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Vorderseite: Hotel Clou und Elektrogeschäft Wino in der Mauerstraße 15 im Jahr 1950

DIE ERSTEN TAGE VON

BERLIN

ULRICH GUTMAIR

DER SOUND DER WENDE

Tropen

Impressum

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Tropen Verlag

© 2013 by J. G. Cotta'sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Cover: Herburg Weiland, München

Unter Verwendung eines Fotos von Christian Brox/brox +1

Datenkonvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Printausgabe: ISBN 978-3-608-50315-9

E-Book: ISBN 978-3-608-10361-8

Dieses E-Book entspricht der 1. Auflage 2013 der Printausgabe

Für Tal und Amalia

I.

HOW LONG IS NOW?

Es riecht nach Bitterfeld

Smogalarm der Stufe eins wird ausgelöst, wenn an den Messstationen zu viel Schwefel- und Kohlendioxyd registriert wird, wenn diese Messwerte drei Stunden anhalten, dazu zwölf Stunden lang eine Windgeschwindigkeit unter 1,5 Meter pro Sekunde herrscht und ein Tiefdruckgebiet über der Stadt liegt. Dann ist die Bevölkerung von Westberlin aufgefordert, nur kurz zu lüften, nicht zu lange spazieren zu gehen und keinen Sport im Freien zu treiben. Das wäre vermutlich auch für die Bewohner der Hauptstadt der DDR gesünder. Dort sind die Grenzwerte aber höher als im Westen, weswegen es in der DDR Smog meist nur theoretisch gibt. Als am 1. Februar 1987 Smogalarm der Stufe eins gegeben wird, melden Polizeikontrollen in Westberlin um elf Uhr vormittags über 2.000 Verstöße gegen das Fahrverbot. Aus dem Osten der Stadt wird offiziell saubere Luft gemeldet. Die Daten hält die DDR unter Verschluss.

Es gibt Tage, da hängt der Geruch von Schwefel in den Straßen und erinnert daran, dass Westberlin vom dunklen Kontinent des Ostblocks umgeben ist, einer alten, verrosteten, farblosen Industriewelt voller rauchender Schlote und Proletarier, die mit ernsten Gesichtern gigantische Maschinen bedienen. Die DDR ist das europäische Land mit den höchsten Schwefeldioxydemissionen und dem höchsten Feinstaubgehalt in der Luft. Umweltschützer aus der DDR beklagen, dass es im Chemiekombinat Bitterfeld keine Schadstofffilter gibt. Aus den Schornsteinen seien nach 1945 als Reparationsleistung von sowjetischen Bauingenieuren die Filter entfernt und seither keine neuen eingesetzt worden. Da ein Luftpaket die Stadt im Mittel innerhalb von weniger als drei Stunden überquert, geht man davon aus, dass der größte Teil des Drecks in der Berliner Luft nicht aus Emissionen im Stadtgebiet stammt. Solange in der CSSR, in Bitterfeld und Leipzig die Kraftwerke und die Industriebetriebe arbeiten, und solange man beiderseits der Mauer Auto fährt und die Kachelöfen in den alten Häusern mit Kohle heizt, hängt im Winter ein gelblich-brauner Dunst schwer im Berliner Himmel, wenn der Wind aus Südost weht und eine Inversionswetterlage herrscht. Man vergisst diesen Geruch nicht.

Die Ablagerungen schwefelgelber Tage sedimentieren auf den Fassaden von Häusern zu einem fahlen Braun. Man sieht es überall in der Stadt, in Westberlin vor allem in den von den Arbeitsmigranten geprägten, armen Bezirken. Im Osten, wo die Gründerzeithäuser seit fünfzig Jahren keine frische Farbe mehr gesehen haben, beherrscht das Braun die gesamte Innenstadt. Was sich in der Stadt als Mangel an Farbe äußert, zeigt sich am Körper als dreckiger Überschuss. Das Braun hängt nach einem Tag in der Stadt in den Kleidern, es färbt die Hände und das Badewasser dunkel. Wenn man einen Tag lang draußen unterwegs war oder nachts in irgendeinem Keller getanzt hat, kann man sich morgens schwarzen Belag aus der Nase kratzen. Die Nasenschleimhäute der Menschen und der Putz der Häuser sind die prominentesten Flächen, auf denen sich der Dreck in der Berliner Luft niederschlägt. Nachts färbt er den Himmel orange. Zu Hause erscheint er als gelbe Asche, die in großen Mengen entsteht, wenn man Rekord-Kohle aus der Lausitz im Kachelofen verbrennt.

Als die Mauer noch steht, kann man sie von Osten aus meist nicht sehen. Ein komplexes Regime von Barrieren, Selbstschussapparaten, Patrouillen, Zugangsberechtigungen lässt den gemeinen Bürger der Hauptstadt der DDR gar nicht erst an den »antifaschistischen Schutzwall« herankommen. Die Schneisen und entmieteten Häuser am Mauerstreifen sind auf östlicher Seite nachts in helles Licht getaucht. Auf der anderen Seite malt man die Mauer bunt an, macht sie zum größten Graffitikunstwerk der Welt und lässt den grauen Osten dahinter verschwinden.

