Jorge Bucay
Der innere Kompass
Wege der Spiritualität
Aus dem Spanischen von Lisa Grüneisen
Fischer e-books
Jorge Bucay ist ein angesehener Psycho- und Gestalttherapeut. 1949 in Buenos Aires, Argentinien, geboren, hat er im Lauf seines bisherigen Lebens verschiedene persönliche und berufliche Wege beschritten – als Schauspieler, Clown, Straßenhändler, Psychiater, Psychotherapeut, Professor, Redner und als Schriftsteller von Werken mit großem internationalen Erfolg. Seine Bücher wurden in mehr als zwanzig Sprachen übersetzt und haben sich in der spanischsprachigen Welt fast zehn Millionen mal verkauft.
Weitere Informationen, auch zu E-Book-Ausgaben, finden Sie bei www.fischerverlage.de
Covergestaltung: Nescio Nomine
Coverabbildung: Marcelino Truong
Die spanische Originalausgabe erschien unter dem Titel ›El camino de la espiritualidad. Llegar a la cima y seguir subiendo‹
The translation follows the edition by Random House Mondadori S.A., Barcelona 2010
© 2010 Jorge Bucay
© 2010 Demián Bucay, for the preface
Für die deutsche Ausgabe:
Erschienen bei S. FISCHER
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2013
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-402620-6
Es handelt sich um eine sogenannte Pappelfeige (Ficus religiosa), die heute in der buddhistischen Tempelanlage in Annuradhapura, Sri Lanka, steht.
Bis vor kurzem glaubte ich, die Chinesische Mauer sei die einzige Ausnahme. Aber ich wurde belehrt, dass es sich nur um einen Mythos handelt und auch sie nicht zu sehen ist, wenn wir den Planeten aus der Ferne betrachten.
Als ich vor fast vierzig Jahren Medizinstudent war, sagte mein Physiologieprofessor immer zu uns, ein Arzt, der vergessen habe, wie man eine richtige Injektion setzt, könne kein guter Arzt sein.
Dabei entfernt sich der Film Fachleuten zufolge ziemlich weit von der Realität. Das Letzte Abendmahl, bei dem Jesus von Nazareth den Gral benutzte, war ein Paschamahl, und der Gral müsste zwangsläufig der Becher der Verheißung sein. Ein frommer Jude, wie Jesus einer war, hätte wohl schwerlich einen Holzbecher verwendet, da er ihn als nicht »würdig« erachtet hätte, um den rituellen Paschawein aufzunehmen.
Die anderen beiden sind das Leugnen Gottes und das Unterhalten rechtlich verbotener sexueller Beziehungen, beispielsweise unter Geschwistern.
21 Grams von Alejandro González Iñarritu, mit Sean Penn, Benicio del Toro und Naomi Watts.
Später erkannte ich, dass zwar jeder, der feststellt, dass ein rundes Stück Pappe rollt, wenn man es auf einen Bleistift steckt, weiß, dass er nicht das Rad erfunden hat. Und trotzdem bestaunt er »seine« Erfindung, wenn er merkt, was er da gemacht hat.
individuo bedeutet »Unteilbares«.
Die ersten Missionare in Fernost, wahre Forschungsreisende und Abenteurer, die fast immer dem Jesuitenorden angehörten, brachten neben vielem anderen auch Techniken zur Konzentration, zur Körperbeherrschung und zur bewussten Entspannung sowie die Lehre der Gewaltfreiheit in den Westen mit, die später zu Gandhis Grundprinzip werden sollte.
So geht das Verbot des Verzehrs von Schweinefleisch auf die Gefahr zurück, an der Pest zu erkranken, die man damals mit dem Genuss von Schweinefleisch in Verbindung brachte.
»Die Maske verschleiert und enthüllt«, sagte Dr. Saslavsky immer.
Einige von uns gehen noch weiter und machen aus diesem Wunsch nach Transzendenz eines der wichtigsten Ziele unseres Lebens.
Ich könnte nicht mehr mit derselben Aufrichtigkeit und Überzeugung versichern, mit der ich vor zwanzig Jahren schrieb, dass nichts Gutes umsonst sei (auch wenn diese Aussage nach wie vor ein Anhaltspunkt für mich und für viele andere ist).
Wenn in einem Wald, in dem weder Mensch noch Tier leben, die ein Geräusch wahrnehmen könnten, ein Baum umfällt: Macht er dann Lärm?
