Sechs Ranger der US Army mit weißen Handschuhen und hellbraunen Baretten trugen einen mit einer Flagge bedeckten Sarg die Laderampe des Transportflugzeugs C-17 hinunter. Sie marschierten in langsamen, gemessenen Schritten über die Rollbahn der Dover Air Force Base, der ausgedehnte Flugplatz in Delaware, auf dem die Leichen der in Übersee getöteten amerikanischen Soldaten in Empfang genommen wurden.
David beobachtete das feierliche Ritual vom Ende einer langen Reihe von Beamten aus dem Verteidigungsministerium und dem FBI. Es war ein schwüler Nachmittag Ende Juli, die Temperatur lag knapp über dreißig Grad. Die phlegmatischen Gesichter der Ranger glänzten schweißnass, während sie den Sarg zu einem Lieferwagen trugen, der neben der C-17 parkte. Sie hielten vor der Hecktür des Wagens und blieben mehrere Sekunden lang bewegungslos stehen. Wie auf ein Stichwort hoben alle Beamten auf der Rollbahn ihre Arme zu einem langsamen militärischen Gruß, und die Soldaten schoben den Sarg in den Lieferwagen. Dann vollzogen die Ranger eine knappe Kehrtwendung und kehrten zum Laderaum der C-17 zurück. Es waren sieben weitere Leichen in dem Flugzeug.
David hob die rechte Hand ans Herz. Monique, die neben ihm stand, tat das Gleiche. Sie waren an diesem Morgen aus New York hierhergefahren, weil der Direktor des FBI, der am anderen Ende der Reihe von Beamten stand, sie zu der Zeremonie eingeladen hatte. Aryeh Goldberg war auch da – er war extra für die Feierlichkeit aus Israel eingeflogen. Es war ein bittersüßes Wiedersehen. Das Flugfeld war still, während die Soldaten das Flugzeug entluden und die Särge langsam zu dem Lieferwagen trugen.
David warf einen Blick auf Monique, um zu sehen, wie es ihr ging. Sie nickte ihm kurz zu. Während der vergangenen fünf Wochen hatten sie nichts anderes getan, als sich ihrer Erholung gewidmet. Zum Glück hatte keiner von ihnen im Sommer Lehrveranstaltungen abhalten oder größere Forschungsprojekte durchführen müssen. Sie konnten die ganze Zeit mit ihren Kindern und sich selbst verbringen. Jede Stunde auf dieser Erde ist ein Geschenk, dachte David. Aber das Merkwürdige an dem Geschenk des Lebens ist, dass man es erst richtig zu würdigen weiß, wenn man dem Tod nahe ist.
Nach dem Gefecht vor der Anlage bei Ashkhaneh hatten er und Monique eine halbe Stunde unter den Sternen gesessen und in aller Ruhe darauf gewartet, dass der Tarnkappenbomber seinen Atomsprengkopf abwerfen würde. Während die Minuten verstrichen, wurde ihnen allerdings klar, dass sie doch nicht in Asche verwandelt werden würden. Also hatten sie sich wieder mit den israelischen Kommandosoldaten zusammengetan – drei von ihnen hatten die Schlacht bei Ashkhaneh überlebt – und über Funk Verbindung mit General Yaron vom israelischen geheimen Signalkorps aufgenommen. Yaron befahl ihnen, mehrere Meilen nach Süden bis zu einer abgelegenen Landstraße zu wandern, wo sie sich mit einem seiner iranischen Spione treffen könnten. Innerhalb der nächsten achtundvierzig Stunden schaffte Yarons Spion es, sie vom Kopet Dag zum Elburs, dann über die Grenze nach Aserbeidschan und schließlich nach Israel zu schmuggeln. In der Zwischenzeit wurden Michael und Shomron von dem amerikanischen Such- und Rettungsteam aufgegabelt, das ins südliche Turkmenistan geschickt worden war. Dank der Botschaft Aryehs an den Präsidenten, die über den Tarnkappenbomber weitergeleitet worden war, hatte das Weiße Haus seine Angriffspläne gegen den Iran ad acta gelegt und damit begonnen, das geheime Netzwerk Adam Cyrus Bennetts zu demontieren.
