JOHN
GRISHAM
DAS KOMPLOTT
JOHN
GRISHAM
DAS KOMPLOTT
JOHN
GRISHAM
DAS KOMPLOTT
Roman
Aus dem Amerikanischen
von Bea Reiter und Imke Walsh-Araya
Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel
The Racketeer bei Doubleday, New York
Copyright © 2012 by Belfry Holdings, Inc.
Copyright © 2013 der deutschen Ausgabe
by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.
Redaktion: Oliver Neumann
Umschlaggestaltung: David Hauptmann, HAUPTMANN & KOMPANIE
Werbeagentur, Zürich, unter Verwendung
eines Fotos von © Elisa Noguera / Trevillion Images
Herstellung: Helga Schörnig
Gesetzt aus der 12/14,7 Punkt Bembo
von C. Schaber Datentechnik, Wels
ISBN 978-3-641-10950-9
V004
www.heyne.de
Inhaltsverzeichnis
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
29
30
31
32
33
34
35
36
37
38
39
40
41
42
43
44
ANMERKUNGEN DES AUTORS
1
Ich bin Anwalt und sitze im Gefängnis. Wie es dazu kam, ist eine lange Geschichte.
Ich bin dreiundvierzig Jahre alt und habe die Hälfte einer zehnjährigen Haftstrafe abgesessen, die mir von einem charakterschwachen, scheinheiligen Richter in Washington, D. C., aufgebrummt wurde. Sämtliche Berufungen, die ich eingelegt habe, wurden abgelehnt, und in meinem vollständig geplünderten Arsenal ist kein Prozedere, keine obskure Gesetzesbestimmung, keine Formsache, kein Schlupfloch und kein Ave-Maria mehr übrig. Ich habe nichts mehr. Da ich mich mit dem Gesetz auskenne, könnte ich das tun, was viele Häftlinge tun: die Gerichte mit Stapeln sinnloser Anträge, Schriftsätzen und anderen Eingaben blockieren. Aber das würde mir auch nicht helfen. Mir wird nichts mehr helfen. Ich habe keine Hoffnung, dass ich vor Ablauf der fünf Jahre aus dem Gefängnis komme, es sei denn, mir werden am Ende meiner Haftstrafe ein paar lausige Wochen wegen guter Führung erlassen. Bis jetzt ist mein Verhalten mustergültig gewesen.
Eigentlich sollte ich mich nicht Anwalt nennen, da ich es genau genommen nicht bin. Kurz nach meiner Verurteilung trat die Anwaltskammer von Virginia in Aktion und entzog mir die Zulassung. Der Grund dafür ist schwarz auf weiß nachzulesen: Eine Verurteilung wegen eines schweren Verbrechens zieht automatisch den Ausschluss aus der Anwaltskammer nach sich. Diese Disziplinarmaßnahme wurde ordnungsgemäß im Anwaltsregister von Virginia veröffentlicht. In jenem Monat wurden drei von uns ausgeschlossen, was in etwa dem Durchschnitt entspricht.
In meiner kleinen Welt bin ich jedoch als Knastanwalt bekannt, und als solcher verbringe ich mehrere Stunden am Tag damit, meinen Mitgefangenen bei deren rechtlichen Problemen zu helfen. Ich analysiere ihre Berufungen und stelle Anträge. Ich verfasse einfache Testamente und die eine oder andere Besitzurkunde. Ich sehe Verträge für Häftlinge durch, die wegen Wirtschaftsverbrechen einsitzen. Ich habe den Staat wegen berechtigter Beschwerden verklagt, aber nie wegen ungerechtfertigter. Und es gibt eine Menge Scheidungen.
Acht Monate und sechs Tage nachdem ich meine Strafe angetreten hatte, bekam ich einen dicken Umschlag. Häftlinge lechzen geradezu nach Post, aber auf dieses Päckchen hätte ich verzichten können. Es kam von einer Anwaltskanzlei in Fairfax, Virginia. Sie vertrat meine Frau, die sich – was für eine Überraschung – scheiden lassen wollte. Innerhalb weniger Wochen war Dionne von einer treu sorgenden Gattin, die für immer bei mir zu bleiben versprochen hatte, zu einem flüchtenden Opfer mutiert, das seine Ehe so schnell wie möglich beenden wollte. Ich konnte es nicht glauben. Fassungslos las ich die Unterlagen, mit weichen Knien und feuchten Augen, und als ich befürchtete, in Tränen auszubrechen, rannte ich in meine Zelle zurück, um ungestört zu sein. Im Gefängnis gibt es eine Menge Tränen, die aber stets im Verborgenen vergossen werden.
Als ich von zu Hause wegging, war Bo sechs Jahre alt. Er war unser einziges Kind, aber mehr waren in Planung. Die Rechnung ist ganz einfach, und ich habe sie zigmal gemacht: Wenn ich rauskomme, wird er sechzehn Jahre alt sein, ein Teenager mitten in der Pubertät, und ich werde zehn der wichtigsten Jahre, die ein Vater mit seinem Sohn verbringen kann, verpasst haben. Bis sie zwölf Jahre alt sind, beten kleine Jungs ihre Väter an und glauben, dass die nichts falsch machen können. Ich habe Bo in T-Ball und Fußball trainiert, und er ist mir wie ein junger Hund nachgelaufen. Wir sind angeln und zelten gegangen, und samstagmorgens, nach einem Frühstück unter Männern, hat er mich manchmal in die Kanzlei begleitet. Er war meine Welt, und ihm erklären zu müssen, dass ich sehr lange weg sein würde, hat uns beiden das Herz gebrochen. Sobald ich im Gefängnis war, habe ich ihm verboten, mich zu besuchen. Sosehr ich ihn auch an mich drücken wollte, ich konnte den Gedanken nicht ertragen, dass der kleine Junge seinen Vater hinter Gittern sehen würde.
