MARY HOOPER
Aus dem Englischen
von Marlies Ruß und André Mumot
Die zweite Januarwoche war so fürchterlich kalt, dass das kahle Geäst der Bäume, die die Straßen säumten, mit Raureif überzogen war und selbst die tiefsten Pfützen gefroren. Eine scheinbare Ewigkeit stand ich nun schon mit Beth, Merryl und all den anderen Schaulustigen wartend an der Wegezoll pflichtigen Straße von Richmond nach London. Um uns die Zeit zu vertreiben, spielten wir, wir wären Drachen, die gewaltige Atemwolken aus weißem Dunst in die Luft stießen.
Wir hatten uns an der Straße aufgestellt, um Ihre Majestät die Königin von England zu sehen, die an diesem Tag mit ihrem Hof den Palast von Richmond verließ, um nach Whitehall in London umzuziehen. Der Palastwechsel sollte der Königin eine Abwechslung verschaffen, war jedoch auch nötig, damit der Palast von Richmond gelüftet und wieder frisch gemacht werden konnte, nachdem er nun beinahe drei Monate lang Hunderte von Leuten beherbergt hatte. Mit uns am Straßenrand standen Scharen von Anwohnern und der Königin ergebenen Untertanen, und alle waren wir voller Bedauern über ihre Abreise. Der Grund war nicht allein, dass mit dem königlichen Hof Wohlstand und Lebendigkeit Einzug hielten, sondern auch, dass die Menschen sich schlicht freuten, die Königin in ihrer Nähe zu wissen. Jederzeit konnte es vorkommen, dass man sie mit einem Rudel Hunde durch den Park reiten oder in der königlichen Barke den Fluss hinuntergleiten sah. Ja, es war in der Tat ein Privileg, zumindest für einen Teil des Jahres in so unmittelbarer Umgebung der von allen geliebten und verehrten Monarchin zu wohnen.
Merryl war das Drachenspiel schon bald leid und seufzte tief. »Wie lange dauert es denn noch, Lucy? Mir ist so kalt.«
»Sie muss jetzt jeden Augenblick kommen«, sagte ich. Und, die Finger hinter meinem Rücken überkreuzend, um vom Teufel nicht beim Lügen erwischt zu werden, fügte ich noch hinzu: »Ich glaube gar, ich höre schon das Rumpeln der Wagenräder … «
Ich zog Merryl den Schal fester um Kopf und Schultern und schlug den beiden Kindern vor, wie die Soldaten der Königin auf und ab zu marschieren, um sich warm zu halten. Beide seufzten erneut, setzten sich jedoch brav in Bewegung, stampften heftig mit den Füßen auf und zertraten den zu eisigen Häufchen und Spitzen gefrorenen Matsch in klumpige Brösel.
»Wie kann sie nur so lange brauchen, wenn sie doch mindestens vierzig Kammerzofen hat, die ihr mit dem Packen helfen?«, fragte Merryl, während sie umherstapfte.
»Ungefähr eine Zofe für jedes Kleidungsstück!«, führte Beth aus. »Und hast du daran gedacht, dass wir sie womöglich gar nicht erkennen werden, wenn sie an uns vorbeifährt, weil sie über und über in Pelze gehüllt sein wird?«
»Das wird sie bestimmt nicht«, beruhigte ich sie. »Ihre Gnaden genießt es, gesehen und bejubelt zu werden. Und selbst wenn sie ganz in ihren Hermelin- und Bärenfellmänteln verschwinden sollte, so bleiben immer noch genügend vornehme Damen und Edelmänner vom Hof, die wir uns ansehen können.«
Während ich das sagte, hielt ich erneut Ausschau, ob nicht irgendein Anzeichen eines Reiterzugs auszumachen war. Ich hatte die edlen Herrschaften vom Hofe erwähnt, doch eigentlich hatte ich nur eine einzige Person im Sinn: Tomas, den Narren der Königin, der zusammen mit ihren anderen treuen Hofnarren, Clowns und Akrobaten im Gefolge Ihrer Gnaden reisen würde. Tomas war mein besonderer Freund. Nur ein Freund, sagte ich mir streng, und nicht mein Liebster, denn der eine Kuss zwischen uns musste ja nichts bedeuten. Zumindest noch nicht. Allerdings träumte ich sehr wohl davon, dass es dahin kommen würde, denn ich hatte den Eindruck, dass er mich sehr mochte.
»Aber wir haben die ganzen edlen Damen und Herren vom Hof schon so oft gesehen«, wandte Beth quengelnd ein. »Und die Königin kommt uns doch sowieso immer besuchen, und dann haben wir sie ganz für uns.«
»Scht!«, machte ich und sah mich hastig um, ob jemand das gehört hatte, denn manche Leute aus Mortlake hegten ein Misstrauen gegen alle, die im Haus des Magiers der Königin lebten, weil sie uns alle für Geisterbeschwörer und dergleichen hielten und uns der schwarzen Magie verdächtigten. Die Wirklichkeit sah allerdings ganz anders aus. Denn obwohl ich noch nicht allzu lange als Kindermädchen im Haus des Magiers arbeitete, war mir längst aufgefallen, dass es Dr. Dee an jenen dunklen Künsten und Fertigkeiten fehlte, die für einen Mann seiner Profession eigentlich nötig gewesen wären. Er sollte in der Lage sein, mit den Geistern Kontakt aufzunehmen – hatte jedoch, weil ihm dies nicht gelang, mir einmal zwei Goldmünzen dafür bezahlt, dass ich den Geist eines verstorbenen jungen Fräuleins darstellte. Bei einem anderen Anlass hatte er mir gezeigt, wie ich durch geschickte Täuschung einen Gegenstand aus billigem Metall mit einem aus Gold vertauschen sollte, damit es so aussähe, als habe mein Dienstherr den »Stein der Weisen« entdeckt, mit dem man Metall in Gold verwandeln konnte. Zweifellos war er höchst bewandert in Sprachen, Kartografie und Astrologie, doch seit ich in seinem Haus lebte, hatte ich noch nicht den geringsten Beweis für irgendwelche magischen Fähigkeiten gesehen.
