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DAS BUCH

Obwohl seine Lage aussichtslos ist, kann Darrow die Hoffnung auf Revolution nicht begraben. Er mag alles verloren haben – seinen Ursprung als Roter Minenarbeiter, seine erste große Liebe, seinen Kampf inmitten der Goldenen, seine Freiheit. Aber solange er lebt, wird er weiterkämpfen. Auch wenn sein Erzfeind, der Schakal, ihn in einem unmenschlich grausamen Kerker gefangen hält. Als er nach fast einem Jahr immer noch nicht gebrochen ist, darf er das Tageslicht wieder sehen. Und wider jedes Erwarten erhält er eine letzte Chance, Gerechtigkeit im Universum herzustellen. Aber dafür muss er alles riskieren und auch jene zurückgewinnen, die er sich zu Todfeinden gemacht hat.

DER AUTOR

Nach dem Collegeabschluss hätte Pierce Brown eigentlich nichts dagegen gehabt, seine Studien in Hogwarts fortzusetzen. Da es ihm dafür leider an der nötigen magischen Gabe fehlte, versuchte er es mit verschiedenen Jobs in der Medienbranche. Seine Red-Rising-Trilogie wurde ein so sensationeller Erfolg, dass Pierce Brown sich jetzt ganz dem Schreiben widmen kann. Der Autor lebt in L.A.

PIERCE BROWN

TAG DER

ENTSCHEIDUNG

ROMAN

Aus dem Amerikanischen

von Bernhard Kempen

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel Morning Star

bei Del Rey, an imprint of Random House, New York

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Copyright © 2016 by Pierce Brown

Copyright © 2016 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Das Illustrat, München, nach dem Originalumschlag von Faceout Studio/David G. Stevenson, unter Verwendung eines Motivs von © David G. Stevenson und Shutterstock

Gestaltung der Karte: © Joel Daniel Phillips

Redaktion: Christine Schlitt

Satz: Leingärtner, Nabburg

ISBN: 978-3-641-14743-3
V003

www.heyne.de

www.DieZukunft.de

Für meine Schwester,

die mir das Zuhören beibrachte

Was bisher geschah …

Red Rising

Darrow ist ein Roter, ein niederer Minenarbeiter, der unter der Marsoberfläche schuftet. Er rackert sich ab, um die Oberfläche seines Planeten für künftige Generationen bewohnbar zu machen. Doch er und seinesgleichen wurden betrogen: Die Oberfläche wird bereits bewohnt und von den skrupellosen Goldenen regiert. Als seine Frau gehängt wird, weil sie rebellische Ideen äußert, schließt sich Darrow einer revolutionären Gruppe an, den Söhnen des Ares. Mithilfe der Söhne verwandelt sich Darrow körperlich in einen Goldenen und wird entsandt, um die Weltengesellschaft von innen heraus zu unterminieren.

Er findet Aufnahme am Institut, dem Trainingslager der Elite der Goldenen, wo verwöhnte Jugendliche zu den besten Kriegern der Weltengesellschaft ausgebildet werden. Dort erlernt Darrow die Kunst der Kriegsführung und wie man sich durch oftmals heimtückische – aber manchmal wahre – Freundschaften und durch das komplexe politische Klima der Goldenen navigiert. Nur durch eine Änderung der Strategie und mit Unterstützung seiner neuen Freunde ist Darrow in der Lage, das Institut mit all seinen Gefahren zu überstehen.

Im Haus der Feinde

Nach seinem Sieg am Institut steigt Darrows Ansehen, und er erhält eine Anstellung beim Erzgouverneur des Mars, Nero au Augustus. Es fällt ihm jedoch schwer, seiner eigenen Legende gerecht zu werden, denn Darrow scheitert an der Akademie, wo die Goldenen den Kampf Schiff gegen Schiff trainieren. Nachdem er von einem Familienrivalen seines Dienstherrn übertroffen wurde, sinkt Darrows Stern in den Augen des Erzgouverneurs, bis Darrow dem machthungrigen Goldenen gibt, was er will: einen Bürgerkrieg.

Darrow spielt Augustus’ Clan gegen die Bellonas aus, destabilisiert die Weltengesellschaft und sät überall Chaos. Nachdem er eine beeindruckende Armee und einige dubiose Verbündete versammelt hat, führt Darrow einen erfolgreichen Angriff auf den Mars an und entringt den Bellonas die Herrschaft über den Planeten. Doch bei der Triumphfeier zu Ehren seines militärischen Sieges zeigt der Verrat wieder seine hässliche Fratze, und alles, wofür er gearbeitet hat, wird zunichtegemacht. Seine Freunde und Verbündeten kommen um oder sind verschollen, Darrow wird gefangen genommen, und seine geheime Identität fliegt auf. Das Schicksal der Rebellion steht auf Messers Schneide …

Dramatis Personae

Die Goldenen

Octavia au Lune    Regierendes Oberhaupt der Weltengesellschaft

Lysander au Lune    Enkelsohn von Octavia, Erbe des Hauses Lune

Adrius au Augustus / Der Schakal    Erzgouverneur des Mars, Zwillingsbruder von Virginia

Virginia au Augustus / Mustang    Zwillingsschwester von Adrius

Magnus au Grimmus / Herr der Asche    Erzimperator des Oberhaupts, Vater von Aja

Aja au Grimmus    Ritterin des Proteus, Chefin der Leibwache des Oberhaupts

Cassius au Bellona    Ritter der Morgenröte, Leibwächter des Oberhaupts

Roque au Fabii    Imperator der Zepter-Armada

Antonia au Severus-Julii    Halbschwester von Victra, Tochter von Agrippina

Victra au Julii    Halbschwester von Antonia, Tochter von Agrippina

Kavax au Telemanus    Patriarch des Hauses Telemanus, Vater von Daxo

Daxo au Telemanus    Sohn und Erbe von Kavax, Bruder von Pax

Romulus au Raa    Patriarch des Hauses Raa, Erzgouverneur von Io

Lilath au Faran    Gefährtin des Schakals, Oberhaupt der Knochenreiter

Cyriana au Tanus / Thistle    Eine ehemalige Heulerin, jetzt ein Lieutenant der Knochenreiter

Vixus au Sarna    Ehemals aus dem Haus Mars, Lieutenant der Knochenreiter

Mittlere und Niedere Farben

Trigg ti Nakamura    Legionär, Bruder von Holiday, ein Grauer

Holiday ti Nakamura    Legionärin, Schwester von Trigg, eine Graue

Regulus ag Sun / Quicksilver    Reichster Mann der Weltengesellschaft, ein Silberner

Alia Snowsparrow    Königin der Walküren, Mutter von Ragnar und Sefi, eine Obsidiane

Sefi die Stille    Kriegsherrin der Walküren, Tochter von Alia, Schwester von Ragnar

Orion xe Aquarii    Schiffskapitän, eine Blaue

Söhne des Ares

Darrow von Lykos / Der Schnitter    Ehemaliger Lanzenreiter des Hauses Augustus, ein Roter

Sevro au Barca / Kobold    Heuler, ein Goldener

Ragnar Volarus    Neuer Heuler, ein Obsidianer

Dancer    Ares’ Stellvertreter, ein Roter

Mickey    Graveur, ein Violetter

Ich steige in die Finsternis empor, fort vom Garten, den sie mit dem Blut meiner Freunde getränkt haben. Der Goldene, der das Leben meiner Frau ausgelöscht hat, liegt tot neben mir auf einem kalten Metalldeck, von der Hand seines eigenen Sohns getötet.