Um sich zu vergegenwärtigen, wie es in Berlin-Mitte aussah, als es noch in einer wenig beachteten Ecke der Hauptstadt der DDR lag, kann man sich die Fotos von Hans Martin Sewcz ansehen. Im Mai 1979 hat der Fotograf in rund dreißig Panoramafotos die Straßen von Mitte in Schwarzweiß aufgenommen. Alles steht still, nur die Kinder sind lebendig wie eh und je. Zwei Jungs in kurzen Hosen stürmen auf die Kamera zu. Sie fordern den Blick des Fotografen heraus. Der eine trägt ein Ringel-T-Shirt, der andere ist barfuß in den Leinenschuhen. Es muss ein warmer Frühling mit viel Sonne gewesen sein. Hinter ihnen liegt die leere, ruhige Auguststraße. Sie ist sauber, aber geflickt. Teerflächen aus unterschiedlichen historischen Perioden liegen übereinander. Ein paar Wartburgs und Trabants parken an den Straßenrändern. Kein Müll liegt auf dem Gehweg, keine Reklame hängt an den Häusern. Nur eine Wäscherei bietet ihre Dienste an. Der Schutt der zerbombten Häuser in Mitte ist lange weggeräumt. An ihrer statt wurden kleine Parks angelegt oder behelfsmäßige Baracken aufgestellt. Die Menschen auf den Fotos wirken deplaziert und doch ganz bei sich. Als gehörten sie gar nicht hierher, und als gäbe es außer diesen Straßen nichts. Mitte steht still, wie ein Dornröschenschloss. So wird es bleiben bis 1989. Dann hält der Schlafzauber aus dem Politbüro der Unruhe der Menschen nicht mehr stand. Als Hans Martin Sewcz die Straßen von Mitte fotografiert, ist Ostberlin ist ein Paradies für Romantiker. Jetzt laden seine Bilder zum Nachdenken darüber ein, was einmal war, wer hier gelebt hat und was der Verlust der Abgeschiedenheit bedeutet.

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Kinder in der Auguststraße im Mai 1979

Orange ist der Berliner Winterhimmel auch an jenem Abend, an dem wir von der Oranienburger Straße in den Hof des Tacheles gehen, wo ein Trabant kopfüber im Sand steckt, lakonisches Mahnmal einer Lebensweise, die es nicht mehr gibt. An der Rückseite des Hauses befindet sich eine unscheinbare graue Stahltür, die sich gegen elf, zwölf Uhr nachts öffnet. Ich bin nicht allein, niemand geht alleine tanzen, vielleicht sind wir zu zweit oder zu dritt. Wir sagen »Hallo!« zum Türsteher und zwinkern vorsichtig der Frau an der Kasse zu. Sie sitzt rechts, gleich hinter der Tür. Sie hat eine dicke Jacke an. Vor ihr steht eine kleine Kasse aus Metall. Als sei sie eine Sekretärin, die bloß das Porto, nicht den aufregendsten Ort von Berlin hütet. Wir steigen hinunter und betreten den Gang am Fuß der Treppe. Die Decken sind niedrig, die Wände unverputzt und feucht. Es riecht nach Keller, nach jahrzehntelanger Ruhe, nach Zigarettenrauch und nach dem verschütteten Bier vergangener Feste. Beim ersten Mal herrscht an dieser Stelle Verwirrung: Wo geht’s weiter? Geradeaus in den langen Stollen, der in vollkommener Dunkelheit verschwindet? Oder lieber rechts um die Ecke? Die Orientierungslosigkeit löst sich in einer Pointe auf. Vor uns liegt kein dunkler Stollen, sondern ein Spiegel, der angelehnt in einem Fahrstuhlschacht steht. Er gaukelt einen Weg vor, den es nicht gibt. Dann ist die Musik zu hören. Wir biegen rechts um die Ecke. Auf einmal sind wir drin.

Ein Off-Beat pumpt vor sich hin. Stoisch und fordernd stampft die Bassdrum mit 120 Schlägen pro Minute. Der synkopierte, immer zu schnell, vor der Zeit einsetzende Klang eines Beckens gibt dem Körper eine Bewegung vor. Im leeren Raum zwischen den Beats formieren sich einzelne Sounds, die sich rund, satt und sexy anfühlen, zu einem eigenen Raum. Die Ohren gewöhnen sich langsam daran. Es ist House Music, in Chicago oder New York auf Vinyl gepresst. Sie ist besser, einfacher, verführerischer als alles, was wir vorher gehört haben. Leute kommen herein, stehen ein bisschen rum, begrüßen sich. Sie reden, lachen, trinken Bier, und irgendwann fangen sie an zu tanzen. Sie kommen nicht her, um herumzusitzen. Sitzgelegenheiten gibt es nur an der Cocktailbar. Bar und Barhocker sind auf Stahlfedern angebracht. Man muss beinahe hochklettern, um Platz nehmen zu können. Die Beine baumeln in der Luft, als säße man auf dem Ast eines Baums. Weder ist es besonders angenehm noch hat es irgendeinen Sinn, hier länger herumzusitzen. Der Club besteht aus einem feuchten Keller, ein bisschen Licht, den Leuten, der Musik und vor allem aus Bewegung.

Zwei Räume sind auszumachen, die durch einen kleineren Raum in der Mitte getrennt sind. Wände sind herausgebrochen worden. Ein Laserstrahl durchquert den Club von links nach rechts. Wie ein Fingerzeig aus der Zukunft, der auf die Reste einer Geschichte trifft, die 1945 stehengeblieben zu sein scheint, als die Berliner ihre Nächte in Luftschutzkellern verbrachten und auf die Rote Armee warteten. Ein Schutthaufen erinnert daran, wie es vorher hier unten ausgesehen haben mag. Weiter hinten im Dunkeln führt eine kleine Brücke über ein Loch im Boden, in dem Wasser steht. Leute tanzen zu einer neuen Musik, die ein DJ auflegt, dessen Namen wir nicht kennen. Am Anfang gibt es noch keinen DJ-Kult, es gibt keine Namen, die man sich merken müsste, außer denen der Orte selbst. Es gibt Gerüche, Gesichter, Gesten und Gespräche, an Orten, an die uns die Musik gelockt hat. Es gibt Leute, die sich auf ihre eigene Weise bewegen, kleiden, trinken und rauchen und sich hier unten treffen, um gemeinsam eine Nacht zu verbringen.