Ob wir ein Konzert sehr, wenig oder gar nicht genießen, hängt aller-dings von vielen Faktoren ab: von unserer momentanen Lage, von unserer Geschichte, von unserer emotionalen Verfassung und, warum es nicht zugeben, von unserer musikalischen Bildung (»die Schulung des guten Geschmacks«, wie es Fernando Savater so treffend nennt). Ich bin kein gutes Beispiel, aber ich habe die Musik von Mahler noch nie so sehr genossen wie von dem Zeitpunkt an, als ich mich ein wenig mit seinem Leben und seinem Werk befasst hatte.
Und ich korrigiere: Freude an der reinen Existenz von jemand – einem oder einer anderen, mir selbst, meines Glücksbringers – oder etwas – einem Buch, einer Landschaft, einer Situation.
Sehr wahrscheinlich sind diejenigen, die sich mit Meditation auskennen und ihre Bedeutung zu schätzen wissen, empört, wenn sie das nun Folgende lesen, aber ich hoffe, dass sie verstehen, dass diese Vereinfachung ausschließlich pädagogischen Zwecken dient.
Der Koch Karlos Arguiñano gibt zu bedenken, dass es nicht länger dauert, ein paar Kartoffeln zu kochen und zu zerdrücken, als ein Fertigpüree herzustellen.
Meine Großmutter sagte immer: »Dankbarkeit und Weizen gedeihen nur auf gutem Boden.«
Editorial Losada, Buenos Aires 1942.
Als mein Vater die Texte schrieb, aus denen später Cartas para Claudia (Briefe für Claudia) entstand, wusste er nicht, dass er gerade ein Buch schrieb. Er schrieb diese Briefe zu seinem Vergnügen, aus Interesse und, so nehme ich an, um seine eigenen Gedanken zu ordnen. Ich war damals neun Jahre alt und kann mich nur noch schwach erinnern, wie mein Vater während eines Urlaubs an der See auf einer orangefarbenen Schreibmaschine tippte oder mit Bleistift in ein Heft schrieb.
Da er nicht einmal wusste, dass er ein Buch schrieb, konnte er erst recht nicht wissen, dass es das erste von vielen sein würde (zumindest mir erscheinen achtzehn Bücher viel). Und auch ich konnte damals weder wissen noch mir im Entferntesten vorstellen, dass ich eines Tages das Vorwort zu einem Buch meines Vaters schreiben würde.
Und da sind wir nun. Fast fünfundzwanzig Jahre sind seither vergangen. Für meinen Vater fiel in diese Zeit der allmähliche Übergang von der Arbeit mit Patienten in seiner Praxis zur Tätigkeit als Vortragsreisender und Schriftsteller, begleitet von einer Popularität, die mit jedem weiteren Buch zunahm und sich auf andere Länder und andere Medien ausweitete. Für mich brachte diese Zeit die Entscheidung fürs Medizinstudium, dann die Ausbildung zum Psychiater und Psychotherapeuten, die sich vertiefende klinische Erfahrung und seit einigen Jahren regelmäßige Ausflüge in die Welt des Schreibens.
Dennoch und obwohl es anders aussehen mag, war dieser Weg für uns beide nicht frei von Umwegen, Sackgassen und Widerständen. Ich weiß, dass mein Vater oft mit den Nachteilen seiner Bekanntheit und des Ruhms zu kämpfen hatte: mit den Vorurteilen derer, die, weil sie selbst keinen Erfolg haben, auch anderen keinen Erfolg gönnen; damit, dass er bewusst oder unbewusst missverstanden wurde; dass seine Familie mehr Aufmerksamkeit von ihm forderte. Ich kann mir gut vorstellen, dass er mehr als einmal darüber nachdachte, ob er weitermachen oder in die vertraute Welt seiner Praxis zurückkehren sollte. Ich weiß, dass er sich gelegentlich fragte, ob es die ganze Sache wert sei, und zum Glück beantwortete er diese Frage mit Ja.