Wenn man im Gefängnis sitzt und so schnell nicht wieder rauskommen wird, ist es nahezu unmöglich, eine Scheidung zu verhindern. Von unserem ohnehin nicht sehr großen Vermögen war nach achtzehn Monaten Dauerbeschuss durch den Staat nichts mehr übrig. Bis auf unser Kind und unser Eheversprechen hatten wir alles verloren. Das Kind war Gold wert, das Eheversprechen einen Dreck. Dionne versprach, die Zähne zusammenzubeißen und durchzuhalten, doch als ich weg war, setzte die Realität ein. Sie fühlte sich in unserer kleinen Stadt einsam und isoliert. »Wenn die Leute mich sehen, fangen sie an zu tuscheln«, schrieb sie in einem ihrer ersten Briefe. »Ich bin so einsam«, jammerte sie in einem anderen. Es dauerte nicht lange, bis ihre Briefe deutlich kürzer und immer seltener wurden. Genau wie ihre Besuche.
Dionne ist in Philadelphia aufgewachsen und hat sich nie mit einem Leben auf dem Land anfreunden können. Als ihr ein Onkel einen Job anbot, hatte sie es plötzlich sehr eilig, wieder nach Hause zu kommen. Vor zwei Jahren hat sie erneut geheiratet, und Bo, der inzwischen elf ist, wird von einem anderen Vater trainiert. Auf meine letzten zwanzig Briefe an meinen Sohn habe ich keine Antwort bekommen. Ich bin sicher, dass er sie nie zu Gesicht bekommen hat.
Ich frage mich oft, ob ich ihn je wiedersehen werde. Ich glaube, ich werde es versuchen, obwohl ich diesbezüglich noch unentschlossen bin. Wie tritt man einem Sohn gegenüber, den man so sehr liebt, dass es wehtut, der einen aber gar nicht erkennen wird? Ich werde nie wieder wie ein normaler Vater mit ihm zusammenleben. Wäre es Bo gegenüber fair, wenn sein verloren geglaubter Vater plötzlich auftaucht und darauf besteht, ein Teil seines Lebens zu werden?
Ich habe entschieden zu viel Zeit, um darüber nachzudenken.
Ich bin Häftling Nummer 44861-127 im Gefängniscamp in der Nähe von Frostburg, Maryland. Ein »Camp« ist eine Strafvollzugseinrichtung mit minimaler Sicherheitsstufe für jene von uns, die als nicht gewalttätig gelten und zu zehn Jahren oder weniger verurteilt wurden. Aus Gründen, die ich bis heute nicht kenne, habe ich die ersten zweiundzwanzig Monate meiner Strafe in einem Bundesgefängnis mit mittlerer Sicherheitsstufe in der Nähe von Louisville, Kentucky, verbracht. In diesem Gefängnis, das für Gewalttäter gedacht ist, die mehr als zehn Jahre absitzen müssen, ging es völlig anders zu als im Camp. Das Leben dort war erheblich härter, aber ich habe überlebt, ohne zusammengeschlagen worden zu sein. Dass ich ein Marine war, hat mir dabei immens geholfen.
Was Gefängnisse angeht, ist ein Camp so etwas wie ein Urlaubshotel. Es gibt keine Mauern, keine Zäune, keinen Stacheldraht, keine Wachtürme und nur ein paar Wachen mit Waffen. Frostburg ist relativ neu, und die verschiedenen Einrichtungen sind schöner als die meisten öffentlichen Highschools. Warum auch nicht? In den Vereinigten Staaten geben wir pro Jahr vierzigtausend Dollar für die Inhaftierung eines Häftlings und achttausend Dollar für die Ausbildung eines Kindes an einer Grundschule aus. Im Camp gibt es Therapeuten, Sozialarbeiter, Krankenschwestern, Sekretärinnen, Assistenten aller Art und Dutzende von Verwaltungsbeamten, die in Verlegenheit kämen, wenn sie wahrheitsgemäß erklären müssten, was sie acht Stunden am Tag tun. Aber die Gehälter werden ja vom Staat bezahlt. Auf dem Mitarbeiterparkplatz am Haupteingang stehen jede Menge gepflegte Autos und Pick-ups.
In Frostburg sitzen sechshundert Männer ein, und bis auf ein paar Ausnahmen benehmen wir uns alle sehr gesittet. Die Häftlinge mit einer gewalttätigen Vergangenheit haben ihre Lektion gelernt und schätzen die zivilisierte Umgebung. Andere, die den größten Teil ihres Lebens im Gefängnis verbringen mussten, haben endlich so etwas wie ein Zuhause gefunden. Viele dieser Berufskriminellen wollen nicht mehr weg von hier. Sie sind so ans Gefängnisleben gewöhnt, dass sie in Freiheit nicht mehr leben können. Ein warmes Bett, drei Mahlzeiten am Tag, medizinische Versorgung – auf der Straße draußen können sie auch nicht mehr erwarten.