Als David und Monique wieder in den Vereinigten Staaten eintrafen, waren die Zeitungen voll mit Artikeln über die Nuklearkatastrophe im Camp Cobra. Das FBI hatte die verbliebenen Wahren Gläubigen bereits hochgenommen, obwohl einige von ihnen, darunter General Estey vom Special Operations Command, Selbstmord begingen, bevor sie verhaftet werden konnten. Dann hielt der Präsident eine Ansprache zur besten Sendezeit und erklärte, dass ein Spitzenbeamter des Verteidigungsministeriums die Nation verraten habe. Er gab bekannt, dass Bennett Anführer einer Gruppe von Fanatikern gewesen sei, die mit der Revolutionsgarde zusammengearbeitet und sich mithilfe von Geldern aus dem Geheimfonds des Pentagons angereichertes Uran beschafft habe, um Atombomben zu bauen. Aber Excalibur erwähnte er nicht. Er sagte, Bennett hätte Camp Cobra zerstört, um einen Atomkrieg zwischen den Vereinigten Staaten und dem Iran anzuzetteln, aber er sagte nichts über Röntgenlaser oder das universale Programm oder die Gefahr eines Quantenabsturzes. Das Weiße Haus hatte beschlossen, diese Schwachstelle im Schöpfungsplan nicht bloßzulegen. Wenn sie weithin bekannt wäre, könnte noch ein Wahnsinniger auf die Idee kommen, Kapital daraus zu schlagen.
Aus dem gleichen Grund gab der Präsident nicht die Beteiligung von David, Monique und Michael bekannt. Das Verdienst, Bruder Cyrus gestoppt zu haben, schrieb er den israelischen und amerikanischen Soldaten zu, die bei Ashkhaneh gegen die Wahren Gläubigen gekämpft hatten. Sieben der Särge in der C-17 enthielten die Leichen der Ranger, die bei dem Feuergefecht ums Leben gekommen waren. Das Pentagon hatte nach mehreren Wochen diplomatischen Hickhacks ihre sterblichen Überreste herausgeholt, und jetzt waren der Verteidigungsminister und der Vorsitzende der Stabschefs auf der Dover Air Force Base, um ihre Heimkehr gebührend zu würdigen. Sie standen in der Mitte der Reihe von Beamten und hatten den rechten Arm zu einem steifen militärischen Salut erhoben, bis die Soldaten mit den hellbraunen Baretten den vorletzten Sarg aus dem Transportflugzeug herausholten. Dann ging ein anderes Team von Sargträgern auf die C-17 zu, ein nichtmilitärisches Team diesmal, das aus vier Männern und zwei Frauen in identischen grauen Anzügen bestand. Eine Minute später kamen sie mit dem letzten Sarg die Laderampe hinunter, in dem die Leiche von Special Agent Lucille Parker lag.
Der FBI-Direktor trat hervor. David, Monique und Aryeh taten es ihm nach. Sie gingen über die Rollbahn auf einen glänzenden schwarzen Leichenwagen zu, der neben dem Lieferwagen stand. Die FBI-Agenten, die den Sarg trugen, gingen ebenfalls im langsamen Gleichschritt auf den Leichenwagen zu. Davids Kehle zog sich zusammen, als er auf den mit einer Flagge drapierten Sarg starrte. Er unterschied sich nicht von den anderen Särgen, die aus der C-17 geholt worden waren, aber er konnte es nicht ertragen, ihn anzusehen. Er wandte sich ab und schaute den FBI-Direktor an, der den Kopf gesenkt und die Augen geschlossen hatte. Seine Lippen bewegten sich, aber er sprach so leise, dass David nicht verstehen konnte, was er sagte. Vielleicht ist es ein Gebet, dachte er. Oder eine Entschuldigung. David schloss selbst die Augen und erinnerte sich daran, wie er Lucille an Deck des Fischdampfers gesehen hatte, ihre Glock auf einen der Bohrtürme im Kaspischen Meer gerichtet. An jenem Morgen war sie glücklich gewesen. So wollte David sie in Erinnerung behalten.
Er schlug die Augen in dem Moment wieder auf, als die sechs FBI-Agenten den Sarg in den Leichenwagen schoben. Sobald sie die Hecktür des Fahrzeugs geschlossen hatten, gab der FBI-Direktor den Sargträgern die Hand und bedankte sich leise bei jedem einzelnen. Dann hörte David Motorengeräusch von weiteren Autos, die näher kamen. Er drehte sich um und sah, wie drei schwarze Limousinen über das Vorfeld des Flugplatzes fuhren und neben der Reihe der Beamten aus dem Pentagon anhielten. Noch mehr Männer in dunklen Anzügen stiegen aus und erkundeten rasch die Umgebung, bevor sie sich um die Limousinen herum aufbauten. Das waren Agenten des Secret Service, wie David begriff. Nach ein paar Sekunden öffnete einer der Agenten die hintere Tür des mittleren Wagens, und der Präsident der Vereinigten Staaten stieg aus.
Die Beamten grüßten ihn natürlich. Der Präsident erwiderte den Gruß, aber er blieb nicht stehen, um mit dem Verteidigungsminister oder einem seiner Stellvertreter zu plaudern. Stattdessen ging er direkt auf den Leichenwagen zu. David hatte den Präsidenten noch nie persönlich gesehen, und er war von seiner äußeren Erscheinung ein bisschen überrascht – der Mann sah älter und trauriger aus, als David erwartet hatte. Es waren graue Flecken in seinem kurz geschnittenen Haar.