Der Herbstwind zerzaust mein Haar. Unter mir rumpelt das Schiff. In der Ferne zersplittern Reibungsflammen die Nacht in strahlendem Orange. Die Telemanus kommen aus dem Orbit herab, um mich zu retten. Das sollten sie lieber nicht tun. Ich überlasse mich lieber der Finsternis, damit sich die Aasgeier über meinen gelähmten Körper hermachen können.

Die Stimmen meiner Feinde hallen mir nach. Hoch aufragende Dämonen mit Engelsgesichtern. Der Kleinste unter ihnen beugt sich herab. Er streichelt meinen Kopf, während er auf seinen toten Vater blickt.

»So wird die Geschichte immer enden«, sagt er zu mir. »Nicht mit deinen Schreien. Nicht mit deiner Wut. Sondern mit deinem Schweigen.«

Roque, mein Verräter, sitzt in der Ecke. Er war einst mein Freund. Ein zu freundliches Herz für seine Farbe. Jetzt dreht er mir den Kopf zu, und ich sehe seine Tränen. Aber sie sind nicht für mich. Sondern für jene, die er verloren hat. Für jene, die ich ihm genommen habe.

»Kein Ares, der dich rettet. Keine Mustang, die dich liebt. Du bist allein, Darrow.« Die Augen des Schakals sind kühl und ruhig. »Wie ich.« Er hält eine schwarze augenlose Maske mit einem Beißschutz hoch und schnallt sie mir um. Verdunkelt meine Sicht. »So wird es enden.«

Um mich zu brechen, hat er jene, die ich liebe, abgeschlachtet.

Aber es besteht dennoch Hoffnung in den Lebenden. In Sevro. In Ragnar und Dancer. Ich denke an mein Volk, das in der Finsternis gefangen ist. An alle Farben auf allen Welten, die in Ketten gelegt sind, damit Gold regieren kann, und ich spüre, wie sich meine Wut durch die dunkle Leere brennt, die er in meine Seele geschnitzt hat. Ich bin nicht allein. Ich bin nicht sein Opfer.

Soll er doch tun, was er will. Ich bin der Schnitter.

Ich weiß, wie man leidet.

Ich kenne die Finsternis.

So wird es nicht enden.

ERSTER TEIL

Dornen

Per aspera ad astra

1    Nur die Finsternis

Tief in der Finsternis, fern von Wärme, fern der Sonne und der Monde, liege ich still wie der Stein, der mich umgibt und meinen gekrümmten Körper wie ein entsetzlicher Schoß gefangen hält. Ich kann mich nicht aufrichten. Kann mich nicht strecken. Ich kann mich nur zu einer Kugel zusammenrollen wie die leblose Versteinerung des Mannes, der ich einst war. Die Hände hinter dem Rücken gefesselt. Nackt auf kaltem Felsen.

Ganz allein mit der Finsternis.

Es scheint Monate, Jahre, Jahrtausende her zu sein, dass meine Knie gestreckt waren und ich meine Wirbelsäule aus der gekrümmten Lage aufrichten konnte. Die Schmerzen machen mich wahnsinnig. Meine Gelenke verschmelzen miteinander wie verrostetes Eisen. Wie viel Zeit ist vergangen, seit ich meine Goldenen Freunde auf dem Gras verbluten sah? Seit ich den Kuss des sanften Roque auf meiner Wange spürte, als er mir das Herz brach?

Die Zeit ist kein Fluss.

Nicht hier.

In dieser Grabkammer ist die Zeit wie der Stein. Es ist die immerwährende und starre Finsternis, deren einziges Maß die beiden Pendel des Lebens sind – mein Atem und mein Herzschlag.

Ein. Ba … wump. Ba … wump.

Aus. Ba … wump. Ba … wump.

Ein. Ba … wump. Ba … wump.

Und es wiederholt sich beständig. Bis … Bis wann? Bis ich an Altersschwäche sterbe? Bis ich mir den Schädel am Stein zerschmettere? Bis ich mir die Schläuche herausnage, die mir die Gelben in den Unterleib geschoben haben, um Nährstoffe hineinzupressen und den Abfall hinauszubefördern?

Oder bis du wahnsinnig wirst?

»Nein.« Ich knirsche mit den Zähnen.

Doch!

»Es ist nur die Finsternis.« Ich atme ein. Beruhige mich. Berühre die Wände in meiner besänftigenden Routine. Rücken, Finger, Steißbein, Fersen, Zehen, Knie, Kopf. Noch einmal. Dutzendmal. Hundertmal. Warum nicht auf Nummer sicher gehen? Also tausendmal.

Ja. Ich bin allein.

Ich hätte gedacht, dass es schlimmere Schicksale als dieses gibt, aber jetzt weiß ich, dass es nicht schlimmer sein kann. Der Mensch ist keine Insel. Wir brauchen jene, die uns lieben. Wir brauchen jene, die uns hassen. Wir brauchen die anderen, die uns ans Leben anbinden, die uns einen Grund geben, zu leben, zu fühlen. Mir ist nur die Finsternis geblieben. Manchmal schreie ich. Manchmal lache ich in der Nacht, am Tag. Wer weiß es schon? Ich lache, um die Zeit zu vertreiben, um die Kalorien zu verbrennen, die mir der Schakal gibt, und um meinen Körper in den Schlaf zittern zu lassen.

Ich weine auch. Ich summe. Ich pfeife.

Ich lausche den Stimmen über mir. Die aus dem endlosen Meer der Finsternis zu mir kommen. Dazu das unerträgliche Rasseln von Ketten und Knochen, das durch meine Gefängnismauern vibriert. Es ist alles so nah und doch Tausende von Kilometern entfernt, als würde jenseits der Finsternis eine komplette Welt existieren, die ich weder sehen, berühren, schmecken noch fühlen kann und deren Schleier ich nicht durchdringen kann, um wieder dazuzugehören. Ich bin in der Einsamkeit gefangen.

Ich höre die Stimmen jetzt. Die Ketten und Knochen sickern in mein Gefängnis.

Sind das meine Stimmen?

Ich lache über diesen Gedanken.

Ich fluche.

Ich schmiede Pläne. Töte.