Ich wurde mitten in der Pubertät von der »Berühmtheit« meines Vaters überrascht, was nicht immer mit den Erwartungen in Einklang zu bringen war, die jedes Kind an seinen Vater hat. So kam es, dass ich manchmal ein bisschen wütend auf ihn war und alles ablehnte, was mit seiner beruflichen Tätigkeit zu tun hatte. Ich erinnere mich noch, dass wir bei einer seiner Lesungen (ich weiß nicht mehr, welches Buch es war, aber ich muss damals etwa zwanzig gewesen sein) darauf warteten, dass mein Vater vom Podium kam, als einer der Veranstalter, eine Videokamera im Schlepptau, durch den Saal ging und die Leute aufforderte, Fragen zu stellen, die mein Vater danach beantworten würde. Irgendwann kam der »Interviewer«, der mich nicht kannte, zu mir und fragte mich, ob ich den »Doktor« etwas fragen wolle. Und ich packte nicht ohne eine gewisse Grausamkeit die Gelegenheit beim Schopf, nahm das Mikrophon, schaute in die Kamera und sagte: »Also, ich würde den Doktor gern fragen, ob er all diese Dinge, von denen er in seinen Büchern schreibt, auch zu Hause umsetzt.«
Ohne jede Frage, ein gemeiner Schachzug. Eine halbe Stunde später wurde das Video mit den Fragen abgespielt, und mein Vater gab völlig ahnungslos seine Antworten, als plötzlich ich auf der Leinwand erschien. Ich hatte mich noch nicht zu Ende angehört, als ich vor Scham fast im Boden versank und wünschte, ich hätte die unbequeme Frage nie gestellt, doch jetzt war es zu spät. Aber mein Vater ließ sich überhaupt nicht aus der Ruhe bringen. »Das ist mein Sohn Demián«, erklärte er für die, die mich nicht kannten. Dann sagte er, an mich gewandt, auch wenn er mich gar nicht sehen konnte, weil ich irgendwo in der Menge saß: »Um deine Frage zu beantworten, mein Sohn: Ich versuche es. Manchmal gelingt es mir nicht, aber ich versuche es.«
Und dann beantwortete er die nächsten Fragen, als ob nichts gewesen wäre. Ich weiß nicht, ob diese Episode für meinen Vater dieselbe Bedeutung hatte wie für mich oder ob er sich überhaupt daran erinnert. (Ich werde es mit Sicherheit erfahren, wenn er das hier liest.) Aber für mich war es ein erhellender Moment, weil ich wusste, dass es die Wahrheit war, noch bevor ich seine Antwort ganz gehört hatte. Ich wusste, ohne den Hauch eines Zweifels, dass er es versuchte. Und was kann man mehr von einem Vater verlangen, als dass er versucht, das zu tun, was er für das Beste hält? Was kann man mehr von einem Menschen verlangen, als dass er versucht, dem treu zu bleiben, woran er glaubt, auch wenn es ihm manchmal nicht gelingt?
Es gab eine Zeit, in der ich Angst hatte, durch meinen allseits – auch von mir – bewunderten Vater könnte ich dazu verdammt sein, für immer »der Sohn von Jorge Bucay« zu bleiben. Zum Glück – oder vielleicht, weil wir genau wussten, dass dies das Wichtigste war – haben mein Vater und ich nie die Fähigkeit verloren, über das zu reden, was uns bewegt. Als ich ihm meine Gefühle schilderte, erzählte er mir (wie könnte es anders sein) eine Geschichte:
In einem kleinen Dorf lebte ein Rabbiner. Alle Dorfbewohner waren sehr zufrieden damit, wie der Rabbi das geistliche Leben im Ort lenkte. Er hatte stets ein aufmunterndes Wort oder einen weisen Ratschlag für jeden, der zu ihm kam.
Doch der Rabbi war schon alt, und es war klar, dass er bald sterben würde. Die Dorfbewohner versammelten sich, um zu entscheiden, wer sein Nachfolger sein sollte. Alle waren sich darin einig, dass die Wahl auf den Sohn des Rabbis fallen solle, der ebenfalls den jüdischen Glauben studiert hatte, denn wer konnte besser geeignet sein, das Erbe des Vaters anzutreten, als sein eigener Sohn?
Bald darauf starb der Rabbi, und sein Sohn nahm seinen Platz ein. Doch es dauerte nicht lange, und der neue Rabbi begann Veränderungen anzuregen und Ratschläge zu geben, die das genaue Gegenteil von dem waren, von dem alle glaubten, dass sein Vater es getan hätte. Die Dorfbewohner versammelten sich erneut, um zu beraten, was zu tun sei, und sie beschlossen, mit dem Rabbi zu reden.
Als sie vor ihm standen, fasste sich einer ein Herz und sagte:
»Schauen Sie, Rabbi, um ehrlich zu sein, sind wir ein wenig in Sorge wegen all der Veränderungen, die Sie einführen. Wissen Sie, wir haben Sie ausgewählt, weil wir dachten, Sie wären wie Ihr Vater. Aber so ist es nicht.«
»Ihr irrt«, antwortete der neue Rabbi. »Ich bin genau wie mein Vater. Er hat immer das getan, was er für das Beste hielt. Und genau das mache ich auch.«
Ich weiß nicht, ob es mir gelungen ist, so zu sein wie der Sohn des Rabbi, ob ich diesen Charakterzug geerbt habe, den mein Vater besitzt und den man Überzeugung nennen könnte. Ich hoffe, dass ich das eines Tages von mir behaupten kann. Was ich auf jeden Fall behaupten kann, ist, dass mein Vater wie der Rabbi aus der Geschichte ist. Er hat immer versucht, sein Leben auf eine einzige Art zu leben: seine eigene. Er hat immer versucht, dem treu zu bleiben, was er glaubte, dachte und fühlte.
