SVEVA CASATI
MODIGNANI
BEI ANBRUCH
DES TAGES
ROMAN
Aus dem Italienischen
von Christiane Burkhardt
SVEVA CASATI
MODIGNANI
BEI ANBRUCH
DES TAGES
ROMAN
Aus dem Italienischen
von Christiane Burkhardt
Die Originalausgabe erschien 2012 unter
dem Titel Léonie bei Sperling & Kupfer Editori S. p. A., Mailand
Die folgende Geschichte ist frei erfunden.
Jede Ähnlichkeit mit tatsächlichen Ereignissen,
Schauplätzen, lebenden oder toten Personen
ist reiner Zufall.
Copyright © 2012 by Sperling & Kupfer Editori S. p. A.
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2013
by Diana Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Redaktion | Anja Rüdiger
Umschlaggestaltung | t.mutzenbach design, München
unter Verwendung der Originalcovergestaltung
von Francesco Marangon
Umschlagmotiv | © Lesley Aggar/Trevillion Images
Autorenfoto | © Maki Galimberti
Satz | Leingärtner, Nabburg
Alle Rechte vorbehalten
ePub-ISBN 978-3-641-10808-3
www.diana-verlag.de
Für die reizende Großmutter Velia,
die meine Enkel Luna und Lapo
jahrelang liebevoll betreut hat.
Villanova heute
1
Léonie verlangsamte ihre Schritte und blieb vor der in aufstei genden Nebel gehüllten Villa stehen, die am Ende der Allee stumm und eindrucksvoll vor ihr aufragte. Sie keuchte, und die kühle Morgenluft verwandelte ihren Atem in kleine weiße Wolken. Sie beugte sich vor und verharrte so, um wieder zu Atem zu kommen.
Seit vielen Jahren, ja, seit sie ihr fünftes Kind zur Welt gebracht hatte, stand sie jeden Morgen um sieben auf, schlüpfte in ihren Jogginganzug und lief eine halbe Stunde durch den Park – und das bei jedem Wetter, zu jeder Jahreszeit.
Nachdem sich ihre Atmung wieder beruhigt hatte, richtete sie sich auf und tupfte sich das Gesicht mit dem Tuch ab, das sie dazu um den Hals trug. Dann lief sie beschwingt auf das majestätische Gebäude zu, das Ende des neunzehnten Jahrhunderts errichtet worden war.
Die Villa, die in der Mitte eines Gartens lag und von einem zwei Hektar großen Park umgeben war, sah aus wie ein riesiger, sehr eleganter Landsitz. Die ersten Sonnenstrahlen drangen durch den Nebel, und im Näherkommen sah Léonie die blassgelben Arkaden der Fassade, die von lilafarbenen Erika gesäumten Beete, die bereits knospenden Kameliensträucher und die rötlichen Beeren der Stechpalme.
Das Anwesen wirkte heiter und friedlich, aber Léonie wusste, dass es Ängste, Sorgen und Geheimnisse barg.
So wie auch sie die ihren sorgsam bewahrte, dachte sie beim Betreten des Hauses.
Sie ging hinunter ins Souterrain, wo sich in einem riesigen Raum bei gedämpfter Beleuchtung das Schwimmbad befand. Sie zog sich bis auf den Slip aus und sprang ins Wasser. Sie schwamm drei Bahnen, und als sie hinauskletterte, wartete bereits die Physiotherapeutin auf sie, die ihr wie immer stumm und dienstfertig den Bademantel reichte.
Léonie folgte ihr in die mit Birkenholz vertäfelte Kabine, streckte sich auf der vorgewärmten Liege aus und überließ sich ihren erfahrenen Händen, die mit einem geschickten Druck der Finger Verspannungen lösten. Die Frau verabreichte ihr eine belebende Massage und rieb ihren Körper mit essenziellen Ölen ein.
Trotz ihrer achtundvierzig Jahre und der fünf Schwangerschaften hatte Léonie nach wie vor eine fast perfekte Figur. Die Physiotherapeutin behauptete, die »Signora« sähe auch ohne die täglichen Behandlungen perfekt aus, aber die »Signora« ließ sie reden und bestand auf ihrem Ritual.
Nach der Massage schlüpfte Léonie in einen weichen Chenille-Morgenrock und ging zum Lift, um nach oben in ihre Wohnung zu fahren. Als die Tür aufglitt, stand ihr Schwiegervater in einem schwarzen Bademantel vor ihr.
»Bonjour, papà«, begrüßte sie ihn.
»Guten Tag, kleine Hexe«, erwiderte Cavalier Renzo Cantoni, während er auf das Schwimmbad zuging. Léonie lächelte. Dieser Wortwechsel wiederholte sich Tag für Tag.
Der Lift war vor Jahren eingebaut worden, um ihre Schwiegermutter Celina mobiler zu machen. Sie hatte an extremer Fettleibigkeit gelitten und war schon seit geraumer Zeit tot.
Jetzt wurde er von allen benutzt.
Léonie zog sich in ihrer Wohnung an und betrat um Punkt halb neun den Wintergarten, wo das Frühstück bereits angerichtet war.
Ihr Mann Guido Cantoni stand vor der Lackholz-Anrichte, auf der ein reichhaltiges Büfett zur Auswahl stand. Er nahm sich gerade ein Stück ofenwarmen Apfelkuchen, der köstlich nach Butter und Zimt duftete.
In diesem Haus wurde schon seit jeher hervorragend, aber auch mit zu viel Fett gekocht, sodass der Patriarch bereits zwei Herzinfarkte und seine Gemahlin einen tödlichen Schlaganfall erlitten hatte.
Nur Léonie verzichtete auf die gehaltvolle Kost und ernährte sich leichter und gesünder.
Als ihr Mann sie bemerkte, fragte er: »Soll ich dir auch ein Stück abschneiden?«
»Nein danke«, erwiderte Léonie.
Sie ging zu ihm und küsste ihn flüchtig auf die blasse Wange, füllte ein Schälchen mit selbst gemachtem Joghurt und gab noch einen Löffel frischen Obstsalat hinzu. Dann nahm sie gegenüber dem Fünfzigjährigen mit dem melancholischen Blick, mit dem sie verheiratet war, Platz.
Es war der zweiundzwanzigste Dezember, und durch die Scheiben des Wintergartens konnte man hinter dem Garten und dem Park mit den Steineichen den Himmel erkennen, an dem sich dicke weiße Wolken ballten.
Ein alter Diener in roter Livree kam herein und brachte Kannen mit Kaffee und Milch, die er auf den Tisch stellte.
»Guten Tag, Signora. Guten Tag, Signore«, flüsterte er.
Guido erwiderte den Gruß, Léonie lächelte ihm zu. Sie mochte den alten Nesto, der schon seit vielen Jahren im Dienst der Familie stand. Als sie die große Villa zum ersten Mal betreten hatte, hatte er sie fast väterlich willkommen geheißen, so als habe er sie ermutigen wollen, sich von all dem Prunk nicht einschüchtern zu lassen.
