die Atemgeräusche übertönt. Häufig spüren die KlientInnen, dass in der Achtsamkeit des Atemhörens auch hier eine Weisheit liegt, z. B. die Weisheit, dass das Herz sehr beschäftigt ist, sehr laut ist und gehört werden möchte.

Aus dem Lauschen der Atemgeräusche kann sich ein Spiel ergeben, in dem wir auffordern, diese Geräusche lauter werden zu lassen und variantenreicher:

„Spielt nun mit den Atemgeräuschen, die ihr hört, probiert Varianten. Lasst sie lauter oder leiser werden, lauscht der Klangpalette eures Atems …

Probiert nun Geräusche, indem ihr durch die Nase ausatmet …

Probiert nun Geräusche, indem ihr durch die Nase einatmet …

Probiert nun Geräusche, indem ihr durch den Mund ausatmet …

Probiert nun Geräusche, indem ihr durch den Mund einatmet …

Probiert nun Geräusche aller Art, egal ob durch den Mund oder durch die Nase, egal ob beim Einatmen oder Ausatmen, probiert Tiergeräusche, probiert anständige und unanständige Geräusche, verliebte und zornige, lasst euren Atem auf unterschiedliche Weise erklingen.“

Zumeist entsteht in Gruppen eine lebhafte Atmosphäre. Manchmal tritt auch Scham neben spielerischer Lust auf, Kindheitserinnerungen können wach werden, verbunden mit unterschiedlichen Gefühlen oder Stimmungen.

In der Einzeltherapie ergibt sich die Arbeit in der Verbindung von Atem und Stimme aus den Themen, die die KlientInnen mitbringen. Eine Klientin hatte darüber geklagt, dass in ihr „viel los“ sei, dass sie aber nicht wisse, was. Auf hier nicht näher zu beschreibenden Wegen war sie dahinter gekommen, dass sie einen Spiegel für ihr Herz suchte. Sie bekam von anderen Menschen häufig Rückmeldungen bezüglich ihres Verstandes, aber nicht bzw. zu selten zu dem, was ihr Herz bewegte. Und wenn sie eine Rückmeldung bekam, verschloss sich ihr Hals, sie fühlte sich leer und taub. Sie suchte nach einer Verbindung zwischen Innen und Außen, zwischen ihrem Herzen und anderen Menschen. Der Therapeut schlug ihr ein Experiment vor:

„Ich schlage ihnen einen Weg vor, wie Sie aus Ihrem Herzen über Ihren Atem einen Klang entstehen lassen können. Was für ein Klang das sein wird, weiß ich nicht. Lassen Sie sich von Ihrem Atem und von Ihrem Herzen überraschen.“

Die Klientin stimmte zu. Der Therapeut bat sie, aufzustehen und auf ihren Atem zu achten. Die Klientin tat dies.

„Legen Sie nun eine Hand oder beide Hände auf Ihr Herz und lauschen Sie weiter Ihrem Atem.“

Die Klientin legte ihre rechte Hand auf ihr Herz und atmete weiter. Der Atem war sehr aufgeregt, stockte immer wieder und floss dann weiter. Der Therapeut stand ca. zwei Meter von ihr entfernt und fragte die Klientin:

„Stehe ich hier richtig oder möchten Sie mich an einem anderen Platz?“

„Da sind Sie zu weit weg. Kommen Sie bitte näher an mich heran. Hier so neben mich, ein bisschen hinter mich.“

Der Therapeut stellte sich an den gewünschten Platz. Er begleitete mit seinem Atem den Atem der Klientin und versuchte sich auf ihren Atem einzustellen, der nun allmählich ruhiger wurde.

