Zum Buch
Als seine Frau Eo starb, schwor der Minenarbeiter Darrow, sich an den Goldenen zu rächen. Selbst zum Goldenen verwandelt, meisterte er die unmenschlichen Prüfungen des Eliteinternats als Jahrgangsbester und wurde von seinem schlimmsten Feind, Nero au Augustus, adoptiert. Zwei Jahre später steht Darrow erneut vor harten Prüfungen. Er lebt nun mitten unter denen, deren Sturz er plant. Der Kontakt zur Widerstandsbewegung, den Söhnen des Ares, ist abgebrochen. Darrow hat dafür unter den Goldenen Freundschaft, Respekt und sogar Liebe gewonnen, aber auch die Feindschaft mächtiger Rivalen. Um seinen Kampf zu führen, der das Schicksal der Menschheit verändert, muss sich Darrow tödlichen Gefahren stellen. Und eine schreckliche Entscheidung treffen …
Zum Autor
Nach dem Collegeabschluss hätte Pierce Brown eigentlich nichts dagegen gehabt, seine Studien in Hogwarts fortzusetzen. Da es ihm dafür leider an der nötigen magischen Gabe fehlte, versuchte er es mit verschiedenen Jobs in der Medienbranche. Sein Debütroman Red Rising wurde ein so sensationeller Erfolg, dass Pierce Brown sich jetzt ganz dem Schreiben widmen kann. Der Autor lebt in L.A.
Lieferbare Titel
Red Rising
PIERCE BROWN
IM HAUS DER FEINDE
ROMAN
Aus dem Amerikanischen
von Bernhard Kempen
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel Golden Son bei Del Rey, an imprint of Random House, New York
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Copyright © 2015 by Pierce Brown
Copyright © 2016 der deutschsprachigen Ausgabe
by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: Das Illustrat, München,
nach dem Originalumschlag von Faceout Studio / David G. Stevenson
unter Verwendung einer Illustration von © David G. Stevenson
Redaktion: Christine Schlitt
Satz: Leingärtner, Nabburg
ISBN: 978-3-641-18198-7
V002
www.heyne.de
www.diezukunft.de
Für meine Mutter,
die mir das Sprechen beibrachte
Dramatis Personae
Haus Augustus und Verbündete
Nero au Augustus Erzgouverneur des Mars, Patriarch des Hauses Augustus, Vater von Virginia und Adrius
Virginia au Augustus/Mustang Tochter von Nero, Zwillingsschwester von Adrius
Adrius au Augustus/Schakal Sohn des Erzgouverneurs, Erbe des Hauses Augustus, Zwillingsbruder von Virginia
Plinius au Velocitor leitender Politico des Hauses Augustus
Darrow au Andromedus/Schnitter Erzprimus am Institut des Mars, Lanzenreiter des Hauses Augustus
Tactus au Rath Lanzenreiter des Hauses Augustus
Roque auf Fabii Lanzenreiter des Hauses Augustus
Victra au Julii Lanzenreiterin des Hauses Augustus, Halbschwester von Antonia, Tochter von Agrippina
Kavax au Telemanus Patriarch des Hauses Telemanus, Verbündeter des Hauses Augustus, Vater von Daxo und Pax
Daxo au Telemanus Erbe und Sohn von Kavax, Bruder von Pax
Haus Bellona
Tiberius au Bellona Patriarch des Hauses Bellona
Cassius au Bellona Erbe des Hauses Bellona, Sohn von Tiberius, Lanzenreiter des Hauses Bellona
Karnus au Bellona Sohn von Tiberius, älterer Bruder von Cassius, Lanzenreiter des Hauses Bellona
Kellan au Bellona Prätor, Vetter von Cassius, Neffe von Tiberius
Bedeutende Goldene
Octavia au Lune regierendes Oberhaupt der Weltengesellschaft
Lysander au Lune Enkelsohn von Octavia, Erbe des Hauses Lune
Aja au Grimmus Chefin der Leibwache des Oberhaupts
Moira au Grimmus leitende Politico des Oberhaupts
Lorn au Arcos ehemaliger Ritter des Zorns, Patriarch des Hauses Arcos
Fitchner au Barca Ehemaliger Proktor Mars, Vater von Sevro
Sevro au Barca/Kobold Anführer der Heuler, Sohn von Fitchner
Agrippina au Julii Patriarchin des Hauses Julii, Mutter von Victra und Antonia
Antonia au Severus-Julii ehemals vom Haus Mars, Halbschwester von Victra, Tochter von Agrippina
Söhne des Ares
Ares Anführer der Terroristen, Farbe unbekannt
Dancer Ares’ Stellvertreter, ein Roter
Harmony Dancers Stellvertreterin, eine Rote
Mickey ein Graveur, ein Violetter
Evey ehemalige Sklavin von Mickey, eine Pinke
Prolog
Es war einmal ein Mann, der vom Himmel herabkam und meine Frau tötete. Nun gehe ich an seiner Seite über einen Berg, der über unserer Welt schwebt. Schnee fällt. Festungsmauern aus weißem Stein und schimmerndem Glas ragen aus dem Fels hervor.
Um uns herum tobt ein Chaos der Gier. All die großen Goldenen des Mars stürzen sich auf das Institut, um Anspruch auf die Besten und Klügsten des Jahrgangs zu erheben. Ihre Schiffe schwärmen am Morgenhimmel, ziehen über eine Welt aus Schnee und rauchenden Burgen hinweg zum Olympus, den ich erst wenige Stunden zuvor erstürmt habe.
»Schau dich ein letztes Mal um«, sagt er zu mir, als wir uns dem Shuttle nähern. »Alles, was bisher geschehen ist, war nur ein Flüstern unserer Welt. Wenn du diesen Berg verlässt, werden alle Verbindungen abgeschnitten, alle Schwüre zu Staub zerfallen. Du bist nicht vorbereitet. Niemand war es je.«
In der Menge sehe ich Cassius mit seinem Vater und seinen Geschwistern, die zu ihrem Shuttle unterwegs sind. Ihre Blicke fliegen brennend über das Weiß zu uns, und ich erinnere mich an das Geräusch, mit dem die letzten Herzschläge seines Bruders verstummten. Eine raue Hand mit knochigen Fingern legt sich besitzergreifend auf meine Schulter.
Augustus starrt zu seinen Feinden hinüber.