Nachdem sich der Diener wieder zurückgezogen hatte, sagte Guido zu seiner Frau: »Du bist sehr elegant heute.«
Sie trug einen alten schwarzen Rollkragenpulli und eine graue Flanellhose.
»Danke, mein Schatz«, sagte sie.
»Und du strahlst mehr als sonst«, fuhr er leicht missbilligend fort.
Léonie sah ihn verwirrt an.
Im sanft beleuchteten, angenehm warmen Wintergarten klangen Guido Cantonis Worte fast wie ein Vorwurf.
Ein verbittertes Lächeln huschte über das Gesicht ihres Mannes, als er nachsetzte: »Die meisten Frauen blühen im Frühling auf. Aber du wirst kurz vor Weihnachten schöner. Das war schon immer so.«
Was wollte ihr sonst so wortkarger Mann, der sich nur, wenn er schrieb, wortgewandt und geistreich ausdrückte, wohl damit sagen?
»Alles in Ordnung?«, fragte sie. Vielleicht hatte Guido etwas herausgefunden? Aber das war vollkommen ausgeschlossen! Möglicherweise probierte er auch nur einen Dialog für ein neues Drehbuch mit ihr aus, wie es durchaus schon vorgekommen war.
Guido hatte bereits vor ihrer Heirat aufgehört, für das Familienunternehmen zu arbeiten. Er war lieber Schriftsteller als Wasserhahnfabrikant. Auch wenn die Familie ihren Reichtum den Cantoni-Armaturen verdankte, lebte Guido von seinen Einnahmen als Drehbuchautor.
»Ja, bei mir schon. Und bei dir?«, erwiderte er fast schon aggressiv.
In diesem Moment betrat Cavalier Renzo Cantoni den Raum und mit ihm der Duft der essenziellen Öle, mit denen ihn die Physiotherapeutin massiert hatte. Er trug einen eleganten dunkelblauen Morgenmantel und dazu passende Samtpantoffeln.
Guido ging ihm entgegen und zog den gepolsterten Stuhl zurück, auf dem sein Vater mit mürrischem Gesicht Platz nahm: Morgens war er stets schlechter Laune.
Er griff nach der silbernen Glocke neben seinem Teller und läutete Nesto herbei.
»Es geht mir ausgezeichnet, mein Schatz«, nahm Léonie den Faden wieder auf, nicht ohne hinzuzufügen: »Wie du bereits sagtest: Kurz vor Weihnachten blühe ich auf, als wäre schon Frühling.«
»Eben, eben!«, flüsterte er und stand auf, um zur Anrichte zu gehen und sich noch ein Stück von dem Kuchen zu nehmen.
2
Léonie errötete, so als hätte sie Hitzewallungen, sagte aber nichts darauf.
Nesto trat näher, einen Silberlöffel mit Eigelb und Zitronensaft in der einen und ein Tellerchen in der anderen Hand, um damit etwaige Tropfen aufzufangen.
Cavalier Cantoni schlürfte sichtlich zufrieden sein Eigelb und wandte sich dann mit einem triumphierenden Lächeln an seine Schwiegertochter: »Das ist mein Lebenselixier – nur falls hier jemand hofft, die Leitung der Armaturenfabrik übernehmen zu können.«
Léonie lächelte, ohne auf die Provokation einzugehen.
Seit vier Jahren war sie inzwischen Vizepräsidentin des Familienunternehmens. Der Cavaliere hatte damals seinen zweiten Infarkt gehabt, und die Ärzte meinten, dass er nicht mehr in der Lage sei, die Firma zu leiten. Monate vergingen, bis er sich wieder erholt hatte, und in seiner Abwesenheit hatte Léonie die Fabrik mit sicherer Hand und großer Professionalität geleitet. Renzo Cantoni hatte ihre Leistung anerkannt, indem er sie zur Vizepräsidentin ernannte, allerdings nicht ohne hinzuzufügen: »Vergiss nicht, dass ich der Chef bin, solange ich noch denken kann.«
Er hatte das bewusst warnend gesagt, war aber in Wahrheit erleichtert gewesen.
Endlich hatte er einen würdigen Nachfolger gefunden. Unter Léonie würde die Firma auch weiterhin florieren. Der harte, gebieterische Mann mochte und schätzte seine Schwiegertochter, was er allerdings nicht zeigte, um nicht sentimental zu wirken.
»Möchtest du mich heute Morgen in die Fabrik begleiten, papà?«, fragte Léonie.
»Wieso denn das? Es reicht ja wohl, wenn ich zur Weihnachtsansprache gehe. Außerdem wirst du ohnehin bald aufbrechen, stimmt’s?«, entgegnete er mit einem hämischen Lächeln.
Alle Familien- und Fabrikangehörigen wussten, dass Léonie am zweiundzwanzigsten Dezember, am Tag der Wintersonnenwende, den Wagen nahm und fortfuhr. Nachmittags war sie dann wieder zu Hause. Niemand wusste, wo sie den Tag verbrachte. Alle, ja, sogar ihr Mann, hatten diese Extravaganz stets geduldet, ohne je nachzufragen oder sie zu kommentieren.
Aber an diesem Morgen hatte Guido es ihr zum ersten Mal schwergemacht.
Nesto servierte dem Hausherrn ungerührt schweigend das Frühstück und stellte sich hinter ihn, bereit, ihm beim geringsten Hinweis zur Hand zu gehen.
»Giuditta kommt heute Nachmittag. Wer holt sie vom Flughafen ab?«, fragte Guido seine Frau.
Giuditta war die jüngste Tochter. Sie ging auf ein sehr exklusives Schweizer Internat und würde die Feiertage wie die anderen über die ganze Welt verstreuten Kinder bei den Eltern verbringen.
»Ich bestimmt nicht, und das weißt du genau!«, erwiderte Léonie.
»Ich habe heute einen wichtigen Termin mit einem Regisseur … aber wenn du partout nicht kannst …«
Léonie legte die Serviette auf den Tisch, sah ihrem Mann in die Augen und fragte betont gelassen: »Was willst du mir damit sagen, Guido?«
Er wirkte wie eine Schildkröte, die sich in ihren Panzer zurückzog. Dann lächelte er, legte eine Hand auf die seiner Frau und sagte: »Gar nichts, mein Schatz. Alles bestens.«
»Aber wollte sie nicht zusammen mit den anderen am vierundzwanzigsten kommen?«, fragte sie.
»Seit wann tun Kinder das, was wir von ihnen erwarten?«, brummte der Alte und warf seinem Sohn einen vielsagenden Blick zu.
Nach dreißig Jahren hatte er seinem einzigen Sohn immer noch nicht verziehen, dass er aus dem Familienunternehmen ausgeschieden war.
Dann fügte er hinzu: »An Heiligabend heißt es wieder: The same procedure as every year. Ich habe vor, den Abend im Club zu verbringen. In kleinem, aber exklusivem Kreis.«
Er meinte den berühmten Mailänder Club, dessen Vorsitzender er war.
»Das wissen wir bereits, papà. Das sagst du jedes Mal, und dann feierst du doch mit der Familie und freust dich, wenn deine Enkel dich tyrannisieren«, erwiderte Guido.