Das soll nicht heißen, dass das Camp ein angenehmer Ort zum Leben ist. Das ist es nicht. Es gibt hier viele Männer wie mich, die nicht im Traum daran gedacht haben, dass sie eines Tages so tief fallen könnten. Männer mit ordentlichen Berufen, Karrieren, eigenen Firmen, mit Geld und netten Familien und Mitgliedschaften in Country Clubs. In meiner weißen Gang sind Carl, ein Optiker, der seine Medicare-Rechnungen ein bisschen zu stark frisiert hat, Kermit, ein Grundstücksspekulant, der dieselben Immobilien zwei- oder dreimal an verschiedene Banken verpfändet hat, Wesley, ein ehemaliger State Senator aus Pennsylvania, der sich bestechen ließ, und Mark, ein Hypothekengeber aus einer Kleinstadt, der es mit der Wahrheit nicht so genau genommen hat.
Carl, Kermit, Wesley und Mark. Alle weiß, durchschnittliches Alter einundfünfzig. Alle geben ihre Schuld zu.
Und dann gibt es noch mich. Malcolm Bannister, schwarz, dreiundvierzig, verurteilt für ein Verbrechen, von dem ich gar nicht wusste, dass ich es begangen hatte.
In Frostburg bin ich zurzeit der einzige Schwarze, der wegen eines Wirtschaftsverbrechens sitzt. Eine Auszeichnung, auf die ich verzichten kann.
In meiner schwarzen Gang lassen sich die Mitglieder nicht ganz so eindeutig definieren. Die meisten sind Jugendliche aus Washington, D. C., und Baltimore, die im Zusammenhang mit Drogenkriminalität verhaftet wurden. Wenn man sie auf Bewährung rauslässt, werden sie auf die Straße zurückkehren, wo sie eine Chance von zwanzig Prozent haben, einer weiteren Verurteilung zu entgehen. Wie sollen sie ohne Schulbildung, ohne Ausbildung und mit mehreren Vorstrafen sauber bleiben?
In Wahrheit gibt es in einem Gefängniscamp weder Gangs noch Gewalt. Wenn man eine Schlägerei anzettelt oder jemanden bedroht, wird man sofort in eine andere Strafanstalt verlegt, in der es erheblich schlimmer zugeht. Es gibt zwar jede Menge Streitereien – vor allem wegen des Fernsehprogramms –, aber bis jetzt habe ich noch nie jemanden zuschlagen sehen. Einige der Jungs haben schon in Gefängnissen mit einer höheren Sicherheitsstufe gesessen und erzählen Grauenhaftes darüber. Niemand will das Camp gegen einen anderen Knast eintauschen.
Und deshalb benehmen wir uns wie Musterknaben, während wir die Tage zählen, die wir noch absitzen müssen. Für die Wirtschaftskriminellen bedeutet die Haftstrafe eine Demütigung und den Verlust von Status, Ansehen, Lebensstil. Für die Schwarzen ist das Leben im Camp sicherer als dort, wo sie hergekommen sind und wieder hingehen werden. Für sie bedeutet die Haftstrafe einen weiteren Eintrag in ihrem Vorstrafenregister, einen weiteren Schritt auf dem Weg zum Berufsverbrecher.
Deshalb fühle ich mich eher weiß als schwarz.
In Frostburg sitzen noch zwei andere Exanwälte. Ron Napoli war viele Jahre lang ein etwas exzentrischer Strafverteidiger in Philadelphia, bis er sich sein Leben mit Kokain ruinierte. Er hatte sich auf Drogendelikte spezialisiert und viele der umsatzstärksten Dealer und Händler an der mittleren Ostküste von New Jersey bis hinunter nach North Carolina und South Carolina vertreten. Sein Honorar nahm er vorzugsweise in Form von Bargeld und Koks entgegen. Schließlich verlor er alles. Das Finanzamt bekam ihn wegen Steuerhinterziehung dran, inzwischen hat er die Hälfte seiner neunjährigen Haftstrafe abgesessen. Ron geht es nicht gerade gut. Er wird zunehmend schwerer, langsamer, reizbarer und kränker. Früher hat er immer spannende Geschichten über seine Mandanten und deren Abenteuer im Drogenhandel erzählt, doch jetzt sitzt er nur noch im Gefängnishof herum, isst eine Tüte Chips nach der anderen und wirkt völlig orientierungslos. Irgendjemand schickt ihm Geld, das meiste davon gibt er für Junkfood aus.
Der dritte Exanwalt ist ein Schlitzohr aus Washington namens Amos Kapp, ein mit allen Wassern gewaschener Insider, der jahrelang im Dunstkreis jedes politischen Skandals auftauchte. Kapp und ich standen zusammen vor Gericht, wir wurden zusammen für schuldig erklärt und von demselben Richter zu jeweils zehn Jahren Gefängnis verurteilt. Es waren acht Angeklagte gewesen – sieben aus Washington und ich. Kapp war immer wegen irgendetwas schuldig, und in den Augen unserer Geschworenen war er definitiv schuldig. Er wusste und weiß, dass ich mit der Verschwörung nichts zu tun hatte, aber er war zu feige und zu verlogen, um etwas zu sagen. Gewalt ist in Frostburg strikt verboten, doch falls ich irgendwann einmal fünf Minuten mit Amos Kapp allein sein sollte, breche ich ihm das Genick. Das weiß er, und ich vermute, dass er es dem Gefängnisdirektor vor langer Zeit gesagt hat. Er ist im Westteil des Camps untergebracht, so weit weg von meiner Zelle wie möglich.