Merryl blickte stirnrunzelnd ihre Schwester an. Sie war zwei Jahre jünger als Beth, redete aber so nüchtern und vernünftig daher wie eine würdevolle alte Dame. »Ihre Gnaden kommen uns nicht immer besuchen«, verbesserte sie ihre Schwester. »Letztes Jahr kam sie genau zwei Mal. Ein Mal, um nach einem Eelixier zu fragen, und das andere Mal, um Papa zu der verhexten Puppe um Rat zu fra … «
»Scht!«, sagte ich erneut. »Ihr wisst, dass euer Vater es nicht mag, wenn ihr in der Öffentlichkeit über seine Arbeit sprecht.«
Beth seufzte tief und spähte erneut die Straße hinunter. »Vielleicht hat sie ja ihren Umzugstag noch einmal verschoben.«
»Das sind die ganzen Juwelen. Es dauert einfach so lange, bis die alle eingepackt sind!«, merkte ein nicht weit von uns stehender Bauer an und lachte glucksend. »Ich habe gehört, sie hat so viel Gold und Edelsteine als Neujahrsgeschenke bekommen, dass sie ihren eigenen Laden aufmachen könnte.«
Ich nickte lächelnd als Antwort darauf, wusste ich doch, wie recht er hatte. Ich war nämlich unter den Glücklichen gewesen, die am Neujahrstag im Palast sein durften und den Berg von kostbaren Geschenken mit eigenen Augen gesehen hatten.
Ich spähte die Straße hinunter und betrachtete das bunte Völkchen, das sich versammelt hatte, um Ihre Gnaden zu sehen. Hauptsächlich waren es Arbeiter: Gärtner aus den Spargelfeldern von Mortlake, zwei oder drei kräftige Schmiede, Brauer, allerlei Flussschiffer, Hausfrauen auf dem Weg zum Markt, zwei stinkende Kehrichtlader (von denen die anderen ein Stück weit abgerückt waren) und dazu allerlei Lehrburschen, Dienstmägde, Köchinnen und Haushälterinnen aus den herrschaftlichen Häusern. Vor ein paar Tagen hatten wir uns alle schon einmal am Straßenrand versammelt: Zwei Tage nach Drei-König hätte der Hof eigentlich umziehen sollen, doch dann hatte sich die Nachricht verbreitet, die Pläne seien geändert worden und die Reise finde erst heute statt. Mistress Midge, die bei den Dees Köchin war und den Haushalt führte, hatte darauf verzichtet, heute noch einmal mitzukommen. Sie sei beim letzten Mal Warten schon bis auf die Knochen durchgefroren gewesen, und das müsse reichen, hatte sie gemeint.
»Ich hoffe, Ihre Gnaden ist nicht etwa kränkelnd – wer weiß, weshalb der Umzug beim ersten Mal verschoben wurde?«, sagte ich zu dem Bauern.
»Das sind bestimmt nur die Launen einer Majestät«, mutmaßte der Bauer und verzog das braun gegerbte Gesicht zu einem gutmütigen Lächeln. »Ihre Gnaden blickt aus dem Fenster und findet plötzlich, dass es heute ein bisschen zu kühl ist für einen Umzug, und schon wird alles um einen Tag verschoben.«
Ich lachte. »Der arme Haushofmeister wird sich vor Verzweiflung die Haare raufen.«
»Warum denn?«, fragte Beth.
»Warum? Weil er schon lange vorher jeden Halt der Königin vorbereitet hat – wo sie etwa eine Stärkung zu sich nehmen wird – und weil er den Städten entlang der Route Bescheid gegeben hat, die Straßen zu säubern und die Kinder zu Engelschören zusammenzurufen, die ihr vom Straßenrand aus Lieder singen. Und nun muss er erneut Boten aussenden und allen ausrichten lassen, dass sie ihre Vorkehrungen in letzter Minute wieder ändern müssen.«
»Wohl wahr«, sagte der Bauer. »Das Geld, das die Adligen ausgeben, um sie auf ihren Reisen zu unterhalten! Ich hörte, dass eine Übernachtung Ihrer Gnaden im Haus des Lord Taverner vergangenes Jahr ihn ein ganzes Jahreseinkommen gekostet hat.«
»Und ich habe gehört, dass ein stattliches Haus gebaut wurde extra für einen königlichen Besuch, der dann gar nie stattfand! Aber heute will Ihre Gnaden doch wohl bis zum Anbruch des Abends London erreicht haben, oder nicht?«
Der Bauer nickte und rieb sich fröstelnd die schwieligen Hände. »Wenn sie allerdings noch lange auf sich warten lässt, dann wird es Mitternacht werden, bis sie da ankommt.«
»Wart Ihr schon einmal dort – in London?«, fragte ich ihn neugierig.
»Ich? In London?«, fragte er und spuckte auf den Boden. »Allerdings nicht, und das sage ich voller Stolz.«
»Ach ja?«
»Und ob. Es heißt, es sei ein verkommener Ort. Wo sich die Leute für einen Penny die Gurgel durchschneiden und wo es einem leicht passieren kann, dass man auf der Straße um sein täglich Brot betteln muss.«
»Ich habe genau das Gegenteil gehört!«, erwiderte ich lachend. »Dass London wie ein bunter Jahrmarkt voll herrlicher Dinge sei. Schänken, in denen die ganze Nacht der Wein fließt, üppige Mahlzeiten, allerlei Feste und buntes Treiben, Theater und Tanz.«
»Das mag wohl sein. Wenn man das Geld für solche Sachen hat und das passende Gesicht dazu«, sagte der Bauer. »Aber was sollten wohl Leute wie ich in London anfangen?«
»Ich glaube, ich höre etwas!«, rief Beth auf einmal. Sie rannte zur nächsten Straßenbiegung, und ihre Schwester hinter ihr drein.
»Ich sehe Pferde!« Merryl sprang aufgeregt auf der Stelle.
»Und man hört was! Jubelrufe und Applaus!«, rief mir Beth zu.
»Na endlich!«, ertönten Rufe aus der Menge. »Die Königin kommt!«
»Gelobt sei der Herr«, sagte der Bauer. »Meine Zehen sind nämlich schon blau gefroren.«
Über eine Stunde später zog die Prozession noch immer an uns vorbei. Wir hatten Dutzende von Pferden, Scharen von Sänften und ich weiß nicht wie viele beladene Karren gesehen – Merryl hatte bis über Hundert mitgezählt, dann aber irgendwann den Faden verloren. Natürlich war es nur recht und billig, dass so viele und so unterschiedliche Gefährte unterwegs waren, denn sie trugen ja den ganzen Hausrat der Königin, damit sie, wo immer sie sich aufhielt, von dem Glanz und Prunk umgeben war, der der größten Monarchin und Herrscherin über die mächtigste Nation der Welt gebührte.