Léonie stand auf, trat neben ihren Schwiegervater und küsste ihn auf die Wange. »Noch einen schönen Tag, papà! Pass gut auf dich auf«, sagte sie mit einem strahlenden Lächeln.
»Du auch, meine kleine Hexe!«, murmelte der Alte beinahe zärtlich.
Als er nach dem zweiten Infarkt in die Firma zurückgekehrt war, hatte Léonie ein Fest für ihn organisiert: Die Arbeiter hatten ihm einen Blumenstrauß überreicht und auf seine Rückkehr angestoßen. Er hatte eine im Vorfeld mit der Schwiegertochter besprochene Rede gehalten. In wenigen Worten hatte er verkündet, dass Léonie Cantoni während seiner Erkrankung eine alles andere als leichte Aufgabe gemeistert hatte: Sie hatte die Firma allein geleitet, und das in einer Phase, in der bereits die ersten Anzeichen der Rezession zu spüren waren. Anschließend hatte er sie zur Vizepräsidentin von Cantoni-Armaturen ernannt. Da Léonie sich die Anerkennung und den Respekt aller erarbeitet hatte, war die Ankündigung des Cavaliere mit ausdauerndem Applaus aufgenommen worden. In Wahrheit hatte die Machtübergabe längst stattgefunden, denn Léonie hatte die Zügel bereits nach dem ersten Infarkt des Schwiegervaters in die Hand genommen und erfolgreiche Neuerungen eingeführt. Nach dem Applaus hatte der Cavaliere erneut das Wort ergriffen und mit einem Blick auf die Schwiegertochter gefragt: »War es das, was du wolltest?«
Kein bisschen eingeschüchtert, hatte Léonie erwidert: »Das Schöne an unserer Beziehung ist, dass wir genau das Gleiche wollen, papà. Nur, dass du der Präsident bist und ich bloß Vizepräsidentin.«
Erneut wurde applaudiert, und die »Signora« hatte einen Blumenstrauß erhalten.
Jetzt flüsterte ihr der Alte ins Ohr: »Werde ich es noch schaffen, dir vor meinem Tod zu entlocken, wohin du jeden zweiundzwanzigsten Dezember aufbrichst?«
»Da üb dich lieber mal in Geduld! Es wird nämlich noch viele Jahre dauern, bis dieser Moment gekommen ist«, flüsterte sie amüsiert.
»Habt ihr jetzt genug getuschelt?«, unterbrach Guido sie.
»Jetzt werd nicht eifersüchtig, das ist doch sonst gar nicht deine Art«, erwiderte seine Frau lächelnd. Sie ging auf ihn zu und drückte ihm einen lauten Kuss auf die Wange. »Wir sehen uns heute Abend. Und lass dir von Giuditta erzählen, warum sie zwei Tage zu früh auftaucht.«
Im Flur kam ihr ein Dienstmädchen entgegen, das ihr eine gefütterte Steppjacke, Handschuhe und ihre Aktentasche überreichte.
Léonie bedankte sich und ging. Ihr Wagen stand bereits vor der Villa bereit. Sie setzte sich ans Steuer, schnallte sich an und fuhr los.
Auf einer langen Allee durchquerte sie den Park bis zum eindrucksvollen schmiedeeisernen Tor, das sich automatisch öffnete.
Nichts und niemand, ja, nicht einmal ihre Kinder konnten sie um diesen Tag bringen, der seit ihrer Heirat ausschließlich ihr allein gehörte.
3
Léonie verließ Villanova, einen Ort zwischen Mailand und Lecco, in dem sich der Turm der Kirche San Francesco über die Dächer erhob. Sie nahm die Landstraße, fuhr nach einigen Kilometern durch den Kreisverkehr und bog schließlich in eine asphaltierte Straße ein, an deren Ende ein Industriekomplex aufragte, an dem in großen Neonbuchstaben CANTONI-ARMATUREN zu lesen war.
An die Fabrik schloss sich ein weiterer, kleinerer Bau an, der aus dem neunzehnten Jahrhundert stammte. Das war der frühere Firmensitz, auf dessen efeubewachsener Fassade der Originalschriftzug »ROBINETTI« nach wie vor zu sehen war. Damals hießen Armaturen noch »robinetti«, abgeleitet vom altfranzösischen Wort robin, »Widder«, weil sie einst die Form eines Widderkopfes gehabt hatten. Crippa war der Nachname des Gründers der Firma gewesen, die anschließend an die Familie Cantoni übergegangen war. Das alte Gebäude war komplett restauriert worden und beherbergte jetzt die Büros und das Armaturen-Museum.
Letzteres war einer Idee Léonies zu verdanken. Es existierte seit den ersten Jahren ihrer Ehe, als sie im Keller zwischen Schrott und Produktionsüberschüssen einige antike, seltsam geformte Armaturen gefunden hatte, regelrechte Skulpturen. Manche waren beinah obszön, andere Tierköpfen nachempfunden, darunter auch dem eines Widders. Die eine oder andere vorhandene vergoldete Bronze- oder Silberarmatur ging sogar bis aufs sechzehnte Jahrhundert zurück.
Wahrscheinlich stammten sie aus den prunkvollen Anwesen der adligen Familien in der Umgebung und waren im Lauf der Jahrhunderte durch modernere, praktischere Armaturen ersetzt worden. Seit über zwanzig Jahren wurde das Museum, das Léonie um andere seltene Stücke aus der ganzen Welt ergänzt hatte, von Schulklassen, Sammlern und Neugierigen besucht und stand der Firma gut zu Gesicht.
In den Büros erwartete Léonie vorweihnachtliche Stimmung. Am Fuß der Treppe stand eine riesige Tanne, die mit leuchtenden Sternen geschmückt war. Kugeln und Lametta zierten die Türen. Léonie ging in den ersten Stock, erwiderte die Grüße der Angestellten und betrat ihr Büro. Die betagte Signorina Mombelli, die Sekretärin, erwartete sie mit der neuesten Post. Sie wusste, dass die »Signora« es eilig hatte, es war schließlich der zweiundzwanzigste Dezember, und da würde sie bald aufbrechen und erst am nächsten Tag zurückkehren. So war es jedes Jahr, auch als sie noch wesentlich jünger und sichtbar schwanger gewesen war oder eines ihrer Kinder gestillt werden musste. Léonie setzte sich an den Schreibtisch, begann, die Post durchzusehen, und stieß einen spontanen Freudenschrei aus.
»Eine neue Bestellung aus Dubai! Aber das ist ja fantastisch!«
»Achthundert Stück von dem Widdermodell in Gold«, präzisierte Signorina Mombelli stolz.
»Wir können froh sein, dass wir genügend Gold im Tresor haben. Beim jetzigen Kurs machen wir einen Riesengewinn«, stellte Léonie fest, nicht ohne hinzuzufügen: »Das ist ein wirklich tolles Weihnachtsgeschenk für die Firma.«
Sie strahlte, und die Sekretärin wusste, dass das nicht nur an der unverhofften Bestellung des arabischen Hotels lag: Die »Signora« war am Tag der Wintersonnenwende einfach immer glücklich.