Von diesen drei Anwälten bin ich der Einzige, der gewillt ist, anderen Häftlingen bei deren Rechtsangelegenheiten zu helfen. Die Arbeit gefällt mir. Sie ist anspruchsvoll und sorgt dafür, dass ich etwas zu tun habe. Außerdem komme ich so nicht aus der Übung – obwohl ich bezweifle, dass ich als Anwalt eine Zukunft habe. Wenn ich meine Strafe abgesessen habe, kann ich versuchen, meine Zulassung wiederzubekommen, doch das ist mitunter ein mühsames Verfahren. Die Wahrheit ist, dass ich als Anwalt nie Geld verdient habe. Ich habe in einer Kleinstadt praktiziert – noch dazu als Schwarzer –, und nur wenige Mandanten waren in der Lage, ein anständiges Honorar zu zahlen. In der Braddock Street waren zahllose weitere Anwälte mit ihrer Kanzlei vertreten, die alle dieselben Mandanten haben wollten; der Konkurrenzkampf war hart. Ich weiß noch nicht, was ich machen werde, wenn das hier vorbei ist, aber ich bezweifle, dass es etwas mit Jura zu tun haben wird.
Ich werde dann achtundvierzig, ledig und – hoffentlich – bei guter Gesundheit sein.
Fünf Jahre sind eine Ewigkeit. Jeden Tag mache ich einen langen Spaziergang, allein, auf einem nicht asphaltierten Joggingpfad, der sich um das Camp herumzieht und dem Grundstücksverlauf folgt, der auch »Grenze« genannt wird. Überquert man diese Grenze, zählt das als Fluchtversuch. Obwohl hier ein Gefängnis gebaut wurde, ist es ein wunderschöner Flecken Erde mit einer spektakulären Aussicht. Wenn ich bei meinen Spaziergängen die Hügellandschaft in einiger Entfernung sehe, muss ich mich beherrschen, damit ich nicht einfach weitergehe, nicht die Grenze überquere. Es gibt keinen Zaun, der mich aufhalten würde, keinen Wärter, der meinen Namen rufen würde. Ich könnte im dichten Wald verschwinden, für immer untertauchen.
Ich wünschte, es gäbe eine Mauer, eine solide, drei Meter hohe Mauer aus Ziegelsteinen mit Stacheldrahtrollen obendrauf, eine Mauer, die mich davon abhalten würde, die Hügel anzustarren und von der Freiheit zu träumen. Das ist ein Gefängnis, verdammt noch mal! Wir können nicht von hier weg. Baut endlich eine Mauer und hört auf, uns in Versuchung zu führen.
Die Versuchung ist immer da, und sosehr ich auch dagegen ankämpfe, sie wird jeden Tag stärker.
2
Frostburg liegt nur ein paar Kilometer westlich von Cumberland, Maryland, mitten in einem Zipfelchen Land, das Pennsylvania im Norden und West Virginia im Westen und Süden aufgrund ihrer schieren Größe noch mehr zusammenschrumpfen lassen. Sieht man sich das Ganze auf einer Karte an, springt einem sofort ins Auge, dass dieser Wurmfortsatz das Ergebnis einer dilettantischen Landvermessung war und überhaupt nicht zu Maryland gehören sollte, wobei allerdings auch nicht klar ist, wo er besser aufgehoben wäre. Ich arbeite in der Bücherei, und über meinem kleinen Schreibtisch hängt eine große Landkarte der Vereinigten Staaten an der Wand. Ich verbringe viel zu viel Zeit damit, sie anzustarren, mit offenen Augen zu träumen, mich zu fragen, wie aus mir ein verurteilter Straftäter werden konnte, der im äußersten Westen Marylands in einem Bundesgefängnis sitzt.
Knapp hundert Kilometer von hier liegt Winchester, Virginia, fünfundzwanzigtausend Einwohner, der Ort, in dem ich geboren, aufgewachsen und zur Schule gegangen bin. Der Ort, in dem ich als Anwalt gearbeitet habe. Der Ort meines Untergangs. Man hat mir erzählt, dass sich nicht viel verändert hat, seit ich nicht mehr dort bin. Die Kanzlei Copeland & Reed hat ihre Räumlichkeiten immer noch in dem Ladengeschäft, in dem früher auch ich gearbeitet habe. Es liegt in der Braddock Street, im Stadtzentrum, direkt neben einem Diner. Der in schwarzen Buchstaben auf das Fenster gemalte Name lautete früher Copeland, Reed & Bannister, und es war die einzige Kanzlei im Umkreis von hundert Kilometern, in der ausschließlich schwarze Anwälte arbeiteten. Man hat mir erzählt, dass Mr. Copeland und Mr. Reed ganz gut zu tun hätten, sicher nicht so viel, dass sie reich werden würden, aber immerhin genug, um ihre beiden Sekretärinnen und die Miete zu bezahlen. So ging es auch schon, als ich dort einer der Partner war – wir kamen gerade über die Runden. Zum Zeitpunkt meines Untergangs hatte ich ernsthafte Zweifel daran, in einer so kleinen Stadt überleben zu können.