Die einfachen Bediensteten des königlichen Hofs waren zu Fuß an uns vorbeigezogen, und auch die höchststehenden Diener und Dienerinnen der Königin hatten wir bewundert: die Hofdamen und königlichen Kammerzofen, gefolgt von den edlen Herren des Hofes – allesamt Adlige mit klangvollen Titeln und funkelnden Insignien auf der Brust. Auf kostbaren Pferden und mit klirrenden Sporen ritten sie an uns vorbei, und auf ihren Hüten wogten große Federn. Doch noch immer war von Ihrer königlichen Majestät nichts zu sehen.
Ich verrenkte mir den Kopf, um die Straße hinauf zu spähen, doch meine Augen suchten vergeblich nach ihrem weißen Zelter mit dem juwelenbesetzten Sattel- und Zaumzeug. Sie musste doch irgendwo sein, denn es war undenkbar, dass der Hof ohne sie umziehen würde! Ob sie sich womöglich verkleidet hatte?, überlegte ich. War sie vielleicht im Aufzug eines einfachen Burschen an uns vorbeigewandert – ein kleines Maskeradenspiel zum Ausklang der fröhlichen Festtage? Ich wusste, dass Maskeraden bei Hofe höchst beliebt waren – und bei Tomas ganz besonders: Mehr als einmal hatte er mich mit einer seiner Verkleidungen zum Narren gehalten. Doch auf einer Reise nach London würde sich Ihre Gnaden bestimmt nicht verstecken. Schließlich wusste sie, dass ihre Untertanen die Straßen säumen würden, und obendrein liebte sie es, gesehen zu werden, den Applaus und die Jubelrufe entgegenzunehmen und mit Gesten des Grußes zu erwidern.
Rund ein Dutzend Karren der Hofküche rumpelten an uns vorüber, ein Sammelsurium aus Bratspießen, Küchengeschirr, Töpfen und Pfannen, Humpen und vergoldetem Tafelgeschirr. Danach gab es eine längere Lücke in dem Umzug, bis schließlich Rufe sich erhoben: »Die Narren kommen!« Aufgeregt zupfte ich meine Locken unter der Haube zurecht und hoffte, dass meine Nase nicht allzu rot war von der Kälte oder meine Wangen nicht ganz faltig und erfroren. Denn gleich würde ich Tomas wiedersehen.
»Da kommt Narren-Tom!«, rief Merryl aufgeregt (denn dies war der Name, den er als Hofnarr der Königin trug).
Der verzierte Wagen mit den Hofnarren kam langsam auf uns zugerollt. Darauf saßen die »Greens«, eine fünfköpfige Narren-Familie, in der jeder eine eigene, besondere Fertigkeit beherrschte. Sie lächelten freundlich und nahmen die Rufe der Menge dankend entgegen, ließen sich allerdings nicht erweichen, irgendwelche Kunststücke oder Possen aufzuführen. Ebenfalls auf dem Wagen waren zwei Äffchen und Thomasina, die Zwergin der Königin, die von allen sehr geliebt wurde und besonders viel Beifall bekam. »Gegrüßt sei die kleine Lady!«, tönte es aus der Menge. Von Tomas war jedoch nichts zu sehen.
»Wo ist denn Narren-Tom?«, rief Merryl enttäuscht aus. Sie und Beth mochten ihn sehr und waren ihm schon mehrfach im Haus ihres Vaters begegnet, wenn die Königin dort zu Besuch kam.
Ich schaute dem Wagen hinterher. »Ich weiß auch nicht«, sagte ich verwirrt. Vielleicht war er ja in einer seiner Verkleidungen an uns vorbeigezogen … Aber hätte er mir nicht wenigstens ein kleines Zeichen gegeben? War er womöglich krank geworden? Allerdings hatte ich ihn noch vor ein paar Tagen gesehen, als er mir zum Abschied einen Kuss gegeben und mir versprochen hatte, dass wir uns bald in London wiedersehen würden. Denn zu meiner großen Freude sollte Dr. Dee mit seinem gesamten Haushalt dem Hof nach London folgen und ein Quartier in der Nähe des Palasts von Whitehall beziehen.
Noch einmal gab es eine Lücke, und dann zog eine große und prächtige Sänfte vorbei, getragen von vier Leibgarden der Königin. Die Sänfte, die die königlichen Insignien und das Wappen trug, war mit purpurroten Samtvorhängen dicht verschlossen.
Die Menge verstummte schlagartig, und der Bauer und ich tauschten einen verwunderten Blick.
»Ein dreifaches Hoch auf Ihre Majestät!«, rief der Bauer schließlich, und die Leute stimmten rufend und klatschend ein.
Als die Jubelrufe verklangen, richteten sich aller Augen gebannt auf die Vorhänge der Sänfte. Jeder erwartete, dass sie sich öffnen und eine königliche Hand erscheinen und uns zuwinken würde. Doch nichts dergleichen geschah, und die Sänfte zog still von dannen, während die Menge ihr verwundert nachsah.
Warum hatte Ihre Gnaden die Jubelrufe nicht mit einer Geste entgegengenommen, wenn sie sich doch ihrem Volk so gern zeigte? Saß sie wirklich da drin, oder trugen die Leibgarden eine leere Sänfte? Hatte die Königin womöglich – Gott bewahre! – wieder einmal die Pocken und wollte sich wegen ihres entstellten Gesichts nicht zeigen? Solche und andere Fragen machten murmelnd die Runde und wurden heftig debattiert.
»Da kommt Narren-Tom auf einem Pferd!«, rief Beth plötzlich und deutete mit dem Finger in die Ferne. »Ich glaube zumindest … «, fügte sie etwas verunsichert hinzu.