Ständige Vertretung heißt der Club. Seinen Namen hat er von der diplomatischen Vertretung der Bundesrepublik Deutschland übernommen. Sie befindet sich seit 1974 gleich um die Ecke vom Tacheles in der Hannoverschen Straße und wird nicht mehr gebraucht. Am 2. Oktober 1990 wird das Schild an der »Ständigen Vertretung der Bundesrepublik Deutschland bei der DDR«, wie ihr vollständiger Name lautet, abgeschraubt. Ab jetzt bezeichnet Ständige Vertretung nicht mehr einen Ort, der einen Staat repräsentiert, sondern einen Ort, an dem etwas passiert, was man selbst erleben muss. Till Vanish hat einige alte Fernseher von der Straße in den Keller geschleppt. Darauf zeigt er Feedbacks, die entstehen, wenn man mit der Videokamera einen Bildschirm aufnimmt und das Aufgenommene wieder auf dem Bildschirm zeigt, um es dann erneut aufzunehmen. Ein auf Dauer gestellter Kurzschluss, der keine Bilder, sondern Lichteffekte produziert. Till Vanish trägt eine wasserstoffblonde Cyberpunkfrisur, die man schon von weitem erkennt. Sonntags schneidet er manchmal hier unten Haare. Er ist aus Weimar ins Tacheles gekommen und wohnt im Haus nebenan.

Im linken Raum wird getanzt. Ein kleiner Mann steht an den Plattenspielern. Er spielt die minimalistische, euphorisierende Musik, der man sich nur schwer entziehen kann. Vom Rand des Dancefloors sehen die Tanzenden wie eine geschlossene Gesellschaft aus, die Regeln folgt, die so lange unverständlich bleiben, wie man in der Rolle des Zuschauers bleibt. Jetzt geht es darum, sich von der Wand zu lösen. Den einen, entscheidenden Schritt auf den Dancefloor zu machen, mit dem alles losgeht. Bis man sich wie von allein bewegt und der Musik die Kontrolle überlässt. Bis die Scham überwunden ist, sich gehen zu lassen, und die Angst, komisch auszusehen. Bis das Denken ruhig und fokussiert wird und zwischendurch Pause macht, wenigstens für ein paar Minuten. Detlef Kuhlbrodt, selbst in den Clubs von Mitte unterwegs, hat später diesen Moment beschrieben: »Mit zwölf hatte ich zum ersten Mal getanzt. Ich hatte mir vorgestellt, tanzend quasi im Jetzt verschwinden zu können, aber leider gelang das nur selten. Stattdessen fühlte man sich unsicher. Darum bemüht, sich richtig zu bewegen, infizierte man die eigenen Bewegungen mit diesem Bemühen.«

Dabei macht es diese Musik dem Tänzer so leicht wie keine andere, sich langsam in sie hineinfallen zu lassen wie in den Schlaf. House basiert auf Loops, Schleifen von Takten, einfachen Basslinien über einem simplen Beat, die sich ständig wiederholen. Ein paar Sounds, wenige Akkorde, die auf einem Keyboard gespielt werden, die oft den Klang eines Klaviers imitieren. Wenn dazu gesungen wird, dann sind es meist einfache Kommandos, die sich auf das Tanzen oder die Musik selbst beziehen. Spiralförmig bewegen sich die Schleifen in der Zeit vorwärts und lassen beim Tanzen ein Gefühl von unmittelbarer Gegenwärtigkeit entstehen, einer mächtigen, überwältigenden Präsenz und Gleichzeitigkeit. Der Loop bewegt die Tänzer, aus ihm entsteht das euphorisierende Etwas, das in der Frage »Can you feel it?« eines berühmten House-Stücks benannt wird und gleichzeitig unausgesprochen bleibt, als sei es etwas, das man nicht sagen darf. So gelingt es uns irgendwann tatsächlich, tanzend im Jetzt zu verschwinden. Transportiert von den Beats, von der Eleganz, von den satten Sounds der Musik und verführt von den Bewegungen der fremden Körper, vom Überschießen der Energien. Lachende Gesichter, kurze Blicke, Zuwendung, Kontaktaufnahme.

Nachdem wir eine Stunde getanzt haben, beginnt der Schweiß, der an der niedrigen Kellerdecke kondensiert ist und sich dabei mit dem dort abgelagerten Dreck vermischt hat, auf uns und die anderen herunterzutropfen. Die Frauenstimme über dem House-Beat befiehlt: »Come on!« Das erinnere ich nicht nur, ich kann es jederzeit rekonstruieren, weil eines der wenigen materiellen Zeugnisse der Nächte in der Ständigen Vertretung eine Platte von Scram ist. Sie steht in meinem Regal, seit ich sie nach einem Abend gekauft habe, an dem der DJ den Empire Mix von »Come On« gespielt hat. Ich hatte die Unhöflichkeit begangen, auf den Plattenteller zu schauen. Im Überschwang werden manchmal Grenzen überschritten. Das allerdings kann nicht im ersten Winter der Ständigen Vertretung gewesen sein. »Come on« ist erst 1992 beim New Yorker House-Label Strictly Rhythm erschienen.