»Bellonas verzeihen und vergeben nicht. Sie sind zahlreich. Aber sie können dir nichts anhaben.« Seine kalten Augen blicken auf mich, seinen neuesten Gewinn. »Denn du gehörst jetzt mir, Darrow, und ich beschütze mein Eigentum.«
Genauso wie ich.
Seit siebenhundert Jahren lebt mein Volk in Sklaverei, ohne Stimme und ohne Hoffnung. Jetzt bin ich sein Schwert. Auch ich vergebe nicht. Also lasse ich mich von ihm in sein Shuttle führen. Soll er denken, dass er mich besitzt. Soll er mich in sein Haus einladen, damit ich es niederbrennen kann.
Doch dann nimmt seine Tochter meine Hand, und ich spüre die schwere Last all der Lügen auf meinen Schultern. Es heißt, ein gespaltenes Königreich kann nicht überleben. Und wie sieht es mit einem zerrissenen Herz aus?
ERSTER TEIL
Biegen
Hic sunt leones. »Hier sind Löwen.«
NERO AU AUGUSTUS
1 Kriegsherren
Mein Schweigen dröhnt. Ich stehe auf der Brücke meines Raumschiffs, mit gebrochenem Arm, der in einem Gelverband steckt, und den Wunden der Ionenverbrennungen am Hals. Ich bin drecksverdammt müde. Mein Razor windet sich wie eine kalte Metallschlange um meinen gesunden rechten Arm. Vor mir öffnet sich das All unermesslich und furchtbar. Kleine Fragmente aus Licht spicken die Finsternis, und urtümliche Schatten schieben sich vor die Sterne an den Rändern meines Sichtfeldes. Asteroiden. Sie umschweben langsam mein Kriegsschiff, die Quietus, während ich in der Schwärze nach meiner Jagdbeute suche.
»Siege«, sagte mein Meister zu mir. »Siege, wie es meine Kinder nicht können, und du wirst dem Namen Augustus Ehre bringen. Siege an der Akademie, und du wirst dir eine Flotte verdienen.« Er mag dramatische Wiederholungen. So geht es den meisten Politikern.
Er will, dass ich für ihn siege, aber ich werde für das Mädchen der Roten siegen, dessen Traum größer war, als sie selbst jemals sein konnte. Ich werde siegen, damit er stirbt und sich ihre Botschaft durch die Zeitalter brennt. Eine Kleinigkeit …
Ich bin zwanzig. Groß und mit breiten Schultern. Meine Uniform ist schwarz und nun zerknittert. Mein Haar ist lang, und meine Augen sind golden und blutunterlaufen. Mustang sagte einmal, ich hätte ein spitzes Gesicht, die Wangen und Nase scheinbar aus scharfem Marmor geschnitzt. Ich selbst vermeide Spiegel. Ich vergesse lieber die Maske, die ich trage, die Maske mit der winkligen Narbe der Goldenen, die die Welten von Merkur bis Pluto beherrschen. Ich gehöre zu den Einzigartig Vernarbten. Den grausamsten und klügsten Vertretern der gesamten Menschheit. Aber mir fehlt die freundlichste unter ihnen. Jene, die mich bat zu bleiben, als ich mich vor fast einem Jahr auf ihrem Balkon von ihr und dem Mars verabschiedete. Mustang. Ich gab ihr einen mit einem Pferd verzierten Goldring als Abschiedsgeschenk, und sie gab mir einen Razor. Passend.
In meiner Erinnerung schmecken ihre Tränen abgestanden. Ich habe nichts mehr von ihr gehört, seit ich den Mars verlassen habe. Viel schlimmer ist, dass ich nichts mehr von den Söhnen des Ares gehört habe, seit ich vor über zwei Jahren am Institut des Mars siegte. Dancer sagte, er würde mich nach meinem Abschluss kontaktieren, aber ich wurde in einem Meer aus goldenen Gesichtern fortgetrieben.
Das alles ist so weit von der Zukunft entfernt, die ich mir als Junge vorgestellt habe. So weit von der Zukunft, die ich mir für mein Volk erhoffte, als ich mich von den Söhnen verwandeln ließ. Ich dachte, ich würde die Welten verändern. Welcher junge Narr denkt so etwas nicht? Stattdessen wurde ich von der Maschine dieses riesigen Imperiums geschluckt, die unaufhaltsam weiterrumpelt.
Am Institut wurden wir im Überleben und Erobern ausgebildet. Hier an der Akademie unterrichtet man uns im Krieg. Jetzt testen sie unser Können. Ich führe eine Flotte aus Kriegsschiffen gegen andere Goldene. Wir kämpfen mit Übungsmunition und schicken Enterkommandos von Schiff zu Schiff, nach Art des Sternenkampfes der Goldenen. Kein Grund, ein Schiff zu beschädigen, das so viel kostet wie das Bruttojahresprodukt von zwanzig Städten, wenn man Leechcraft voller Obsidianer, Goldener und Grauer auf den Weg bringen kann, um die lebenswichtigen Organe und damit das ganze Schiff zu kapern.
Neben den Lektionen im Sternenkampf trichterten unsere Lehrer uns die Maximen ihres Volkes ein. Nur die Starken überleben. Nur die Genialen herrschen. Dann ließen sie uns allein, damit wir uns selbst durchschlagen, von Asteroid zu Asteroid springen, auf der Suche nach Vorräten und Stützpunkten, auf der Jagd nach unseren Schulkameraden, bis nur noch zwei Flotten übrig sind.
Es ist immer noch ein Spiel. Wenn auch das bislang tödlichste.
»Es ist eine Falle«, sagt Roque neben mir. Sein Haar ist lang wie meins, und sein Gesicht sanft wie das einer Frau und gelassen wie das eines Philosophen. Im Weltraum ist das Töten anders als an Land. Roque ist auf diesem Gebiet ein Wunderkind. Es hat Poesie, sagt er. Die Poesie der Bewegungen der Sphären und der Schiffe, die dazwischen treiben. Sein Gesicht passt zu den Blauen, die die Besatzung dieser Schiffe stellen – zierliche Männer und Frauen, die wie launische Geister durch die Metallkorridore schweben und die nur Logik und strenge Regeln kennen.