Ich schaute angestrengt in die gewiesene Richtung. In den Monaten, seit ich im Haushalt der Dees als Kindermädchen angestellt war, hatte ich Tomas in den verschiedensten Verkleidungen erlebt, mal als grinsende Katze, mal als Harlekin, dann wieder als Jack Frost. Diese Maskeraden waren nicht nur Teil seiner Rolle als Hofnarr im königlichen Haushalt, sondern stellten auch sicher, dass sein Gesicht unerkannt blieb, wenn er seiner anderen Aufgabe nachging: nämlich für Sir Francis Walsingham zu arbeiten, den adligen Herrn, der das Spionagenetzwerk der Königin befehligte. In dieser Rolle hatte ich Tomas vor allem kennengelernt. Denn was außer meiner Freundin Isabelle niemand wusste: Tomas hatte mich gebeten, hin und wieder ein wenig für ihn zu spionieren. Kleine Tätigkeiten, die ein Mädchen meines Standes ganz unauffällig und wie selbstverständlich verrichten konnte – an Türen lauschen, einer bestimmten Person folgen, diskrete Erkundigungen über dieses oder jenes einholen. Ich genoss diese kleinen Aufträge aufs Höchste, denn sie geschahen im Dienste meiner Königin. Als ich jetzt daran dachte, fasste ich unwillkürlich nach der kleinen Münze, die ich als Anhänger um den Hals trug. Sie zeigte das Abbild der Königin, und obwohl es nur ein billiges, bescheidenes Ding war (mit dem mich Tomas oft aufzog), war es für mich Ausdruck meiner grenzenlosen Treue und Ergebenheit gegenüber der Königin, und als solches trug ich es seit frühen Kindertagen.
Ich reckte den Kopf, um zu sehen, ob es wirklich Tomas war, der da auf uns zugetrabt kam. Der Reiter hatte einen schönen Falken angekettet auf dem Handgelenk sitzen und trug ein Jagdwams aus abgetragenem braunem Leder und mit einer Kapuze, die er sich tief ins Gesicht gezogen hatte – vermutlich als Schutz gegen den spitzen Schnabel des Vogels, aber wohl auch, um sein Gesicht ein wenig vor den Zuschauern zu verbergen.
Der Blick des jungen Mannes fiel auf mich, und ich lächelte ihn an. Es war tatsächlich Tomas: Auch wenn sein Gesicht halb verdeckt war, erkannte ich das untrügliche Funkeln seiner silbergrauen Augen. Ich winkte.
»Tomas«, riefen die Mädchen. Und dann: »Narren-Tom!«
Hinterher fragte ich mich, ob er auf jeden Fall angehalten hätte. Doch wie der Zufall es wollte, geriet genau in diesem Augenblick einer der Küchenwagen mit einem Rad in eine tiefe Rinne, und das Rad löste sich. Der Wagen sackte auf der Seite herab, schleifte am Boden und brachte den gesamten nachfolgenden Zug zum Stehen. Tomas sah darin wohl eine günstige Gelegenheit, seinen Falken fliegen zu lassen. Er löste das Tier von der Kette und warf es hoch in die Luft, wo es einen Moment lang zu hängen schien und sich dann mühelos über uns erhob und seine Kreise zog.
»Steig doch ab und komm her zu uns, Narren-Tom!«, bettelte Merryl. »Wir warten schon so furchtbar lange.«
Tomas begrüßte die Mädchen mit einem Lächeln – und mich auch, bildete ich mir ein. Ich erwiderte seinen Blick und stellte jetzt erst fest, dass am Zügel seines Pferdes eine lange Schnur befestigt war, die zu den Zügeln eines weißen Ponys führte, das hinter ihm hertrabte. Darauf saß ein Mädchen mit glänzendem kastanienbraunem Haar, das wie ein Umhang über ihrem Mantel aus Tudor-grüner Wolle lag. Auf dem Kopf trug es eine Mütze mit rosaroten Federn, und unter dem Mantel sah ich rosarote Samtstiefelchen hervorschauen.
Man hört ja manchmal von »Liebe auf den ersten Blick«, und ich glaube auch, dass so etwas möglich ist. Aber dann muss auch das genaue Gegenteil möglich sein: dass man nämlich jemanden auf den ersten Blick nicht leiden mag. War es nur ihre Aufmachung?, fragte ich mich hinterher. Vielleicht hätte ich sie ja gemocht, wenn sie ein eher hässliches Mädchen gewesen wäre, ein pummeliges Geschöpf mit pausbäckigem Gesicht und sprödem, zerzaustem Haar. Doch sie war äußerst hübsch, und die Leine, die ihr Pony mit Tomas verband, gefiel mir überhaupt nicht.
»Wir haben hier ein neues Edelfräulein der Königin, und eine etwas nervöse Reiterin«, erklärte Tomas, als er meinen Blick bemerkte. Er lächelte dem jungen Fräulein zu. »Wir bleiben hier einen Augenblick stehen.«
»Ist mir nur recht«, sagte die junge Dame. »Mir ist es eine Erleichterung, wenn das Pony sich endlich einmal nicht bewegt unter mir.« Dazu lachte sie und warf ihr Haar nach hinten. »Ich bin es eigentlich gewohnt, in einer Kutsche zu fahren, würde aber lieber noch zu Fuß nach Whitehall gehen, als auf diesem Tier hier zu reiten!«
Ich rang mir trotz meiner klammen Gesichtszüge ein Lächeln ab, was allerdings vergeudete Mühe war, da die junge Dame mich – ein schlichtes Kindermädchen – sowieso nicht zur Kenntnis nahm. Oh nein, ihre Gesten und Blicke galten allesamt Tomas. In meinem Kopf schwirrten auf einmal hundert Fragen herum: War sie bei Hofe, um dort einen reichen Gatten zu finden? Woher stammte sie? Wer war ihr Gönner? Würde sie – ach, die Glückliche! – womöglich eine der Hofdamen und engsten Vertrauten der Königin werden? Würde sie sich am Hof einleben oder nicht? Vielleicht würde sie ja Heimweh nach ihrer Mutter bekommen und wieder abreisen wollen.
»Narren-Tom«, rief Merryl. »Führst du uns ein paar Zaubertricks vor?«
Tomas schüttelte den Kopf. »Heute, Kinder, bin ich nicht Narren-Tom.« Er winkte sie näher heran und fügte flüsternd hinzu: »Heute bin ich einer der königlichen Falkner.«
»Rufst du dann deinen Vogel zu uns herunter?«, fragte Beth.