Schlachte ab. Stich nieder. Zerreiße. Lösche aus.

Ich bettle. Ich halluziniere. Ich feilsche.

Ich winsele Gebete an Eo, bin glücklich, dass ihr ein solches Schicksal erspart geblieben ist.

Sie hört dir nicht zu.

Ich singe Kinderlieder und zitiere aus Die sterbende Erde, Der Laternenanzünder, dem Ramayana, der Odyssee auf Griechisch und Latein, dann in nicht mehr gesprochenen Sprachen wie Arabisch, Englisch, Chinesisch und Deutsch – all das Wissen, das Matteo mir eintrichterte, als ich noch ein Junge war. Ich versuche, Kraft aus dem unberechenbaren Argiver zu schöpfen, der nur seinen Weg nach Hause finden wollte.

Du vergisst, was er getan hat.

Odysseus war ein Held. Mit seinem hölzernen Pferd riss er Trojas Mauern ein. So wie ich Bellonas Armeen im Eisernen Regen über dem Mars durchbrach.

Und dann …

»Nein«, schnauze ich. »Ruhe!«

… die Männer fielen in Troja ein. Sie trafen auf Mütter. Sie trafen auf Kinder. Rate mal, was sie taten.

»Sei still!«

Du weißt genau, was sie taten. Knochen. Schweiß. Fleisch. Asche. Tränen. Blut.

Die Finsternis kichert schadenfroh.

Schnitter, Schnitter, Schnitter … Alle Taten, die überdauern, sind in Blut gemalt.

Schlafe ich? Bin ich wach? Ich bin verwirrt. Alles fließt zusammen, ertränkt mich in Visionen, Geflüster und Geräuschen. Immer wieder zerre ich an Eos zerbrechlichen kleinen Fußknöcheln. Zertrümmere Julian das Gesicht. Höre, wie Pax, Quinn, Tactus, Lorn und Victra den letzten Seufzer tun. So viel Schmerz. Und wozu? Um meine Frau zu enttäuschen. Um mein Volk zu enttäuschen.

Und um Ares zu enttäuschen. Deine Freunde zu enttäuschen.

Wie viele sind überhaupt noch übrig?

Sevro? Ragnar?

Mustang?

Mustang. Und wenn sie weiß, dass du hier bist …? Wenn es ihr egal ist …? Warum sollte es sie interessieren? Du hast sie verraten. Du hast gelogen. Du hast ihren Geist missbraucht. Ihren Körper. Ihr Blut. Du hast ihr dein wahres Gesicht gezeigt, und sie ist fortgelaufen. Und wenn sie es war? Wenn sie dich verraten hat? Könntest du sie dann lieben?

»Sei still!«, schreie ich mich in der Finsternis an.

Denk nicht an sie. Denk nicht an sie.

Warum nicht? Sie fehlt dir.

Sie erscheint mir in der Finsternis wie schon so oft – ein Mädchen, das über ein grünes Feld von mir wegreitet, sich im Sattel umdreht und mich anlacht, damit ich ihr folge. Das Haar flattert wie Sommerheu, das vom Karren eines Bauern weht.

Du sehnst dich nach ihr. Du liebst sie. Das Goldene Mädchen. Vergiss dieses Rote Biest.

»Nein.« Ich schlage mit dem Kopf gegen die Wand. »Es ist nur die Finsternis«, flüstere ich. Es ist nur die Finsternis, die mir einen Streich spielt. Trotzdem will ich Mustang vergessen, Eo vergessen. Es gibt keine Welt jenseits dieses Ortes. Mir kann nichts fehlen, was es gar nicht gibt.

Aus alten Krusten, die jetzt wieder aufgebrochen sind, sickert warmes Blut über meine Stirn. Es tropft von meiner Nase. Ich strecke die Zunge heraus, taste damit auf dem kalten Stein, bis ich die Tropfen finde. Ich koste das Salz, das marsianische Eisen. Sachte. Sachte. Damit dieser neue Sinneseindruck anhält. Damit der Geschmack bleibt und mich daran erinnert, dass ich ein Mann bin. Ein Roter aus Lykos. Ein Höllentaucher.

Nein. Der bist du nicht. Du bist ein Nichts. Deine Frau hat dich verlassen und dir dein Kind gestohlen. Deine Hure hat sich von dir abgewendet. Du warst nicht gut genug. Du warst zu eitel. Zu dumm. Zu gemein. Du bist längst vergessen.

Bin ich das?

Als ich das Goldene Mädchen zuletzt sah, kniete ich neben Ragnar in den Stollen von Lykos und forderte Mustang auf, ihre eigenen Leute zu verraten, um für mehr zu leben. Ich wusste, wenn sie mit uns geht, würde sich Eos Traum verwirklichen. Eine bessere Welt wäre in greifbarer Nähe. Stattdessen ging sie. Konnte sie mich vergessen? Hat sie ihre Liebe für mich verloren?

Sie hat nur deine Maske geliebt.

»Es ist nur die Finsternis. Nur die Finsternis. Nur die Finsternis«, murmele ich immer schneller und schneller.

Ich sollte nicht hier sein.

Ich sollte tot sein. Nach Lorns Tod sollte ich Octavia übergeben werden, damit ich von ihren Graveuren seziert werde, um dem Geheimnis auf die Spur zu kommen, wie ich zu einem Goldenen wurde. Um zu sehen, ob es andere wie mich geben könnte. Aber der Schakal machte einen Deal. Behielt mich für sich. Er folterte mich auf seinem Anwesen in Attica, fragte mich nach den Söhnen des Ares aus, über Lykos und meine Familie. Ohne mir je zu sagen, wie er hinter mein Geheimnis gekommen war. Ich bettelte darum, dass er mein Leben beendete.

Am Ende gab er mir Stein.

»Wenn alles verloren ist, verlangt die Ehre nach dem Tod«, hatte Roque einmal zu mir gesagt. »Es ist ein edles Ende.« Aber was weiß ein reicher Dichter schon vom Tod? Die Armen kennen den Tod. Sklaven kennen den Tod. Doch obwohl ich mich danach sehne, fürchte ich mich davor. Denn je mehr ich von dieser grausamen Welt sehe, desto weniger glaube ich daran, dass sie ein gutes Ende nehmen wird.

Das Tal gibt es nicht.

Es ist eine Lüge, die Mütter und Väter ihren hungrigen Kindern erzählen, um den Schrecken zu rechtfertigen. Es gibt keine Rechtfertigung dafür. Eo ist gegangen. Sie hat nie miterlebt, wie ich für ihren Traum kämpfte. Es war ihr egal, was mir am Institut widerfuhr oder ob ich Mustang liebte, denn am Tag, als sie starb, wurde sie zu nichts. Es gibt nur diese Welt. Sie ist unser Anfang und unser Ende. Unsere einzige Chance, etwas Glück vor der Finsternis zu erleben.