Und als Léonie ihr Büro verließ, flüsterte die Mombelli ihr zu: »Einen schönen Tag noch!«
»Den habe ich bestimmt«, versicherte sie ihr und wandte sich zur Treppe.
Sie stieg erneut in den Wagen, fuhr ein Stück über die Landstraße und nahm dann die Autobahn nach Lecco und zum Comer See.
Der Verkehr wurde dichter, und sie kam langsamer voran, trotzdem wurde Léonie nicht nervös. Sie wollte jede Sekunde auf dem Weg nach Varenna genießen.
Das Städtchen empfing sie weihnachtlich geschmückt, nach Einbruch der Dunkelheit würden die Plätze und die engen, steilen Gässchen hell erstrahlen. Als sie zum See hinunterfuhr, sah sie das Vorgebirge von Bellagio. Der Himmel war bewölkt, und ein dichter nasskalter Nebel verhüllte das gegenüberliegende Ufer, hinter dem das dunkle Gebirgsmassiv aufragte.
Im Schritttempo fuhr sie über den Kirchplatz – am Kirchturm funkelte ein silberner Komet –, bog in eine steil abfallende Straße ein und parkte auf einem winzigen Platz. Sie nahm ihre Tasche, stieg aus dem Wagen und lief eine Steintreppe hinunter, die auf eine Gasse vor einem alten Gebäude führte, das angeblich einst Theodolinde, die Königin der Langobarden, beherbergt hatte.
Seit Langem war es ein Hotel mit wenigen, aber wunderschönen Zimmern, die auf den See hinausgingen.
Plötzlich wich Léonies Euphorie einer vagen Nervosität. Dieses Jahr wird er nicht hier sein, dachte sie. Es geschieht so viel in so kurzer Zeit, und dann erst in einem Jahr!
Sie blieb stehen und sah an der Fassade mit der Aufschrift HÔTEL DU LAC empor. Der kalte Wind schnitt ihr ins Gesicht, und durch die gläserne Eingangstür sah sie die hell erleuchtete Lobby. Vier Schritte, und sie wäre dort, aber vor lauter Angst, zu früh zu sein, wagte sie es nicht, sich zu rühren. Stattdessen beschloss sie, noch eine kleine Runde zu drehen.
Die Gasse lag still und verlassen da. Sie ging nach rechts zur Aussichtsterrasse des Hotels mit dem Brunnen in der Mitte, den Eisentischchen, den steinernen Säulen, die ein kahles Tonnengewölbe trugen, und trat ans Geländer direkt über dem Wasser. Die Breva, der eiskalte Wind des Comer Sees, blies ihr ins Gesicht und in den Ausschnitt ihrer Steppjacke.
Sie schlug den Kragen hoch.
Sie sah ein Boot, das auf Bellagio zufuhr. Ein Taxi-Boot mit der Aufschrift GEORGE-TOUR. Es nahm Kurs auf die Villa Oleandra. Trotz der Kälte gab es auch an diesem Tag Leute, die aus weiter Ferne einen Blick auf George Clooneys Villa erhaschen wollten, nur um sagen zu können: »Ich habe das Haus des Schauspielers gesehen.«
Auf die Aussichtsterrasse ging auch die Hotelbar hinaus, in der ein Kellner Tassen und Gläser in ein Abtropfgestell räumte. Léonie stand fröstelnd draußen und überlegte, ob er wohl eine Nachricht an der Rezeption hinterlegt hatte. Aber wenn sie nicht hineinging, würde sie das nie erfahren.
Entschlossen drückte sie die Klinke einer der Terrassentüren hinunter und betrat die Bar.
Wärme schlug ihr entgegen, und der junge Barmann sagte: »Sie wünschen?«
»Ich will nur zur Rezeption.« Léonie ging in die Lobby.
Hinter dem Tresen entdeckte sie die Besitzerin, die sie erkannte.
»Schön, Sie wiederzusehen, Signora«, begrüßte sie sie.
»Danke, gleichfalls«, sagte Léonie lächelnd.
»Hatten Sie eine gute Reise? Mein Mann hat erzählt, dass ziemlich viel los ist auf den Straßen«, bemerkte die Frau.
»Der übliche Weihnachtsverkehr«, erwiderte Léonie.
»Haben Sie den tückischen Wind gespürt? Gestern Abend der Tivano, heute die Breva … Noch schneit es nicht«, meinte die Besitzerin und gab ihr den Schlüssel für die Suite. »Soll ich Sie vom Portier begleiten lassen?«
»Danke, ich kenne den Weg«, erwiderte Léonie lächelnd.
Sie nahm die Stufen in den ersten Stock und blieb vor der ihr vertrauten Suite stehen. Sie steckte den Schlüssel ins Schloss, öffnete die Tür und betrat den winzigen Flur.
Sie nahm einen Hauch Vetiverduft wahr, und ihr Herz machte einen Purzelbaum. Sie ging in den Salon, als er ihr auch schon entgegenkam. Er sah sie zärtlich an. »Bonjour, Léonie.«
»Bonjour, Roger«, flüsterte sie.
Und schon lagen sie sich in den Armen.
4
Was ist, weinst du?«, fragte Roger und nahm Léonies Gesicht in beide Hände.
»Nur ein paar Tränen … Weißt du eigentlich, wie verrückt wir sind? Wir sehen uns nur einen Tag im Jahr, und die restlichen dreihundertvierundsechzig wissen wir nicht das Geringste vom anderen.«
»Wenn du wüsstest, wie oft ich gern heimlich deine Handtasche nach einem Ausweis oder einem Kalender mit deiner Adresse und Telefonnummer durchsucht hätte. Damit ich dich erreichen, dich fragen kann, wie es dir geht, damit ich dir sagen kann, wie sehr du mir fehlst«, gestand er ihr.
»Mir geht es genauso. Findest du nicht, dass wir verrückt sind?«
»Wir sind zwei verantwortungsbewusste Menschen, die einmal im Jahr einen wunderschönen Traum leben«, erwiderte er und streichelte ihre Hüfte.
Sie bekam Gänsehaut, als sie seine warme Hand auf ihrer nackten Haut spürte, und küsste ihn auf den Mund. Sie liebten sich zärtlich.
Dann schliefen sie unter den weichen Decken des großen Betts ein, in das sie sich schon seit vielen Jahren flüchteten.
Als Léonie wach wurde, war es fast dunkel im Zimmer.
Roger schlief neben ihr und hatte die Decke bis unters Kinn gezogen. Sie stand auf, schlüpfte in den hoteleigenen Frotteebademantel und trat an die Terrassentür.
Der See war kaum zu sehen, und an der Küste Bellagios flammten die ersten Lichter auf. Sie ging zum Salon hinüber und schloss lautlos die Zimmertür. Sie machte eine Lampe an und nahm ihre Uhr aus der Handtasche, die sie auf dem Sofa hatte liegen lassen. Es war kurz vor drei. Vom großzügig gefüllten Obstteller nahm sie eine Handvoll bernsteinfarbener Trauben. Sie machte es sich in einem Sessel gemütlich und probierte von den süßen Früchten. Sie war richtig ausgehungert.