„Nun bitte ich Sie, sich auf Ihr Ausatmen zu konzentrieren. Nehmen Sie wahr, wie Ihr Ausatmen beginnt, wie es sich weiterentwickelt, wie es endet … Sie brauchen nichts zu verändern, es gibt kein Richtig und kein Falsch, nehmen Sie nur wahr, seien Sie achtsam für Ihr Ausatmen …“

Und nach einiger Zeit:

„Begleiten Sie nun Ihr Ausatmen mit einem Summen. Lassen Sie sich überraschen, welcher Klang entsteht, welche Töne kommen. Sie halten eine Hand auf Ihr Herz, Ihr Atem berührt Ihr Herz, Ihr Atem fließt aus Ihnen heraus und so fließt auch etwas aus Ihrem Herzen heraus, lassen Sie es hörbar werden, indem Sie Ihr Ausatmen mit einem Summen begleiten.“

Die Klientin begann zu summen, erst verhalten, dann immer hörbarer und deutlicher. Nach einigen Ausatemzügen bat der Therapeut:

„Und nun bitte ich Sie während des Ausatmens und des Summens allmählich den Mund zu öffnen und daraus einen Atemklang entstehen zu lassen. Lassen Sie sich auch hier überraschen, welcher Klang entstehen möchte, vertrauen Sie auf Ihren Atem, vertrauen Sie auf Ihr Herz, vertrauen Sie auf die Klänge, die in Ihnen sind.“

Die Klientin folgte diesem Wunsch. Es entstanden hauchzarte Töne, die auf den Therapeuten und die Klientin, wie sie später sagte, scheu und kindlich wirkten. Die Klientin musste weinen, als sie diese Klänge hörte. Irgendwann stockte ihr der Atem und sie folgte ihrem alten Muster, in die Starre und die Leere zu gehen.

Doch der Therapeut, der neben ihr stand, ermutigte sie mit seinem Atem und den Worten:

„Atmen Sie bitte weiter, lassen Sie erklingen, was erklingen möchte.“

Das Herz, das wenig gespiegelt worden war, das Herz, das wenig sprechen konnte, das Herz, das wenig Ermunterung erfahren hatte, wurde hörbar. Es fand über den Atem seine Stimme, eine zarte und scheue Stimme, ungewohnt, sich in die Welt hinaus tastend.

Auf solche Weise kann der Weg vom Atem in die Stimme zu einem Weg vom Herzen in die Stimme werden. Jedes Mal, wenn dieser Weg in der Einzeltherapie beschritten wird, ertönt Wahrheit. Wie immer in der Atemarbeit führt die Achtsamkeit für den Atem und dessen Klänge zu dem Wesentlichen, zu dem, was vielleicht verborgen war, zu dem, was zu kurz gekommen ist, zu dem, was als wahrhaftes Erleben hörbar und sichtbar werden möchte. Dabei können die KlientInnen unterschiedliche Qualitäten ihres Atems wahrnehmen und diese über sein Stimmhaft-Werden hören. Mit diesem Aspekt kann in der Einzel- und Gruppenarbeit auch gesondert gearbeitet werden, teilweise spielerisch. Ein Beispiel aus der Gruppenarbeit:

„Ich bitte euch ein Experiment zu wagen, mit eurem Atem und eurer Stimme. Wenn Menschen atmen und ihrem Atem lauschen und ihren Atem hörbar werden lassen, ertönen immer unterschiedliche Qualitäten des Erlebens. Ich werde euch nun solche Qualitäten als Themen vorgeben und bitte euch auszuwählen, welches Thema euch hier und jetzt interessiert.“

Der Gruppenleiter oder die Gruppenleiterin hängt Zettel in unterschiedliche Ecken des Raumes mit Themen, von denen sie oder er vermutet, dass sie in der Gruppe gerade von Interesse sind. Zum Beispiel: „Der Atem der Leidenschaftlichkeit“, „Der Atem der Zärtlichkeit“, „Der Atem des gerechten Kampfes“, „Der Atem der Lust und Fülle“, „Der Atem der Gelassenheit“, „Der Atem des Eigensinns“ oder „Der Atem der Unverschämtheit“. Die GruppenteilnehmerInnen treffen sich in der Nähe des Zettels mit dem Thema, das sie gerade besonders neugierig macht, und bilden somit Kleingruppen.