Ja. Aber du musst nicht sterben. Du kannst von hier entkommen, flüstert mir die Finsternis zu. Sprich die Worte aus. Sag sie. Du kennst den Weg.

Richtig. So ist es.

»Du musst nur ›Ich bin gebrochen‹ sagen, dann nimmt das alles ein Ende«, sagte mir der Schakal, lange bevor er mich in diese Hölle hinunterließ. »Ich werde dich bis ans Ende deiner Tage in ein hübsches Anwesen setzen und dir warmherzige, wunderschöne Pinke und genug zu essen schicken, damit du dicker als der Herr der Asche wirst. Aber die Worte haben einen Preis.«

Es ist die Sache wert. Rette dich. Sonst wird es keiner tun.

»Der Preis, lieber Schnitter, ist deine Familie.«

Die Familie, die er mit seinen Lurchern in Lykos gefasst hat und die er nun in seiner Festung in Attica gefangen hält. Die ich nie sehen durfte. Der ich nie sagen durfte, dass ich sie liebe und dass es mir leidtut, dass ich nicht stark genug war, um sie zu beschützen.

»Ich werde sie an die Gefangenen dieser Festung verfüttern«, sagte er. »Diese Männer und Frauen, die deiner Meinung nach statt der Goldenen regieren sollten. Sobald du das Tier im Menschen gesehen hast, wirst du wissen, dass ich recht habe und nicht du. Gold muss regieren.«

Lass sie los, sagt die Finsternis. Dein Opfer erfüllt den Zweck. Es ist weise.

»Nein … ich will nicht …«

Deine Mutter würde wollen, dass du lebst.

Nicht um diesen Preis.

Wer begreift schon die Liebe einer Mutter? Lebe. Für sie. Für Eo.

Könnte sie das wollen? Hat die Finsternis recht? Immerhin bin ich wichtig. Eo war dieser Meinung. Ares war dieser Meinung. Er hat mich auserwählt. Mich von allen Roten. Ich kann die Ketten sprengen. Ich kann für mehr leben. Es ist nicht egoistisch, wenn ich aus diesem Gefängnis ausbreche. Im großen Ganzen betrachtet ist es selbstlos.

Ja. Selbstlos, wirklich …

Meine Mutter würde mich anflehen, das Opfer zu bringen. Kieran würde es verstehen. Meine Schwester ebenso. Ich kann unser Volk retten. Eos Traum soll wahr werden, ganz gleich, wie hoch der Preis ist. Es ist meine Verantwortung, darauf zu beharren. Ich habe ein Recht darauf.

Sag die Worte.

Ich schlage mit dem Kopf gegen den Stein und schreie die Finsternis an, damit sie weicht. Sie kann mich nicht täuschen. Sie kann mich nicht brechen.

Hast du’s nicht gewusst? Jeder bricht irgendwann.

Das schrille Kichern verspottet mich, zieht sich endlos in die Länge.

Ich weiß doch, dass es wahr ist. Jeder bricht irgendwann. So wie ich, als er mich gefoltert hat. Ich habe ihm gesagt, dass ich aus Lykos komme. Wo er meine Familie finden kann. Aber es gibt einen Ausweg, um mein Tun zu würdigen. Was Eo liebte. Um die Stimmen verstummen zu lassen.

»Roque, du hattest recht«, flüstere ich. »Du hattest recht.« Ich will nur nach Hause. Fort von hier. Doch das darf ich nicht. Alles, was mir noch bleibt, der einzige ehrbare Weg für mich, ist der Tod. Bevor ich meine Ideale noch mehr verrate.

Der Tod ist der Ausweg.

Sei kein Dummkopf. Hör auf. Hör auf.

Ich werfe den Kopf gegen die Wand, heftiger als zuvor. Nicht um mich zu bestrafen, sondern um mich zu töten. Um mich selbst umzubringen. Wenn diese Welt kein gutes Ende nimmt, dann muss das Nichts reichen. Aber wenn es jenseits dieser Ebene ein Tal geben sollte, werde ich es finden. Ich komme, Eo. Endlich bin ich auf dem Weg. »Ich liebe dich.«

Nein. Nein. Nein. Nein. Nein.

Ich ramme meinen Schädel wieder gegen den Stein. Hitze strömt über mein Gesicht. Funken des Schmerzes tänzeln im Schwarz. Die Finsternis schreit mich an, aber ich höre nicht auf.

Sollte das hier das Ende sein, werde ich ihm entgegenwüten.

Aber während ich den Kopf zurückziehe, um zum letzten großen Schlag auszuholen, kommt das Leben zurück. Grollt wie ein Erdbeben. Es ist nicht die Finsternis. Sondern etwas jenseits davon. Etwas im Stein selbst, das über mir lauter und tiefer wird, bis die Finsternis aufreißt und ein flammendes Schwert aus Licht herunterblitzt.

2    Gefangener L17L6363

Die Decke teilt sich. Licht brennt mir in den Augen. Ich presse sie fest zusammen, während sich der Boden meiner Zelle emporhebt, bis er mit einem Klicken anhält und ich ungeschützt auf einer flachen steinernen Oberfläche daliege. Ich strecke die Beine aus und keuche, als ich vom Schmerz fast ohnmächtig werde. Gelenke knacken. Verkrampfte Sehnen lösen sich. Ich kämpfe, um die Augen im grellen Licht wieder zu öffnen. Sie füllen sich mit Tränen. Es ist so hell, dass ich nur fahle Blitze in der Welt um mich herum erkennen kann.

Fragmente fremdartiger Stimmen umgeben mich. »Adrius, was ist das?«

»… ist er schon die ganze Zeit da drin gewesen?«

»Dieser Gestank …«

Ich liege auf einem Stein, der sich zu allen Seiten um mich herum erstreckt. Schwarz, mit blauen und violetten Kräuselungen, wie der Panzer eines kreonischen Käfers. Ein Fußboden? Nein. Ich sehe Tassen und Untertassen. Einen Servierwagen. Es ist ein Tisch. Das war mein Gefängnis. Nicht irgendein furchtbarer Abgrund. Nur ein Marmorblock, einen Meter breit und zwölf Meter lang, innen hohl. Sie haben jeden Abend nur wenige Zentimeter über mir gegessen. Ihre Stimmen waren das ferne Flüstern, das ich in der Finsternis hörte. Das Klappern ihres Essbestecks auf den Tellern war meine einzige Gesellschaft.

»Barbarisch …«

Jetzt erinnere ich mich. Dies ist der Tisch, an dem der Schakal saß, als ich ihn besuchte, nachdem ich mich von meinen Verletzungen durch den Eisernen Regen erholt hatte. Hatte er schon da meine Gefangennahme geplant? Ich trug eine Kapuze, als sie mich hierherbrachten. Ich dachte, ich wäre tief in den Eingeweiden seiner Festung. Aber nein. Dreißig Zentimeter Stein trennten ihr Abendessen von meiner Hölle.