Würde heute ein anderer mit einer großen Klappe daherkommen und meinem Vater die dreiste Frage stellen, ob er sein Leben nach dem richte, was er in seinen Büchern schreibt, wäre ich der Erste, der antworten würde: Ja, zumindest versucht er es immer. Und genau deshalb lohnt es sich, ihm auf den Wegen zu folgen, von denen er spricht, denn er kennt sie aus erster Hand. Vielleicht mehr als jeder andere, den ich kenne, hat mein Vater den Weg der Selbstabhängigkeit erforscht und sich dabei immer auf dem schmalen Grat zwischen Abhängigkeit und Selbstgenügsamkeit bewegt. Ich weiß (und das aus eigener Anschauung), wie sehr ihm daran gelegen ist, mit anderen den Weg der Begegnung zu beschreiten, auf dem jede Beziehung ein Ort der Geborgenheit und des Wachsens sein soll. Ich habe gesehen, wie er den Weg der Tränen beschritt, ich habe ihn weinen und um Verluste trauern sehen, und ich habe auch gesehen, wie er als neuer Mensch aus ihnen hervorging. Auf dem Weg des Glücks hat er stets versucht, seine eigene Definition von Glück zu leben – Glück als die Überzeugung, auf dem richtigen Weg zu sein, und auf diese bescheidene Weise ist er, so denke ich, glücklich gewesen.
Der Weg der Spiritualität unterscheidet sich nicht von den vorherigen, denn ich bin ziemlich sicher, dass es der Weg ist, den mein Vater in den vergangenen Jahren beschritten hat. Mir gefällt der Gedanke, dass dies einer der Gründe dafür ist, dass er mir, ausgerechnet mir, vorgeschlagen hat, diese Vorrede zu schreiben. Spiritualität, so wie ich sie verstehe, erzählt von dem, was größer ist als man selbst, von dem, was über uns hinausgeht. Ich stelle mir vor, dass mein Vater, wenigstens zum Teil, durch die Botschaft in seinen Büchern und durch seine Kinder, meine Schwester Claudia und mich, zu dieser Transzendenz gelangt ist. Mir gefällt der Gedanke, dass schon der Umstand, dass ich diese Vorrede schreibe, etwas Spirituelles hat.
Demián Bucay
Oktober 2009
Jeden Morgen, wenn wir die Augen aufschlagen, überschreiten wir die Schwelle zurück in unser alltägliches Leben. Wir kehren aus einem magischen und manchmal unbegreiflichen Universum, dem Universum der Träume, in die nicht weniger magische (und oft noch unbegreiflichere) Welt der fassbaren Wirklichkeit zurück. Jeder von uns würde sofort bestätigen, wie überwältigend die Vorstellung dieser Erfahrung ist, und doch ist uns nie ganz bewusst, wie wunderbar diese tägliche Rückkehr ist. Die meisten von uns wissen das »Wunder« eines jeden Erwachens nicht im richtigen Maß zu schätzen.
Dieses Erlebnis ist so beeindruckend, dass die wichtigsten Denkerschulen und alle jene Männer und Frauen, deren Worte die Zeit überdauerten, eine weiterreichende, metaphorische Bedeutung des Wortes »Erwachen« geschaffen haben, die weniger mit dem Schritt vom Schlafen zum Wachen zu tun hat, sondern vielmehr die tiefgreifende Erfahrung der Erleuchtung und den (einfachen) Zugang zum spirituellen Weg meint.
Einer der umstrittensten spirituellen Lehrer, Gurdjieff, lehrte, dass der Mensch im tagtäglichen Kampf ums Überleben nichts weiter tue, als einen Schritt vor den anderen zu setzen wie ein Schlafwandler. Doch früher oder später müsse er sich seinem Erwachen stellen.
Georgios Iwanowitsch Georgiades, wie Gurdjieff mit Taufnamen hieß, kam Ende des 19. Jahrhunderts auf russischem Boden zur Welt und war sein Leben lang auf Pilgerschaft durch Indien, China, Japan und den Mittleren Orient, auf der Suche nach endgültigen Antworten auf die immerwährenden Fragen. Sein außergewöhnlicher Lebensweg erscheint als eine Abfolge von Erfahrungen und Abenteuern, die seine kühnen und provokativen Ideen (für die einen genial, für die anderen wahnsinnig) illustrieren und rechtfertigen.