»Ertappt!«, scherzte Roger, als er die Tür öffnete. Er hatte sich eine Decke um die Hüften gewickelt und setzte sich ihr gegenüber aufs Sofa. »Wie spät ist es?«
»Fast drei, und wir haben noch nicht zu Mittag gegessen.«
»Dafür haben wir uns anderen Genüssen hingegeben«, sagte er lächelnd, nicht ohne hinzuzufügen: »Ich habe den üblichen Tisch im Hafenrestaurant bestellt.«
»Dann lass uns gehen, sie werden bestimmt auch jetzt noch einen Tisch für uns haben«, schlug sie vor.
Als sie sich kennengelernt hatten, war sie zwanzig und er zweiunddreißig. Sie war frisch verheiratet, er ein angesehener Gynäkologe in der Uniklinik von Marseille. Inzwischen hatte er Karriere gemacht und war dort Oberarzt für Gynäkologie und Geburtshilfe.
Schon damals hatten ihr seine imposante Gestalt und sein ernstes Gesicht Respekt eingeflößt. Aber wenn er lächelte, hellten sich seine Züge auf.
Er hatte sich in all den Jahren kaum verändert. Sein kastanienbraunes Haar war mittlerweile grau an den Schläfen, die Falten an beiden Seiten des Mundes waren tiefer geworden, aber nach wie vor hatte er eine schlanke, sportliche Figur.
»Wer geht zuerst ins Bad?«, fragte Roger, der sich bereits erhob.
»Ich!«, rief Léonie und stürmte vor ihm ins Bad wie eine Hundertmeterläuferin.
Schließlich duschten sie gemeinsam, lachten und spielten mit dem Wasser wie kleine Kinder.
Wie in allen Orten am See bekam man auch in Varenna rund um die Uhr etwas zu essen. Als sie das Restaurant betraten, waren sie nicht die einzigen späten Mittagsgäste. Auch andere waren gerade erst bei den Antipasti.
Eine Kellnerin schlug Léonie und Roger das Tagesmenü mit Seefisch vor, doch beide bestellten Spaghetti mit Tomatensoße und Basilikum sowie einen Kalbsbraten mit Ofenkartoffeln.
»Und, wo waren wir stehen geblieben?«, fragte Roger und streichelte Léonies Hand. Damit meinte er die Ereignisse des vergangenen Jahres.
»Wie du weißt, sind alle Kinder aus dem Haus, auch Giuditta, die Jüngste. Sie kommt heute aus Genf zurück, vermutlich holt mein Mann sie vom Flughafen ab. Giuseppe, der Älteste, hat Fiona, die arrogante Amerikanerin, geheiratet, aber das habe ich dir bereits erzählt. Sie haben eine Tochter, Margaret, die jetzt drei Monate alt ist. Sie kommen in zwei Tagen aus New York, genau wie Gioacchino und sein Lebensgefährte Peter, allerdings aus London. Gioia besucht uns aus Paris. Sie bringt ihren neuen Freund mit, der im Elysée-Palast arbeitet, und Giacinta trifft aus Rom ein. Wie immer werden wir die Feiertage gemeinsam verbringen. Und du?«
»Ich bin zum dritten Mal Opa geworden. Alain, der Älteste, hat im Januar noch ein Kind bekommen. Sophie ist hypernervös, angeblich sind die anstrengenden Enkel der Grund. Hätte ich an Weihnachten Dienst, würde sie liebend gern die vernachlässigte Ehefrau spielen und schon früher nach St. Moritz fahren – einen Ort, den ich hasse.«
»Das tut mir leid« sagte Léonie.
»Keine Sorge, wir werden Weihnachten so wie immer mit unseren Kindern und Enkeln feiern. Und währenddessen werde ich an diese wunderschönen Stunden zurückdenken.«
Er sah sie mit lachenden Augen an. Léonie spürte einen Kloß im Hals, Tränen stiegen ihr in die Augen. Er strich ihr über die Wange.
»Würdest du mir bitte verraten, was heute los ist? Es ist schon das zweite Mal, dass ich dich weinen sehe.«
»Ich weiß nicht … Ich weiß es wirklich nicht. Ich bin glücklich, aber trotzdem kommen mir ständig die Tränen.«
»Aber es geht dir doch gut, oder?«
»Es ist mir noch nie besser gegangen. Aber mein Arzt sagt, dass ich allmählich in die Wechseljahre komme. Deshalb bin ich wohl so empfindlich.«
»Wenn du willst, kann ich dir eine Hormontherapie verschreiben, aber vorher müsstest du ein paar Untersuchungen vornehmen lassen. Sprich doch mit deinem Frauenarzt darüber!«, riet Roger.
Als sie das Restaurant verließen, mussten sie sich gegen den kalten Wind stemmen, bis sie den kleinen Platz erreichten, an dem Léonie geparkt hatte.
»Danke, dass du auch dieses Jahr gekommen bist. Du bist mein schönstes Weihnachtsgeschenk, liebste Léonie«, sagte Roger.
»Und du meines«, erwiderte sie, nicht ohne hinzuzufügen: »Wie lange werden wir uns noch auf die Art gegenseitig beschenken können?«
»Am besten, wir denken gar nicht darüber nach, sondern freuen uns an dem, was wir haben und in der Vergangenheit hatten. Weißt du noch, als du vor achtundzwanzig Jahren eine Autopanne hattest und ich dich gezwungen habe, den Reifen zu wechseln?«
»An diesem Morgen war ich auf dem Weg nach Morbegno, um meiner Schwiegermutter bitto, ihren Lieblingskäse, zu kaufen. Wenn man so will, war sie es, die mich in deine Arme gestoßen hat«, erinnerte sich Léonie amüsiert.
»Gelobt sei deine Schwiegermutter!«, rief Roger.
Sie verabschiedeten sich mit einer langen Umarmung. Dann stieg Léonie in ihr Auto und fuhr davon. Auf der Fahrt nach Villanova erinnerte sie sich an ihre erste folgenschwere Begegnung.
Varenna
1
An jenem Tag hatte sich Celina Catoni an ihre frischgebackene Schwiegertochter Léonie gewandt und gesagt: »Als ich noch Auto gefahren bin, war ich manchmal nur des Käses wegen in Morbegno. Ihr Franzosen bildet euch so viel auf eure Käsesorten ein, dabei sind sie längst nicht so gut wie die italienischen. Was würde ich jetzt für eine Scheibe bitto geben!«
»Du weißt doch ganz genau, dass dir der Arzt Käse verboten hat«, sagte die Schwiegertochter.
»Die Ärzte sollten lieber das Alter und den damit verbundenen körperlichen wie moralischen Niedergang verbieten«, hatte die Schwiegermutter traurig bemerkt.
Léonie hatte Fotos von der noch jungen Celina gesehen: Sie war einmal sehr schlank und wunderschön gewesen. Jetzt konnte sie sich vor lauter Fettleibigkeit kaum noch rühren. In die Villa war ein Lift eingebaut worden, damit sie leichter von einem Stockwerk ins andere gelangte.