„Ihr habt nun in der kleinen Gruppe jeweils eine halbe Stunde Zeit, euch mit diesem Thema zu beschäftigen. Beginnt damit, dass ihr, jede und jeder für sich, euren Atem der jeweiligen Qualität ausprobiert und anschließend dazu den anderen aus der Gruppe etwas mitteilt. Versucht dann als zweiten Schritt, diesen Atem z. B. der Leidenschaft hörbar werden zu lassen, nutzt dazu eure Stimme oder ein Instrument. Sucht dann als dritten Schritt eine Form oder legt den Einstieg in eine Improvisation fest, mit der ihr diese Klänge gemeinsam in irgendeiner Art und Weise den anderen mitteilen könnt.“

Anschließend werden „Sessions“ von den jeweiligen Gruppen für die anderen dargeboten.

12.3 Atem-Rhythmen

Der Herzrhythmus und der Atemrhythmus sind zwei Rhythmen, die jedem Menschen körperlich eigen sind. Der Atemrhythmus ist jedem Menschen zugänglich, jede Atem-Achtsamkeit schenkt auch dem Atemrhythmus Aufmerksamkeit. Musikalisch kann der Atemrhythmus in zweierlei Weise betont werden:

„Achtet auf euren Atem, nehmt das Einatmen wahr und das Ausatmen …

Lauscht dem Rhythmus eures Atmens …

Achtet besonders auf den Wendepunkt zwischen dem Ausatmen und dem Wieder-Einatmen, macht dort vielleicht eine kleine Pause – vielleicht habt ihr das Bild, dass euer Atem in ein Tal fließt und von dort aus sich wieder erhebt – ganz gleich, welche Vorstellung ihr habt, ganz gleich, wie ihr diesen Wendepunkt wahrnehmt, schenkt ihm eure Aufmerksamkeit …

Macht nun jeweils am Wendepunkt zwischen dem Ausatmen und dem Wieder-Einatmen ein Geräusch, einen Klang, indem ihr z. B. mit euren Händen klatscht oder auf euren Körper oder auf den Boden trommelt oder ihn mit einem Instrument erzeugt …

Lauscht diesem Klang, dem Klang eures Atemrhythmus …“

Die andere Möglichkeit, diese Einheit anzuleiten, beginnt genauso und fährt dann fort:

„Lauscht nun den beiden Wendepunkten eures Atmens, dem zwischen dem Einatmen und dem Ausatmen und dem zwischen dem Ausatmen und dem Einatmen … Gebt diesen beiden Wendepunkten einen Ton, indem ihr mit den Händen klatscht oder trommelt oder mit einem Musikinstrument einen Ton erzeugt …

Lauscht dem Rhythmus eures Atems …“

Bei dieser Möglichkeit haben meistens die beiden Töne unterschiedliche Klangfarben und Dynamik. An dieser Stelle liegen die Fragen nahe:

„Wie erlebst du deinen Atemrhythmus? Welche Bilder, welche Assoziationen ruft er bei dir hervor?“

„Was hat dieser Rhythmus mit dem Rhythmus deines Lebens zu tun? Ist er Teil deines Lebens oder gehört er eher zur Wunschseite?“

In der Einzeltherapie führt die Arbeit mit dem Atemrhythmus zumeist zu einer Zentrierung, zu einer Achtsamkeit nach Innen. Rhythmen bestimmen unser Leben, werden zum Teil unseres Lebens. Auch der Atemrhythmus, der ja nicht statisch ist und sich je nach Lebensbedingungen verändert, ist Teil der Lebensrhythmen und regt an, über die verschiedenen Rhythmen nachzudenken, Probleme zu erkunden, Wünsche wahrzunehmen und dergleichen mehr.

Der eigene Atemrhythmus einer Klientin oder eines Klienten kann auch Auftakt für einen musikalischen Dialog zwischen Therapeut/Therapeutin und Klient/Klientin werden. In der beschriebenen Weise lässt die Klientin oder der Klient den eigenen Atemrhythmus ertönen. Der Therapeut bzw. die Therapeutin lässt dies auf sich wirken, spielt Töne dazu, „klingt sich ein“. Die Klientin oder der Klient kann das zum Anlass nehmen, ihre oder seine Töne zu variieren, die wiederum Resonanz bei der Therapeutin oder dem Therapeuten finden, so dass eine gemeinsame Improvisation entsteht.