Gegen Ende seines bewegten Lebens, er lebte damals in Frankreich, wo er 1949 auch starb (zufällig einen Tag vor meiner Geburt), sollte er einige seiner bedeutsamsten Gedanken niederschreiben.
Der für mich provokativste ist jener Text, in dem er behauptet, um wirklich zu leben, müsse man zunächst erwachen, doch ein Erwachen sei nicht möglich, wenn man nicht zuvor den Mut gehabt habe, einige Tode und ebenso viele Wiedergeburten zu durchleben.
Basierend auf diesem Gedanken, behaupte ich, dass diese »Erweckungen« kein Exklusivrecht einiger weniger Erwählter oder Auserlesener sind; im Großen oder Kleinen sind sie Bestandteil eines jeden Lebens. Manchmal sind sie überraschend und persönlich verändernd, andere Male sind es scheinbar unbedeutende, nebensächliche Vorkommnisse. Aber sie alle – oder vielmehr die Summe all dieser Ereignisse – formen unseren Weg des Wachstums und sind das grundlegende Fundament unserer persönlichen Entwicklung.
Ich möchte hier noch einmal an die Geschichte von der Erleuchtung Buddhas erinnern, die du sicher schon einmal gehört hast:
Der Legende nach wurde Siddharta Gautama zum Buddha, nachdem er eine ganze Nacht unter einem Feigenbaum meditiert hatte. Es heißt, dass er an jenem Maitag des Jahres 542 vor unserer Zeitrechnung, nachdem er, der Fürstensohn, auf die Bequemlichkeiten und die Macht seiner Herkunft verzichtet und als Bettler nach dem Mittel gegen das Leiden des Volkes gesucht hatte, nachdem er seinen Leib auf tausend Arten kasteit und vierzig Tage gefastet hatte, einen gewaltigen, herrlichen Baum erblickte, umgeben von tiefem Schatten und großer Ruhe. Aus irgendeinem Grund spürte er, dass dies der Ort war, und seiner Eingebung folgend, setzte er sich unter den Baum, um im Schein des Vollmonds zu meditieren.
An jenem Morgen erwachte Siddharta als Buddha. Der Tradition folgend, hatte er durch die Erleuchtung alle menschlichen Beschränkungen hinter sich gelassen und sich über alle Dualitäten erhoben: Leben und Tod, Zeit und Raum, Du und Ich.
Den Baum der Erleuchtung[1], Mahabodhi (oder vielleicht einen seiner Nachfahren) gibt es immer noch; er ist der nachgewiesen älteste Baum der Geschichte, da er seit seiner Pflanzung gehegt und gepflegt wurde. Heute ist der Baum von einer Einfassung umschlossen und von Tempeln umgeben, in denen die Pilger beten und meditieren. Der von Girlanden bekränzte Bodhi wird von den Besuchern als das verehrt und gefeiert, was er ist: ein lebendes Monument der menschlichen Fähigkeit zu erwachen.
Überflüssig zu erwähnen, dass nicht jede Erweckung von solcher Erhabenheit ist wie jene Buddhas, aber ich sage es noch einmal: Jeder von uns hat Erweckungsmomente gehabt und wird sie weiterhin haben.
Um alles aus ihnen zu schöpfen, was sie uns zu geben haben, heißt es, sie erkennen zu lernen und unsere Einsichten aus ihnen zu ziehen.
Der erste Ratschlag fast aller Meister lautet, wachsam zu bleiben, um diese Momente, wenn sie sich ereignen, zu erkennen, auch wenn ein solches Erkennen nicht zwingend notwendig ist. Es kann auch vorkommen, teilen sie uns mit, dass der eine oder andere das Glück hat und der Ruf, der ihn ereilt, so nachdrücklich ist, dass er erwacht, obwohl er unvorbereitet ist.
Meine erste Begegnung mit einem Weisen:
Weitab von den großen Lehrern, möchte ich eine meiner tiefgreifendsten und bedeutsamsten Erinnerungen mit dir teilen.
Ich mag damals zehn, elf Jahre alt gewesen sein, und es gab nichts Schöneres für mich, als mit Tante July spazieren zu gehen. Sie war meine Lieblingstante, obwohl sie eigentlich nicht zur Familie gehörte. July und meine Mutter waren seit Schulzeiten enge Freundinnen, und mir wurde erst viel später klar, dass mein Bruder und ich in ihrem Herzen den Platz der Kinder einnahmen, die sie nie hatte.