»Aber die Falle ist nicht so elegant, wie Karnus vielleicht denkt«, fährt er fort. »Er weiß, dass wir darauf brennen, das Spiel zu beenden, also wird er auf der anderen Seite warten. Um uns in einen Engpass zu locken, wo er seine Raketen losschicken wird. Seit Anbeginn der Zeiten erprobt und bewährt.«
Roque deutet vorsichtig auf den leeren Raum zwischen zwei riesigen Asteroiden, einen schmalen Korridor, den wir durchfliegen müssen, wenn wir Karnus’ angeschlagenem Schiff weiter folgen wollen.
»Alles ist eine verdammte Falle.« Der langgliedrige und sorglose Tactus au Valii-Rath gähnt. Er lehnt seine gefährliche Gestalt gegen das Sichtfenster und jagt sich aus dem Ring an seinem Finger ein Stim in die Nase. Dann wirft er die leere Kartusche auf den Boden. »Karnus weiß, dass er verloren ist. Er will uns nur quälen. Uns zu einem fröhlichen kleinen Wettrennen verleiten, damit wir nicht schlafen können. Dieses egoistische Arschloch.«
»Du bist einfach nur ein Pixie, der ständig kläfft und winselt«, höhnt Victra au Julii von ihrem Platz am Sichtfenster. Ihr zerzaustes Haar hängt ihr knapp bis über die mit Jade gepiercten Ohren. Sie ist impulsiv und grausam, aber nicht übermäßig, und verachtet Make-up zugunsten der Narben, die sie sich während ihrer siebenundzwanzig Jahre verdient hat. Und es sind viele.
Ihre Augen sind schwer und liegen tief in den Höhlen. Ihr sinnlicher Mund ist breit, und die Lippen sind dazu geformt, Beleidigungen zu schnurren. Sie sieht ihrer berühmten Mutter viel ähnlicher als ihre junge Schwester Antonia. Doch in der Fähigkeit, Chaos zu stiften, übertrifft sie beide bei Weitem.
»Fallen sind ohne Bedeutung«, erklärt sie. »Seine Flotte wurde zerschlagen. Ihm ist nur noch ein Schiff geblieben. Wir haben sieben. Wie wäre es, wenn wir ihm einfach das Maul stopfen?«
»Darrow hat sieben«, ruft Roque ihr in Erinnerung.
»Wie bitte?«, fragt sie verärgert über die Korrektur.
»Von Darrows Schiffen sind noch sieben übrig. Du hast von unseren Schiffen gesprochen. Aber das sind sie nicht. Er ist der Primus.«
»Der pedantische Poet hat wieder zugeschlagen. Letztlich läuft es auf dasselbe hinaus, mein Bester.«
»Dass wir unüberlegt statt besonnen sein sollen?«, fragt Roque.
»Dass es sieben gegen eins steht. Es wäre peinlich, diese Angelegenheit noch weiter in die Länge zu ziehen. Also lasst uns den Bellona-Strolch wie eine Kakerlake unter unserem großen Stiefel zermatschen. Dann fliegen wir zurück zum Stützpunkt, holen uns vom alten Augustus die verdiente Belohnung ab und gehen spielen.« Sie dreht mit Nachdruck die Ferse auf dem Boden.
»Hört, hört!«, stimmt Tactus zu. »Mein Königreich für ein Gramm Dämonenstaub.«
»Ist das heute schon deine fünfte Stimdosis, Tactus?«, fragt Roque.
»Ja! Danke, dass es dir aufgefallen ist, liebste Mami! Doch ich werde dieses militärischen Speeds überdrüssig. Ich denke, ich begehre Pearl-Clubs und reichliche Mengen an respektablen Drogen.«
»Du wirst ausbrennen.«
Tactus schlägt sich auf den Oberschenkel. »Lebe schnell und stirb jung. Wenn du eine langweilige alte Rosine geworden bist, werde ich eine glorreiche Erinnerung an bessere Zeiten und prächtigere Tage sein.«
Roque schüttelt den Kopf. »Eines Tages, mein missratener Freund, wirst du jemanden finden, den du liebst und mit dem du über den Dummkopf lachen wirst, der du einst warst. Du wirst Kinder haben. Du wirst ein Anwesen haben. Und irgendwie wirst du gelernt haben, dass es wichtigere Dinge als Drogen und Pinke gibt.«
»Beim Jupiter!« Tactus starrt ihn voller Entsetzen an. »Das klingt entschieden erbärmlich.«
Ich blicke auf die taktische Anzeige und beachte das Geplänkel nicht weiter.
Unsere Jagdbeute ist Karnus au Bellona, der ältere Bruder meines früheren Freundes Cassius au Bellona und des Jungen, den ich in der Passage tötete, Julian au Bellona. In dieser lockenköpfigen Familie ist Cassius der Lieblingssohn. Julian war der freundlichste. Und Karnus? Mein gebrochener Arm bezeugt, dass er das Monster ist, das sie aus dem Keller freigelassen haben, damit es tötet.
Seit dem Institut hat meine Berühmtheit zugenommen. Als sich in den Tratschkreisen der Violetten die Nachricht verbreitete, dass der Erzgouverneur mich schließlich losschickte, um mein Studium fortzusetzen, wurden Karnus au Bellona und ein paar handverlesene Cousins von Cassius’ Mutter entsandt, um ebenfalls zu »studieren«. Die Familie möchte mein Herz auf einem Tablett serviert bekommen. Was man sogar wörtlich nehmen kann. Nur Augustus’ Position hält sie zurück. Ein Angriff auf mich bedeutet einen Angriff auf ihn.
Letzlich kann ich auf ihre Vendetta oder die Blutfehde meines Meisters mit ihrem Haus pissen. Ich will die Flotte, damit ich sie für die Söhne des Ares einsetzen kann. Was ich damit anrichten könnte! Ich habe alles gründlich studiert, die Versorgungswege, die Sensorstationen, die Kampfeinheiten, die Datenknoten – all die neuralgischen Punkte, an denen sich die Weltengesellschaft ins Schwanken bringen ließe.