Er nickte. »Gleich.« Er blickte zu mir her. »Und, wie geht es Mistress Lucy?«
Ich schenkte ihm mein sorglosestes Lächeln. »Sehr gut, vielen Dank. Allerdings sind wir alle bis auf die Knochen durchgefroren von dem langen Warten.« Ich senkte die Stimme ein wenig. »Aber sag, weshalb versteckt sich Ihre Gnaden denn in ihrer Sänfte und zeigt sich dem Volk nicht ein einziges Mal? Wir sind alle sehr besorgt.«
Er zuckte beiläufig mit den Schultern. »Ach, das ist nichts. Sie hat sich ein wenig erkältet und zieht es vor, sich nicht der frostigen Luft auszusetzen.«
Ich schaute ihn prüfend an. Ich besitze eine Fähigkeit, die mir schon manches Mal gute Dienste erwiesen hat: Manchmal habe ich Ahnungen zu bestimmten Dingen. Meine Freundin Isabelle behauptet, ich hätte das zweite Gesicht, aber ich nenne es lieber nicht so, da man Ähnliches auch von Hexen sagt. Dennoch wusste ich, aus irgendwelchen mir selbst unerfindlichen Gründen, dass Tomas nicht die Wahrheit sagte. »Ach, tatsächlich?«, entgegnete ich daher ein wenig kühl. Schließlich hatte ich in der Vergangenheit bereits meine Loyalität und Liebe zur Königin unter Beweis gestellt, und da fand ich es dann doch unter meiner Würde, dass man mir irgendwelche durchsichtigen Ausreden auftischte.
»Ah.« Er merkte, dass ich ihm nicht glaubte. Unauffällig schaute er nach rechts und links, um sicher zu sein, dass uns niemand belauschte. »Nun gut – aber ich muss mich kurz fassen«, sagte er mit gedämpfter Stimme. »Du erinnerst dich doch noch an das sogenannte Geheimnis, von dem allerdings der ganze Hof redet?«
»Welches denn?«, fragte ich, denn der Hof ist eine einzige Gerüchteküche, wo ständig irgendwelche »Geheimnisse« und Spekulationen die Runde machen und Klatsch und Tratsch blühen.
»Das über den Günstling der Königin.«
Ich wusste sofort, wen er meinte. Isabelle und ich hatten nicht schlecht gestaunt, als wir erfuhren, dass Sir Robert Dudley, der Oberhofstallmeister und, wie allgemein angenommen wurde, langjährige Geliebte der Königin, jüngst ohne ihr Wissen und ihre Zustimmung geheiratet hatte. »Sie hat von der Heirat erfahren?«, fragte ich. Das Letzte, was ich dazu gehört hatte, war, dass keine ihrer Hofdamen es wagte, Ihrer Majestät davon zu berichten. »Wie kam es denn dazu?«
»Vor ein paar Tagen – das war der Tag, an dem wir eigentlich nach London aufbrechen sollten – hat es ihr ein ausländischer Gesandter aus schierer Bosheit erzählt, nachdem sie seinen eigenen Antrag abgelehnt hatte.«
»Nein!«, rief ich aus. Ich bemerkte, wie das weiße Pony hinter Tomas’ Rücken unruhig wurde und das junge Fräulein, das auf ihm saß, ängstliche Laute ausstieß. »Und Ihre Gnaden hat es sehr schlecht aufgenommen?«
Er nickte. »Allerdings. Sie hat so viel geweint, dass sie meinte, so könne sie sich ihrem Volk nicht zeigen. Daher reist sie hinter geschlossenen Vorhängen.«
Mir traten die Tränen in die Augen. »Die arme Lady! Sie muss Sir Robert wirklich geliebt haben.«
»In der Tat. Sie sagt, ihr Herz sei gebrochen.«
»Ja, aber … « Ich brauchte meine Frage gar nicht zu vollenden, so oft wurde sie in der Öffentlichkeit ausgesprochen: Warum hat sie ihn dann nicht geheiratet?
»Weil er bei ihren langjährigen Ministern nicht besonders beliebt ist«, antwortete Tomas schulterzuckend. »Da ist die Geschichte von dem undurchsichtigen Tod seiner ersten Frau …, und dann wünschen sich ihre Minister nun einmal, dass sie einen reichen ausländischen Prinzen heiratet, um ihren Status und ihren Staatsschatz zu mehren, anstatt sich mit jemandem von vergleichsweise niedriger Geburt wie ihm zu vermählen.«
Wir schwiegen beide eine Weile. Dann ertönte vom Kutscher des reparierten Küchenkarrens der Ruf »Es geht weiter!«.
Die junge Dame auf dem weißen Pony meldete sich zu Wort. »Tomas! Mit Verlaub, wir sollten unseren Weg fortsetzen. Mein Pony wird schon ungeduldig.«
Ich spähte zu ihr hinauf. Fragte sie sich überhaupt eine Sekunde lang, mit wem Tomas gerade sprach, oder hatte sie mich mit einem Blick als jemanden von niederem Stand abgetan, eine einfache Magd, der Tomas mit seinem Falken eine kleine Freude machen wollte?
»Sogleich!« Tomas schwang sich wieder auf sein eigenes Pferd, zog an der Leine, um das Pony etwas näher heranzuholen, und gab ihm einen kleinen Nasenstüber. »Sei schön brav, mein Junge, sonst wirfst du noch unsere junge Dame hier aus dem Sattel.«
Beth kam heran und tippte ihm auf den Stiefel. »Vergiss nicht deinen Falken!«
Tomas blickte zum Himmel empor und stieß einen langen Pfiff aus, der den über uns kreisenden Vogel zurückrief. Dann zog Tomas etwas aus seinem ledernen Wams, ein kleines totes Tier oder so, warf es in die Luft, und der Vogel stieß herab und verschlang es auf ein Mal. Dann kehrte er wieder auf seinen Platz auf Tomas’ Handschuh zurück, während Merryl und Beth und die anderen Umstehenden Beifall klatschten.
Ich lächelte angetan über die Darbietung, konnte jedoch die ganze Zeit nur an die Königin und ihren Liebeskummer denken und daran, wie leid sie mir tat.
Tomas gab mir zum Abschied die Hand. »Wir sehen uns in London«, sagte er förmlich. Ich knickste zum Abschied vor ihm und dem jungen Fräulein, breitete dabei die Falten meines Rocks auseinander und verbeugte mich tief, denn sie war immerhin eine Adlige.