Er trat auf den FBI-Direktor zu und gab ihm die Hand. »Mein herzliches Beileid«, sagte er leise.
Der Direktor hob den Kopf. Seine Augen waren feucht. »Vielen Dank, Sir.«
»Ich weiß, das ist nur ein kleiner Trost, aber ich werde Agent Parker die Medal of Valor verleihen. Das Land steht tief in ihrer Schuld.«
»Daran besteht kein Zweifel. Sie war ungeheuer tapfer.«
Es entstand ein unbehagliches Schweigen. Der Präsident wartete ein paar Sekunden; er sah unwohl aus. Dann wandte er sich an Monique. »Vielen Dank für Ihren Einsatz, Dr. Reynolds. Und auch dafür, dass Sie nichts von der Existenz des universalen Programms verraten haben. Es muss Wissenschaftlern schwerfallen, die Wahrheit zu verbergen, aber ich glaube, wir haben keine andere Wahl.«
Monique schüttelte dem Präsidenten die Hand, aber sie sagte nichts. Zum ersten Mal, seit David sie kannte, schienen ihr die Worte zu fehlen. Nach ein paar Sekunden ließ der Präsident ihre Hand los und griff nach Davids. »Und Sie sind bestimmt Dr. Swift?«, sagte er. »Ihr Name tauchte ein paar Mal in den Berichten des FBI auf, die ich gelesen habe.«
David war verwirrt. Er sah sich selbst dabei zu, wie er dem Präsidenten die Hand schüttelte. »Äh, ja, das stimmt«, sagte er. »Das FBI schreibt gern Berichte über mich.« Er stand mit offenem Mund da, und ihm fiel nichts Gescheites ein, was er hätte sagen können. »Ich habe die schlechte Gewohnheit, zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein.«
»Wir sind leider alle am falschen Ort. Aber Sie haben uns geholfen, die Dinge wieder in Ordnung zu bringen.« Er schaute David ernst an. Dann lächelte er. »Ich darf also annehmen, dass Sie wieder an der Columbia sind? Und immer noch die ›Physiker für den Frieden‹ leiten?«
Herr im Himmel, dachte David. Er konnte es nicht glauben. Der Präsident machte Small Talk mit ihm. »Ja, wir kämpfen immer noch für die gute Sache. Wir haben für den Herbst noch eine Konferenz geplant.«
»Ich bin froh, das zu hören. Sie leisten wichtige Arbeit. Wir müssen neue Methoden entwickeln, um zu grenzübergreifenden Lösungen zu kommen. Weil die alten Methoden nicht mehr funktionieren.«
David nickte. Es war richtig: Mehr denn je brauchte die Welt Friedensaktivisten. Die Vereinigten Staaten hatten es geschafft, einen Krieg mit dem Iran abzuwenden – nachdem Bennetts Verrat enthüllt worden war, hatte die Revolutionsgarde alles U-235 ausgehändigt, das Cyrus ihr zur Verfügung gestellt hatte –, aber die iranische Regierung produzierte immer noch in dem Zentrifugenkomplex in Natanz ihr eigenes angereichertes Uran. Ein neuer Konflikt stand mit Sicherheit bevor, wenn die Bürger beider Länder nicht zur Vernunft kamen.
Der Präsident machte noch einen Schritt auf sie zu. Er legte eine Hand auf Moniques und die andere auf Davids Schulter. »Ich möchte Ihnen beiden einen Vorschlag machen. Ich habe über diese Tragödie nachgedacht, die wir erlitten haben, und was wir hätten tun können, um sie zu verhindern. Und ich habe beschlossen, dass ich bessere Informationen aus der Wissenschaftlergemeinde brauche.«
Endlich fand Monique ihre Stimme wieder. »Was meinen Sie damit?«
»Es besteht ein Missverhältnis. Ich habe Hunderte von Leuten, die mir Ratschläge in militärischen, diplomatischen und ökonomischen Fragen geben. Aber mein Kontakt mit Naturwissenschaftlern ist beschränkt. Sie sind entweder in der Regierungsbürokratie begraben oder in den Universitäten isoliert. Was ich brauche, ist eine Kontaktperson. Jemand, der mich mit den besten Köpfen auf jedem Gebiet zusammenbringt, besonders während einer Krise.« Er schaute erst Monique eindringlich an, dann David. »Glauben Sie, so etwas könnten Sie tun?«
David lächelte. Das musste ein Scherz sein. »Sie wollen, dass wir für Sie arbeiten?«
»Sie hätten keine offizielle Position. Sie wären eher eine Art Berater. Ich würde mich nur an Sie wenden, wenn wir Ihre Hilfe brauchen.«
»Aber keiner von uns beiden ist dafür qualifiziert. Wir haben keine Regierungserfahrung und keine …«
»Ich brauche nicht noch mehr Bürokraten. Ich brauche kluge Menschen, die viele Kontakte in der Wissenschaftlergemeinde haben. Sie beide wären perfekt für den Job.«
Allmählich wurde David klar, dass der Präsident es ernst meinte. Der Oberbefehlshaber bat sie um Hilfe.