»Darrow …« Roque kommt näher. »Vorsicht vor Selbstüberschätzung. Vergiss nicht, wie es Pax ergangen ist. Stolz tötet.«
»Ich will, dass es eine Falle ist«, erwidere ich. »Karnus soll sich uns hier stellen.«
Er legt den Kopf schief. »Du hast deine eigene Falle für ihn vorbereitet.«
»Wie kommst du darauf?«
»Du hättest es uns sagen können. Ich hätte …«
»Karnus wird heute untergehen, Bruder. Das ist eine ganz einfache Tatsache.«
»Natürlich. Ich möchte nur helfen. Das weißt du.«
»Ich weiß es.« Ich unterdrücke ein Gähnen und lasse meinen Blick über die Brückennischen hinter und unter mir schweifen. Dort arbeiten Blaue in vielen Farbabstufungen an den Systemen, die mein Schiff in Betrieb halten. Sie sprechen langsamer als jede andere Farbe mit Ausnahme der Obsidianen und ziehen digitale Kommunikation vor. Sie sind älter als ich, allesamt Absolventen der Mitternachtsschule. Hinter ihnen auf der Rückseite der Brücke halten Graue Marines und mehrere Obsidiane Wache. Ich klopfe Roque auf die Schulter. »Es wird Zeit.«
»Seemänner«, rufe ich den Blauen in den Nischen zu. »Schärft euren Verstand. Dies ist der letzte Nagel im Bellona-Sarg. Wir schießen diesen Mistkerl in den Äther, und ich verspreche euch das größte Geschenk, das in meiner Macht steht – eine Woche tiefen Schlaf. Gut?«
Ein paar Graue im Hintergrund der Brücke lachen. Die Blauen klopfen nur mit den Fingerknöcheln auf ihre Instrumente. Ich würde die Hälfte meines – mit bestem Dank an den Erzgouverneur – beträchtlichen Kontos hergeben, um einen dieser blassen grazilen Köpfe lächeln zu sehen.
»Genug der Verzögerung«, verkünde ich. »Kanoniere auf Position. Roque, gruppiere die Zerstörer. Victra, beginne mit der Zielerfassung. Tactus, Abwehr aktivieren. Wir werden es jetzt beenden.« Ich werfe einen Blick zu meinem zierlichen Blauen Steuermann. Er steht zentral zwischen fünfzig weiteren in der Nische unter meiner Kommandoplattform. Die gewundenen Digitattoos auf den Kahlköpfen der Blauen und die spinnengleichen Hände leuchten in subtilen Schattierungen von Himmelblau und Silber, als sie sich mit den Schiffscomputern synchronisieren. Ihre Augen blicken in die Ferne, während die Sehnerven in die digitale Welt zurückkehren. Sie sprechen nur aus Höflichkeit zu uns. »Steuermann, Maschinen auf sechzig Prozent.«
»Aye, dominus.« Er blickt auf das taktische Display, eine Holo-Kugel, die über seinem Kopf schwebt, und seine Stimme klingt wie eine Maschine. »Bedenke jedoch, dass die Metallkonzentration in den Asteroiden die Einschätzung der Spektro-Werte erschwert. Wir sind ein bisschen blind. Auf der anderen Seite der Asteroiden könnte sich eine ganze Flotte verbergen.«
»Er hat keine Flotte. Hinein ins Loch«, sage ich. Die Maschinen des Schiffes rumoren. Ich nicke Roque zu und sage: »Hic sunt leones.« Die Worte unseres Meisters Nero au Augustus, Erzgouverneur des Mars, der Dreizehnte seines Namens. Meine Kriegsherren wiederholen den Satz.
Hier sind Löwen.
2 Durchbruch
Auf der taktischen Anzeige bewegen sich die sechs wendigen Zerstörer um mein Kriegsschiff herum. Die Besatzung der Blauen verbreitet eine unheimliche Stille, als ihre Kriegsfunktionen das Geschehen übernehmen. Auf der Ebene, die ihr Bewusstsein nun durchstreift, sind Worte langsamer als Eisberge. Meine Lieutenants überwachen meine Flotte. Zu jedem anderen Zeitpunkt wären sie an Bord ihrer eigenen Zerstörer oder würden ihre Leute in Leechcraft anführen, aber im Moment des Sieges möchte ich meine Kameraden in der Nähe haben. Doch selbst als meine Lieutenants hier an meiner Seite stehen, spüre ich die Trennung, die tiefe Kluft zwischer ihrer und meiner Welt.
»Raketensignaturen«, sagt der Blaue Kommunikationsoffizier. Auf der Brücke bricht keine Aktivität aus. Keine Warnleuchten versetzen die Besatzung in Panik. Keine Rufe durchdringen die Stille. Die Blauen sind eiskalte Wesen, seit ihrer Geburt in Gemeinschaftssekten aufgezogen, in denen sie lernen, Logik zu benutzen und ihre Funktionen mit kalter Effizienz auszuüben. Oft heißt es, sie wären mehr Computer als Menschen.
Der dunkle Raum hinter meinem Sichtfenster erblüht in einem dichten Schleier aus Mikroexplosionen. Unsere Flak schießt einen großen Vorhang aus mattweißen Wolken hinein. Heranfliegende Raketen detonieren, als die Flaksalven die Sprengköpfe der Raketen vorzeitig zünden lassen. Eine kommt durch, und ein Zerstörer am äußeren Flügel meiner Flotte flimmert unter der simulierten nuklearen Explosion. Normalerweise würden Menschen in den Weltraum hinausgerissen werden. Gas würde austreten. Explosionen könnten Löcher in den Metallrumpf schlagen, sodass Sauerstoff hinauskatapultiert würde wie Blut aus einem Wal, um im nächsten Augenblick von der Schwärze geschluckt zu werden. Aber dies ist nur ein Kriegsspiel, in dem sie uns keine echten Atomwaffen geben. Die tödlichsten Waffen sind hier die Schüler.
Ein weiteres Schiff fällt den Railgun-Salven zum Opfer, die durch die Flak dringen.
»Darrow …«, sorgt sich Victra.
Ich befingere geistesabwesend die Stelle, die einst von Eos Ring geziert wurde.
Victra wendet sich mir zu. »Darrow … er reißt uns in Stücke, falls es dir noch nicht aufgefallen ist.«
»Da hat die Lady nicht ganz unrecht, Schnitter«, tönt Tactus, dessen Gesicht vom taktischen Display blau leuchtet. »Was auch immer du noch auf Lager hast, sei jetzt nicht zögerlich.«
»Kommunikation, sag den Ripper- und Talon-Schwadronen, dass sie gegen den Feind vorrücken sollen.«
Ich beobachte auf der taktischen Anzeige, wie die Schwadronen, die ich eine halbe Stunde zuvor auf den Weg geschickt habe, seitlich um die Asteroiden herumrasen und sich auf Karnus’ Flanke stürzen. Aus dieser Entfernung ist es unmöglich, sie mit bloßem Auge zu erkennen, aber sie pulsieren golden in der Anzeige.