Allerdings würdigte sie meinen Knicks mit keiner Geste, da sie soeben mit Tomas scherzte, und als ich mich wieder aufrichtete, hatten sich ihre beiden Pferde wieder in den langen Zug eingereiht, der sich gen London schlängelte. Über den Lärm der Menge hinweg konnte ich noch eine Weile das Klippklapp ihrer Pferdehufen hören und ihr helles, perlendes Lachen in der eisigen Luft.
Auf dem Heimweg konnte ich an nichts anderes denken als an Tomas, auch wenn ich mich noch so sehr dafür tadelte. Erneut sagte ich mir, dass es noch lange nichts zu bedeuten habe, wenn er mir ein wenig Aufmerksamkeit schenkte. Bei Hofe war es üblich, dass die Leute sich küssten, miteinander flirteten, sich überschwängliche Komplimente machten und einander sogar Sonette schrieben – und all das einfach nur zum Zeitvertreib.
In Hazelgrove dagegen, dem kleinen Dorf, in dem ich aufgewachsen war, hatten andere Sitten geherrscht. Dort war die Auswahl an netten jungen Männern recht bescheiden, und normalerweise heiratete ein Mädchen irgendeinen Jungen, den es schon von Kindesbeinen an kannte. Das Leben plätscherte dort gleichförmig dahin. Meine Schwestern waren alle erwachsen und längst aus dem Haus, und ich hatte tagaus, tagein mit meiner Ma Handschuhe für die Landadligen genäht. Nie war mir auch nur irgendetwas Aufregendes widerfahren. Bis ich weggelaufen war.
Ja, ich war tatsächlich weggelaufen, überlegte ich wieder einmal voller Staunen darüber, dass ich mich so etwas getraut hatte. Allerdings war mir auch nicht viel anderes übrig geblieben, denn mein Vater ist, das muss ich leider so sagen, ein Säufer und ein grober, gemeiner Mensch, und so war mir nur die Wahl geblieben, mich weiterhin von ihm schikanieren zu lassen oder von zu Hause fortzugehen. Ich hatte das Letztere gewählt, und abgesehen davon, dass ich meine Ma vermisste, hatte ich die Entscheidung noch keinen Augenblick bereut.
Als wir uns dem Haus des Magiers näherten, blies auf einmal der Wind mit einer solchen Eiseskälte von der Themse herüber, dass es uns fast den Atem nahm.
»Ob es wohl noch schneit heute?«, fragte Beth, während wir unsere Schultertücher fester um uns zogen.
Ich blickte zum Himmel hinauf. Er wurde allmählich düsterer, war jedoch nicht von der bleiernen Farbe, die gewöhnlich einen Schneefall ankündigt. »Ich glaube nicht.«
»Wenn doch, dürfen wir uns dann ein Eishaus aus Schneequadern bauen?«, fragte Merryl. »Dann können wir Schneebälle machen und sie bis nächsten Juli aufheben.«
»Wenn du magst«, sagte ich und musste schmunzeln, denn mit all den extra Kleiderschichten, die sie gegen die Kälte trug, war sie selbst fast so rund wie ein Schneeball.
Wir bogen auf den Weg ein, der am Fluss entlangführte, und erreichten den Hintereingang zum Haus von Dr. Dee. Nur seine Kunden betraten nämlich das Haus durch die Vordertür.
»Sah das Fräulein nicht hübsch aus?«, fragte Beth.
»Oh, ganz hübsch«, rief Merryl sofort aus. Sie blickte zu mir hoch. »Findest du auch, dass sie hübsch war, Lucy?«
»Wen meint ihr denn?«, fragte ich.
»Das neue Edelfräulein!«, riefen sie beide im Chor.
»Sie ist mir gar nicht aufgefallen.«
»Ihre rosaroten Stiefel und die Mütze waren hübsch«, sagte Merryl.
»Das heißt nicht ›rosarot‹, sondern ›cerise‹«, verbesserte Beth sie. »Das ist bestimmt die neueste Farbe aus Paris.«
»Aber aus Samt!«, merkte ich verächtlich an. »Das ist ja wohl kaum praktisch bei diesem Wetter. Ein Schlammspritzer, und die hübschen Stiefel sind ruiniert.«
Die beiden Mädchen blickten mich neugierig an. »Ich dachte, sie wäre dir gar nicht aufgefallen?«, stellte Merryl fest.
»Eine echte Dame brauchen Dreckspritzer auf den Schuhen nicht zu kümmern«, sagte Beth. »Denn die hat ja eine Zofe, die ihr die Schuhe wieder saubermacht. Und wahrscheinlich wird sie sowieso von dem Pony gehoben und in den Palast getragen, damit sie sich nicht die Füße schmutzig machen muss.«
»Genau«, stimmte Merryl zu und nickte feierlich. »Bestimmt wird Tomas sie hineintragen.«
Erneut schauten beide zu mir hoch, und ich zwang mich zu einem Lächeln und der Bemerkung, dass das sicherlich so sein würde, und, ja, jetzt, wo ich darüber nachdächte, fände ich, das neue Edelfräulein sei ganz annehmbar hübsch gewesen.
Als wir durch die Hintertür die Küche betraten, saß Mistress Midge mit hochgelegten Füßen vor dem Feuer. Mistress Midge ist eine große, wohlbeleibte und ziemlich schlampige Frau. Die Strümpfe rutschen ihr ständig bis auf die Knöchel herunter und ihr Kleid und ihre Schürze sind so voller Flecken, dass man daran gut und gerne unseren Speiseplan der vergangenen Woche ablesen könnte. Sie so ruhig vor dem Feuer sitzend anzutreffen, war höchst ungewöhnlich, denn sie hat eine geschäftige Art und dazu noch ein aufbrausendes Temperament, weshalb man sie eigentlich nur selten in guter Laune vorfindet.
Das Äffchen der Kinder – es hieß Narren-Tom, benannt nach Tomas, dem Hofnarren – war in seinem Käfig, der dicht beim Kamin stand, und streckte die kleinen Pfoten dem Feuer entgegen. Es tat mir richtig leid: Zwar wusste ich nicht so genau, wo Affen eigentlich herkamen, doch vermutete ich, dass es eines jener Länder sein musste, in denen Palmen wuchsen und die Sonne immer heiß vom Himmel brannte, so dass das arme Tierchen hier bestimmt fürchterlich unter der Kälte litt.
