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Buch

Der Wind und das Wasser, das sind die großen Leidenschaften in Allys Leben, die sie zu ihrem Beruf gemacht hat: Sie ist Seglerin und hat bei manch riskanter Regatta auf den Meeren der Welt ihren Mut unter Beweis gestellt. Eines Tages aber stirbt völlig überraschend ihr geliebter Vater Pa Salt, und Ally reist zu dem Familiensitz am Genfer See. Wie auch ihre fünf Schwestern wurde sie als kleines Mädchen von Pa Salt adoptiert und kennt ihre wahren Wurzeln nicht. Ihr Vater hinterlässt ihr aber einen rätselhaften Hinweis auf ihre Vorgeschichte – die Biografie eines norwegischen Komponisten aus dem 19. Jahrhundert, in dessen Leben die junge Sängerin Anna Landvik eine schicksalhafte Rolle spielte. Allys Neugier ist geweckt, und sie begibt sich auf Spurensuche in das raue Land im Norden. Sofort ist sie zutiefst fasziniert von der wilden Schönheit der Landschaft, aber auch von der betörenden Welt der Musik, die sich ihr dort eröffnet. Und als sie schließlich dem Violinisten Thom begegnet, der ihr auf unerklärliche Weise vertraut ist, fängt sie an zu ahnen, dass ihre jugendliche Liebe zur Musik kein Zufall war …

Weitere Informationen zu Lucinda Riley sowie zu lieferbaren Titeln der Autorin finden Sie am Ende des Buches.

Lucinda Riley

Die Sturmschwester

ROMAN

Deutsch von Sonja Hauser

Die Originalausgabe erscheint 2015 unter dem Titel

»The Storm Sister« bei Macmillan, an imprint of Pan Macmillan,

a division of Macmillan Publishers Limited, London.

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Copyright © der Originalausgabe 2015 by Lucinda Riley

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe November 2015

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Uno Werbeagentur, München

Umschlagmotiv: Getty Images/hpdeutsch

Getty Images/VisitBritain/Joe Cornish

Getty Images / Copyright Anek

FinePic®, München

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling


ISBN 978-3-641-16656-4
V013


www.goldmann-verlag.de

Für Susan Moss,
meine »Seelenschwester«

»Wir sind alle in der Gosse, aber manche von uns blicken hinauf zu den Sternen.«

Oscar Wilde

Personen

»Atlantis«

Pa Salt

Adoptivvater der Schwestern (verstorben)

Marina (Ma)

Mutterersatz der Schwestern

Claudia

Haushälterin von »Atlantis«

Georg Hoffman

Pa Salts Anwalt

Christian

Skipper

Die Schwestern d’Aplièse

Maia

Ally (Alkyone)

Star (Asterope)

CeCe (Celaeno)

Tiggy (Taygeta)

Elektra

Merope (fehlt)

ALLY

Juni 2007

I

Ägäis

Nie werde ich vergessen, wo ich war und was ich tat, als ich hörte, dass mein Vater gestorben war.

Ich sonnte mich nackt auf dem Deck der Neptun, Theos Hand schützend auf meinem Bauch. Der menschenleere Goldstrand der Insel vor uns schimmerte, eingebettet zwischen Felsen, im Licht der Sonne, und das kristallklare, türkisblaue Wasser, das träge am Ufer leckte, schäumte wie die Milch auf einem Cappuccino.

So träge, dachte ich, wie ich.

Am Abend zuvor waren wir bei Sonnenuntergang in einer kleinen Bucht vor einer der griechischen Makares-Inseln vor Anker gegangen und mit zwei Kühlboxen an Land gewatet. Die eine war mit frischen Meeräschen und Sardinen gefüllt, die Theo gefangen hatte, die andere mit Wein und Wasser. Als ich die meine schwer atmend auf dem Sand abstellte, hatte Theo mich zärtlich auf die Nase geküsst.

»Wie Schiffbrüchige auf unserer eigenen verlassenen Insel«, hatte er verkündet und die Arme ausgebreitet. »Ich sammle Brennholz, damit wir den Fisch braten können.«

Ich hatte ihm nachgesehen, wie er auf die im Halbrund um die Bucht gruppierten Felsen zugegangen war, zwischen denen knochentrockene Büsche wuchsen. Trotz seines eher schmalen Körpers war er ein Weltklassesegler, und dazu brauchte man Kraft. Verglichen mit anderen Männern aus den Crews in Segelwettbewerben, die ausschließlich aus Muskeln zu bestehen schienen, wirkte Theo fast zierlich. Zu den ersten Dingen, die mir an ihm aufgefallen waren, gehörte sein schiefer Gang. Inzwischen wusste ich, dass er sich als Kind beim Sturz von einem Baum den Knöchel gebrochen hatte, der nie richtig zusammengewachsen war.