Ich blicke vom Kaffeetablett neben meinem Kopf auf. Jemand starrt mich an. Mehrere. Ich kann sie durch die Tränen und das Blut in meinen Augen nicht richtig erkennen. Ich drehe mich weg, rolle mich zusammen wie ein blinder Maulwurf, der zum allerersten Mal an die Erdoberfläche gezerrt wird. Ich bin zu überwältigt und verängstigt, um mich an Stolz oder Hass zu erinnern. Aber ich weiß, dass er mich anstarrt. Der Schakal. Ein kindliches Gesicht an einem schlanken Körper, das sandfarbene Haar an der Seite gescheitelt. Er räuspert sich.

»Meine verehrten Gäste. Darf ich euch den Gefangenen L17L6363 vorstellen?«

Sein Gesicht ist zugleich Himmel und Hölle.

Einen anderen Menschen zu sehen …

Zu wissen, dass ich nicht allein bin …

Aber mich dann zu erinnern, was er mir angetan hat … es zerreißt mir die Seele.

Andere Stimmen dröhnen. Die Lautstärke ist ohrenbetäubend. Und obwohl ich mich zusammengerollt habe, spüre ich etwas hinter ihrem Lärm. Etwas Natürliches, Sanftes, Freundliches. Etwas, von dem die Finsternis mich überzeugt hatte, es nie wieder spüren zu können. Es weht leise durch ein offenes Fenster und küsst meine Haut.

Eine spätherbstliche Brise streicht durch den fleischigen, feuchten Gestank meines Schmutzes und lässt mich an ein Kind denken, das irgendwo durch Schnee und Bäume rennt und mit den Händen die Rinden und Kiefernnadeln streift, während Harz sein Haar verklebt. Es ist eine Erinnerung, obwohl ich weiß, dass ich es nie erlebt habe, und dennoch fühlt es sich an, als hätte ich es erleben sollen. Das ist das Leben, das ich mir gewünscht hätte. Das Kind, das ich hätte sein können.

Ich weine. Weniger um mich als um diesen Jungen, der glaubt, er würde in einer freundlichen Welt leben, wo Mutter und Vater groß und stark wie Berge sind. Ach, könnte ich doch nur wieder so unschuldig sein! Ach, hätte ich doch nur die Gewissheit, dass dieser Augenblick keine Täuschung ist. Aber er ist es. Der Schakal gibt nie etwas, außer wenn er es sich wieder zurücknehmen will. Bald wird das Licht nur noch eine Erinnerung sein, und die Finsternis wird zurückkehren. Ich halte die Augen fest geschlossen, horche auf das Blut, das von meinem Gesicht auf den Stein tropft, und warte auf die Überraschung.

»Mordshölle, Augustus! War das wirklich notwendig?«, schnurrt ein katzenhaftes Raubtier. Rauchige Stimme, beladen mit jenem trägen Luna-Trällern, das man in den Höfen des Palatin-Hügels lernt, wo alle viel weniger von allem beeindruckt sind als alle anderen. »Er riecht wie der Tod.«

»Fermentierter Schweiß und abgestorbene Haut unter den magnetischen Fesseln«, stellt der Schakal fest. »Siehst du die gelbliche Kruste an seinen Unterarmen, Aja? Trotzdem ist er recht gesund und bereit für deine Graveure. In Anbetracht der Umstände.«

»Du kennst diesen Mann besser als ich«, sagt Aja zu jemand anderem. »Überzeuge dich davon, dass er es ist. Und kein Schwindler.«

»Du zweifelst an meinen Worten?«, fragt der Schakal. »Das verletzt mich.«

Ich zucke zusammen, als ich spüre, wie sich jemand nähert.

»Bitte! Dazu benötigst du ein Herz, Erzgouverneur. Du hast zwar viele Stärken, aber ich fürchte, dass dir dieses Organ fehlt.«

»Deine Komplimente beschämen mich.«

Löffel klappern gegen Porzellan. Räuspern ist zu hören. Ich möchte mir so gern die Ohren zuhalten. So viele Geräusche. So viele Eindrücke zugleich.

»Jetzt kannst du in ihm wirklich den Roten sehen.« Eine kalte, kultivierte Frauenstimme aus dem Norden des Mars. Schroffer als der Luna-Akzent.

»Genau, Antonia!«, erwidert der Schakal. »Ich war neugierig, was zum Vorschein kommen würde. Ein Mitglied des Genus der Aureaten könnte sich niemals als so würdelos erweisen wie diese Kreatur hier. Du weißt, dass er mich um den Tod gebeten hat, bevor ich ihn dort hineinsteckte. Er flennte und flehte darum. Die Ironie daran ist, dass er sich selbst hätte töten können, wenn er es gewollt hätte. Aber er hat es nicht getan, weil irgendein Teil von ihm Gefallen an diesem Loch fand. Du musst wissen, dass sich die Roten schon vor langer Zeit an die Dunkelheit angepasst haben. Wie Würmer. Ihr rostiges Volk hat keinerlei Stolz. Er fühlte sich dort unten zu Hause. Mehr als er es jemals bei uns war.«

Jetzt erinnere ich mich an Hass.

Ich öffne die Augen, um sie wissen zu lassen, dass ich sie sehe. Sie höre. Doch dann richtet sich mein Blick nicht auf meinen Freund, sondern auf die winterliche Landschaft, die sich hinter den Fenstern ausbreitet, vor denen die Goldenen stehen. Da, sechs der sieben Berggipfel von Attica glänzen im Morgenlicht. Gebäude aus Metall und Glas krönen Stein und Schnee und recken sich in den blauen Himmel empor. Brücken verbinden die Gipfel miteinander. Leichter Schnee fällt. Das Bild ist für meine kurzsichtigen Höhlenaugen verschwommen.

»Darrow?« Ich kenne diese Stimme. Ich drehe ein wenig den Kopf und sehe seine schwielige Hand an der Tischkante. Ich zucke zurück, weil ich denke, dass sie mich schlagen wird. Aber sie tut es nicht. Doch der Mittelfinger dieser Hand trägt den goldenen Adler der Bellonas. Der Familie, die ich vernichtet habe. Die andere Hand gehört zu dem Arm, den ich auf Luna abgeschnitten habe, als wir uns das letzte Mal duellierten, dem Arm, der dann von dem Graveur Sansibar ersetzt wurde. Zwei Ringe mit den Wolfsköpfen des Hauses Mars stecken an diesen Fingern. Einer davon ist meiner. Der andere seiner. Jeder hat den Wert des Lebens eines jungen Goldenen. »Erkennst du mich wieder?«, fragt er.