»Gratulation, mein Freund«, flüstert Roque, noch bevor das Manöver abgeschlossen ist. In seiner Stimme liegt eine seltsame Ehrfurcht, und jede Spur seiner früheren Frustration hat sich verflüchtigt. »Damit wird sich alles ändern.« Er berührt meine Schulter. »Alles.«
Ich beobachte, wie sich meine Falle schließt, spüre, wie der baldige Sieg die Spannung aus meinen Schultern zieht. Die Grauen auf meiner Brücke treten einen Schritt vor. Selbst die Obsidianen beugen sich vor, um die Anzeigen zu betrachten, während Karnus’ Schiff die Signaturen meiner Schwadronen registriert. Er versucht zu fliehen, lässt die Triebwerke feuern, um dem zu entrinnen, was kommt. Aber die räumliche Situation hat sich gegen ihn verschworen. Meine Schwadronen schießen Raketen ab, bevor Karnus einen Flakschirm bilden oder seine eigenen Raketen zum Einsatz bringen kann. Dreißig simulierte nukleare Explosionen erschüttern sein letztes Schiff. Zu diesem Zeitpunkt des Spiels hat es keinen Sinn mehr, sein Schiff zu kapern, sodass die Blauen Kampfpiloten sich einen leichten Overkill gönnen.
Und so habe ich gewonnen.
Auf meiner Brücke brechen die Grauen und Orangenen Techniker in Jubelschreie aus. Die Blauen klopfen energisch auf die Konsolen. Die Obsidianen, die nicht viel mit dieser Hightech-Welt anfangen können, geben keinen Laut von sich. Meine persönliche Dienerin Theodora lächelt ihren jüngeren Schützlingen an der Dienerstation auf der Brücke zu. Die ehemalige Rosen-Kurtisane, die ihr bestes Alter längst hinter sich hat, ist mit zahlreichen Geheimnissen vertraut und dient mir als gesellschaftliche Beraterin.
Überall im Schiff, vom Maschinenraum bis in die Küchen, wird der Sieg über Holo-Bildschirme übertragen. Es ist nicht nur mein Sieg. Jeder Mann und jede Frau hat seinen oder ihren eigenen Anteil daran. So hat es die Weltengesellschaft geplant. Wer erfolgreich sein will, dessen Vorgesetzter muss erfolgreich sein. Wie ich einen Patron in Augustus gefunden habe, müssen die Niederen Farben ihren in mir finden. Dadurch wird eine Loyalität gegenüber den Goldenen erzeugt, die das System der Farben nicht durch bloße Weisung erschaffen kann.
Jetzt wird mein Stern aufsteigen, und alle an Bord werden mit mir aufsteigen.
Macht und Versprechen sind in dieser Kultur die Grundlage für Berühmtheit. Als der Erzgouverneur vor nicht allzu langer Zeit verkündete, dass er mein Studium an der Akademie finanzieren will, schossen die Spekulationen in der HoloBox ins Kraut. Kann jemand, der so jung ist, der aus einer so erbärmlichen Familie stammt, überhaupt siegen? Schaut euch an, was ich am Institut getan habe! Ich habe die Spielregeln gebrochen. Ich habe die Proktoren erobert, ich habe einen getötet und die anderen wie Kinder gefesselt. Aber war das nicht mehr als ein Blitz in der Nacht? Jetzt haben diese plappernden Bastarde ihre Antwort.
»Steuermann, setz Kurs auf die Akademie. Wir müssen unseren Lorbeer abholen«, verkünde ich unter Jubelrufen. Lorbeer. Dieses Wort hallt aus meiner Vergangenheit wider und hinterlässt einen bitteren Geschmack in meinem Mund. Trotz meines Lächelns verspüre ich keine große Freude über diesen Sieg. Nur finstere Genugtuung.
Ein weiterer Schritt, Eo. Ein weiterer Schritt nach vorn.
»Prätor Darrow au Andromedus«, spielt Tactus mit dem Titel. »Die Bellonas werden sich zuscheißen. Ich frage mich, ob ich das ausnutzen kann, um ein Kommando zu bekommen, oder glaubst du, dass ich mich deiner Flotte anschließen muss? Man weiß nie. Die mordsverdammte Bürokratie ist so schwerfällig. Kupferne, die geschmiert werden wollen. Goldene, die umworben werden wollen. Meine Brüder werden natürlich eine Party für uns schmeißen wollen.« Er stupst mich an. »Auf einer Party der Gebrüder Rath landest vielleicht sogar du endlich im Bett.«
»Als ob er deine Freundinnen anrühren würde.« Victra drückt meine Hand und lässt die Finger verharren, als würde sie ein Gewand statt einer Rüstung tragen. »Auch wenn ich es nur ungern erwähne, aber Antonia hatte recht mit dem, was sie über dich sagte.«
Ich spüre, wie Roque zusammenzuckt, und erinnere mich an das Geräusch, mit dem Antonia Leas Kehle durchschnitt, als sie versuchte, mich am Institut aus meinem Versteck hervorzulocken. Ich hatte mich im Schatten verborgen und horchte darauf, wie meine kleine Freundin mit einem feuchten Klatschen auf den vermoosten Boden fiel. Roque hatte Lea auf seine hastige Art geliebt.
»Ich habe dir schon einmal gesagt, dass du den Namen deiner Schwester in unserer Gegenwart nicht erwähnen sollst«, sage ich zu Victra, deren Gesicht nach diesem brüsken Verweis einen verbitterten Ausdruck annimmt.
Ich drehe mich wieder zu Roque um.
»Ich glaube, als Prätor besitze ich die Autorität, die Besatzung meiner Flotte nach eigenem Ermessen auszuwählen. Vielleicht sollten wir ein paar alte Gesichter zurückholen. Sevro von Pluto, die Heuler von dort, wohin auch immer sie verschifft wurden, und vielleicht … Quinn von Ganymed?«
Roques Wangen erröten, als Quinns Name genannt wird.