In der Gruppe ist es für viele Menschen eine besondere Erfahrung, wenn der eigene Atemrhythmus Grundlage einer gemeinsamen Gruppenimprovisation wird, wenn andere Menschen sich (musikalisch) auf den eigenen Atemrhythmus einstellen, ihn ernst nehmen, ihn zum Ausgangspunkt ihrer eigenen Klänge machen:

„Eine oder einer von euch lässt den eigenen Atemrhythmus erklingen … Fahre damit fort, während die anderen diesen Atemrhythmus auf sich wirken lassen und darauf achten, welche Resonanzen er in ihnen hervorruft.

Lasst nun aus diesen Resonanzen und aus den Wirkungen des Atemrhythmus, den ihr hört, Impulse entstehen, musikalische Impulse, und lasst diese erklingen …

Nun lasst daraus eine gemeinsame Improvisation entstehen, diejenige oder derjenige von euch, die mit ihrem oder seinem Atemrhythmus den Anfang gemacht hat, kann seinen oder ihren Rhythmus beibehalten, kann aber auch freier spielen und dem folgen, was nun entstehen möchte, unabhängig davon, ob dies noch mit dem Rhythmus des Atems etwas zu tun hat. Der Atemrhythmus ist indirekt Grundlage des gesamten Spiels. Improvisiert …“

13

Aktives Symbolisieren

13.1 Symbole und Symbolisieren in der Musiktherapie

Symbole sind Zeichen, Gegenstände oder Sinnbilder, die ihre Bedeutung über den Moment und über die konkrete Situation hinaus innehaben. Zumeist sind es Kennzeichen oder Erkennungszeichen wie z. B. das Kreuz des Christentums. In unserer Zivilisation werden aus Symbolen häufig Markenzeichen, der Stern von Bethlehem ist mittlerweile vielleicht weniger bekannt als der Mercedes-Stern als Statussymbol für Wohlstand und Erfolg. Viele Gegenstände können Symbole sein, z. B. der Ehering als Zeichen der Verbundenheit zweier Menschen, die sie sich zumindest einmal versprochen haben.

Auch in der Musik gibt es Symbole. Das ta-ta-ta-taaa eröffnet nicht nur eine Sinfonie, sondern steht für Beethoven, ja für Klassik. Oder denken wir an die Erkennungsmelodien von „Bonanza“, von „Spiel mir das Lied vom Tod“, des „Tatorts“, der „Tagesschau“, der Eurovision oder an die Nationalhymne: Alle bislang genannten musikalischen und anderen Symbole, vom Ehering bis zur Nationalhymne, haben gemeinsam, dass sie Bedeutung für viele Personen, ja für ganze Kulturen haben. Welche konkrete Bedeutung der einzelne Mensch ihnen gibt, ist unterschiedlich. Der Ehering kann für den einen Glück und Liebe symbolisieren, für den anderen Unterdrückung und Gefängnis. Die Erkennungsmelodie von „Bonanza“ symbolisiert für viele Menschen Kindheit und 60er-Jahre. „Spiel mir das Lied vom Tod“ mag ein Symbol sein für tiefes Entsetzen oder verliebtes Händchenhalten im Kino, die Erkennungsmelodie des „Tatorts“ für einen gemütlichen Sonntagabend oder die Einsamkeit. Die Nationalhymne kann Stolz oder Heimatgefühle oder Ekel und Schuldgefühle hervorrufen oder belanglos sein. Wenn solche Symbole in der therapeutischen Arbeit auftauchen, gilt es, die individuelle Bedeutung herauszufinden, die das jeweilige Symbol für die Klientin oder den Klienten hat. Dies möchten wir an dieser Stelle ausdrücklich betonen, denn uns scheint besonders bei der Beschäftigung mit Symbolen, die einen hohen Verbreitungsgrad haben, die Gefahr zu lauern, dass Menschen mit großer Selbstverständlichkeit davon ausgehen, dass sie das Gleiche meinen, hören und empfinden wie andere bzw. dass andere das Gleiche meinen, hören und empfinden wie sie selbst.