»Sie müssen nicht sofort antworten«, fügte der Präsident hinzu. »Denken Sie einfach darüber nach. Mein Stabschef wird sich bei Ihnen melden.«
David dachte vier Stunden später immer noch daran, als er nach New York City zurückkehrte. Ein wenig abwesend ließ er Monique vor ihrem gemeinsamen Apartment aussteigen und fuhr dann ins Autismuszentrum von Upper Manhattan, um Michael abzuholen. Die letzten paar Wochen waren für den Teenager schwierig gewesen. Er litt immer noch unter dem Trauma der Entführung und der schrecklichen Dinge, die danach geschehen waren. Zwei Wochen nach seiner Rückkehr in die Vereinigten Staaten hatte er einem seiner Lehrer einen Faustschlag versetzt. In der Woche darauf zertrümmerte er einen der Computer des Zentrums. David hatte zusätzliche Therapiestunden für den Jungen organisiert, aber er hatte nur langsam Fortschritte gemacht.
Michael wartete im Aufenthaltsraum des Zentrums auf ihn, wo er unter den wachsamen Blicken der Mitarbeiter an einem quadratischen Tisch saß. Er war über einen Stoß Papiere gebeugt und schrieb etwas mit einem Kugelschreiber. Wahrscheinlich schrieb er die Wörter aus einem Lehrbuch ab, das er auswendig gelernt hatte. David beobachtete ihn einige Sekunden lang und bewunderte den konzentrierten Ausdruck, der auf dem Gesicht des Teenagers lag. Dann klopfte er sacht auf den Tisch. »Ich bin hier, Michael. Es ist Zeit, nach Hause zu fahren.«
Der Junge hörte auf zu schreiben und legte den Kuli hin. Aber er schaute David nicht an. Er hielt die Augen auf die Papiere gerichtet. »Du bist zu spät«, sagte er. »Du solltest mich um 17 Uhr abholen. Es ist jetzt sieben nach.«
»Es tut mir leid. Auf der Interstate war viel Verkehr. Komm, wir gehen.«
Michael rührte sich nicht. David konnte sehen, dass ihn noch etwas beschäftigte. Er hatte gelernt, dass es in solchen Situationen besser war, den Jungen nicht zu drängen. Deshalb blieb David neben dem Tisch stehen und wartete.
»Mir gefällt diese Schule nicht mehr«, sagte Michael schließlich.
David holte tief Luft. Dieses Gespräch führten sie nicht zum ersten Mal. »Wir haben darüber schon geredet, Michael. Ich glaube, die Lehrer hier helfen dir sehr.«
»Nein, das tun sie nicht. Ich lerne hier nichts.«
»Du lernst, wie du mit anderen Menschen zurechtkommst. Und das ist sehr wichtig.«
Michael schüttelte den Kopf. »Mir gefällt diese Schule nicht. Ich will zu einer anderen gehen.«
Die Stimme des Jungen war ruhig, aber David bemerkte, dass die Mitarbeiter des Zentrums ihn sorgfältig beobachteten. Er musste diese Auseinandersetzung beenden, bevor sie eskalierte. »Schon gut, ich verstehe. Ich will mich ein bisschen umsehen, okay? Vielleicht finde ich ein anderes Zentrum, wo …«
»Das musst du nicht tun.« Michael nahm den Papierstoß in die Hand. »Ich habe schon eine andere Schule gefunden und den Aufnahmeantrag heruntergeladen.«
Er reichte David die Papiere. Es war ein langer Antrag mit einem halben Dutzend Seiten ausführlich zu beantwortender Fragen. Die Seiten lagen nicht in der richtigen Reihenfolge, aber David konnte sehen, dass Michael jede Frage in seiner wunderschön ordentlichen Handschrift beantwortet hatte. Er hatte kleine Aufsätze über seine persönlichen Ziele, seine Lieblingshobbys und seine liebsten Erinnerungen geschrieben. Er hatte sogar die Anmeldegebühr beigefügt, fünf Zwanzig-Dollar-Scheine, die er von seinem Taschengeld gespart hatte. Schließlich fand David die erste Seite des Aufnahmeantrags und sah in der obersten Zeile den Namen der Schule. Es war die Columbia University.
»Ich will Physik studieren«, sagte Michael. »Ich will Physiker werden.«
David traten Tränen in die Augen. Natürlich, dachte er. Das war die perfekte Wahl.