Man hat mir erzählt, dass Mr. Copeland und Mr. Reed sich weigern, über mich und meine Probleme zu sprechen. Um ein Haar wären sie ebenfalls angeklagt worden, und ihr guter Ruf litt sehr darunter. Der Staatsanwalt, der mich festgenagelt hat, schoss mit der Schrotflinte auf jeden, der auch nur im Entferntesten etwas mit seiner grandiosen Verschwörung zu tun hatte, und fast hätte er die ganze Kanzlei ruiniert. Mein Verbrechen bestand darin, den falschen Mandanten zu vertreten. Meine beiden ehemaligen Partner haben sich nichts zuschulden kommen lassen. Das, was passiert ist, bedauere ich in vielerlei Hinsicht, doch dass meine ehemaligen Partner verleumdet wurden, hält mich nachts immer noch wach. Sie sind beide Ende sechzig, und als junge Anwälte mussten sie sich nicht nur abrackern, um eine »Feld, Wald und Wiesen«-Kanzlei zum Laufen zu bringen, sondern auch einige der letzten Kämpfe der Ära der Rassendiskriminierung ausfechten. Manchmal gingen Richter so weit, dass sie sie im Gerichtssaal ignorierten und aus keinem triftigen juristischen Grund gegen sie entschieden. Andere Anwälte waren ihnen gegenüber oft unhöflich und unprofessionell. Die Anwaltskammer des Countys wollte sie nicht als Mitglieder haben. Mitarbeiter am Gericht verlegten ihre Anträge manchmal. Jurys, die ausschließlich aus weißen Geschworenen bestanden, glaubten ihnen nicht. Und das Schlimmste war, dass sie keine Mandanten bekamen. Schwarze Mandanten. In den 1970ern wollte kein Weißer einen Schwarzen als Anwalt haben, jedenfalls nicht im Süden, und daran hat sich bis heute nicht viel geändert. In der Anfangsphase wäre Copeland & Reed fast pleitegegangen, weil die Schwarzen dachten, weiße Anwälte wären besser. Das änderte sich durch harte Arbeit, fachliche Qualifikation und viel Engagement, aber nur langsam.
Winchester war nicht meine erste Wahl, als ich mich nach einem Ort umsah, an dem ich Karriere machen konnte. Ich studierte Jura an der George Mason University, die im Norden von Virginia am Stadtrand von Washington, D. C., lag. Im Sommer nach meinem zweiten Studienjahr hatte ich Glück und ergatterte ein Praktikum bei einer Großkanzlei in der Pennsylvania Avenue, nicht weit von Capitol Hill entfernt. Es war eine dieser Kanzleien mit tausend Anwälten, Niederlassungen in der ganzen Welt, ehemaligen Senatoren im Briefkopf, Spitzenmandanten und einem hektischen Tempo, das ich in vollen Zügen genoss. Das Highlight war die Zeit als Laufbursche bei einem Prozess gegen einen ehemaligen Abgeordneten (unseren Mandanten), dem vorgeworfen wurde, mit seinen verbrecherischen Brüdern zusammen Bestechungsgelder von einem Rüstungsunternehmen angenommen zu haben. Der Prozess war der reinste Zirkus, und ich war begeistert, dass ich ganz vorn mit dabei sein konnte.
Elf Jahre später betrat ich denselben Gerichtssaal im E. Barrett Prettyman U.S. Courthouse mitten in Washington, um meinen eigenen Prozess durchzustehen.
In jenem Sommer war ich einer von siebzehn Praktikanten. Die anderen sechzehn, alle von den zehn besten juristischen Fakultäten des Landes, bekamen ein Jobangebot. Da ich alles auf eine Karte gesetzt hatte, verbrachte ich mein drittes Studienjahr damit, sämtliche Kanzleien in Washington abzuklappern, doch ich fand keine Stelle. In Washington müssen ständig mehrere Tausend arbeitslose Anwälte auf Jobsuche sein, und es dauert nicht lange, bis man in Verzweiflung versinkt. Irgendwann weitete ich meine Suche auf die Vorstädte aus, wo die Kanzleien erheblich kleiner und die freien Stellen noch seltener sind.
Schließlich gab ich auf und kehrte nach Hause zurück. Meine Träume von einer Karriere in einer bekannten Kanzlei waren geplatzt. Mr. Copeland und Mr. Reed hatten nicht genug Mandanten und konnten es sich eigentlich nicht leisten, einen Anwalt einzustellen. Aber sie erbarmten sich meiner und räumten eine Abstellkammer im ersten Stock der Kanzlei leer. Ich arbeitete so hart, wie es ging, obwohl es bei so wenigen Mandanten häufig eine Herausforderung war, Überstunden zu machen. Wir kamen gut miteinander aus, und nach fünf Jahren waren sie so nett, mich als Partner in die Kanzlei aufzunehmen. Mein Einkommen erhöhte sich dadurch nicht nennenswert.
Während der Ermittlungen gegen mich musste ich hilflos mit ansehen, wie ihr guter Name in den Dreck gezogen wurde. Es war alles so sinnlos. Als ich schon am Ende war, teilte mir der leitende FBI-Beamte mit, dass man Mr. Copeland und Mr. Reed anklagen werde, wenn ich mich nicht schuldig bekennen und mit dem Bundesanwalt zusammenarbeiten würde. Ich hielt es für einen Bluff, hatte aber keine Möglichkeit herauszufinden, ob das stimmte. Ich sagte ihm, er solle sich zum Teufel scheren.
Zum Glück bluffte er.