Es gibt auch Symbole, die von vorneherein und ganz deutlich nur für eine bestimmte Person Bedeutung haben können und sollen. So der Talisman der Freundin, den man in der Tasche trägt, oder das Schmuckstück, das man vom Geliebten erhalten hat. Im Kapitel „Die musikalische Biografie“ (s. Kap. 2) sind mehrere Beispiele aufgeführt, welche Bedeutungen Musikstücke oder Lieder für Menschen haben können. Auch in der Arbeit mit traumatisierten Menschen erfahren wir oft, dass bestimmte Klänge oder Geräusche Symbole für Bedrohung, Todesangst, Ohnmacht o. Ä. sind und Auslöser von Flashbacks, erlebten Wiederholungen traumatischer Erfahrungen, sein können. Werden musikalische Symbole eines Klienten oder einer Klientin im therapeutischen Prozess hörbar, heißt es, sie ernst zu nehmen und näher zu erkunden. Häufig weist die Existenz eines musikalischen Symbols auf einen bedeutenden Lebensabschnitt oder auf Szenen im Leben der Klientin oder des Klienten hin, die nachhaltig wirken und Leiden hervorrufen oder verstärken. Hier ist es notwendig, den Kontext zu erkunden, das Feld, in dem das Symbol entstanden ist, wieder lebendig werden zu lassen und aus diesem Erleben heraus Veränderungen des Erlebens und Handelns zu suchen.

In der musikalischen Improvisation hören TherapeutInnen und manchmal auch KlientInnen, dass sich bestimmte Themen oder andere Klangfolgen wiederholen. Ein solches Thema kann auf vieles verweisen, es kann auch ein musikalisches Symbol sein. Ein Klient spielte in seinen Improvisationen, die er gerne am Klavier vornahm, häufig die Tonfolge c d e g g. Ihm selbst fiel es nicht auf. Als der Therapeut ihm dieses Motiv spiegelte, meinte er: „Ja, das kenne ich, das ist mir vertraut.“ Der Therapeut bat ihn, nur dieses Motiv zu spielen, es mehrmals zu wiederholen, vielleicht verschiedene Rhythmen, Phrasen, Oktavensprünge und Tempi auszuprobieren. Er spielte, er probierte und blieb schließlich dabei, mit der rechten Hand diese Tonfolge zu wiederholen, wieder und immer wieder, wie in Trance. Dabei veränderte sich sein Gesichtsausdruck, er wurde blasser, die Augen schauten ins Leere. Der Therapeut vermutete, dass im Klienten eine andere Zeit seines Lebens lebendig geworden war und fragte: „Wie alt sind Sie jetzt?“ Der Klient sagte: „Sieben Jahre, acht Jahre, elf Jahre, vielleicht auch jünger, fünf Jahre, drei Jahre …“, und er spielte sein Tonfolge weiter.

Plötzlich unterbrach er, klappte den Klavierdeckel zu und trommelte mit seinen Fingern den gleichen Rhythmus, in dem er eben seine Tonfolge gespielt hatte. Zeigefinger c, Mittelfinger d, Ringfinger e – dann mit dem Zeigefinger zwei mal g. Und wieder und wieder und wieder.

Er schaute auf und sagte: „Jetzt weiß ich es. So habe ich immer mit den Fingern getrommelt, wenn ich mich als Kind beruhigen wollte. Ich war sehr unruhig und habe mich aufgeregt und bekam dafür ständig eins auf den Kopf. Allen Menschen fiel ich auf den Wecker, also riss ich mich zusammen. Die Unruhe blieb in den Fingern, blieb in der rechten Hand.“ Die Tonfolge war Symbol für diese Zeit, war Ausdruck seiner Unruhe, symbolisierte seine Bemühungen, diese Unruhe bzw. die Folgen dieser Unruhe zu bewältigen.

Wir beschäftigen uns nicht nur mit Symbolen, die in der Musiktherapie auftauchen, sondern unterstützen KlientInnen darin, ihre eigenen Symbole zu schaffen. Symbole sind nicht natürlich vorgegeben, sind nicht genetisch angelegt, sondern von Menschen geschaffen worden, um Bedeutsamkeiten ihres Lebens zu ordnen. Also können Menschen ihre eigenen Symbole schaffen. Sie tun dies im Alltag, warum nicht auch in der Therapie.

Einige Beispiele:

13.2 Heilgesänge und -lieder