Sie unternahm mit jedem von uns die Sachen, die ihr am angebrachtesten erschienen. Aus irgendeinem Grund ging sie mit Félix zum Fußball, ins Kino oder zum Drachensteigen. Mit mir ging sie ins Theater, zu Musikveranstaltungen oder zum Tee ins Ritchmond, eine piekfeine englische Konfiserie im Stadtzentrum.
»Darf Jorge am Freitag mit mir zu einem Vortrag gehen?«, hatte July sonntags zuvor beim Mittagessen gefragt.
»Zu einem Vortrag?«, erkundigte sich meine Mutter. »Von wem denn?«
»Krishnamurti kommt nach Buenos Aires«, sagte meine Tante begeistert.
»Wer ist das?«, fragte ich.
»Ein spiritueller Lehrer«, erklärte July. »Ein weiser Mann, der in Indien geboren wurde und nun durch die Welt reist und wunderbare Dinge lehrt.«
»Aber findest du nicht, dass Jorge noch ein bisschen zu klein ist, um zu diesem Vortrag zu gehen?«, gab meine Mutter zu bedenken.
»Mag sein, aber ich glaube nicht, dass Krishnamurti noch einmal nach Buenos Aires kommt«, antwortete die Tante prophetisch. »Vielleicht ist es für ihn die einzige Gelegenheit in seinem Leben, ihn zu sehen.«
»Also gut«, willigte Mama schließlich ein. »Wenn er will, kann er mitgehen.«
Nichts lag mir ferner, als einen Ausflug mit Tante July sausenzulassen, also gingen wir am darauffolgenden Freitag in den Veranstaltungssaal einer großen Versicherung an der Plaza de Mayo, um den fremden Besucher reden zu hören.
Es war ein äußerst beeindruckendes Erlebnis für alle, und für mich ganz besonders.
Es war Krishnamurtis dritter und letzter Vortrag. Über dreihundert Menschen hatten sich eingefunden, um zu hören, wie dieser kleine, verletzlich wirkende Mann mit der sanften Stimme und dem Engelsgesicht über Indien, die östliche Welt und die Spiritualität sprach.
Vieles von dem, was er sagte, verstand ich nicht, aber ich wusste, dass meine Tante mir hinterher alles erklären würde.
Nachdem er fast eine Stunde gesprochen hatte, sagte Krishnamurti, dass nun der Moment für Fragen gekommen sei.
»Gestern«, setzte er hinzu, »fragte mich jemand im Anschluss an den Vortrag nach meiner Definition von ›Leben‹. Ist derjenige hier?«
»Ja, Meister«, sagte jemand von weiter hinten.
»Ich bin nicht dein Meister«, antwortete Krishnamurti. »Dein Meister ist in dir selbst … Gestern bat ich dich, zwei Kichererbsen, zwei Linsen oder zwei Bohnenkerne mitzubringen, damit ich dir deine Frage beantworten kann. Hast du sie dabei?«
»Ja, hier sind sie«, sagte der Mann.
Ein Herr um die vierzig kam nach vorne und überreichte Krishnamurti zwei weiße Bohnenkerne. Der nahm je einen in jede Hand, schloss diese zur Faust und sagte:
»Ich hebe mir die Antwort bis zum Ende auf.«
In der nächsten halben Stunde beantwortete Jiddu Krishnamurti alle möglichen Fragen zu allen möglichen Themen. Ich weiß noch, dass er mit seinem Kunstgriff der aufgeschobenen Frage – falls es ein Kunstgriff war – meine Neugier geweckt hatte.
Dann war der Moment gekommen, sich zu verabschieden. Krishnamurti senkte den Kopf und sagte ganz leise:
»Ihr fragt mich, was für mich ›das Leben‹ sei … Ich glaube nicht, dass ich eine solche Frage nur mit Worten zu erklären vermag; das Leben spürt man, sieht man, lebt man … Ich kann keine Definitionen liefern, aber vielleicht kann ich ein Beispiel geben.«
Nach einer kurzen Pause fuhr Krishnamurti fort:
»Das Leben ist der Unterschied zwischen dem hier« – damit deutete er auf die Bohne in seiner linken Hand – »und dem hier.« Damit deutete er auf die Bohne, die er in seiner rechten Faust gehalten hatte.
Ein erstauntes Raunen ging durch den Saal.
Und zu Recht.
Ein kleiner Keim trieb aus dem Bohnenkern, der für alle sichtbar auf seiner rechten Handfläche lag.