Ich persönlich wünsche mir am meisten ein Wiedersehen mit Sevro. Keiner von uns beiden ist besonders eifrig darin, über das HoloNet in Verbindung zu bleiben, zumal ich seit Beginn meines Studiums an der Akademie keinen Zugang dazu hatte. Jedenfalls hat er eine Vorliebe dafür, Hologramme von ungewöhnlich perversen Einhörnern und Videoaufnahmen zu schicken, in denen er Wortspiele vorträgt. Pluto hat ihn offenbar noch seltsamer gemacht.
»Dominus.« Die Stimme des Blauen Steuermanns lenkt meine Aufmerksamkeit auf die Anzeige.
»Was ist los?«, frage ich.
Seine Augen sind glasig. Er ist entrückt, an die Sensoren des Schiffs angeschlossen, und sieht die Rohdaten des Displays, auf das ich starre. »Unklar, dominus. Sensordatenverzerrung. Geisterdaten.«
Auf der großen Zentralanzeige sind die Asteroiden in Blau zu sehen. Wir sind golden, die Feinde rot. Von ihnen sollten keine mehr übrig sein. Dennoch pulsiert dort nun ein roter Punkt. Roque und Victra gehen darauf zu. Roque bewegt die Hand, und die Daten werden an sein Datenpad übertragen. Eine kleinere Holosphäre schwebt vor ihm. Er vergrößert das Bild und wendet verschiedene analytische Filter an.
»Strahlung?«, mutmaßt Victra. »Trümmer?«
»Das Erz des Asteroiden könnte eine Spiegelung unseres eigenen Signals bewirken«, sagt Roque. »Es könnte auch die Software sein … Jetzt ist es weg.«
Der rote Punkt verschwindet flackernd, aber die Anspannung hat sich auf der gesamten Brücke ausgebreitet. Alle starren auf das Display. Nichts. Hier ist niemand außer meinen Einheiten und Karnus’ besiegtem Flaggschiff. Es sei denn …
Roque wendet sich mit erschrockener Miene zu mir um. »Fluchtkurs«, kann er noch sagen, bevor das feuerrote Signal wieder zum Leben erwacht.
»Volle Kraft auf die Triebwerke«, brülle ich. »Dreißig Grad Kursänderung.«
»Die noch übrigen Raketen auf die Oberfläche des Asteroiden abfeuern«, befiehlt Tactus.
Zu spät.
Victra keucht überrascht, und ich sehe mit bloßem Auge, womit sich unsere Instrumente abmühen. Ein Zerstörer kommt aus einer dunklen Höhlung im Asteroiden hervor. Ein Schiff, von dem ich dachte, wir hätten es vor drei Tagen besiegt. Es hatte die Triebwerke abgeschaltet, während es auf der Lauer lag. Die vordere Hälfte ist aufgerissen und geschwärzt. Jetzt feuern die Triebwerke mit voller Kraft. Und seine Flugbahn ist genau auf mein Schiff gerichtet.
Es wird uns rammen.
»Evak-Anzüge und Kapseln!«, rufe ich. Jemand schreit, dass wir uns für den Zusammenstoß wappnen sollen. Ich eile zur Seite der Brücke, wo meine Kommandofluchtkapsel in die Wand eingebaut ist. Sie öffnet sich auf meinen gesprochenen Befehl. Tactus, Roque und Victra rennen hinein. Ich halte mich zurück, rufe den Blauen zu, dass sie sich beeilen und ausklinken sollen. Trotz ihrer Logik würden sie für ihr Schiff sterben.
Ich laufe auf der Brücke hin und her, schreie sie an, ihre Fluchtschleusen zu aktivieren. Der Blaue Steuermann tut es, drückt einen Knopf, der bewirkt, dass sich im Boden einer Nische ein Loch auftut. Einer nach dem anderen klinken sie sich aus und werden durch die Gravitationsröhre in ihre Fluchtkapseln gesaugt.
»Theodora!«, rufe ich, als ich sehe, wie sie an einem jungen Blauen zerrt, der sich furchtsam mit weißen Fingerknöcheln an seiner Station festklammert. »Steig in die mordsverdammte Kapsel!« Sie hört nicht auf mich. Genauso wenig lässt der Blaue los. Ich renne zu ihnen, als im selben Moment der Annäherungssensor ein letztes Warnsignal auslöst.
Alles verlangsamt sich.
Die Lichter auf der Brücke pulsieren rot.
Ich stürze mich auf Theodora, schlinge meine Arme um sie.
Und der Zerstörer rammt mein Kriegsschiff frontal.
Ich drücke Theodora an meine Brust und werde dreißig Meter quer über die Brücke geschleudert, bis ich gegen eine Metallwand schlage. Greller Schmerz schießt durch meinen linken Arm, entlang der Linie des verheilenden Bruchs. Dunkelheit schlägt mir ins Gesicht. Einzelne Lichter tanzen, zuerst wie Sterne, dann wie verwobene Linien aus Sand, der vom Wind aufgewirbelt wird.
Rotes Licht sickert durch meine Augenlider. Eine sanfte Hand zerrt an meiner Kleidung.
Ich öffne die Augen. Ich bin um eine eingedellte elektrische Säule gewickelt, während das Schiff erzittert und stöhnt wie ein urtümliches, sterbendes Tier, das in der Tiefe versinkt. Die Säule vibriert heftig an meinem Bauch, während der Zerstörer unser Schiff der Länge nach spaltet. Er weidet uns mit grausamer Langsamkeit aus.
Jemand ruft meinen Namen. Stimmen und Geräusche kehren zurück.
Die Brücke ist von Lichtern erhellt, wechselnde Schattierungen von mörderischem Rot. Warnsirenen. Der Schwanengesang des Schiffes. Theodoras zierliche alte Hände zerren an mir wie ein Vogel, der an einer umgestürzten Statue zieht. Ich blute auf der Stirn. Meine Nase ist gebrochen. Ich wische mir das brennende Blut aus den Augen und rolle mich auf den Rücken. Neben mir sprüht ein zerstörtes Display Funken. Mein Blut klebt darauf. Ist es auf mich gefallen? Daneben liegt eine Stange, und mein Blick wandert zu Theodora. Sie hat es zur Seite gehebelt. Aber sie ist so klein. Sie legt die Hände an mein Gesicht.