Als ich in Mortlake zu arbeiten angefangen hatte, war gerade eben Beth und Merryls kleiner Bruder auf die Welt gekommen, und im Haus herrschte ein ziemliches Chaos. Das vorige Kindermädchen war mit dem Hausdiener durchgebrannt, und diverse andere Bedienstete hatten ebenfalls das Haus verlassen. Zuerst dachte ich, sie hätten sich davongemacht, weil sie nicht bezahlt wurden – und tatsächlich mag das auch ein Grund gewesen sein –, doch Mistress Midge behauptete, ihre blühende Fantasie sei mit ihnen durchgegangen, nur weil sie im Haus eines Zauberers arbeiteten. Anders ausgedrückt: Sie hatten in eine dunkle Ecke gespäht und prompt ein Gespenst gesehen, wo andere nur Spinnweben und staubiges Halbdunkel wahrnahmen. Zu der Zeit war Mistress Midge Köchin, Haushälterin, Dienstmädchen und Kindsmagd in einem gewesen. Ihre einzige Unterstützung war damals Mistress Allen, die der Hausherrin, Mistress Dee, Gesellschaft leistete, allerdings die oberen Räume kaum je verließ. So war ich genau zur richtigen Zeit aufgetaucht.
Während ich den Mädchen beim Ausziehen ihrer Überkleider half, wandte sich Mistress Midge – mit gerötetem Gesicht und einer Frisur wie ein Vogelnest – zu mir um. »Der Doktor und Mr Kelly sind in der Bibliothek und wünschen, nicht gestört zu werden. Und Madam ist ausgegangen, um das Baby zu sehen«, berichtete sie. Letzteres hieß, dass Mistress Dee nach Barnes gegangen war, um ihren Jüngsten zu besuchen, der dort bei einer Amme untergebracht war. »Glaub ja nicht, dass ich hier bloß vorm Feuer sitze und nichts tue«, fuhr sie in selbstgerechtem Ton fort. »Ich arbeite sehr wohl. Ich überlege mir nämlich, was wir alles nach London mitnehmen müssen.«
»Habt Ihr schon gehört, wann es losgeht?«, fragte ich gespannt, denn jetzt, wo ich wusste, dass Tomas dort war, konnte es für mich gar nicht schnell genug gehen.
Sie schüttelte den Kopf. »Wir fahren, wenn Dr. Dee es sagt. Und wenn er für uns einen Platz auf einem Boot gemietet hat.«
»Ich werde gleich eine Liste anfangen, auf einer der Schiefertafeln der Mädchen«, sagte ich (denn Mistress Midge konnte weder lesen noch schreiben). »Dann können wir sicher sein, dass wir nichts vergessen.« Ich nahm den Mädchen Schal und Mantel ab, Hut, Kapuze und die Überschuhe, so dass am Ende gerade einmal noch die Hälfte von ihnen übrig zu bleiben schien.
»Ihr beide geht doch nicht ohne uns nach London, Lucy, oder?«, fragte Beth in bittendem Ton. »Wie sollen wir denn ohne dich zurechtkommen?«
»Mistress Allen kann sich um euch kümmern«, sagte Mistress Midge und fügte an mich gewandt noch etwas leiser hinzu: »Dann lernt die faule Hyäne endlich auch einmal, was Arbeit heißt.«
»Aber warum müsst ihr denn weg?«
»Ihr wisst doch, wieso«, gab Mistress Midge Beth zur Antwort. »Euer Vater bezieht in London Quartier, um näher bei der Königin in Whitehall zu sein, und Lucy und ich gehen voraus, um die Unterkunft für eure Ankunft vorzubereiten.«
»Aber warum können wir nicht gleich mitkommen?«
Mistress Midge stieß mit dem Fuß ein glühendes Holzscheit, das herauszurutschen drohte, ins Feuer zurück, worauf das Äffchen vor Schreck über die stiebenden Funken in seinem Käfig einen Satz machte. »Weil die Unterkunft bisher an einen Haufen Taugenichtse vermietet war«, sagte sie. »Und weil es kaum Möbel drin gibt. Die müssen erst hingeschickt oder neu gekauft werden, und alles muss für eure Ankunft ordentlich hergerichtet sein.«
Dieses Verschicken und Kaufen von Möbeln würde eine beträchtliche Summe kosten, sagte ich mir, und Geld war nicht gerade etwas, wovon Dr. Dee allzu viel hatte. Aus diversem Klatsch und Tratsch und belauschten Gesprächen (ich muss gestehen, ich bin von Natur aus ziemlich neugierig) wusste ich inzwischen, dass Dr. Dees Stellung ihm kein regelmäßiges Gehalt vom Hofe einbrachte, und die Summen, die er für das Deuten von Träumen und Erstellen von Horoskopen erhielt, steckte er größtenteils in neue Bücher für seine Bibliothek, die, so hatte ich gehört, angeblich die umfangreichste in ganz England war. Vor ein paar Monaten hatte er mit jener Geisterbeschwörung, bei der ich das verstorbene Mädchen gespielt hatte, eine Summe Goldmünzen verdient, doch allzu lange würde das nicht reichen. Daraus schloss ich, dass er dem Hof in der Hoffnung folgte, dort mehr wohlhabende Kundschaft aufzutun. Außerdem hoffte er wohl darauf, dass die Königin sich ihm gegenüber gönnerhaft zeigen würde, solange er nach dem wundersamen Ding forschte, nach dem alle Alchemisten suchten: dem Stein der Weisen.
»Habt ihr Ihre Majestät gesehen?«, fragte Mistress Midge.
Beth schüttelte den Kopf. »Wir haben die königliche Sänfte gesehen«, berichtete sie, während sie näher ans Feuer trat, um sich die Hände zu wärmen. »Aber die Vorhänge waren vorgezogen, und sie hat nicht ein einziges Mal herausgespäht.«
»Wir haben Narren-Tom gesehen«, erzählte Merryl.
»Er hatte ein sehr hübsches Edelfräulein dabei«, fügte Beth hinzu.
Ich klatschte brüsk in die Hände, um das Thema zu wechseln und weitere Debatten darüber, wie hübsch das Fräulein nun gewesen war, im Keim zu ersticken. »Nun aber, Mädchen, holt eure Hornbücher«, wies ich sie an. »Ihr müsst noch eure Buchstaben üben, damit ihr, wenn der Unterricht wieder beginnt, Mr Sylvester zeigen könnt, wie fleißig ihr wart.«
Gehorsam räumten sie an dem großen Tisch in der Küche einen Platz frei und liefen los, um ihre Hornbücher zu holen – was eine ganze Weile dauerte, denn über die Weihnachtsfeiertage hatten sie sie kein einziges Mal angerührt und wussten nun gar nicht mehr, wo sie sie zuletzt hingelegt hatten.