Ich recke den Hals, um ihm ins Gesicht zu blicken. Ich mag gebrochen sein, aber Cassius au Bellonas Erscheinung wurde weder vom Krieg noch von der Zeit getrübt. Er ist viel schöner, als es eine Erinnerung jemals erlauben würde, und pulsiert vor Leben. Über zwei Meter groß. Gewandet in das Weiß und Gold eines Ritters der Morgenröte, das geflochtene Haar schimmernd wie der Schweif einer Sternschnuppe. Er ist rasiert, und seine Nase ist leicht schief, nachdem sie vor Kurzem gebrochen war. Als sich unsere Blicke treffen, muss ich mir alle Mühe geben, nicht zu schluchzen. Er sieht mich so traurig an, fast zärtlich. Ich kann nur noch ein Schatten meiner selbst sein, wenn ich das Mitleid eines Mannes erwecke, den ich so schwer verletzt habe.

»Cassius«, murmele ich ohne irgendeine Absicht, außer seinen Namen auszusprechen. Mit einem anderen Menschen zu reden und gehört zu werden.

»Und?«, fragt Aja au Grimmus, die hinter Cassius steht. Die brutalste der Furien des Oberhaupts trägt dieselbe Rüstung, in der ich sie gesehen habe, als wir uns zum ersten Mal im Zitadellenturm auf Luna begegneten, in der Nacht, als Mustang mich rettete und Aja Quinn zu Tode prügelte. Sie ist zerschrammt. Vom Kampf gezeichnet. Furcht überwältigt meinen Hass, und ich wende den Blick wieder von der dunkelhäutigen Frau ab.

»Er ist also doch am Leben«, sagt Cassius leise und dreht sich zum Schakal um. »Was hast du mit ihm gemacht? Diese Narben …«

»Ich denke, das ist offensichtlich«, sagt der Schakal. »Ich habe den Schnitter ausradiert.«

Endlich blicke ich über den verfilzten Bart auf meinen Körper hinab, um zu sehen, was er meint. Ich bin eine Leiche. Skelettiert und bleich. Rippen stoßen durch Haut, die dünner als der Film auf erhitzter Milch ist. Die Knie wölben sich an spindeldürren Beinen vor. Die Zehennägel sind lang wie Krallen geworden. Narben von der Folterung durch den Schakal sprenkeln meinen Körper. Die Muskeln sind verkümmert. Und Schläuche, die mich in der Finsternis am Leben gehalten haben, schlängeln sich aus meinem Bauch wie schwarze und klebrige Nabelschnüre, die mich auch jetzt noch an den Boden meiner Zelle fesseln.

»Wie lange war er da drinnen?«, fragt Cassius.

»Drei Monate Verhör, dann neun Monate Einzelhaft.«

»Neun …«

»Wie es angemessen ist. Der Krieg sollte uns nicht dazu verleiten, Metaphern zu vergessen. Schließlich sind wir keine Wilden, nicht wahr, Bellona?«

»Cassius’ zarte Gefühle sind verletzt, Adrius«, sagt Antonia, die sich in der Nähe des Schakals aufhält. Sie ist eine Frau wie ein vergifteter Apfel. Glänzend und hell und verlockend, aber im Kern verrottet und verdorben. Am Institut hat sie meine Freundin Lea getötet. Hat ihrer eigenen Mutter eine Kugel in den Kopf gejagt und dann zwei weitere ins Rückgrat ihrer Schwester Victra. Jetzt ist sie mit dem Schakal verbündet, einem Mann, der sie am Institut gekreuzigt hat. Was für eine Welt! Hinter Antonia steht die dunkelgesichtige Thistle, einst ein Mitglied der Heuler, jetzt eine Knochenreiterin des Schakals, nach dem Abzeichen in Form eines Schakalschädels zu urteilen, das an ihrer Brust steckt. Sie blickt nicht zu mir, sondern zu Boden. Ihr Captain ist die kahlköpfige Lilath, die zur Rechten des Schakals sitzt. Seine persönliche Lieblingskillerin seit den Tagen des Instituts.

»Verzeih mir bitte, wenn ich keinen Sinn darin sehe, einen besiegten Feind zu foltern«, erwidert Cassius. »Insbesondere, wenn er bereits alle Informationen preisgegeben hat, über die er verfügt.«

»Du fragst nach dem Sinn?« Mit ruhigem Blick starrt ihn der Schakal an, als er es ihm erklärt. »Der Sinn besteht in der Bestrafung, mein Bester. Diese … Kreatur maßte sich an, zu uns zu gehören. Als wäre er uns gleichgestellt oder gar überlegen, Cassius! Er hat uns verhöhnt. Er hat es mit meiner Schwester getrieben. Er hat uns ausgelacht und zum Narren gehalten, bis wir ihm auf die Schliche gekommen sind. Er muss wissen, dass es kein Zufall war, dass er verloren hat, sondern eine Unvermeidlichkeit. Die Roten waren schon immer verschlagene kleine Biester. Und er, mein Freund, ist die Verkörperung dessen, wie sie sein möchten, wie sie sein werden, wenn wir es ihnen erlauben. Also habe ich Zeit und Finsternis benutzt, um ihn wieder zu dem zu machen, was er wirklich ist. Ein Homo flammeus nach dem neuen Klassifikationssystem, das ich der Aufsicht vorgeschlagen habe. Er unterscheidet sich kaum vom Homo sapiens auf der evolutionären Zeitachse. Der Rest war nur eine Maske.«

»Du meinst, er hat dich zum Narren gehalten«, präzisiert Cassius, »als dein Vater einen umgewandelten Roten seinem Leibeserben vorzog? Das ist es, Schakal. Die trotzige Scham eines ungeliebten und ungewollten Jungen.«

Bei diesen Worten zuckt der Schakal zusammen. Aja reagiert ähnlich unzufrieden auf den Tonfall ihres jungen Gefährten.

»Darrow hat Julian das Leben genommen«, sagt Antonia. »Dann hat er deine Familie abgeschlachtet. Cassius, er hat Killer losgeschickt, um die Kinder deines eigenen Bluts niederzumetzeln, als sie sich auf dem Olympus Mons versteckten. Man könnte sich fragen, was deine Mutter von deiner Art von Mitleid halten würde.«

Cassius geht nicht darauf ein, sondern fährt stattdessen zu den Pinken herum, die sich im hinteren Teil des Raumes aufhalten. »Holt eine Decke für den Gefangenen.«

Sie rühren sich nicht von der Stelle.

»Keine Manieren. Nicht einmal von dir, Thistle?« Als sie nicht antwortet, reißt sich Cassius mit einem verächtlichen Schnaufen den weißen Umhang herunter und legt ihn über meinen zitternden Körper. Eine Zeit lang sagt niemand etwas, als wären sie von dieser Tat genauso berührt wie ich.

»Ich danke dir«, krächze ich. Doch er wendet den Blick von meinem eingefallenen Gesicht ab. Mitleid ist nicht Vergebung, genauso wenig wie Dankbarkeit eine Absolution ist.