Léonie hatte sie spontan umarmt und gesagt: »Maman, eines Tages fahre ich nach Morbegno und kaufe dir bitto, vorausgesetzt, du erzählst es niemandem weiter!«
»Du musst ihn bei den Fratelli Ciapponi kaufen. Wenn du in ihrem Laden stehst, wirst du dich um hundert Jahre zurückversetzt fühlen. Schon von draußen kann man den Duft wahrnehmen, nach Bergsalami, Vanillekeksen … Ich weiß, dass all diese Leckereien an meinem jetzigen Gesundheitszustand schuld sind. Es stimmt schon, was meine Mutter immer gesagt hat: Die Schönheit der Jugend bekommt man geschenkt, aber dafür, wie man im Alter aussieht, ist man selbst verantwortlich. Ich habe gesündigt, und jetzt muss ich die Konsequenzen tragen.«
Mit dem gesunden Menschenverstand einer jungen Frau sagte sich Léonie, dass der eine oder andere Verstoß gegen die Anweisungen des Arztes Celina schon nicht umbringen, aber dafür glücklich machen würde.
Manchmal kochte sie ihr heimlich eine winzige Portion Schnecken, escargots à la provençale, oder Pilze mit Sahnes0ße. Celina war ihr dankbar für diese Köstlichkeiten. Sie blieben ihr Geheimnis, und im Gegenzug überschüttete sie ihre Schwiegertochter mit einer zärtlichen Mutterliebe, wie Léonie sie nie hatte erfahren dürfen.
Kurz vor ihrem ersten Weihnachtsfest als verheiratete Frau beschloss Léonie, nach Morbegno zu fahren und dort Delikatessen einzukaufen, vor allem aber den von ihrer Schwiegermutter so geliebten bitto.
Die Cantonis hatten ihr einen Lancia geschenkt, und an einem regnerischen Vormittag machte sie sich auf den Weg: Es war der zweiundzwanzigste Dezember.
Auf der Landstraße schaltete sie das Radio ein und suchte nach einem Musiksender. Erst leisteten ihr die Beatles Gesellschaft, dann der Soundtrack eines Films von Jean Luc Godard, den sie erst vor Kurzem mit Guido gesehen hatte. Ihre Gedanken eilten zu ihrem liebevollen, aber auch schwer zu durchschauenden Ehemann.
Sie waren nun ein halbes Jahr verheiratet, und seit drei Monaten erwartete sie ihr erstes Kind. Einmal mehr fragte sie sich, warum Guido sich für sie entschieden hatte. Als er ihr den Heiratsantrag gemacht hatte, hatte er nicht gesagt: »Ich liebe dich« oder »Du bist großartig!«, sondern nur: »Willst du meine Frau werden?«
Sie hatte sofort Ja gesagt.
Für ein Mädchen aus der Provence, das ganz auf sich allein gestellt war, weder Geld noch eine Perspektive hatte außer der, nach Salon-en-Provence zurückzukehren und dort bei der Post zu arbeiten, war Guidos Antrag ein absoluter Glücksfall gewesen.
Sie konnte zwar nicht behaupten, rundum glücklich zu sein, aber unglücklich war sie auch nicht. Die Cantonis mochten sie sehr, und das war ihr wichtig, da sie noch nie eine richtige Familie gehabt hatte. Und auch nicht die finanzielle Sicherheit, die diese Familie garantierte.
Als sie ihrem Mann von der Schwangerschaft erzählt und er sie umarmt hatte, hatte sie gewagt, ihn zu fragen: »Warum hast du mich eigentlich geheiratet?« Guido hatte sie nur überrascht angesehen und dann scherzhaft erwidert: »Weil du so hübsch bist.«
In dem Moment hatte sie gehofft, dass Guido fragen würde, »Und du, warum hast du mich geheiratet?«
Doch das tat er nicht. Vielleicht, weil er ihre Antwort bereits kannte. Sie hatte ihn geheiratet, weil sie nichts besaß, während er reich, schön und elegant war und aus einer angesehenen Familie stammte.
Und mehr erwartete Léonie auch gar nicht. Dankbar nahm sie an, was ihr geschenkt wurde, und machte sich ansonsten nützlich. Sie hatte nie versucht, etwas über die Vergangenheit ihres undurchschaubaren, oft melancholischen Ehemanns zu erfahren. Doch kurz nach der Hochzeit hatte sie eine Anspielung aufgeschnappt, die diese betraf.
Eines Abends hatte Celina ihrem Mann zugeflüstert: »Hoffen wir, dass Guido diese scheußliche Geschichte endlich hinter sich lassen kann!«
Woraufhin der Cavaliere erwidert hatte: »Das war alles nur deine Schuld. Weil du ihn nach Strich und Faden verwöhnt und verteidigt hast.«
»Ich liebe ihn eben, während du schon immer viel zu streng mit ihm gewesen bist.«
»Jetzt, da ich weiß, dass er sich weigert, die Firma zu übernehmen, denke ich, dass ich noch nicht streng genug war! Was soll nur aus dem Unternehmen werden, wenn ich einmal nicht mehr bin?«
Diese Familie hatte Geheimnisse, die Léonie nicht kannte und die sie auch gar nicht kennen wollte.
Auf der Rückfahrt nach Villanova hatte sich der störende Regen, der sie schon auf der Hinfahrt begleitet hatte, in einen richtigen Wolkenbruch verwandelt. Léonie war gezwungen, langsamer zu fahren, und fand sich in einem langen Stau wieder. Sie hätte gern angehalten, um zu Hause anzurufen und zu sagen, dass sie sich wegen des Verkehrs verspäte. Aber sie hatte keinen Schirm dabei und wollte nicht nass werden. Sie war fast schon auf der Höhe von Bellano, als ihr Wagen plötzlich ausbrach, und sie merkte, dass sie eine Reifenpanne hatte.
Sie entdeckte eine Haltebucht und blieb dort stehen.
Sie legte die Stirn aufs Lenkrad und sagte laut: »Mon dieu, was jetzt?«
2
Der Regen prasselte wie verrückt auf das Auto, und sie blieb darin sitzen. Sie wusste, dass sie aussteigen musste, um nach dem Reifen zu sehen, doch noch zögerte sie.
»Wenn ich wenigstens einen Schirm dabeihätte!«, sagte sie sich verzweifelt.
Schließlich gab sie sich einen Ruck. Sie knotete das Tuch auf, das sie um den Hals trug, band es sich um den Kopf und stieg aus. Bei strömendem Regen stellte sie fest, dass der Vorderreifen platt war und sie damit auf keinen Fall weiterfahren konnte. Sie hatte noch nie einen Reifen gewechselt, also blieb ihr nichts anderes übrig, als jemanden zu bitten, sie mitzunehmen. Sie stellte sich an den Straßenrand, hob einen Arm und winkte, um den näher kommenden Sportwagen anzuhalten. Der Fahrer wurde langsamer und bog in die Haltebucht ein. Er kurbelte das Fenster herunter und fragte: »Was ist denn los?« Er hatte ein ernstes, schönes Gesicht und sprach mit einem starken französischen Akzent.