»Steh auf! Dominus, wenn du überleben willst, musst du aufstehen!« Die Hände der alten Frau zittern vor Furcht. »Bitte, steh auf!«
Ächzend stemme ich mich hoch. Meine Kommandofluchtkapsel ist fort. Sie muss während der Kollision gestartet sein. Entweder das, oder die anderen haben mich zurückgelassen. Auch die Fluchtkapsel der Blauen hat sich vom Schiff getrennt. Der ängstliche Blaue ist zu einem Fleck an einer Wand geworden. Theodora kann die Augen nicht von diesem Anblick losreißen. Tränen laufen ihr über die Wangen.
»In meinem Quartier ist eine weitere Kapsel«, murmele ich. Dann sehe ich, warum Theodora sich windet. Nicht vor Furcht, sondern vor Schmerzen. Ihr Bein ist zertrümmert, nach außen gespreizt wie ein Stück feuchte, abgesplitterte Kreide. Pinke sind nicht dazu gemacht, so etwas auszuhalten. »Ich werde es nicht schaffen, dominus. Geh jetzt!«
Ich lasse mich auf ein Knie hinab und werfe sie mir mit meinem gesunden Arm über die Schulter. Sie wimmert entsetzlich, als sich ihr Bein bewegt. Ich spüre ihr Zähneklappern. Und dann renne ich. Ich renne durch die zerstörte Brücke auf die Wunde zu, die mein Schiff tötet, durch die Korridore auf dem Brückendeck in eine Szene des Chaos. Menschen drängen sich in den Hauptkorridoren, verlassen ihre Posten und Aufgaben, während sie zu den Fluchtkapseln und Truppentransportern im vorderen Hangar rennen. Menschen, die für mich gekämpft haben – Elektriker, Quartiermeister, Soldaten, Köche, Diener. Sie werden sich nie in Sicherheit bringen können. Viele ändern den Kurs, als sie mich sehen. Sie taumeln zu Boden, stürzen sich panisch und wirr auf mich in ihrem Wahn, eine Rettung zu finden. Sie zerren schreiend und flehend an mir. Ich stoße sie weg und verliere einen kleinen Teil meines Herzens, als sie hinter mir zurückfallen. Ich kann sie nicht retten. Ich kann es nicht. Ein Orangener greift nach Theodoras gesundem Bein, und eine Graue Sergeantin schlägt ihm gegen die Stirn, bis er wie ein Stein zu Boden fällt.
»Macht den Weg frei«, brüllt die dicke Graue. Sie reißt einen Scorcher aus ihrem taktischen Holster und schießt damit in die Luft. Ein anderer Grauer nimmt sich zusammen oder denkt vielleicht, dass ich sein Ticket aus dieser Todesfalle bin, und hilft ihr dabei, einen Weg durch das Chaos zu bahnen. Bald werden sie von zwei weiteren mit gezückten Waffen unterstützt.
Mit ihrer Hilfe gelange ich zu meiner Suite. Die Tür zischt auf, als meine DNS sie berührt, und wir treten hindurch. Die Grauen folgen uns und richten ihre Waffen auf die dreißig verzweifelten Seelen, die sich um den Eingang drängen. Die Tür zischt, um sich zu schließen, aber eine Obsidiane zwängt sich durch die Menge und wird im Rahmen eingeklemmt. Die Tür ist blockiert. Ein Orangener macht es ihr nach. Dann ein Blauer von niederem Rang. Ohne zu zögern, schießt die Graue Sergeantin der Obsidianen in den Kopf. Ihre Kameraden erschießen den Blauen und den Orangenen und stoßen sie vom Rahmen weg, damit sich die Tür schließen kann. Ich reiße den Blick von dem Blut am Boden los und lege Theodora auf eine Couch.
»Dominus, wie viel Platz ist in der Fluchtkapsel?«, fragt mich die Graue Sergeantin, während ich zur Zugangsschleuse der Kapsel gehe. Ihr Haar ist nach militärischer Mode elektrisiert. Unter ihrem Kragen lugt ein Tattoo auf ihrer gebräunten Haut hervor. Meine Hände fliegen über das Kontrollprisma und geben das Passwort mit einer Bewegungsabfolge ein.
»Vier Sitze. Ihr bekommt zwei. Entscheidet das unter euch.«
Wir sind zu sechst.
»Zwei?«, fragt die Sergeantin kalt nach.
»Aber die Pinke ist eine Sklavin!«, zischt einer der Grauen.
»Sie ist nichts wert«, sagt ein anderer.
»Sie ist meine Sklavin«, knurre ich. »Tut, was ich sage!«
»Scheiß drauf.« Dann spüre ich die Stille, und ich weiß, dass einer von ihnen eine Waffe auf mich gerichtet hat. Ich drehe mich langsam um. Der stämmige alte Graue ist kein Dummkopf. Er hat sich zurückgezogen, außerhalb meiner Reichweite. Ich habe keine Rüstung, nur meinen Razor. Ich könnte ihn vielleicht töten. Die anderen fragen ihn, was zum Teufel er sich einbildet.
»Ich bin ein freier Mann, dominus. Ich sollte einen Platz bekommen«, sagt der Graue mit zitternder Stimme. »Ich habe Familie. Es ist mein Recht, mich in Sicherheit zu bringen.« Er schaut zu seinen Kameraden, die in das böse Rot der Notbeleuchtung getaucht sind. »Sie ist nur eine Hure. Eine emporgekommene Hure.«
»Marcel, steck die Waffe weg«, sagt der dunkelhäutige Corporal. Sein Blick ist schwer aus Sorge um seinen Freund. »Erinnere dich an deinen Schwur. Wir werden Lose ziehen.«
»Das ist nicht fair! Sie kann nicht einmal Kinder bekommen!«
»Und was würden deine Kinder jetzt über dich denken?«, frage ich.
Marcels Augen füllen sich mit Tränen. Die Waffe zittert in seiner plumpen Hand. Dann fällt ein Schuss. Sein Körper erstarrt und bricht leblos zusammen, während die Kugel aus dem Scorcher der Sergeantin aus seinem Kopf austritt und in die Metallwand schlägt.
»Wir gehen nach dem Rang«, sagt die Sergeantin und steckt ihre Waffe ins Holster.