Dinge, an denen sich Erinnerungen festmachen lassen, besitze ich genau drei: Neben der Platte von Scram sind es zwei »Entrance Cards«, in fetter Schreibmaschinenschrift auf dünne Pappe gedruckt, die zu kostenlosem Eintritt berechtigen (man spart fünf Deutsche Mark), die ich aber offensichtlich nie eingelöst habe. Ich glaube, dass die zuständige Kassenperson mir die Karten morgens beim Verlassen des Clubs zugesteckt hat. Es könnte aber auch jemand anders gewesen sein.

Ich bin im Oktober 1989 nach Westberlin gezogen, um an der Freien Universität zu studieren. Das war gutes Timing, drei Wochen später fiel die Mauer. Die Jahre danach habe ich tagsüber an der Freien Universität tief im Westen der Stadt verbracht. Nachts war ich in den Bars ohne Schanklizenz und Steuererklärung, den besetzten Häusern und den Clubs in Mitte unterwegs.

Erinnerung funktioniert nicht wie ein Fotoapparat. Die Bilder, die das Gedächtnis hergibt, sind unscharf und vermischen sich mit Gerüchen, Sounds und Gesichtern, zu denen wiederum Gespräche gehören, die möglicherweise aber in ganz anderen Zusammenhängen geführt worden sind. Kurze Momente aus Nächten in unterschiedlichen Jahren schießen zu einer Erinnerung zusammen, ein wildes Durcheinander kurzer Sequenzen, wie von Stroboskoplicht zerhackte Teile, die zusammengehören, aber auch beim besten Willen nicht zu einer Geschichte montiert werden können. Sagen lässt sich zumindest, wann und wie eine der ersten meiner Nächte in der Ständigen Vertretung endete. Eines Morgens, noch bevor die Sonne aufging, sind wir aus dem feuchten Keller die steile Treppe hoch ins winterlich-orangefarbene Berliner Licht gestiegen. Es ist ein Freitag, der 18. Januar 1991. Rekonstruieren lässt sich das auf den Tag genau, weil an der großen Brandmauer gegenüber, auf der anderen Seite der großen Brache hinter dem Tacheles, wo später lange das WMF residierte, an diesem Morgen etwas anders geworden ist.

Ganz oben unterm Dach der Brandmauer steht in gut zwei Meter großen, weißen Lettern auf der Wand: KRIEG. Am Abend zuvor, als wir in den Keller des Tacheles abtauchten, weil donnerstags House gespielt wird, hat es dieses Graffito noch nicht gegeben. Tags zuvor hat in den Morgenstunden im Irak die Operation Desert Storm begonnen. Im Verlauf des Tages ist Helmut Kohl zum Kanzler des wiedervereinigten Deutschland gewählt worden.

Als es im Winter 1990/91 einige Tage lang heftig schneit, ist der Alexanderplatz kaum mehr befahrbar. Der Schnee scheint die Stadtverwaltung Ost zu überfordern. Die alte Ordnung ist gestürzt, die neue noch nicht vollständig etabliert. Vom Mauerfall bis zur Wiedervereinigung ist ein Jahr vergangen. Ostberlin befindet sich in einem turbulenten Übergang, der von ständigen Demonstrationen, Kunstaktionen und Partys geprägt ist. Im Interregnum zwischen den Systemen hat sich ein Zustand etabliert, der dem nahekommt, was Utopisten im 19. Jahrhundert als Anarchie bezeichnet haben, eine Ordnung, die fast ohne Herrschaft zu funktionieren scheint. Berlin ist nicht mehr die Hauptstadt des Deutschen Reichs, obwohl man an jeder zweiten Straßenecke in Mitte meinen könnte, dass sie das bis eben noch gewesen sein muss. Berlin ist nicht mehr die Hauptstadt der DDR und noch nicht die neue Hauptstadt des wiedervereinigten Deutschlands. Ob Berlin wieder Hauptstadt wird, ist längst nicht ausgemacht. Es gibt nicht wenige Leute in Westdeutschland, die den Regierungssitz Bonn in jeder Hinsicht dem in der Ostzone, also für ihre Begriffe schon fast in Sibirien liegenden, kaputten, dreckigen und armen Berlin vorziehen.

Wer vom alten Westdeutschland zum ersten Mal nach Berlin kommt, trifft nach der Wende in Mitte die Jugend der DDR, die lernen muss, in einer völlig veränderten Welt zu leben. Es gibt Ostberliner, die nach kurzem Exil aus Schöneberg und Kreuzberg irgendwann dann doch wieder zurückgekehrt sind. Es gibt Leute, die auf ausgedehnte Reisen gehen oder nach Westdeutschland ziehen. Es gibt aber auch diejenigen, die zusammen mit Westberlinern und von anderswoher Zugezogenen schon ein paar Wochen nach dem Fall der Mauer Mode, Musik oder Kunst machen, DJs werden, Flyer gestalten und Verlage gründen, Galerien, Raves organisieren, Bars und Clubs eröffnen, manchmal nur für ein paar Wochen, meist ohne Schanklizenz. Letztere bilden die Knotenpunkte der neuen Kultur von »Metropolis Mitte«, wie es auf einem Flyer des Eimer, eines besetzten Hauses in der Rosenthaler Straße heißt.