Ich habe ihnen geschrieben, lange, weinerliche Briefe voller Entschuldigungen, aber sie haben nicht geantwortet. Ich habe sie gebeten, mich zu besuchen, damit wir uns von Angesicht zu Angesicht unterhalten können, aber sie haben nicht reagiert. Obwohl meine Heimatstadt nur knapp hundert Kilometer von hier entfernt ist, habe ich nur einen Besucher, der regelmäßig kommt.
Mein Vater war einer der ersten schwarzen State Trooper, die vom Commonwealth of Virginia eingestellt wurden. Dreißig Jahre lang fuhr er auf den Straßen und Highways rund um Winchester Streife, und er liebte jede Minute davon. Er mochte die Arbeit an sich, die Aura von Autorität und Tradition, das Gefühl, Hüter des Gesetzes zu sein, die Möglichkeit, denen zu helfen, die in eine Notlage geraten waren. Er liebte seine Uniform, den Streifenwagen, alles, bis auf die Pistole an seinem Gürtel. Ein paarmal hatte er seine Waffe ziehen müssen, doch abgefeuert hatte er sie nie. Er ging immer davon aus, dass Weiße aufgebracht reagierten und Schwarze Nachsicht von ihm erwarteten, und war fest entschlossen, allen gegenüber fair zu sein. Er war ein strenger Polizist, für den die Gesetze keine Grauzonen hatten. War etwas nicht legal, dann war es mit Sicherheit illegal. Spielraum und juristische Feinheiten gab es für ihn nicht.
Vom Moment meiner Festnahme an glaubte mein Vater, dass ich schuldig war, wegen irgendetwas. Dass man bis zu einer Verurteilung als unschuldig gilt, war ihm egal. Meine wortreichen Beteuerungen, unschuldig zu sein, waren ihm egal. Nachdem er ein Leben lang Polizist gewesen war, hatten die vielen Jahre, in denen er Gesetzesbrechern hinterhergejagt war, wie eine Art Gehirnwäsche gewirkt. Wenn das FBI mit seinen Ressourcen und seiner Weisheit der Meinung war, ich sei eine Anklageschrift mit hundert Seiten wert, dann hatte das FBI recht und ich unrecht. Ich bin sicher, dass er mich bedauert und darum gebetet hat, ich würde irgendwie aus diesem Schlamassel herauskommen, aber es fiel ihm schwer, das zuzugeben. Das Ganze war eine Demütigung für ihn, und das machte er mir gegenüber auch deutlich. Wie konnte sich sein Anwaltssohn nur auf einen Haufen schmieriger Gauner einlassen?
Diese Frage habe ich mir selbst tausendmal gestellt. Es gibt keine gute Antwort darauf.
Nachdem Henry Bannister die Highschool so gerade eben geschafft hatte, geriet er wegen ein paar Bagatelldelikten mit dem Gesetz in Konflikt und trat mit neunzehn Jahren ins Marine Corps ein. Die Marines machten im Handumdrehen einen Mann aus ihm, einen Soldaten, der nach Disziplin lechzte und stolz auf seine Uniform war. Er wurde dreimal nach Vietnam geschickt, wo er angeschossen wurde, Verbrennungen erlitt und für kurze Zeit in Gefangenschaft geriet. Seine Orden hängen in seinem Arbeitszimmer an der Wand, in dem kleinen Haus, in dem ich aufgewachsen bin. Er lebt dort allein. Meine Mutter wurde zwei Jahre vor meiner Festnahme von einem betrunkenen Autofahrer getötet.
Henry fährt einmal im Monat zu einem einstündigen Besuch nach Frostburg. Er ist im Ruhestand und hat nicht viel zu tun, daher könnte er, wenn er wollte, auch jede Woche kommen. Aber er will nicht.
Eine langjährige Haftstrafe hat viele grausame Seiten. Eine davon ist das Gefühl, mit der Zeit von der Welt und denen, die man liebt und braucht, vergessen zu werden. Die Post, die in den ersten Monaten noch in dicken Bündeln eintraf, hat sich inzwischen auf ein, zwei Briefe in der Woche reduziert. Freunde und Familienangehörige, die früher anscheinend ganz wild darauf waren, mich zu besuchen, sind seit Jahren nicht mehr aufgetaucht. Mein älterer Bruder, Marcus, kommt zweimal im Jahr vorbei und bringt die Stunde Besuchszeit damit rum, mich über seine neuesten Probleme zu informieren. Er hat drei Kinder im Teenageralter, alle in unterschiedlichen Etappen der Jugendkriminalität, dazu eine Frau, die verrückt ist. Ich glaube, ich habe überhaupt keine Probleme. Trotz seines chaotischen Leben freue ich mich über seine Besuche. Marcus macht schon sein ganzes Leben lang den Komiker Richard Pryor nach, und jedes Wort, das er von sich gibt, ist zum Schießen. In der Regel lachen wir die ganze Stunde lang, während er auf seine Kinder schimpft. Meine jüngere Schwester, Ruby, lebt an der Westküste, und ich sehe sie einmal im Jahr. Jede Woche schreibt sie mir pflichtbewusst einen Brief, was ich sehr zu schätzen weiß. Ich habe einen entfernten Cousin, der sieben Jahre wegen eines bewaffneten Raubüberfalls abgesessen hat – ich war sein Anwalt – und zweimal im Jahr kommt, weil ich ihn besucht habe, als er im Gefängnis war.