Lilath lacht prustend, ohne von ihrer Schale mit weich gekochten Kolibri-Eiern aufzublicken. Sie schlürft sie wie Süßigkeiten. »Es gibt tatsächlich einen Punkt, an dem die Ehre zu einem Charakterfehler wird, Ritter der Morgenröte.« Die glatzköpfige Frau sitzt neben dem Schakal und blickt zu Aja auf. Ihre Augen sind wie die der Aale in den Höhlenmeeren der Venus. Sie verschluckt ein weiteres Ei. »Der alte Arcos hat es auf die harte Tour gelernt.«

Aja antwortet nicht. Ihre Manieren sind tadellos. Aber in dieser Frau lauert eine tödliche Stille, an die ich mich gut erinnere, an den Moment, kurz bevor sie Quinn tötete. Lorn hat sie im Kampf mit der Klinge unterrichtet. Es wird ihr nicht gefallen, wenn jemand seinen Namen verhöhnt. Lilath schluckt gierig noch ein Ei herunter.

Zwischen diesen Verbündeten herrscht Feindseligkeit. Wie es typisch für ihresgleichen ist. Aber hier scheint es sich um eine ausgeprägte neue Spaltung zwischen den alten Goldenen und dem moderneren Typ zu handeln, wie er vom Schakal repräsentiert wird.

»Wir sind hier alle Freunde«, sagt der Schakal scherzhaft. »Achte auf deine Manieren, Lilath. Lorn war ein Eiserner Goldener, der einfach nur die falsche Seite gewählt hat. Also bin ich neugierig, Aja. Nachdem ich meine Geschäfte mit dem Schnitter nun abgeschlossen habe, beabsichtigst du immer noch, ihn zu sezieren?«

»Das haben wir vor«, sagt Aja. Ich hätte mich doch nicht bei Cassius bedanken sollen. Sein Ehrgefühl ist nicht echt. Er ist nur berechnend. »Sansibar würde gern wissen, wie er gemacht wurde. Er hat gewisse Theorien, aber er kann es kaum erwarten, dieses Exemplar unter die Lupe zu nehmen. Wir hatten gehofft, den Graveur ausfindig zu machen, der dieses Werk vollbracht hat, aber wir glauben, dass er bei einem Raketenangriff auf Kato in der Provinz Alcidalia umgekommen ist.«

»Oder man will euch genau das glauben machen«, sagt Antonia.

»Du hattest ihn einmal hier, nicht wahr?«, fragt Aja spitz.

Der Schakal nickt. »Sein Name ist Mickey. Hat seine Lizenz verloren, nachdem er eine ungenehmigte Aureaten-Geburt modifiziert hat. Die Familie hat versucht, ihrem Kind die Aussetzung zu ersparen. Jedenfalls arbeitete er dann für den Schwarzmarkt, spezialisierte sich auf Modifikationen für Vergnügungen in der Luft und im Wasser. Hatte eine Graveurwerkstatt in Yorkton, bevor die Söhne ihn für einen speziellen Auftrag rekrutierten. Darrow hat ihm geholfen, aus meinem Gewahrsam zu entkommen. Wenn du meine Meinung hören willst, sage ich dir, dass er noch am Leben ist. Meine Agenten vermuten ihn in Tinos.«

Aja und Cassius tauschen Blicke aus.

»Wenn du eine Spur nach Tinos hast, musst du uns jetzt darüber in Kenntnis setzen«, sagt Cassius.

»Ich habe noch nichts Definitives. Tinos ist gut versteckt. Und wir müssen zunächst einen Captain ihrer Schiffe gefangen nehmen … lebend.« Der Schakal nippt an seinem Kaffee. »Aber die Eisen liegen im Feuer, und ihr werdet es unverzüglich erfahren, wenn sich etwas Neues ergibt. Obwohl ich glaube, dass meine Knochenreiter sich die Heuler gern als Erste zur Brust nehmen möchten. Nicht wahr, Lilath?«

Ich bemühe mich, bei der Erwähnung des Namens nicht zusammenzuzucken, aber es fällt mir schwer. Sie sind am Leben. Zumindest einige von ihnen. Und sie haben sich für die Söhne des Ares statt für die Goldenen entschieden …

»Ja, Sir«, sagt Lilath und mustert mich. »Eine echte Jagd würde uns gefallen. Der Kampf gegen die Rote Legion und die anderen Aufständler ist langweilig, selbst für Graue.«

»Das Oberhaupt braucht uns jedenfalls zu Hause, Cassius«, sagt Aja, und dann zum Schakal: »Wir werden aufbrechen, sobald meine Dreizehnte ihr Lager im Golan-Becken abgebrochen hat. Wahrscheinlich morgen früh.«

»Du bringst deine Legionen zurück nach Luna?«

»Nur die Dreizehnte. Die übrigen unterstehen weiterhin deiner Aufsicht.«

Der Schakal ist überrascht. »Meiner Aufsicht?«

»Leihweise, bis dieser … Aufstand vollständig niedergeschlagen ist.« Sie spuckt das Wort geradezu aus. Für meine Ohren etwas ganz Neues. »Es ist ein Zeichen für das Vertrauen des Oberhaupts. Du weißt, dass sie mit deinen Fortschritten hier zufrieden ist.«

»Trotz deiner Methoden«, fügt Cassius hinzu, was ihm einen verärgerten Blick von Aja einbringt.

»Nun, wenn du morgen früh aufbrichst, dann solltest du natürlich heute noch mit mir zu Abend essen. Ich wollte mit dir gewisse … Strategien besprechen, im Hinblick auf die Rebellen in der Randzone.« Der Schakal bleibt vage, weil ich zuhöre. Informationen sind seine Waffe. Die Andeutung, dass meine Freunde mich verraten haben. Ohne zu sagen, welche. Ungenaue Hinweise während meiner Folter, bevor ich in die Finsternis geschickt wurde. Ein Grauer, der ihm sagt, dass seine Schwester in seinem Salon auf ihn wartet. Seine Finger, die nach aufgeschäumtem Chai riechen, dem Lieblingsgetränk seiner Schwester. Weiß sie, dass ich hier bin? Hat auch sie an diesem Tisch gesessen? Der Schakal plappert immer noch weiter. Es fällt schwer, den Stimmen zu folgen. So viel zu entziffern. Zu viel.