Michael zeigte auf einen Kasten am Ende der letzten Seite. »Für diese Anmeldung ist deine Unterschrift erforderlich. An der Stelle, wo ›Eltern oder Vormund‹ steht.«
David wischte sich die Augen ab. Dann nahm er den Kugelschreiber in die Hand und legte das Blatt auf den Tisch, um unterschreiben zu können.
»Mit Vergnügen«, sagte er. »Du wirst bestimmt ein toller Physiker, Michael.«
Einen Wissenschaftsthriller zu schreiben, macht zum Teil aus dem Grund Spaß, weil man echte Technologien und wissenschaftliche Prinzipien in die Romanhandlung einbeziehen kann. Hier sind einige der Tatsachen und Theorien, die ich Crash einverleibt habe.
QUANTENCOMPUTER. Mein Interesse an diesem Gebiet begann 2008, als ich einen Artikel redigierte, der von zwei führenden Experten über Quantencomputing geschrieben worden war – Christopher R. Monroe von der University of Maryland und David J. Vineland vom National Institute of Standard and Technology. Monroe lud mich in sein Labor auf dem Campus der Universität in College Park ein, wo Wissenschaftler die ersten Schritte zum Bau ultraschneller Computer unternehmen, die Ionen zur Durchführung von Berechnungen einsetzen. Der Codes knackende Computer in Crash beruht auf den genialen Apparaten, die ich bei diesem Besuch gesehen habe. – Ich habe einige der Details vereinfacht; richtige Ionenfallen benötigen beispielsweise zusätzliche Elektroden und oszillierende elektrische Felder. – Mehr über die Technologie lässt sich in dem Artikel »Quantum Computing with Ions«, Scientific American, August 2008, erfahren.
IT FROM BIT. Seit Jahrzehnten spielen Wissenschaftler mit dem Gedanken, das Universum sei ein Computer und führe ein Programm aus, das den Urknall ausgelöst hat. Der herausragende Physiker John Archibald Wheeler formuliert es in seiner Autobiografie Geons, Black Holes und Quantum Foam: A Life in Physics, 1998: »Jetzt hat mich eine neue Vision gepackt: dass Alles Information ist. Je mehr ich über das Geheimnis des Quantums und über unsere merkwürdige Fähigkeit nachgedacht habe, diese Welt, in der wir leben, zu verstehen, umso mehr erkenne ich, welche fundamentale Rolle Logik und Information als Grundlage einer physikalischen Theorie spielen könnten.« In seinem 2006 erschienenen Buch Programming the Universe: A Quantum Computer Scientist Takes on the Cosmos beschreibt der MIT-Professor Seth Lloyd, wie Quantenschwankungen zu Beginn der Zeit einfache Programme erzeugt haben könnten, die das Universum organisierten und die physikalischen Gesetze festlegten, die sämtliche folgenden Berechnungen bestimmt hätten. Mein eigener Beitrag zu diesem Thema besteht darin, die Frage zu stellen: Falls das Universum ein Computer ist, was würde ihn dazu bringen abzustürzen?
EXCALIBUR. Während der Achtzigerjahre unterstützte Edward Teller – der Vater der Wasserstoffbombe – eine radikale Idee zur Raketenabwehr: sowjetische Interkontinentalraketen mithilfe von Hochenergie-Laserstrahlern abzuschießen, die von einer Nuklearexplosion im Weltraum angetrieben würden. Nachdem Forscher das Konzept durch unterirdische Atomexplosionen in Nevada getestet hatten, wurde das Projekt – das zuerst Excalibur, später Super Excalibur getauft wurde – zum Kernstück des sogenannten Star-Wars-Programms. Spätere Tests zeigten allerdings, dass die Technologie nicht so erfolgversprechend war wie angekündigt, und die Regierung ließ sie fallen. Excalibur wurde nie zu einer Waffe, aber es war ein Schritt in unbekanntes Terrain, und man kann sich leicht vorstellen, dass dieses beispiellose physikalische Phänomen unvorhergesehene Wirkungen haben könnte. Ein ausgezeichnetes Buch über das Projekt ist Teller’s War von William J. Broad.
TURKMENISCHE GEOLOGIE. Ein katastrophaler Unfall auf einer sowjetischen Bohrstelle in der Karakum-Wüste Turkmenistans hinterließ einen Trichter, der zum brennenden Krater von Derweze wurde, in dem seit mehreren Jahrzehnten Erdgas abgefackelt wird. Die Yangykala-Schlucht ist ebenfalls ein tatsächlicher Ort in Turkmenistan, so schön wie der Grand Canyon, aber mit viel weniger Touristen. Die Höhle von Camp Cobra ähnelt der von Kow Ata im Kopet-Dag-Gebirge. Und ja, Kow Ata hat einen unterirdischen See. Man kann darin schwimmen, aber es ist ein bisschen unheimlich.