»Ich habe eine Reifenpanne«, erklärte Léonie auf Französisch. Obwohl sie völlig durchnässt war, blieb der Mann in seinem Wagen sitzen und fragte: »Haben Sie keinen Ersatzreifen?«
»Keine Ahnung, und selbst wenn, könnte ich ihn nicht montieren. Ich habe so etwas noch nie gemacht«, erwiderte Léonie gereizt, weil der Mann so gleichgültig war.
Da stieg er aus. Er hatte eine eindrucksvolle Statur, trug einen Skianorak und bequeme pelzgefütterte Stiefel. Er setzte die Kapuze seines Anoraks auf und sagte fest entschlossen: »Gut, dann lernen Sie jetzt, wie das geht.«
»Hören Sie, vergessen Sie’s! Nehmen Sie mich nur bis zum nächsten Ort mit«, bat sie ihn.
Wortlos fasste er sie am Arm und führte sie zu ihrem Lancia.
»Öffnen Sie den Kofferraum!«, befahl er. »Ich sage Ihnen jetzt, was Sie tun müssen, und Sie wechseln den Reifen. Sie sollten es lernen, wenn Sie Auto fahren.«
Léonie war zu verblüfft, um dem etwas entgegenzusetzen, und öffnete den Kofferraum.
»Da, sehen Sie. Hier ist weit und breit kein Ersatzreifen«, sagte sie zu dem Fremden.
»Heben Sie die Matte hoch. Ja, genau so! Dort ist der Ersatzreifen. Und wenn Sie genau hinschauen, sind da auch Schraubenschlüssel und ein Wagenheber, um das Auto aufzubocken.«
»Das Auto aufbocken?«, wiederholte Léonie fassungslos.
»Nur so kann man einen Reifen wechseln«, erklärte er gelassen, was sie erst recht zur Weißglut trieb.
Schicksalsergeben, aber extrem gereizt sagte Léonie leise: »Und was muss ich sonst noch machen?«
»Mit dem Schraubenschlüssel lockern Sie die Schrauben. Anschließend nehmen Sie den Ersatzreifen aus dem Kofferraum.«
Sie standen nach wie vor im Regen, nur trug er wasserfeste Kleidung, während Léonies Mantel schon völlig durchweicht war.
»Sie sind wirklich der unfreundlichste Mensch, dem ich je begegnet bin«, beschwerte sie sich, befolgte aber seine Anweisungen.
»Tatsächlich? Meine Freunde sehen das anders, sie finden mich sogar äußerst sympathisch. Aber lassen Sie uns keine Zeit verlieren. Jetzt schieben Sie den Wagenheber unter das Auto und kurbeln.«
»Es hebt sich tatsächlich! Wer hätte das gedacht!«, jubelte Léonie verblüfft.
»Lösen Sie die Schrauben und ziehen Sie den Reifen ab«, fuhr er ungerührt fort. »Das Schwierigste ist geschafft. Jetzt müssen Sie nur noch den Ersatzreifen montieren, die Muttern wieder festziehen und den Wagen herunterlassen.«
Wortlos befolgte sie sämtliche Anordnungen und beschränkte sich ansonsten darauf, diesen Landsmann zu hassen, der keinen Finger krumm machte, um ihr zu helfen.
Seit sie in Italien lebte, hatte sie oft wenig schmeichelhafte Bemerkungen über die Franzosen und ihre arrogante Art gehört. Jetzt wusste sie, dass die Italiener recht hatten.
»Sie waren fantastisch!«, rief er zufrieden, nachdem er kontrolliert hatte, ob alles in Ordnung war.
»Das kann doch nicht sein … Ich habe es tatsächlich geschafft!«, staunte Léonie.
Der Regen, der ihren Mantel und ihre Schuhe durchnässt hatte, war ihr egal, genauso wie die Kälte, die sie zittern ließ.
»Sehen Sie? Das war doch gar nicht so schwer!«, bemerkte er und verzog die Lippen zu einem breiten Lächeln.
Auch Léonie lächelte, als sie sagte: »Herzlichen Dank! Meinen Sie, ich kann jetzt gefahrlos weiterfahren? Nicht dass der Reifen, den ich montiert habe, gleich abfällt.«
»Sie haben ausgezeichnete Arbeit geleistet … Besser kann man das gar nicht machen. Wohin müssen Sie denn?«
»Ich muss noch eine Stunde fahren, bei dem Verkehr vielleicht sogar noch länger.«
»In diesem Zustand geht das nicht. Sie sind ja völlig durchnässt. Mein Hotel ist gleich in der Nähe. Steigen Sie ein und folgen Sie mir. Sie müssen erst wieder trocken werden und etwas Heißes trinken.«
»Das macht nichts, wirklich nicht …«, begann sie, weil sie nach Hause wollte.
»Keine Widerrede! Ich bin Arzt und weiß, was ich sage.«
Léonie gab nach. Sie setzte sich ans Steuer und folgte dem Wagen des Mannes. Nach wenigen Metern sah sie ein Schild, das auf die Abfahrt Varenna hinwies.
Durch den halb verlassenen Ort fuhren sie zum See. Dort parkte sie ihren Lancia neben dem Sportwagen des Fremden. Dann liefen sie bei nach wie vor strömendem Regen eine Treppe hinunter und betraten die Lobby eines kleinen Hotels namens Hôtel du Lac.
Während Léonie das klatschnasse Tuch abnahm, kam eine junge, üppige Blondine auf sie zu und begrüßte sie mit den Worten: »Sie sind ja schnell wieder zurückgekommen, Dottore.« Sie gab ihm den Zimmerschlüssel.
»Der Schnee ist furchtbar. Ich habe einige Pisten ausprobiert und dann aufgegeben«, erklärte er und wechselte schnell das Thema. Mit einem Blick auf Léonie fuhr er fort: »Die Dame braucht ein Zimmer und ein Zimmermädchen, das ihre Sachen trocknet.«
In diesem Moment merkte er, dass er sich Léonie noch gar nicht vorgestellt hatte.
»Entschuldigen Sie bitte. Ich bin Roger Bastiani.«
Ein gebürtiger Korse mit Marseiller Akzent, dachte sie und sagte: »Léonie Tardivaux.«
Die Blondine sah im Belegungsplan nach und verkündete: »Tut mir leid, aber ich habe kein einziges freies Zimmer mehr.«
»Aber wir wollen doch nicht, dass sich die Signora erkältet, oder?«, sagte der Arzt mit der Autorität, die Léonie bereits kannte.
In diesem Moment kitzelte sie etwas in der Nase, und sie musste mehrmals niesen.
»Gehen Sie sofort auf mein Zimmer!«, befahl er.
Dann wandte er sich an die Frau an der Rezeption. »Bitte schicken Sie ein Zimmermädchen mit heißem Tee hinauf. Ich werde hier unten an der Bar auf die Dame warten.« Er gab Léonie den Schlüssel.
»Ich will Ihnen keine Umstände …«, flüsterte sie, aber er hörte es gar nicht mehr, weil er bereits durch den Flur zur Bar lief.