Nach drei Jahren hier bekomme ich oft monatelang keinen Besuch, abgesehen von meinem Vater. Die Justizvollzugsbehörde versucht, alle Häftlinge nicht weiter als achthundert Kilometer von ihren Heimatstädten entfernt unterzubringen. Ich habe Glück, dass Winchester so nahe ist, aber es hätte genauso gut tausend Kilometer weit weg sein können. Mehrere meiner Freunde aus Kindertagen haben es bis heute nicht geschafft herzufahren, und von anderen habe ich seit zwei Jahren nichts mehr gehört. Die meisten meiner Anwaltsfreunde von früher haben zu viel zu tun. Der Kumpel, mit dem ich während meines Jurastudiums immer joggen war, schreibt alle zwei Monate, hat aber keine Zeit für einen Besuch. Er lebt in Washington, zweihundertvierzig Kilometer Richtung Osten, wo er angeblich sieben Tage die Woche in einer großen Kanzlei arbeitet. Mein bester Freund vom Marine Corps lebt in Pittsburgh, zwei Stunden von Frostburg entfernt, und ist genau ein Mal hier gewesen.
Vermutlich sollte ich dankbar sein, dass mein Vater mich besucht.
Wie immer sitzt er allein in dem kleinen Besucherzimmer, eine braune Papiertüte vor sich auf dem Tisch. Es sind entweder Cookies oder Brownies von meiner Tante Racine, seiner Schwester. Wir geben uns die Hand, umarmen uns aber nicht – Henry Bannister hat noch nie in seinem Leben einen anderen Mann umarmt. Er mustert mich von Kopf bis Fuß, um sich zu vergewissern, dass ich nicht zugenommen habe, und fragt, wie viel Sport ich gemacht habe. Mein Vater hat in vierzig Jahren kein einziges Pfund zugelegt und passt immer noch in die Uniform aus seiner Zeit im Marine Corps. Er ist fest davon überzeugt, dass weniger essen gleichbedeutend mit länger leben ist. Henry hat Angst davor, jung zu sterben. Sein Vater und sein Großvater sind mit Ende fünfzig tot umgefallen. Er geht jeden Tag acht Kilometer spazieren und ist der Meinung, ich sollte das Gleiche tun. Inzwischen habe ich akzeptiert, dass er nie aufhören wird, mir zu sagen, wie ich mein Leben zu führen habe, egal, ob ich hinter Gittern sitze oder nicht.
Er tippt auf die braune Tüte. »Die sind von Racine.«
»Sag ihr Danke von mir«, erwidere ich. Wenn er sich solche Sorgen um meine Figur macht, warum bringt er mir dann jedes Mal, wenn er mich besucht, fettiges Gebäck mit? Ich werde zwei oder drei Stück davon essen und den Rest verschenken.
»Hast du in letzter Zeit mal mit Marcus geredet?«, fragt er.
»Nein, seit einem Monat nicht mehr. Warum?«
»Es gibt Probleme. Große Probleme. Delmon hat ein Mädchen geschwängert. Er ist fünfzehn, sie vierzehn.« Er schüttelt den Kopf und runzelt missbilligend die Stirn. Delmon war zehn, als er das erste Mal mit dem Gesetz in Konflikt geriet, und die Familie ist immer davon ausgegangen, dass er dauerhaft auf die schiefe Bahn gerät.
»Dein erster Urenkel«, antworte ich in dem Versuch, witzig zu sein.
»Ja, darauf kann ich stolz sein, was? Ein fünfzehnjähriger Idiot, der zufällig Bannister heißt, macht einem vierzehnjährigen weißen Mädchen ein Kind.«
Wir bleiben eine Weile bei diesem Thema. Seine Besuche werden häufig nicht nur durch das definiert, was gesagt wird, sondern durch das, was wir beide tief in unserem Innern vergraben haben. Mein Vater ist jetzt neunundsechzig, und anstatt den Herbst seines Lebens zu genießen, verbringt er die meiste Zeit damit, seine Wunden zu lecken und sich selbst leidzutun. Woraus ich ihm keinen Vorwurf machen kann. Seine Frau, mit der er zweiundvierzig Jahre lang verheiratet war, wurde ihm im Bruchteil einer Sekunde genommen. Während er noch um sie trauerte, kam heraus, dass sich das FBI für mich interessierte, und nach kurzer Zeit wurden wir von den Ermittlungen überrollt. Mein Prozess dauerte drei Wochen, und mein Vater war jeden Tag im Gerichtssaal. Mit ansehen zu müssen, wie ich vor einem Richter stand und zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt wurde, hat ihm das Herz gebrochen. Und jetzt sind Marcus’ Kinder alt genug, um ihren Eltern und der ganzen Sippe ernsthaft Sorgen zu machen.
Unsere Familie hat etwas Glück verdient, aber es sieht nicht so aus, als ob es klappen würde.
»Ich habe gestern Abend mit Ruby geredet«, informiert er mich. »Es geht ihr gut, und ich soll dir Grüße von ihr ausrichten. Sie sagt, dein letzter Brief sei sehr lustig gewesen.«
»Bitte sag ihr, dass mir ihre Briefe viel bedeuten. In den letzten fünf Jahren ist keine Woche vergangen, in der sie mir nicht geschrieben hat.« Ruby ist der Lichtblick in unserer zerfallenden Familie. Sie ist Eheberaterin und mit einem Kinderarzt verheiratet. Die beiden haben drei wohlgeratene Kinder, die von ihrem verrufenen Onkel Mal ferngehalten werden.