In kaum mehr als einer halben Stunde hatte einer der Bohnenkerne, nur einer, durch die Feuchtigkeit und Wärme seiner Hand gekeimt.
Später, viel später erst, kamen die Fragen.
Was war da passiert?
Wie hatte er das gemacht?
Doch alle Erklärungsversuche führten unweigerlich zu weiteren Fragen: Wie kann ein Mensch die Feuchtigkeit, die Wärme und Energie seiner geschlossenen Faust so beherrschen, dass in so kurzer Zeit eine Bohne keimt?
Und wieso nur in einer Hand?
Doch das alles kam erst viel später … Für den Jungen, der ich damals war, zählte in diesem Moment nur eines: das Staunen und die Entdeckung einer Botschaft, die man unmöglich wieder vergessen konnte:
Das Leben ist Ausdehnung, Wachstum, Sich-Öffnen …
Das Leben ist Freude, es ist Erwachen und, ja, auch ein Mysterium.
Am Ende meines Buchs über das Glück stellte ich meine Theorie von den aufsteigenden Ebenen vor.
In dieser kleinen Abhandlung legte ich dar, dass sich der Mensch unweigerlich weiterentwickelt. Wir lernen ein Leben lang – weil wir Freude daran haben, weil es uns nützt und weil es uns gefällt. Schon damals meinte ich das, was ich zehn Jahre später jedoch anders formulieren möchte:
Lernen ist eine Sache, Wachsen die andere.
Es sind zwei so eng verwandte und doch so unterschiedliche Begriffe wie:
Älter werden und reifen.
Viel gelesen haben und wissen.
Begreifen und leben.
Denn wachsen, ich sage es heute noch einmal, bedeutet, eine neue Ebene zu erreichen.
Wenn jede Daseinsebene eine Stufe darstellt, so denke ich damals wie heute, dann beginnen wir diese stets in dem Bewusstsein zu erklimmen, dass wir zunächst nur ein winziges Pünktchen irgendwo am linken unteren Rand der Ebene unserer jetzigen Gegenwart sind (zumindest kommt es uns so vor). Eine Art Nichts in dieser Realität, die von den anderen und unserer Umgebung geformt wird.
Angesichts dieser Perspektive wird uns klar – den Ungeduldigen zuerst, allen anderen später –, dass noch ein weiter Weg zurückzulegen ist, wenn wir wirklich danach streben, zu wachsen.
Ist diese Entscheidung getroffen, beginnen wir mehr oder weniger ehrgeizig und mit mehr oder weniger Erfolg, die nächste Stufe zu erklimmen, und lernen dabei, mit jeder Eventualität zurechtzukommen.
Zunächst unbeirrbar und ohne zu verweilen, zumindest bis zum ersten Sturz (der uns an den Anfang zurückkatapultiert). Es ist ein harter Schlag für unser Ego, wenn uns klar wird, dass wir wieder von vorne anfangen müssen, um vorwärtszukommen … Aber wir tun es.
Und ganz nebenbei lernen wir, dass man den Weg nach oben in Etappen zurücklegen muss, zwei Schritte vor und einen zurück, drei Schritte vor und einen oder zwei zurück.
Wir alle haben so angefangen und uns so manches Mal wie ein unbedeutendes Staubkorn in einem unendlichen Kosmos gefühlt … Und dann machen wir uns mit Geduld, Mühe, Eifer und Verzicht auf und legen den ganzen Weg des Wachsens zurück, immer weiter und weiter auf unserer Ebene nach oben.
Eines Tages, früher oder später, ist es so weit.
Wir sind am höchsten Punkt angekommen.
Und uns wird auf einmal klar, dass wir etwas Bedeutendes geschafft haben. Und uns wird klar, dass es gut ist, dort zu sein, sehr gut.
Die Übrigen, die auf ihren eigenen Wegen auf derselben Ebene unterwegs sind, vielleicht noch ein bisschen weiter unten, schauen zu uns auf. Auch sie sehen, was wir geschafft haben: Wir sind oben angelangt. Einige lächeln, andere applaudieren. Sie blicken erneut zu uns. Sie suchen unsere Nähe, loben uns, bewundern uns. Viele fragen arglos: Wie hast du das gemacht? Phantastisch! Wie hast du das gemacht?
Wir würden gern antworten, doch dann wird uns klar, dass die Frage rhetorisch ist und eine Antwort eigentlich sinnlos, zumindest für die Fragenden … Und doch zwingt uns ihr Verhalten, zurückzublicken auf alles, was wir auf unserem Weg erlitten, durchlebt und verloren haben, und wir erkennen, dass das Vergangene die Mühe wert war, wenn es der Preis dafür war, hier zu sein. Nicht wegen der Bewunderung der anderen, sondern wegen des Wissens, wie weit wir von dem Nichts entfernt sind, das wir einmal waren.