Ich zog meine Überkleider aus und ließ die Überschuhe und Stiefel an der Hintertür stehen. Dann setzte ich mich zu Mistress Midge ans Feuer. Wie gerne hätte ich ihr erzählt, was ich über die Königin erfahren hatte, aber das durfte ich natürlich nicht. Aaußerdem schmerzten meine Füße so sehr, dass ich hätte weinen können. Ich bewegte die Zehen und verzog vor Schmerz das Gesicht, bis Mistress Midge schließlich einen Blick auf meine Füße warf.
»Meine Güte, deine Zehen sind ja ganz blau!«, rief sie aus. Sie griff zu der Wäscheleine hinauf, die vor dem Kamin hing, und zog ein paar alte Lumpen und Tücher herunter. »Wickel die Tücher um deine Füße«, riet sie mir, und so befestigte ich die alten Lumpen mit einer Schnur um meine Knöchel. Nun sahen meine Füße aus wie Klöße zum Dampfgaren. Die Mädchen lachten schallend, und ich musste ebenfalls lachen. Es war zwar nicht so elegant wie cerisefarbener Samt, aber allemal wärmer.
Wir waren noch keine halbe Stunde im Haus, als das Glöckchen in der Bibliothek bimmelte. Mistress Midge hatte bereits mit den Vorbereitungen fürs Mittagessen angefangen, und so bot ich an zu gehen. Ich wickelte meine Füße aus, zog mir Hausschuhe an und machte mich auf den Weg durch die langen dunklen Flure, um zu sehen, was Dr. Dee wünschte. Während ich so dahinging, fiel mir wieder einmal auf, wie schnell ich mich doch an das Haus und seine Geheimnisse gewöhnt hatte. Am Anfang hatte ich mich in der Gegenwart des Doktors befangen gefühlt, und erst recht in seiner Bibliothek – ja, damals hatte ich noch nicht einmal das Wort »Bibliothek« gekannt. Als ich den Raum das erste Mal betreten hatte, war ich eingeschüchtert von der geballten Gelehrsamkeit, die aus den Büchern sprach, und die Zaubergegenstände hatten mir richtige Furcht eingejagt. Inzwischen ging ich dort genauso unbekümmert ein und aus wie in der Küche. Allerdings klopfte ich natürlich an, bevor ich eintrat, knickste dann und wartete darauf zu hören, was Dr. Dee wünschte.
Dr.
Ich schaute neugierig auf den Spiegel (denn es geschah nicht oft, dass er aus der Truhe zum Vorschein kam, in der er verwahrt wurde) und spitzte die Ohren, um vielleicht etwas von dem aufzuschnappen, was Dr. Dee da murmelte. Doch er redete zu leise, und obendrein schienen die Wörter teilweise in einer anderen Sprache zu sein, die ich nicht verstand.
Mr Kelly, sein langjähriger Partner in den magischen Künsten, stand mit geschlossenen Augen, die Arme zum Tisch hin ausgestreckt, hinter Dr. Dee, als wolle er einer unsichtbaren Kraft erlauben, durch seine Arme auf das ausgebreitete Pergament zu fließen.
Keiner der beiden nahm mich zur Kenntnis, und so wanderte mein Blick zunächst zu dem hohen Buntglasscheibenfenster, das Dr. Dees Wappen zeigte, und dann zu den ausgestopften Vögeln und Tieren, dem Schildpatt und den Muschelschalen, den knorrigen, getrockneten Wurzeln und – vor allem – den Hunderten von Büchern. Wie konnte nur jemand so viele Bücher brauchen?
Plötzlich wandte sich Mr Kelly zu mir um. »Mädchen!«, sagte er (denn er nannte mich nie bei meinem Namen). »Was stehst du da gaffend herum?«
Ich knickste erneut. »Was kann ich Euch bringen, Sir?«, fragte ich.
»Bring mir und Dr. Dee ein Glas süßen Wein. Ach was, bring eine Flasche!«
Von Dr. Dee kam ein brummiger Laut – zweifellos sein Protest angesichts dieses kostspieligen Genusses.
»Was denn?«, erwiderte Mr Kelly. »Wir müssen uns stärken für unsere Anstrengungen.«
Ich wandte mich zum Gehen, doch als ich gerade an der Tür war, ertönte auf einmal laut Dr. Dees Stimme. »Geister!«, rief er. »Durch diesen dunklen Spiegel richtet euer Licht auf unsere Arbeit und schenkt uns das Wissen, vollständig zu verstehen, was ihr uns bereits habt zuteil werden lassen!«
»So sei der Wille Ariels!«, fügte Mr Kelly hinzu.
Ich trödelte einen Augenblick an der Tür, weil ich nur zu gerne sehen wollte, ob sich womöglich irgendein Zauber einstellte, doch Mr Kelly bemerkte es und bedeutete mir mit einer ärgerlichen Geste, zu verschwinden.
Allerdings war ich mir ziemlich sicher, dass ich ja doch keinen Spuk zu Gesicht bekommen hätte, und mit diesem Gedanken machte ich mich auf den Rückweg zur Küche, um den Wein zu holen.
In dieser Nacht hatte ich einen ziemlich lebensecht wirkenden Traum über Tomas und das Edelfräulein, in dem das hübsche Mädchen – das mich keines Blickes gewürdigt hatte – tief vor mir knickste, als ob ich die Dame wäre und sie die Dienstmagd. Ich hatte solche Träume schon öfter gehabt: glasklar und deutlich, nicht etwa verschwommen und unwirklich, wie es gewöhnliche Träume in der Erinnerung immer sind. Allerdings versuchte ich, diesen Träumen nicht allzu viel Bedeutung beizumessen, denn es war schon vorgekommen, dass ich darin Dinge sah, die später Wirklichkeit wurden und die ich lieber nicht vorher gewusst hätte. Diesmal allerdings bereitete es mir ein enormes Vergnügen, mich an den Traum zu erinnern, und dieses Vergnügen gönnte ich mir noch tagelang.