Wäre ich noch der Mann, den Eo kannte, wäre ich vor Schreck erstarrt. Aber diesen Mann gibt es nicht mehr, und ich trauere jeden Tag um ihn. Ich vergesse immer mehr, wer ich war, welche Träume ich hatte, was ich geliebt habe. Inzwischen ist die Traurigkeit stumpf geworden. Und ich mache weiter, trotz des Schattens, den sie auf mich wirft.
Die Fluchtkapsel öffnet sich mit einem dumpfen Schlag des Magnetschlosses. Die Tür schiebt sich zischend nach oben. Ich hebe Theodora von der Couch auf und schnalle sie auf einem Sitz fest. Die Gurte sind zu groß, weil sie für Goldene gemacht wurden. Dann brüllt etwas tief und schrecklich im Bauch meines Schiffs, einen halben Kilometer entfernt. Unser Torpedodepot detoniert.
Die künstliche Schwerkraft fällt aus. Es gibt keine stabilen Wände mehr. Es ist eine tückische Empfindung. Alles dreht sich. Ich krache gegen den Boden der Fluchtkapsel. Oder gegen die Decke? Ich weiß es nicht. Das Schiff verliert Druck. Jemand übergibt sich. Ich rieche es mehr, als dass ich es höre. Ich rufe den Grauen zu, dass sie in die Kapsel steigen sollen. Jetzt bleibt nur einer zurück, still und mit bestürzter Miene, während die Sergeantin und der Corporal sich in die Fluchtkapsel ziehen. Sie schnallen sich mir gegenüber an. Ich aktiviere die Startfunktion und salutiere dem Grauen, der zurückbleibt. Er salutiert zurück, stolz und loyal trotz seiner Stille im Angesicht der letzten Momente seines Lebens. Seine Augen blicken in die Ferne, und er denkt an irgendeine Jugendliebe, irgendeinen Weg, den er nicht gegangen ist. Oder er fragt sich, warum er nicht als Goldener geboren wurde.
Dann schließt sich die Tür, und er ist aus meiner Welt verschwunden.
Ich werde in meinen Sitz gepresst, als die Fluchtkapsel von dem sterbenden Schiff davonrast. Durch Trümmer. Dann sind wir wieder schwerelos und treiben von der Vernichtung fort, während sich die Trägheitsdämpfer aktivieren. Durch das Fenster sehe ich, wie mein Flaggschiff Ströme aus blauen und roten Flammen ausstößt. Aufbereitetes Helium-3, die Energiequelle beider Schiffe, entzündet sich in der Nähe der Triebwerke meines Kriegsschiffs und löst eine Kettenreaktion aus, die das Schiff explodieren lässt. Plötzlich wird mir klar, dass es keine Trümmer waren, mit denen meine Fluchtkapsel kollidierte, als sie das Schiff verließ. Es waren Menschen. Meine Besatzung. Hunderte von Niederen Farben, die in den Weltraum gerissen wurden.
Der Graue sitzt mir gegenüber.
»Er hatte drei Mädchen«, sagt der dunkelhäutige Corporal und erschaudert, als die Adrenalinwirkung nachlässt. »In zwei Jahren wäre er in Pension gegangen. Und du hast ihm in den Kopf geschossen.«
»Nach meinem Bericht hat der Feigling nicht einmal Anspruch auf eine Waisenrente«, höhnt die Sergeantin.
Der Corporal sieht sie blinzelnd an. »Du eiskaltes Miststück.«
Ihre Worte verklingen und werden vom Pochen des Blutes in meinen Ohren übertönt. Das ist alles meine Schuld. Am Institut habe ich die Regeln gebrochen. Ich verhielt mich anders, als man es erwartete, und dachte, dass sie sich nicht anpassen würden. Dass sie meinetwegen nicht ihre Strategie ändern würden.
Und nun habe ich so viele Leben verloren, dass ich vielleicht nie die genaue Opferzahl erfahre.
Von einem Augenblick auf den anderen sind mehr Menschen gestorben als während eines ganzen Jahres am Institut. Die Toten öffnen ein schwarzes Loch in meinem Bauch.
Roque und Victra rufen mich über den Kom. Sie dürften mein Datenpad angepeilt haben und wissen, dass ich in Sicherheit bin. Ich höre sie kaum. Wut brodelt schwer und böse in mir, lässt meine Hände zittern, mein Herz laut schlagen.
Irgendwie setzt Karnus’ Schiff seinen Weg durch den Weltraum fort, nachdem es mein Flaggschiff zerteilt hat. Es ist beschädigt, aber nicht zerstört. Ich löse die Sitzgurte und stehe auf. Am anderen Ende der Fluchtkapsel gibt es eine Startröhre mit einer vorbereiteten Starshell – einem mechanischen Anzug, der aus einem Menschen einen Torpedo machen kann. Die Starshell ist dazu gemacht, Goldene zu Asteroiden oder Planeten zu schicken, denn die Fluchtkapsel würde einen Eintritt in die Atmosphäre nicht überstehen. Aber ich werde das System zum Zweck der Rache benutzen. Ich werde mich selbst auf die drecksverdammte Brücke dieses Bellona-Bastards schießen.
Ich bin froh, dass Theodora noch nicht aufgewacht ist.
Ich sage dem Corporal, dass er mir in den Anzug helfen soll. Zwei Minuten später stecke ich im Metallpanzer. Weitere zwei sind nötig, um mit dem Computer die Berechnung meiner Flugbahn zu diskutieren, damit ich Karnus’ Schiff abfangen und durch die Brückenfenster schlagen kann. Ich habe noch nie gehört, dass jemand so etwas schon einmal gemacht hat. Oder es auch nur versucht hat. Es ist Wahnsinn. Aber Karnus soll bezahlen.
Ich beginne mit meinem eigenen Countdown.
Drei … Das feindliche Schiff zieht arrogant in einhundert Kilometern Entfernung vorbei. Es ist wie eine dunkle Schlange mit blauem Schwanz und einer Brücke anstelle von Augen. Zwischen uns flimmern hundert Fluchtkapseln wie Rubine in der Sonne. Zwei … Ich bete, dass ich das Tal finde, wenn ich das hier nicht überlebe. Eins. Meine Anzeigen erlöschen, und es blinkt rot in meinem Helm. Die Proktoren haben meinen Computer übernommen und mir die Kontrolle entzogen.
»NEIN!«, brülle ich, während ich zusehe, wie Karnus’ Schiff in der Dunkelheit verschwindet.