Nick Kapica und Tim Richter wollen herausfinden, was eine Nacht im Club ausmacht: »Wie ticken die Leute? Was muss man tun, damit sie eine Nacht lang tanzen, wirklich tanzen? Anders als in den Clubs, die wir zuvor erlebt hatten, kamen die Leute zu uns, um die Nacht zu genießen. Sie haben den DJ als Performer respektiert«, sagt Nick Kapica. Der Londoner mit den rotblonden Haaren stammt aus einer polnischen Familie. Er hat seine Sachen gepackt, als die Mauer fiel. Er hat die Tanzenden auf der Mauer, die Euphorie im Fernsehen gesehen. Er will sich in Berlin umsehen für ein Jahr. Wie viele, die es 1990 nach Berlin-Mitte zieht, landet auch Nick Kapica im Kunsthaus Tacheles. Als das Café Zapata im Erdgeschoss gebaut wird, trifft er dort den Australier Tim Richter. Nachts sitzen die beiden bei einem Bier zusammen und überlegen sich, wohin sie zum Tanzen gehen können. Sie waren schon in ein paar Clubs in Westberlin, in Kreuzberg, Charlottenburg und Schöneberg. Aber da fehlt ihnen was. Ein Club mit Konzept, ein Club, der ein bestimmtes Publikum anzieht. Für sie ist eine Nacht im Club ein Ereignis, das es zu gestalten gilt.

Nick Kapica will in Berlin anwenden, was er am Ravensbourne College of Design and Communication gelernt hat. Dort haben sie ihm den Designbegriff der Ulmer Hochschule für Gestaltung beigebracht, die sich auf die Ideen des Bauhaus und die Formstrenge des schweizerischen Modernismus beruft. »Wir wussten genau, was für ein Publikum wir gerne hätten. Wir wussten, wie es sich anfühlen sollte. Wir wussten, welche Musik gespielt werden würde. Und wir visualisierten sogar schon, welche Atmosphäre unser Club haben würde«, sagt Nick Kapica. »Wir wussten nur nicht, wo wir es machen sollen.«

Den Ort für ihren Club finden die beiden einige Zeit später, als ihnen im Fußboden des Café Zapata eine Falltüre auffällt. Aus dem Loch darunter graben sie Unmengen von Ruß und Staub. Später finden sie eine Treppe und eine zugemauerte Tür. »Es war ein Chaos. Wir gestalteten das Innere um die Situation herum, die wir vorgefunden hatten: zwei Räume, die durch einen kleineren Raum in der Mitte getrennt waren. Wir rissen die Wände ein und bauten eine Bar, wodurch ein dynamischer Raum entstand. Obwohl wir keine Werbung im konventionellen Sinn gemacht hatten, kamen am Eröffnungsabend die Freaks von ganz Berlin. Diese Leute wurden unsere Stammgäste, und die Schlange vor der Tür hat ausgereicht, zukünftigen Gästen zu signalisieren, ob sie Teil der Szene sind oder nicht«, sagt Nick Kapica.

Die Ständige Vertretung hat anfangs nur Donnerstag und Sonntag auf. Wer donnerstags und sonntags feiern geht, obwohl er am nächsten Morgen zur Arbeit gehen muss, bezahlt mit Kopfschmerzen, Müdigkeit, Leistungsabfall. Zu feiern heißt sich zu verschwenden, freigebig mit sich und seiner Zeit umzugehen. Man kann davon ausgehen, dass viele der Leute, die Donnerstag nachts in der Ständigen Vertretung Bier und Cocktails trinken, Haschisch rauchen oder Speed schnupfen, keiner geregelten Arbeit nachgehen.

Der Club von Nick und Tim soll exklusiv und außergewöhnlich sein und doch für alle offen. Sie wollen deswegen keine Türpolitik, die festlegt, wer rein darf und wer nicht. Sie tun dann aber doch so, als gäbe es eine, um eine gewisse Spannung zu erzeugen. »Wir waren beide Grafikdesigner, und so sind wir auch an das Projekt herangegangen«, sagt Nick Kapica. Er erfindet Schlagworte und Themen, die dann zu Namen für einzelne Clubabende werden: »Delirium«, »Swamp«, »Post House«, »Corruption« und so weiter. An der Schleuse, die den Übergang vom Regelwerk des Draußen ins Regelwerk des Drinnen markiert, empfängt man einen Stempel aufs Handgelenk. Am nächsten Tag, vielleicht auch länger, wird nur er daran erinnern, dass man dabei gewesen ist und an den nächtlichen Riten teilgenommen hat. Denn in der Ständigen Vertretung ist Fotografieren streng verboten. »Einerseits das Fotografieren zu verbieten und andererseits Leute dabei zu filmen, wie sie sich nachts im Club die Haare schneiden lassen und das gleichzeitig auf Bildschirmen zu zeigen, war ein Spiel mit Geheimnis und Privatheit. Anfangs waren die Toiletten gemischt und hatten keine Trennwände. Später ist nur der Spiegel davon übriggeblieben, durch den man auf den Dancefloor schauen konnte. Es ging darum, den Augenblick und die Situation zu markieren, in der wir uns wiedergefunden haben.« Das Fotografierverbot wird mit Nachdruck durchgesetzt. Wer es nicht ernst nimmt, dem kann passieren, dass seine Kamera auf den Boden geworfen wird. Filme werden aus Fotoapparaten herausgezogen und belichtet.