»Wahrscheinlich bin ich deshalb für ein Leben auf dem Wasser prädestiniert. Auf dem Boot merkt keiner, wie lächerlich ich an Land watschle«, hatte er schmunzelnd erzählt.

Wir hatten den Fisch gebraten und uns unter dem Sternenhimmel geliebt. Der folgende Morgen war unser letzter gemeinsamer an Bord gewesen. Kurz bevor ich beschloss, wieder mit der Außenwelt in Kontakt zu treten, indem ich mein Handy einschaltete, und erfuhr, dass mein Leben in Scherben lag, hatte ich völlig entspannt neben ihm geruht. Und vor meinem geistigen Auge wie in einem surrealen Traum Revue passieren lassen, wie ich an diesen wundervollen Ort gelangt war …

Das erste Mal war ich ihm etwa ein Jahr zuvor bei der Heineken-Regatta in Sint Maarten in der Karibik begegnet. Als die Siegercrew mit einem Diner feierte, hatte ich zu meiner Begeisterung festgestellt, dass ihr Skipper Theo Falys-Kings war, in der Segelwelt berühmt, weil er bei Rennen in den vergangenen fünf Jahren mehr Mannschaften zum Sieg geführt hatte als jeder andere Kapitän.

»Er ist ganz anders, als ich ihn mir vorgestellt habe«, gestand ich Rob Bellamy, einem alten Segelkameraden, mit dem ich im Schweizer Nationalteam gesegelt war, mit leiser Stimme. »Mit der Hornbrille sieht er aus wie ein Nerd«, fügte ich hinzu, während ich beobachtete, wie er aufstand und an einen anderen Tisch trat, »und er hat einen merkwürdigen Gang.«

»Er ist nicht gerade der muskelbepackte Bilderbuchathlet«, pflichtete Rob mir bei, »aber als Segler das reinste Genie, denn er hat einen sechsten Sinn fürs Wasser. Bei stürmischer See würde ich keinem Skipper mehr vertrauen als ihm.«

Als Rob mich später am Abend Theo vorstellte, musterte mich dieser nachdenklich mit seinen grünen, haselnussbraun gesprenkelten Augen.

»Du bist also die berühmte Al d’Aplièse.«

Sein britischer Akzent klang freundlich und ruhig. »Der zweite Teil stimmt«, entgegnete ich, verlegen über das Kompliment, »doch soweit ich weiß, bist du der deutlich Berühmtere von uns beiden.«

Er schmunzelte.

»Was ist so komisch?«, erkundigte ich mich.

»Offen gestanden hatte ich nicht dich erwartet.«

»Wie meinst du das?«

Da wurde Theo von einem Fotografen abgelenkt, der eine Aufnahme vom Team machen wollte, weswegen ich nie erfuhr, was er damit hatte sagen wollen.

Danach kreuzten sich unsere Wege immer wieder bei gesellschaftlichen Anlässen anlässlich der Regatten. Er hatte etwas Dynamisches und ein leises, angenehmes Lachen, das die Menschen trotz seiner augenscheinlichen Reserviertheit anzog. Bei offiziellen Anlässen trug er als Zugeständnis ans Protokoll und an die Sponsoren für gewöhnlich Chinos und ein verknittertes Leinenjackett, doch seine uralten Segelschuhe und seine widerspenstigen braunen Haare ließen ihn immer aussehen, als wäre er gerade vom Boot gekommen.

Unsere Begegnungen wirkten ein wenig wie ein Eiertanz. Obwohl sich unsere Blicke immer wieder trafen, machte Theo keine Anstalten, unser erstes Gespräch fortzuführen. Erst nach dem Sieg meines Teams in Antigua, beim Lord Nelson’s Ball, der das Ende der Regattawoche markierte, tippte er mir auf die Schulter.

»Gut gemacht, Al«, lobte er mich.

»Danke«, sagte ich, befriedigt darüber, dass unsere Crew ausnahmsweise der seinen überlegen gewesen war.

»Diese Saison habe ich schon viel Gutes über dich gehört, Al. Hättest du Lust, im Juni bei der Zykladenregatta in meinem Team mitzumachen?«

Mir war bereits ein Platz in einer anderen Crew angeboten worden, aber ich hatte noch nicht zugesagt. Theo sah mein Zögern.