Die Zeit vergeht …
Und nachdem man immer wieder jeden Punkt der Ebene erkundet hat, merkt man, dass man nicht ewig dort verharren kann. Man bewegt sich immer routinierter; beherrscht die ganze Ebene, meistert jede Schwierigkeit immer gekonnter, immer schneller …
Die anderen jubeln vor Begeisterung, als wir, gewollt oder ungewollt, mit dem Kopf gegen die Decke stoßen …
Und dann kommt der große Augenblick, verbunden mit immer stärkeren Nackenschmerzen, weil wir die ganze Zeit mit dem Kopf dort oben festhängen: Der Erfolg und der Beifall beginnen uns zu langweilen, und wir verlieren das Interesse daran, an diesem vielbeneideten Ort zu sein.
Das ist der Moment, in dem man die große Entdeckung macht:
In der Decke befindet sich ein verborgener Ausgang. Eine Art Falltür, die sich nach oben öffnet und aus der Ebene herausführt. Eine Öffnung, die man erst sieht, wenn man ganz dort oben mit dem Kopf an der Decke klebt.
Man öffnet die Tür … nur ein klein wenig … und schaut …
Die Tür führt zu einer weiteren Ebene, von der wir noch nie zuvor gehört haben.
Wir sind noch nie auf den Gedanken gekommen, dass diese Ebene, auf der wir uns von jeher bewegt haben, nicht die einzige sein könnte.
Und man steckt den Kopf durch die Luke. Und stellt fest, dass die Ebene, die wir nun erreichen, genauso groß ist wie die vorherige, vielleicht noch größer. Durch das, was wir bisher gelernt haben, wissen wir, dass wir hindurchschlüpfen und weitergehen könnten, um Neues zu entdecken und weiter zu wachsen, aber wir ahnen, dass es kein Zurück mehr gibt, falls wir es tun, und, was noch schlimmer ist: Wir wissen – ohne zu wissen, woher –, dass wir niemanden mitnehmen können. Es ist ganz klar: Jeder kann nur weitergehen, wenn es für ihn an der Zeit ist, und dies hier ist unsere Zeit, einzig und allein unsere.
Es ist ein schmerzlicher Gedanke, alle zurückzulassen und alleine weiterzugehen.
»Ich warte auf euch … Dann können wir zusammen weitergehen«, verspricht man, ohne dass die anderen überhaupt verstehen, was man sagen will.
Aber die Zeit wird lang, der Nacken schmerzt, und das Nichtstun wird unerträglich. Und alles wird sinnlos und belanglos.
Bis wir eines Tages ganz unerwartet durch die Tür rutschen, fast hindurchgestoßen werden und diese wie erwartet zufällt und uns einsam auf der neuen Ebene zurücklässt.
Einmal auf der anderen Seite, stellen wir wie schon in anderen Momenten und Situationen fest, dass wir uns entscheiden könnten, dort zu bleiben, wo wir sind, am Anfang von allem, oder aber vorwärtszugehen, doch was wir ganz sicher nicht können, ist umkehren.
Viele von denen, die auf der vorangegangenen Ebene zurückbleiben, halten uns für ein Vorbild, dem sie folgen können, sie erzählen uns ihre Probleme und lauschen aufmerksam unseren Antworten. Und das ist kein Verdienst, es ist eine logische Folge.
Andere sind verärgert und kritisieren uns grundlos. Und das ist noch nicht das Schmerzhafteste. Schmerzhafter ist, dass keiner der bisherigen Weggefährten wirklich versteht, was wir empfinden …
Als Neuankömmling auf der neuen Ebene hat man ein seltsames Déjà-vu.
Wieder steht man unten, in der hintersten Ecke …
Wieder allein …
Wieder voller Ängste und manchmal verzweifelt …
Wieder fühlen wir uns wie ein wertloses, unbedeutendes Nichts, auch wenn wir jetzt »ein Nichts auf einer höheren Bewusstseinsstufe« sind, mit der Erinnerung daran, dass wir einmal für andere ein Führer, ein Lehrer, ein Vorbild waren.
Sie applaudieren immer lauter, aber auf der neuen Ebene kann man sie fast nicht hören; vielleicht braucht man nicht mehr so viel Anerkennung und Wertschätzung.
Sie wissen es nicht, aber wir sind nicht mehr dieselben.
Erstes Buch