Die gleichen Leute, die mir dabei geholfen haben, Die Würfel Gottes, dem ersten Buch in der David-Swift-Serie, den letzten Schliff zu verleihen, waren auch wieder für mich da, während ich Crash schrieb. Meine Freunde beim Scientific American waren großzügig, was ihre praktische und moralische Unterstützung betraf. Die Mitglieder meiner Schreibgruppe – Rick Eisenberg, Johanna Fiedler, Steve Goldstone, Dave King, Melissa Knox und Eva Melder – pflügten sich durch Stapel von Manuskriptseiten und wiesen geduldig auf meine Fehler hin. Mein Agent Dan Lazar von Writers House sorgte dafür, dass ich meine Abgabetermine einhielt, und Sulay Hernandez von Touchstone redigierte das Buch mit Sorgfalt und Fantasie. Und wieder einmal stehe ich tief in der Schuld meiner Frau, weil sie mich daran erinnert, wie viel Glück ich habe.
Es geschah an einem Donnerstag um 16 Uhr 46, während Michael Gupta in seiner verhaltenstherapeutischen Sitzung war. Es klopfte an der Tür, und Dr. Parsons ging hin, um zu öffnen. Doch kurz bevor er dort ankam, ging die Tür weit auf, und Michael hörte einen schnellen, gedämpften Schuss. Dr. Parsons fiel nach hinten, und sein Kopf schlug auf den Boden. Er lag bewegungslos auf dem Rücken, und in der Mitte seines Polohemds war ein gezacktes schwarzes Loch. In weniger als einer Sekunde füllte sich das Loch mit Blut.
Sie befanden sich im Computerraum des Autismuszentrums von Upper Manhattan, das Michael während der Woche jeden Nachmittag aufsuchte. Er war neunzehn Jahre alt, und seine Lehrer hatten gesagt, er habe in den vergangenen zwei Jahren großartige Fortschritte gemacht, müsse aber noch an seiner sozialen Kompetenz arbeiten, damit er auf einem Bürgersteig voller Menschen nicht nervös wurde oder anfing zu stöhnen, wenn jemand gegen ihn stieß. Deshalb hatte Dr. Parsons ein Computerprogramm namens Virtual Contact aufgetan, das Simulationen von Menschen und Orten generierte, lebendige Gestalten, die über realistisch aussehende Straßen gingen. Das Programm sollte Michael helfen zu erkennen, dass Begegnungen im öffentlichen Raum normalerweise nicht gefährlich waren. Der Arzt war gerade im Begriff gewesen, ihm zu zeigen, wie man die Simulation in Gang setzt, als sie das Klopfen an der Tür hörten.
Kurz nachdem Dr. Parsons zusammengebrochen war, betraten ein Mann und eine Frau das Zimmer. Beide trugen ausgebeulte dunkelblaue Overalls. Der Mann war hochgewachsen, er hatte schwarze Haare, einen Bürstenhaarschnitt und seitlich am Hals eine lange, bogenförmige Narbe. Michael schaute dem Mann nicht ins Gesicht. Er schaute Menschen im Allgemeinen nicht ins Gesicht, weil er nicht gern mit ihnen in Blickkontakt trat, und in den meisten Fällen konnte er sich ohnehin keinen Reim auf einen Gesichtsausdruck machen. Die Frau war ebenfalls groß, und ihre Haare waren fast so kurz wie die des Mannes, aber Michael konnte sehen, dass es eine Frau war, weil ihr Busen die Vorderseite ihres Overalls ausfüllte. An ihrer linken Hand waren drei Finger verbunden, in der rechten hielt sie eine Schusswaffe.
Mit Schusswaffen kannte sich Michael aus. Er hatte schon welche gesehen, und das nicht nur in Videospielen. Die Pistole der Frau war mit einem Schalldämpfer versehen, ein dicker grauer Zylinder, der an der Mündung angebracht war. Deshalb hatte der Schuss so dumpf geklungen. Die Frau hatte Dr. Parsons erschossen, und jetzt würde sie auch ihn erschießen.
Sie machte einen Schritt auf ihn zu. Michael stöhnte auf. Er rutschte von seinem Stuhl herunter und rollte sich auf dem Linoleumboden zusammen. Er schloss die Augen und begann, die Fibonacci-Folge zu berechnen. Das tat er immer, wenn er Angst bekam. Michael hatte ausgezeichnete mathematische Fähigkeiten geerbt; er war tatsächlich Albert Einsteins Ururenkel, obwohl er das niemandem verraten sollte. Und die Fibonacci-Folge war leicht zu berechnen: Jede Zahl in der Folge entspricht der Summe der beiden vorhergehenden Zahlen. Die Ziffern leuchteten auf dem schwarzen Bildschirm seiner Lider auf und liefen schnell von rechts nach links wie die Wörter unten an einem Fernsehbildschirm: 0, 1, 1, 2, 3, 5, 8, 13, 21, 34, 55, 89…
Die Frau machte noch zwei Schritte und beugte sich über ihn. Michael schlug die Augen auf. Obwohl er die Stirn gegen das Linoleum presste, konnte er ihren Schatten sehen.