»Du bist schon vergeben?«

»Vorläufig, ja.«

»Hier ist meine Visitenkarte. Überleg’s dir und lass es mich bis Ende der Woche wissen. Jemanden wie dich könnte ich an Bord gut gebrauchen.«

»Danke.« Innerlich schob ich mein Zögern bereits beiseite. Wer hätte sich schon die Chance entgehen lassen, im Team des Mannes zu segeln, der als »König der Meere« bekannt war? »Eine Frage noch«, rief ich ihm nach, als er sich von mir entfernte, »warum hast du bei unserem letzten Gespräch gesagt, du hättest nicht ›mich‹ erwartet?«

Er musterte mich kurz. »Ich kannte dich nicht persönlich und hatte lediglich das eine oder andere über deine Fähigkeiten als Seglerin gehört. Und ich hatte etwas anderes erwartet. Gute Nacht, Al.«

Auf dem Weg zurück zu der kleinen Pension am Hafen, wo die Straßenlaternen die farbigen Häuserfronten in einen warmen nächtlichen Schimmer tauchten und das träge Gemurmel der Gäste aus den Bars und Cafés zu mir herüberdrang, war ich im Geist noch einmal unser Gespräch durchgegangen und hatte mich gefragt, warum Theo mich so faszinierte.

In meinem Zimmer hatte ich ihm gleich eine Mail geschrieben, um zuzusagen, vor dem Abschicken jedoch geduscht und sie danach noch einmal gelesen. Und war rot geworden, weil sie so begeistert klang. Also hatte ich den Entwurf zunächst nur abgespeichert, ohne ihn abzusenden, mich aufs Bett gelegt und meine vom Rennen verkrampften Arme gestreckt.

»Das wird bestimmt eine interessante Regatta«, hatte ich schmunzelnd gemurmelt.

Als ich die E-Mail schließlich abgeschickt hatte, war Theo postwendend darauf eingegangen und hatte mir erklärt, wie sehr er sich über meine Zusage freue. Doch einige Wochen später an Bord der fürs Rennen aufgetakelten Hanse-540-Jacht im Hafen von Naxos, zu Beginn des Trainings für die Zykladen-Regatta, war ich dann plötzlich nervös geworden.

Der Wettbewerb war nicht sonderlich anspruchsvoll, weil eine Mischung aus ernsthaften Sportsleuten und Wochenendseglern mitmachte, alle angelockt durch die Aussicht auf acht Tage fabelhaften Segelns zwischen einigen der schönsten Inseln der Welt. Mir war klar, dass wir als eines der erfahrensten Teams als potenzielle Sieger gehandelt wurden.

Theo stellte bekanntermaßen gern junge Crews zusammen, weil er diese noch formen konnte. Mein Freund Rob Bellamy und ich waren mit unseren dreißig Jahren die ältesten und erfahrensten der Mannschaft. Die anderen in dem sechsköpfigen Team waren alle Anfang zwanzig: Guy, ein stämmiger Engländer, Tim, ein lässiger Australier, und Mick, halb Deutscher, halb Grieche, der die Ägäis kannte wie seine Westentasche.

Obwohl ich sehr gern mit Theo segeln wollte, hatte ich mich nicht blind auf dieses Wagnis eingelassen, sondern mir Informationen über den rätselhaften »König der Meere« aus dem Internet beschafft und mit Leuten gesprochen, die schon einmal mit ihm unterwegs gewesen waren.

Und herausgefunden, dass er Brite war und in Oxford studiert hatte, was seinen Akzent erklärte, doch im Internet hieß es, er sei amerikanischer Staatsbürger, der das Segelteam von Yale mehrfach zum Sieg geführt habe. Ein Freund von mir wusste, dass er aus einer wohlhabenden Familie stammte, ein anderer, dass er auf einem Boot wohnte.

»Perfektionist«, »Kontrollfreak«, »nie zufrieden«, »Workaholic«, »Frauenfeind« … Auch diese Einschätzungen hatte ich gehört, letztere von einer anderen Seglerin, die behauptete, in seiner Crew übergangen und schlecht behandelt worden zu sein, was mich ins Grübeln brachte. Doch der Grundtenor lautete: »Der absolut beste Skipper, mit dem ich je gesegelt bin.«

An meinem ersten Tag an Bord begriff ich, warum Theo bei seinen Kollegen so großen Respekt genoss. Ich war laute Skipper gewohnt, die Anweisungen und Beschimpfungen herausbrüllten. Theos zurückhaltende, wortkarge Art war etwas völlig Neues. Er beobachtete uns aus der Distanz. Am Ende des Tages rief er uns dann zusammen und fasste mit ruhiger Stimme unsere Stärken und Schwächen zusammen. Da merkte ich, dass ihm nichts entging, und seine natürliche Autorität bewirkte, dass wir alle an seinen Lippen hingen.