»Es sind viele verrückte Sachen im Club passiert. Diese Geschichten können nur die Leute erzählen, die sie erlebt haben, und sie werden sich alle voneinander unterscheiden. Es gibt kaum Fotos, um sie zu belegen. Es ist etwas Besonderes, das all diese Leute besitzen, in einer Zeit, in der alles, was passiert, sofort ins Web gestellt wird. Uns war egal, ob wir fotografiert werden. Aber wir wollten eine besondere Atmosphäre schaffen, etwas Geheimnisvolles«, sagt Nick Kapica. »Es sollte etwas geben, an das sich nur die Leute würden erinnern können, die da waren.«

Wenn nach dem Fall der Mauer in Berlin-Mitte Fotos gemacht werden, dann meist von den Straßen, selten von den Clubs und Bars. Wenn es nicht ausdrücklich verboten ist, wie in der Ständigen Vertretung und vielen anderen Clubs, dann ist es doch in jedem Fall ausgesprochen uncool zu fotografieren. Es verbietet sich, weil man nicht gleichzeitig beobachten und teilnehmen kann. Wer mit einer Kamera in einem Club herumläuft, steht dem eigenen Erleben wie ein Tourist gegenüber. Wer eine Linse zwischen sich und die Welt schaltet, misstraut seiner Erfahrung. Er lässt den Moment vorübergehen, um etwas festzuhalten, was sich nicht festhalten lässt. Für die anderen wird er sofort zu einem störenden Element. Wer sich dem DJ, der Musik, dem Beat überlässt, will einen Kontrollverlust erleben. Fotografieren lässt man sich dabei nicht gern. »Wenn jemand reinkam, um exotische Fotos zu machen, dann hat man demjenigen gesagt, dass er das bitte bleiben lassen soll«, erinnert sich Christoph Keller, der im Friseur an der Bar gearbeitet und selbst den Stadtraum gefilmt und fotografiert hat. »Man war sich bewusst, dass es etwas Besonderes ist. Man wollte die Warenwerdung dieser Situation nicht haben. Man hatte sie mit viel Liebe und zum Teil auch bewusst gegen diese Form der Ausbeutung hergestellt. Es war ein gelebter Freiraum, in dem es eine Form von temporärer Geborgenheit gab. Das war auch der Grund, warum sich die Leute so engagiert haben, ohne richtig Geld dafür zu bekommen. Freunde durften fotografieren, aber wenn jemand das zu offensichtlich gemacht hat, dann war man dagegen. Das hätte das die Grundlage dessen zerstört, woran wir gearbeitet haben. Es gab Leute, die versucht haben, mit Kameras reinzukommen, möglichst noch mit einer Videoleuchte obendran, und zu filmen. Die haben wir wieder rausgeschickt. Das macht die Atmosphäre kaputt, es wird eine Entfremdung hergestellt. Es war jedem klar, dass das nicht geht.«

Die Abneigung oder auch nur Gleichgültigkeit gegenüber dem Dokumentieren, das viele Beteiligte miteinander teilen, hat dazu geführt, dass das Berlin der Jahre nach dem Mauerfall verschwunden ist, ohne viele Spuren zu hinterlassen. Die meisten Orte, an denen das alte Berlin noch präsent war und ein neues Berlin seine ersten Tage und Nächte erlebt hat, sind nicht mehr da. Irgendwann haben sich viele kleine Veränderungen in der Stadt zu einem Phasenwechsel akkumuliert, der sich erst erkennen lässt, wenn die entscheidenden Details nicht mehr da und kaum mehr zu rekonstruieren sind. Die Häuser, Straßen und die Brachen von Mitte sind durch den Immobilienmarkt, aber auch durch stadtplanerische Entscheidungen bis zur Unkenntlichkeit verändert worden.

Die lebendige Kunstszene und die exzessive Feierkultur, an der alle teilhaben können, ist in den Jahren nach der Wende in Mitte entstanden. Aber die Stadt, in der all das passiert ist, scheint verschwunden zu sein. Berlin hat sich eingerichtet mit dem Mythos der jungen, wilden Stadt, dem jedoch unter der Hand und schleichend die Geschäftsgrundlage entzogen wird. Die Anarchie von damals ist zum Standortfaktor im Wettbewerb um Touristen, Investoren und Unternehmen geworden. Auf den Brachen stehen Neubauten. Die Stadtmitte gehört schon lange nicht mehr den Hausbesetzern, den Ravern und Künstlern, die sie nach der Wende wieder zum Leben erweckt haben. Die Clubs sind anderswo hingezogen, die meisten bieten professionelles Entertainment. Die frühen neunziger Jahre erscheinen wie ein Traum, an den man sich morgens nur noch vage erinnern kann, der aber als Soundscape immer noch im Ohr ist. Der Sound der Wende, das sind die Beats von Breakbeat, House und Techno, aber auch der Presslufthämmer und der Schuttrutschen, die komprimierten Tonfolgen der Modems, die Daten in Töne verwandeln, der Gesang der Nachtigallen zur besten Ausgehzeit und der Lärm der Lerchen am Morgen, die Gespräche am Rand der Dancefloors, auf den Vernissagen und in den Bars.

Der Mann, der am Kiosk vor dem Tacheles saß

Klaus war tot, und der Kiosk war weg. Tag für Tag hatte Klaus das Oranienburger Tor gehütet. Er war im Holzfällerhemd auf seinem Campingstuhl neben dem Kiosk gesessen, hinter ihm das Tischchen mit den Büchern, hatte den Leuten zugewinkt, die vorbeikamen, und Passanten in Gespräche verwickelt. Jetzt, im kalten Dezember des Jahres 2005, lehnte an der Wand des Kiosks ein Pappschild mit seinem Foto und den Worten: »Klaus ist tot.« Davor hatte jemand Kerzen aufgestellt und Blumen abgelegt. Daneben Flaschen mit Bier und Wodka als Gaben für die Reise ins Reich der Toten.