»Es ist alles in Ordnung, Michael«, sagte sie. Ihre Stimme war ruhig, und sie sprach langsam. »Ich werde dir nicht wehtun.«
Er stöhnte lauter und versuchte, sie zu übertönen.
»Hab keine Angst«, sagte sie. »Wir machen eine Reise. Ein großes Abenteuer.«
Er hörte ein polterndes Geräusch. Aus dem Augenwinkel sah er zwei Räderpaare. Der Mann mit dem schwarzen Bürstenhaarschnitt hatte eine Ambulanztrage in den Raum gerollt. Er zog an einem Hebel, der die Trage auf den Boden absenkte. Im gleichen Augenblick packte die Frau Michael am Handgelenk. Er versuchte zu schreien, aber sie legte ihm die andere Hand auf den Mund. Dann wandte sie sich an den Mann. »Hol das Fentanyl raus!«
Michael begann, sich herumzuwerfen. Er trat und wand sich und schlug derart wild um sich, dass er sich nachher nur an ein Übelkeit erregendes Gewirbel erinnern konnte. Sie schnallten ihn auf der Trage fest, wobei sie ihm Arme und Beine fesselten. Dann legten sie ihm eine Plastikmaske auf das Gesicht, eine Sauerstoffmaske. Michael konnte weder schreien noch atmen. Alles, was er machen konnte, war, mit dem Hinterkopf gegen die Liegefläche der Trage zu schlagen, was er mit aller Kraft tat. Die Frau drehte das Ventil eines Stahlbehälters auf, der durch einen Plastikschlauch mit Michaels Sauerstoffmaske verbunden war. Er spürte, wie Luft in die Maske gepumpt wurde, Luft, die gleichzeitig süß und bitter roch. In ein paar Sekunden hatte ihn seine ganze Kraft verlassen, und er konnte sich überhaupt nicht mehr bewegen.
Er befand sich mitten zwischen Schlafen und Wachsein. Er konnte noch sehen und hören, aber alles schien weit entfernt zu sein. Der Mann und die Frau schoben die Trage durch den Flur auf den Notausgang zu. Dann stießen sie die Tür auf und rollten ihn zu einem Krankenwagen, der an der Ecke Broadway und 98th Street geparkt war. Michael sah eine Menge Leute auf dem Bürgersteig, die alle stehen blieben, um ihnen Platz zu machen. Er war so erschöpft, dass er kaum den Kopf heben konnte, aber er zwang sich dazu, die Gesichter in der Menge anzuschauen. Er hielt nach David Swift Ausschau. Als Michael vor zwei Jahren zum letzten Mal in Schwierigkeiten geraten war, hatte David ihn gerettet. Von dieser Zeit an hatte Michael bei David gewohnt und sich ein Zimmer mit Davids Sohn Jonah geteilt. David und seine Frau Monique sowie Jonah und das Baby Lisa waren jetzt Michaels Familie. Er war davon überzeugt, dass David jeden Moment angerannt kommen würde.
Aber David war nicht da. Alle Leute auf dem Bürgersteig waren Fremde. Der Mann mit dem schwarzen Bürstenhaarschnitt öffnete die Hecktür des Krankenwagens, dann hoben er und die Frau die Tragbahre in das Fahrzeug. Die Frau stieg ebenfalls ein und schloss die Hecktür, während der Mann zur Vorderseite des Krankenwagens ging und auf den Fahrersitz kletterte. Die Frau setzte sich auf einen Klappsitz neben der Trage. Ihre Knie waren nur ein paar Zoll von Michaels Kopf entfernt. Dann setzte sich der Krankenwagen in Bewegung.
Michael starrte nach oben auf eine Schalttafel, die sich an der Decke befand, und begann, die Schalter daran zu zählen, aber die Frau beugte sich über ihn und versperrte ihm die Sicht. Sie nahm ihm die Sauerstoffmaske ab. »So, das ist etwas bequemer«, sagte sie. »Du bist nicht irgendwo verletzt, oder?«
Er holte tief Luft. Jetzt, wo er die Maske nicht mehr trug, wurde sein Kopf allmählich wieder klar. Er versuchte, sich von der Frau abzuwenden, aber sie packte sein Kinn mit den bandagierten Fingern und drehte seinen Kopf wieder zurück. Ihr Griff war sehr kräftig. »Tut mir leid, dass wir dich überrumpeln mussten«, sagte sie, »aber wir haben nicht viel Zeit.«
Sie beugte sich noch etwas weiter vor und kam Michael mit ihrem Gesicht so nahe, dass er sie einfach ansehen musste. Sie hatte braune Augen und eine schmale Nase. Ihre Augenbrauen sahen wie schwarze Kommas aus. Ihre Lippen verzogen sich zu einem Lächeln, was er verwirrend fand. Warum lächelte sie ihn an?