»Was für ein Kerl!«, bemerkte die üppige Blondine. »Ich kenne ihn schon seit drei Jahren und weiß, wovon ich rede.«
3
Léonie betrat die Suite, in der es leicht nach Vetiver roch. Sie schlüpfte aus ihren Schuhen und versank genüsslich im weichen, warmen Teppich. Das Zimmermädchen, das ihr nachgeeilt war, nahm ihr die Schuhe ab und half ihr, den durchnässten Mantel auszuziehen.
»Und was ist mit der Strickjacke?«, fragte die Frau.
»Die ist zum Glück trocken geblieben«, erwiderte Léonie und knöpfte sie auf, um sicherzugehen. »Alles in Ordnung, danke«, schickte sie lächelnd hinterher.
»Ich lasse Ihnen sofort Tee heraufbringen, so wie Dottor Bastiani es wünscht. Das Bad ist hier«, sagte das Zimmermädchen und öffnete die linke Tür. Dann ging sie und ließ sie allein.
Léonie betrat den Salon, der mit einem Sofa, zwei Sesseln, einem Tischchen und einem Fernseher eingerichtet war. An den Wänden hingen Drucke mit Seeansichten, und die Balkontür führte auf eine Terrasse über dem See.
Sie sah sich um. Die Tür zum Schlafzimmer stand halb offen. Ein gemachtes Bett mit einer blauen Tagesdecke fiel ihr ins Auge. Instinktiv schloss sie die Tür, so als wolle sie die Privatsphäre ihres Retters nicht stören.
Auf dem Tischchen lag ein Stapel Unterlagen, auf denen stand: DRITTER INTERNATIONALER KONGRESS FÜR GYNÄKOLOGIE UND GEBURTSHILFE. Ihr Gastgeber war also Gynäkologe.
»Was für ein seltsamer Mann!«, flüsterte sie.
Sie setzte sich in den Sessel neben dem Couchtisch, auf dem ein Telefon stand. Sie nahm den Hörer ab, wählte die Null vor, um hinauszutelefonieren, und rief zu Hause an. Nesto ging beim zweiten Klingeln dran.
»Bitte richten Sie aus, dass ich nicht zum Mittagessen komme. Ich habe eine Reifenpanne und …« Erneut musste sie mehrmals niesen.
»Haben Sie sich erkältet, Signora?«, fragte der Hausdiener.
»Ich fürchte, ja. Wie dem auch sei, jetzt ist wieder alles in Ordnung, und ich werde bald weiterfahren.«
Es klopfte. Es war der Barkellner, der ein Tablett mit Tee, Keksen und Petits Fours brachte.
Léonie bedankte sich und schloss sich im Bad ein, um sich auszuziehen.
Die heiße Dusche tat ihr gut. Danach zog sie einen Frotteebademantel an und föhnte sich schnell das Haar. Dabei musterte sie die Toilettenartikel auf der Waschbeckenkonsole: Rasierapparat, Zahnpasta und Zahnbürste, Zahnseide, eine Tube Sonnencreme, eine Haarbürste und ein Flakon mit dem Vetiver-Aftershave.
Sie zog sich wieder an, kehrte in den Salon zurück und trat an die Balkontür: Es hatte aufgehört zu regnen, aber der Himmel war grau und bedeckt.
Sie trank den heißen Tee und ließ die Süßigkeiten liegen.
Es klopfte erneut. Es war das Zimmermädchen, das die getrockneten und auf Hochglanz polierten Schuhe brachte.
»Der Mantel braucht noch eine Weile«, sagte sie.
Léonie ging ins Erdgeschoss, durchquerte die verlassene Lobby und betrat die Bar.
Am Tresen standen mehrere Gäste, ein Paar saß an einem Tischchen, und Roger Bastiani stand mit dem Rücken zu ihr vor der Panoramascheibe, die auf die Terrasse hinausging.
Er hatte seinen Anorak ausgezogen. Der weiße Wollpulli mit Zopfmuster ließ breite, kräftige Schultern erkennen. Sein braunes Haar kräuselte sich in seinem Nacken.
Er hatte die Hände in die Taschen seiner Skihose gesteckt. Léonie trat näher.
»Hier bin ich wieder!«, sagte sie.
Er drehte sich um und lächelte.
»Ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen danken soll. Jetzt fühle ich mich wieder versöhnt mit der Welt«, fuhr Léonie fort.
»Setzen Sie sich!«, sagte er und zog einen kleinen Sessel vor. »Ich habe darum gebeten, dass uns zwei Toasts und zwei Tassen mit heißem Tee gebracht werden. Die Essenszeit ist schon vorbei, und Sie müssen unbedingt etwas zu sich nehmen, bevor Sie weiterfahren.«
Er nahm gegenüber von ihr Platz, während der Kellner eine blütenweiße gestärkte Tischdecke auflegte.
»Darf ich auch ablehnen?«, fragte sie. Sie hatte keine Eile, nicht jetzt, da sie die Familie benachrichtigt hatte, aber die Selbstverständlichkeit, mit der der Fremde den Gastgeber mimte, war ihr etwas unheimlich.
»Kommt nicht infrage. Ich weiß nicht, was Sie heute noch vorhaben, aber wenn Sie eine Viertelstunde länger bleiben, um sich zu stärken, wird das Ihr Leben schon nicht auf den Kopf stellen.«
»Sie haben eine seltsame Art, mir Ihre Großzügigkeit aufzudrängen.«
»Ich bin kein Freund von Formalitäten oder unsinnigen Höflichkeitsfloskeln. Und jetzt essen Sie!«, fuhr er fort, als der Kellner warmen Toast und dampfenden Tee servierte.
»Auf dem Tischchen in Ihrer Suite habe ich Unterlagen zu einem Geburtshilfe-Kongress gesehen. Sind Sie Gynäkologe?«
»Ich habe mich für dieses Fachgebiet entschieden, obwohl mein Vater, ein genialer Arzt, kurz nach meiner Geburt zu meiner Mutter gesagt hat: ›Wenn dieses Kind schlau ist, wird es entweder Internist wie ich oder Chirurg wie du. Hauptsache, es hat geschickte Hände. Und wenn nicht … wird es eben Gynäkologe!‹ Das haben sie mir belustigt erzählt, als ich verkündet habe, dass ich mich auf Geburtshilfe spezialisieren will«, erzählte Roger amüsiert.
Léonie lachte herzlich und sagte dann: »Glauben Sie bloß nicht, dass ich Ihnen das abnehme! Sie haben mir nur einen guten Witz erzählt. Trotzdem, ich sollte jetzt lieber nach Hause fahren. Herzlichen Dank für Ihre unglaubliche Liebenswürdigkeit.«
»Ich habe nichts anderes getan, als Ihre Gesundheit aufs Spiel zu setzen. Aber ich wollte nicht, dass Sie sich von so einem kleinen Problem unterkriegen lassen.«
»Sie hatten recht, und Ihre Hartnäckigkeit hat mir sehr geholfen, Dottore«, erwiderte Léonie. »Es tut mir nur leid, dass ich Sie so lange aufgehalten habe.«
zur Wintersonnenwende wieder hier sein … und auf dich warten.«