Nachdem Klaus Fahnert nicht mehr da war, verschwanden sowohl der Kiosk, den man schon auf Schwarzweißaufnahmen aus den fünfziger Jahren neben der Litfaßsäule stehen sehen kann, als auch der benachbarte Imbiss. Das kleine, spitze Dreieck zwischen Linienstraße und Oranienburger Straße, auf dem Klaus seine Tage verbracht hatte, wurde neu gepflastert. Sauber und ordentlich sieht es seither aus, beinahe wie in einer der vom Wohlstand mehrerer Jahrzehnte geprägten Städte in Westdeutschland. Fünfzehn Jahre lang hatte Klaus Fahnert in Mitte gelebt. Fast zehn Jahre davon hat man ihn neben dem Kiosk von Serdar Yildirim, schräg gegenüber vom Tacheles, sitzen sehen.

Serdar Yildirim ist ein kleiner, drahtiger Mann mit dunklen, halblangen Haaren. Es hat eine Weile gedauert, den ehemaligen Pächter des alten Kiosks am Oranienburger Tor zu finden, dabei war er nicht weit weg. Der netteste der Verkäufer von Dada Falafel wusste schließlich, dass die Leute vom Kiosk auf die andere Straßenseite umgezogen sind. Serdar Yildirim hat neben dem Tacheles einen Container aufgestellt. Dort verkauft er unter anderem Postkarten und T-Shirts an Touristen. Er arbeitet meist nachts. Serdar Yildirim kannte Klaus seit Ende 1996. »Da war Klaus noch kerngesund«, sagt er. »Er kam an, stand vor dem Kiosk und wollte Bier. Er hat mir damals erzählt, dass er verheiratet ist, Kinder hat, dass er diese Ecke toll findet. So haben wir angefangen. Dann war er jeden Tag da und hat eines Tages gefragt, ob er neben dem Kiosk sitzen kann und ein paar Bücher verkaufen darf. Da meinte ich, mir ist das egal. Wenn du mit dem Ordnungsamt keine Probleme kriegst, mich stört es nicht. Ursprünglich kommt er aus Bonn, und wenn er das Kennzeichen BN sah, dann sagte er: Das ist Berliner Nebenstadt. Im Sommer ist tagsüber nichts los. Da kommt nicht so viel Kundschaft. Da hab ich oft mit ihm zusammen dagesessen und geredet«, sagt Serdar Yildirim und steckt sich eine neue Zigarette an.

Als Klaus am Oranienburger Tor sitzt, gehen die Berliner und gut informierte Partytouristen längst woanders aus. Das Tacheles ist ein störrischer Rest. Im Treppenhaus sind die Graffitis Schicht auf Schicht übereinandergesprayt. Die Inschriften reichen bis ins Paläolithikum der Berliner Republik zurück, in die ersten Tage und Wochen nach der Wende. Es riecht nach Bier und Urin. Im ersten Stock verkaufen Händler Kunsthandwerk, und im Café Zapata sitzen junge Italiener, Spanier und Schweden, die wissen wollen, wie sich Berlin einmal anfühlte. Für die Leute aus der Nachbarschaft ist Klaus eine Figur, die zum Kiez gehört, für die meisten Passanten auf dem Weg zur U-Bahn vermutlich nur ein Penner, der am helllichten Vormittag in Mitte auf einem Campingstuhl herumlungert, neben einem Tisch voller Bücher. Klaus passt gut zum Ambiente des Tacheles, das neben dem Fernsehturm für Besucher aus aller Welt zu einem der Symbole des neuen Berlin geworden ist.

Wer von Osten kommt, kann die Brandmauer des Tacheles schon von weitem sehen. Großformatig ist das schemenhafte Gesicht einer Frau aufgemalt. Darüber die Frage: »How long is now?« Wie lang ist jetzt? Ist die Gegenwart ein mathematischer, ausdehnungsloser Punkt im Fluss der Zeit, der die Vergangenheit von der Zukunft trennt, oder ist die Gegenwart mehr als das? Die Touristen, die man die Oranienburger Straße entlangschlendern sieht, haben Zeit fürs Jetzt. Sie schlendern herum und machen Fotos. Man sieht es ihnen an: Sie sind fasziniert vom Kunsthaus Tacheles. Ein bisschen unaufgeräumt, aber bunt. Leicht ruinös, aber lebendig. So stellt man sich überall auf der Welt Berlin vor.

How long is now? Das ist eine Frage, die den Geist der Wende, der turbulenten Jahre vor und nach der Revolution in der DDR, das Gefühl des Aufbruchs und der unübersehbaren Möglichkeiten griffig zusammenfasst: Jetzt ist immer, gelebt wird in der Gegenwart. Die Touristen verstehen das intuitiv. Wenn sie vor dem Tacheles und der großen, das Haus umgebenden Brache mitten im Zentrum der Stadt stehen, sehen sie aber noch mehr als das. Hier wird eine alte Wunde offengehalten. Wer 1989, vom Westen kommend, Ostberlin betritt, sieht sich in die unmittelbare Nachkriegszeit katapultiert. Man bewegt sich durch ein Freiluftmuseum. Nichts ist verschüttet, alles liegt offen da. Archäologie kann im Vorübergehen betrieben werden. An den Brachen und den vernarbten Fassaden kann man noch lange nachvollziehen, dass hier, mitten in der Stadt, Krieg geführt wurde. Überall auf den Wänden sind noch die Einschusslöcher vom Kampf um Berlin im April 1945 zu sehen. Wenn man das Tacheles besucht, muss man nicht wissen, dass sich in dem ehemaligen Passagen-Kaufhaus ein Organisationsbüro der Deutschen Arbeitsfront und die SS-Dienststelle Zentralbodenamt befanden, dass unter dem Dach französische Kriegsgefangene schufteten. Direkt nach dem Fall der Mauer ist Geschichte in Berlin-Mitte nichts, was man mit Hilfe von Stadtführern oder Informationstafeln vermitteln muss. Die Geschichte des 20. Jahrhunderts ist gegenwärtig. Man muss nur hinsehen. »Jetzt« ist alles, was zu einem gegebenen Zeitpunkt an Erfahrung, Erinnerung und Geschichte präsent ist.