»Ich heiße Tamara«, sagte sie. »Du bist ein hübscher Junge, weißt du das?«
Sie ließ sein Kinn los und strich ihm über das Haar. Er wollte wieder schreien, aber seine Kehle war wie zugeschnürt, und er brachte keinen Ton heraus. Ihre bandagierten Finger bewegten sich langsam über seine Kopfhaut.
»Ich bringe dich zu Bruder Cyrus«, sagte sie. »Er freut sich darauf, dich kennenzulernen.«
Michael schloss die Augen. Er versuchte wieder, die Fibonacci-Folge zu berechnen, aber statt der Zahlen sah er jetzt Wörter vor seinem geistigen Auge, die mit großer Geschwindigkeit von rechts nach links liefen. Es waren deutsche Wörter: Die allgemeine Relativitätstheorie war bisher in erster Linie …
»Bruder Cyrus wird dir gefallen. Er ist ein guter Mann. Und genau in diesem Moment braucht er deine Hilfe. Es ist sehr wichtig.«
Er hielt die Augen geschlossen. Vielleicht würde sie aufhören zu reden und weggehen, wenn er sie lange genug nicht zur Kenntnis nahm. Aber nach ein paar Sekunden spürte er die Hand der Frau auf seiner Wange.
»Hörst du mir zu, Michael? Verstehst du, was ich sagen will?«
Er nickte. Die deutschen Wörter strömten weiterhin durch seinen Kopf. Dann rollten die Gleichungen vorbei, eine lange Kette aus griechischen Buchstaben und mathematischen Verknüpfungen, mit Symbolen, die wie Schlangen und Mistgabeln und Kreuze geformt waren. Sie waren sein Geheimnis, sein Schatz. Er hatte David Swift versprochen, dass er die Theorie niemandem verraten würde.
Er schlug die Augen auf. »Ich werde Ihnen nicht helfen«, sagte er. »Sie haben Dr. Parsons getötet.«
»Tut mir leid, das ließ sich nicht vermeiden. Wir müssen unseren Anweisungen folgen.«
Michael sah den Arzt vor sich, wie er mit dem blutigen Loch in seinem Polohemd dalag. David hatte ihn gewarnt, dass so etwas passieren könnte. Es gibt böse Menschen, hatte er gesagt, die die geheime Theorie benutzen wollten, um Waffen herzustellen. Als Michael gefragt hatte: »Was für Waffen?«, hatte David geantwortet: »Waffen, die schlimmer sind als Atombomben. Kanonen, die mit einem einzigen Schuss die Hälfte der Menschen auf der Erde töten können.«
Die Frau namens Tamara versuchte erneut, ihm über die Haare zu streichen, aber er schüttelte den Kopf. »Ich werde Ihnen nichts verraten! Sie wollen die Theorie benutzen, um Waffen zu bauen.«
»Redest du von der Einheitlichen Feldtheorie? Von den Gleichungen, die du auswendig gelernt hast?«
Michael presste die Lippen zusammen. Er würde kein Wort mehr sagen.
»Dann kann ich dich beruhigen. Wir kennen schon einige der Gleichungen in der Einheitlichen Theorie, und wenn wir unsere Kenntnisse hätten benutzen wollen, um Waffen zu bauen, hätten wir das schon längst tun können.« Ihre kräftige Hand legte sich um sein Kinn und hielt sein Gesicht still. »Hör mir jetzt gut zu. Bruder Cyrus ist ein Mann des Friedens. Wie der Prophet Jesaja. Hast du schon mal das Buch Jesaja gelesen?«
Michael war übel. Tamaras warmer Atem legte sich auf sein Gesicht. Sie war zu nahe an ihm dran, und er konnte sich nicht abwenden. »Lassen Sie mich los! Ich will nach Hause!«
»Die Wölfe werden bei den Lämmern wohnen und der Pardel bei den Böcken liegen. Und ein Knabe wird sie führen.« Sie lächelte. »Das bist du, Michael. Das ist der Grund, weshalb Bruder Cyrus dich braucht. Du wirst uns helfen, die Weissagung zu erfüllen.«
Er fing an zu schreien. Es gab nichts, was er sonst tun konnte.
Ohne sein Kinn loszulassen, streckte Tamara ihre andere Hand nach dem Stahlbehälter aus und drehte das Ventil auf. »Aber jetzt musst du dich ausruhen. Wir haben eine lange Fahrt vor uns.«
Dann legte sich die Sauerstoffmaske wieder auf sein Gesicht.