»… ich werde Darrow von meinen Leuten für die Reise reinigen lassen, und nach unserer Besprechung können wir ein Festmahl von trimalchionischen Ausmaßen veranstalten. Ich weiß, dass die Volox und Corialus entzückt wären, dich wiederzusehen. Es ist schon viel zu lange her, seit ich solch erlauchte Gäste wie zwei Olympische Ritter hatte. Du bist so oft im Feld, treibst dich in Provinzen herum, jagst durch die Tunnel und Seen und Ghettos. Wie lange ist es her, seit du ein köstliches Mahl genießen konntest, ohne dir Sorgen um einen nächtlichen Überfall oder Selbstmordattentäter machen zu müssen?«

»Eine ganze Weile«, gesteht Aja. »Wir haben die Gastfreundschaft der Gebrüder Rath angenommen, als wir durch Thessalonica zogen. Sie waren begierig darauf, ihre Loyalität zu beweisen, nach ihrem … Verhalten während des Löwenregens. Es war … verstörend.«

Der Schakal lacht. »Ich fürchte, mein Gelage wird vergleichsweise bescheiden ausfallen. In letzter Zeit sind es immer nur Politiker und Soldaten. Man kann sich gar nicht vorstellen, wie sehr dieser mordsverdammte Krieg meine gesellschaftlichen Kontakte beeinträchtigt hat.«

»Bist du dir sicher, dass es nicht an deinem Ruf als Gastgeber liegt?«, fragt Cassius. »Oder an der Auswahl deiner Speisen?«

Aja seufzt und versucht, ihre Belustigung zu verbergen. »Achte auf deine Manieren, Bellona.«

»Keine Sorge … die Feindschaft zwischen unseren Häusern ist schwer zu vergessen, Cassius. Aber in Zeiten wie diesen müssen wir einen gemeinsamen Nenner finden. Zum Wohl der Goldenen.« Der Schakal lächelt, obwohl ich genau weiß, dass er den beiden am liebsten mit einem stumpfen Messer die Köpfe absägen würde. »Auf jeden Fall haben wir alle noch unsere Schulhofgeschichten. Es gibt kaum etwas, wofür ich mich schämen müsste.«

»Es gab da noch eine andere Angelegenheit, die wir besprechen wollten«, sagt Aja.

Jetzt ist es Antonia, die seufzt. »Ich habe es euch doch gesagt. Was verlangt das Oberhaupt jetzt von uns?«

»Es betrifft das, was Cassius vorhin erwähnte.«

»Meine Methoden«, bestätigt der Schakal.

»Ja.«

»Ich dachte, das Oberhaupt wäre mit den Befriedungsmaßnahmen zufrieden.«

»Das ist sie, aber …«

»Sie wollte Ordnung. Ich habe Ordnung geschaffen. Das Helium-3 fließt weiter, die Produktion hat sich lediglich um drei Komma zwei Prozent verringert. Der Aufstand gerät ins Stocken, bald wird man Ares ergreifen, und dann werden Tinos und alles andere hinter uns liegen. Es sind die Fabii, die ihre …«

Aja unterbricht ihn. »Es sind die Killerkommandos.«

»Ah.«

»Und die Liquidationsprotokolle, die du in den aufständischen Bergwerken eingesetzt hast. Sie macht sich Sorgen, dass die Härte deiner Methoden gegen die Niederen Roten eine Gegenreaktion auslösen könnte, vergleichbar mit den früheren Propagandarückschlägen. Es gab Bombenanschläge auf den Palatin-Hügel. Streiks in Latifundien auf der Erde. Sogar Proteste direkt vor dem Tor der Zitadelle. Der Geist der Rebellion lebt. Aber er ist gebrochen. Und so muss es bleiben.«

»Ich bezweifle, dass wir noch viele weitere Proteste erleben werden, nachdem die Obsidianen zum Einsatz gekommen sind«, sagt Antonia selbstgefällig.

»Trotzdem …«

»Es besteht keine Gefahr, dass meine Taktik in den Blickpunkt der Öffentlichkeit gerät. Die Möglichkeiten der Söhne, ihre Botschaft zu verbreiten, wurde neutralisiert«, sagt der Schakal. »Ich habe jetzt die Kontrolle über die Nachrichten, Aja. Die Menschen wissen, dass dieser Krieg bereits verloren ist. Sie werden nie ein Bild der Leichen sehen. Oder eines liquidierten Bergwerks. Was sie weiterhin sehen werden, sind Rote, die zivile Ziele angreifen. Kinder Mittlerer und Hoher Farben, die in der Schule getötet wurden. Die Öffentlichkeit steht auf unserer Seite …«

»Und wenn sie doch sieht, was du tust?«, fragt Cassius.

Der Schakal antwortet nicht sofort. Stattdessen winkt er eine knapp bekleidete Pinke von den Sofas im Wohnzimmer nebenan herbei. Das Mädchen, kaum älter als Eo damals, tritt zu ihm und blickt demütig zu Boden. Ihre Augen haben die Farbe von Rosenquarz, ihr Haar schimmert in einem silbrigen Lila und hängt ihr in Zöpfen bis zum bloßen Steißbein hinab. Sie wurde dazu erzogen, diesen Monstern Vergnügen zu bereiten, und ich fürchte mich vor dem, was ihre sanften Augen bereits gesehen haben. Mein Schmerz kommt mir plötzlich so winzig vor. Der Wahnsinn in meinem Geist so still. Der Schakal streichelt das Gesicht des Mädchens, während er mich weiterhin ansieht, schiebt ihr dann die Finger in den Mund, drückt ihre Zähne auseinander. Er bewegt den Kopf des Mädchens mit seinem Armstumpf, sodass ich es sehen kann, aber auch Aja und Cassius.

Sie hat keine Zunge.

»Das habe ich selbst getan, nachdem wir sie vor acht Monaten übernahmen. Sie hat versucht, einen meiner Knochenreiter in einem Pearl-Club zu töten. Sie hasst mich. Sie wünscht sich nichts mehr, als mich tief in der Erde verrotten zu sehen.« Er lässt ihr Gesicht los, zieht seine Handwaffe aus dem Holster und drückt sie dem Mädchen in die Hände. »Schieß mir in den Kopf, Kalliope. Für all die Demütigungen, die ich dir und deinesgleichen angetan habe. Nur zu. Ich habe dir die Zunge genommen. Du erinnerst dich, was ich in der Bibliothek mit dir gemacht habe. Es wird wieder und wieder und wieder geschehen.« Er legt noch einmal die Hand an ihr Gesicht, drückt ihren zarten Unterkiefer zusammen. »Und wieder. Drück ab, du kleine Nutte. Drück ab!« Die Pinke zittert vor Angst und wirft die Waffe auf den Boden, fällt auf die Knie und umklammert seine Füße. Er steht gütig und liebevoll über ihr, streicht ihr mit der Hand über den Kopf.

»Alles gut, Kalliope. Das hast du gut gemacht. Sehr gut.« Der Schakal wendet sich Aja zu. »Für die Öffentlichkeit ist Honig immer besser als Essig. Aber für jene, die mit Schraubenschlüsseln in den Krieg ziehen, mit Gift, mit Sabotage in der Kanalisation und Terror auf den Straßen, die wie Kakerlaken in der Nacht an uns knabbern, ist Furcht die einzige Methode.« Er blickt mir in die Augen. »Furcht und Vernichtung.«