Am Mittag des 13. Februar 1990 halten Leo Kondeyne, Clemens Wallrodt und ihre Freunde mit einem alten Feuerwehrauto in der Oranienburger Straße vor dem erhaltenen Rest des ehemaligen Kaufhauses. Vom Dach ihres Autos klettern die Besetzer durch ein Fenster im ersten Stock. An der Rückseite des Hauses kann man sehen, dass die Sprengmeister der DDR präzise gearbeitet haben. Den größten Teil des einst weitläufigen Komplexes mit der Kuppel inmitten der Passage haben sie gesprengt, weil die Stadtplaner der Hauptstadt der DDR hier eine Straße bauen wollen. In den siebziger Jahren wurde das Gebäude noch genutzt. Als die Besetzer auf der großen Brache hinter dem Haus stehen, blicken sie in offene Räume, die mitten entzweigeschnitten worden sind.

In moderner Stahlbetonbauweise wurde der Komplex von Franz Ahrens zwischen 1907 und 1909 errichtet. Vom großen, bis heute erhaltenen Eingangsbogen an der Oranienburger Straße führte eine glasüberdachte Ladengalerie bis an die Friedrichstraße. In der Mitte öffnete sich die Passage zu einer Kuppel. Doch das Konzept, den großen Warenhäusern Konkurrenz zu machen mit Spezialgeschäften, in denen ein zentrales Kassensystem das Einkaufen vereinfachen soll, scheiterte schon nach einem Jahr. 1914 war das Passagen-Kaufhaus am Ende. 1928 wurde das Gebäude von der AEG übernommen, die es in »Haus der Technik« umbenannte. In den großzügigen und luxuriösen Verkaufsräumen stellte der Konzern seine neuesten Produkte vor. Es heißt, hier seien die ersten Staubsauger in Berlin verkauft worden. Ab 1933 belegten Naziorganisationen Teile des Gebäudes. Während der alliierten Angriffe auf die Reichshauptstadt wurde es durch Bomben beschädigt. Der Luftschadensbericht der Hauptluftschutzstelle Berlin vom 16. Dezember 1943 meldet, dass während des 160. Fliegeralarms das Haus der Technik getroffen worden sei. Gegen halb acht Uhr abends hatten 250 Flugzeuge die Stadt überquert. 1944 wurde das Haus erneut von Bomben beschädigt. Nach Gründung der DDR wurde es vom Freien Deutschen Gewerkschaftsbund und der Fachschule für Außenwirtschaft genutzt. Erst eröffneten die Oranienburger-Tor-Lichtspiele, dann folgte das Studio Camera Berlin, das Kino des Staatlichen Filmarchivs. Eine Filiale der Sparkasse der Stadt Berlin und ein Geschäft für Damenwäsche zogen ein. Später wurde der große Keller aus statischen Gründen mit Wasser geflutet. Anfang der Achtziger begannen die Abrissarbeiten.

Die Besetzer okkupieren das Haus vor der ersten freien Wahl zur Volkskammer im März, vor dem Sprengtermin im April und vor der Wahl der Stadtverordnetenversammlung von Ostberlin im Mai 1990. Tagsüber stecken die Bauarbeiter Sprengstoff in die Bohrlöcher, nachts holen die Besetzer ihn wieder heraus. Den Namen Tacheles verdankt das Haus der gleichnamigen Freejazzcombo, in der einige Besetzer spielen. Ihr Hauptquartier ist der Eimer in der Rosenthaler Straße, wie das Haus mit der Nummer 68 genannt wird, weil die Besetzer angeblich überall in den Räumen Eimer vorgefunden haben. Sein vollständiger Name lautet I. M . Eimer. Das alleinstehende Gebäude, rechts und links davon befinden sich Brachen, ist gut einen Monat vor dem Tacheles, am Mittwoch, den 17. Januar 1990, durch Mitglieder der DDR-Bands Freygang, Ich-Funktion und Die Firma und ihre Freunde besetzt worden. In einem Flugblatt, das sich an die »lieben Menschen« von Mitte richtet, heißt es: »Da sich im Moment niemand für den Zerfall vieler Häuser zuständig fühlt, haben wir, eine Gruppe von drei Rockbands, die volle Verantwortung für das Haus Rosenthaler Str. 68 übernommen.« Mit »Euphorie für die Jetztzeit« eigne man sich das Haus an. Man werde das Haus schallisolieren, die Interessen der Anwohner würden gewahrt. Die Besetzer erklären das Haus zum autonomen Kulturzentrum und gründen den Verein Operative Haltungskunst. Als dessen Logo fungiert ein überdimensionales Ohr, das aufs Dach gepflanzt wird.