»Danke für den Scheck, wie immer«, sage ich nach einer langen Pause.
Er zuckt mit den Schultern. »Gern geschehen.«
Henry schickt mir jeden Monat hundert Dollar, wofür ich ihm sehr dankbar bin. Das Geld geht auf mein Konto und erlaubt mir, Sachen wie Stifte, Notizblöcke, Taschenbücher und genießbares Essen zu kaufen. Die meisten Mitglieder meiner weißen Gang erhalten Schecks von zu Hause, aber in meiner schwarzen Gang bekommt so gut wie niemand auch nur einen Penny. Im Gefängnis weiß man immer, wer Geld bekommt und wer nicht.
»Du hast fast die Hälfte hinter dir«, meint er.
»In zwei Wochen sind es fünf Jahre«, erwidere ich.
»Die Zeit geht sicher schnell vorbei.«
»Draußen vielleicht. Ich kann dir versichern, dass die Uhren auf dieser Seite der Mauer erheblich langsamer laufen.«
»Trotzdem ist es schwer zu glauben, dass du schon seit fünf Jahren sitzt.«
Allerdings. Wie überlebt man jahrelang im Gefängnis? Man denkt nicht über Jahre oder Monate oder Wochen nach. Man denkt an heute – wie man den Tag durchsteht, wie man ihn überlebt. Wenn man morgens aufwacht, liegt wieder ein Tag hinter einem. Die Tage summieren sich, die Wochen laufen zusammen, die Monate werden zu Jahren. Irgendwann wird einem klar, dass man zäh ist, dass man funktionieren und überleben kann, weil man keine andere Wahl hat.
»Weißt du schon, was du machen wirst?«, fragt er. Inzwischen stellt er mir diese Frage jeden Monat, als würde es nicht mehr lange dauern bis zu meiner Entlassung.
Geduld, ermahne ich mich. Er ist mein Vater. Und er ist hier! Das zählt viel. »Eigentlich nicht. Es ist noch zu weit weg.«
»Ich würde langsam mal anfangen, darüber nachzudenken, wenn ich du wäre.« Er weiß natürlich ganz genau, was er an meiner Stelle tun würde.
»Ich habe gerade einen Fortgeschrittenenkurs in Spanisch abgeschlossen«, berichte ich nicht ohne Stolz. In meiner braunen Gang habe ich einen guten Freund, Marco, der ein ausgezeichneter Lehrer ist. Er sitzt wegen einer Drogensache.
»Bald werden wir ja wohl alle Spanisch sprechen. Sie kommen an die Macht.«
Henry hat nicht viel Geduld mit Einwanderern, Leuten mit Akzent, Leuten aus New York und New Jersey, Sozialhilfeempfängern und Arbeitslosen. Außerdem ist er der Meinung, dass man Obdachlose zusammentreiben und in Camps internieren sollte, die seiner Ansicht nach schlimmer als Guantánamo aussehen müssten.
Vor ein paar Jahren sind wir uns deshalb einmal in die Haare geraten, und er hat gedroht, mich nicht mehr zu besuchen. Es ist Zeitverschwendung, mit ihm zu streiten. Ich werde ihn nicht mehr ändern. Er ist so nett, hierherzufahren; mich zu benehmen ist das Mindeste, was ich tun kann. Ich bin der verurteilte Straftäter, nicht er. Er ist der Gewinner, ich der Verlierer. Das scheint Henry wichtig zu sein, obwohl ich nicht weiß, warum. Vielleicht, weil ich aufs College gegangen bin und Jura studiert habe, etwas, wovon er nicht einmal geträumt hat.
»Ich werde wahrscheinlich das Land verlassen«, sage ich. »Irgendwo hingehen, wo ich mein Spanisch brauchen kann, Panama oder Costa Rica vielleicht. Warmes Klima, Strände, Leute mit einer dunkleren Hautfarbe. Sie kümmern sich nicht um Vorstrafenregister oder darum, ob jemand mal im Gefängnis gewesen ist.«
»Auf der anderen Seite ist das Gras immer grüner, stimmt’s?«
»Richtig, Dad. Wenn man im Gefängnis sitzt, ist das Gras überall grüner. Was soll ich denn machen? Wieder nach Hause gehen und als Anwaltsassistent ohne Zulassung für eine winzige Kanzlei arbeiten, die es sich nicht leisten kann, mich einzustellen? Soll ich vielleicht Kautionsagent werden? Wie wäre es mit Privatdetektiv? Es gibt nicht viele Möglichkeiten.«
Er nickt. Über dieses Thema haben wir schon mindestens ein halbes Dutzend Mal gesprochen. »Und du hasst den Staat«, sagt er.
»O ja. Ich hasse den Staat, das FBI, die Bundesanwälte, die Bundesrichter, die Idioten, die die Gefängnisse betreiben. Ich hasse das alles. Ich sitze hier zehn Jahre ab, für ein Verbrechen, das keines ist, weil irgend so ein karrieregeiler Bundesanwalt etwas für seine Erfolgsbilanz tun musste. Und wenn mich der Staat schon ohne Beweise für zehn Jahre hinter Gitter schicken kann, möchte ich mir nicht vorstellen, was mir jetzt, wo auf meine Stirn ›Verurteilter Verbrecher‹ tätowiert ist, noch alles blühen kann. Nein, Dad, sobald ich den Absprung schaffe, bin ich weg.«
Er nickt und lächelt. Ja, klar, Mal.