»Und Guy: keine heimlichen Zigaretten mehr bei einer Übungseinheit unter Regattabedingungen«, sagte er zum Abschied mit einem schiefen Grinsen.

Guy wurde tiefrot bis unter die Spitzen seiner blonden Haare. »Der Kerl muss Augen im Hinterkopf haben«, murmelte er mir zu, als wir von Bord trotteten, um zu duschen und uns zum Essen umzuziehen.

An jenem ersten Abend ging ich noch mit den anderen aus, weil ich mich so darüber freute, bei ihnen mitmachen zu dürfen. Vom Hafen von Naxos aus sahen wir die erhellte alte Burgstadt über dem Ort sowie das Gewirr der Gassen, die sich zwischen den weiß getünchten Häusern hindurchschlängelten. In den Lokalen am Hafen wimmelte es von Seglern und Touristen, die eifrig den frischen Meeresfrüchten und dem Ouzo zusprachen. In einer der hinteren Straßen entdeckten wir ein kleines Familienlokal mit wackeligen Holzstühlen und nicht zueinander passenden Tellern. Seine Hausmannskost war genau das, was wir nach einem langen Tag auf dem Boot brauchten, weil wir von der Salzluft einen Bärenhunger hatten.

Die Männer beobachteten mit großen Augen, wie ich mich mit gesundem Appetit über eine Riesenportion Moussaka und Reis hermachte. »Habt ihr noch nie eine Frau essen sehen?«, fragte ich spöttisch und riss ein Stück Fladenbrot ab.

Theo stimmte mit dem einen oder anderen trockenen Kommentar in das allgemeine Geplänkel ein, verabschiedete sich jedoch unmittelbar nach dem Essen, während die anderen sich in die Bars der Gegend aufmachten. Ich folgte ihm kurz darauf. In meiner Zeit als Seglerin hatte ich gelernt, mich von den nächtlichen Eskapaden der Jungs fernzuhalten.

In den nächsten Tagen wuchsen wir unter dem nachdenklichen Blick aus Theos grünen Augen schnell zu einem effizienten Team zusammen, und meine Bewunderung für seine Methoden wuchs von Stunde zu Stunde. An unserem dritten Abend auf Naxos war ich, erschöpft von einem besonders anstrengenden Tag unter der sengenden Sonne der Ägäis, die Erste, die sich nach dem Essen erhob.

»Leute, ich mach mich vom Acker.«

»Ich auch. Gute Nacht, Jungs. Morgen an Bord möchte ich keinen mit Kater erleben«, ermahnte Theo die anderen und folgte mir aus dem Lokal. »Darf ich dich begleiten?«, fragte er draußen.

»Natürlich«, antwortete ich, ein wenig nervös, weil wir das erste Mal allein waren.

Als wir über die schmalen, kopfsteingepflasterten Straßen zurück zu unserer Pension gingen, erhellte das Mondlicht die kleinen weißen Häuser mit ihren blau gestrichenen Türen und Fensterläden. Ich gab mir Mühe, das Gespräch am Laufen zu halten, während Theo lediglich das eine »Ja« oder »Nein« beisteuerte, und allmählich begann seine Wortkargheit mich zu ärgern.

Im Eingangsbereich unserer Pension wandte er sich unvermittelt mir zu. »Du bist die geborene Seglerin, Al, die meisten anderen in unserer Crew können dir nicht das Wasser reichen. Wer hat dir das beigebracht?«

»Mein Vater«, antwortete ich, überrascht über das Kompliment. »Er hat mich von Kindesbeinen an auf den Genfer See mitgenommen.«

»So, so, Genf. Das erklärt den französischen Akzent.«

Ich rechnete mit dem üblichen Kommentar: »Nun sag doch mal einen sexy Satz auf Französisch«, der den meisten Männern in einer solchen Situation einfiel, doch der blieb aus.

»Dein Vater muss ein Supersegler sein – du hast ihm ganz schön viel abgeguckt.«

»Danke.«

»Wie fühlst du dich als einzige Frau an Bord? Obwohl das wahrscheinlich nicht das erste Mal ist«, fügte er hastig hinzu.

»Offen gestanden denke ich nicht darüber nach.«

Er sah mich durch die Gläser seiner Hornbrille an. »Tatsächlich? Sei mir nicht böse, aber das kaufe ich dir nicht ab. Manchmal habe ich das Gefühl, dass du deswegen überkompensierst, und dann machst du Fehler. Ich würde dir raten, dich zu entspannen und einfach du selbst zu sein. Aber für heute erst mal gute Nacht.« Er verabschiedete sich mit einem kurzen Lächeln und stieg die weiß gefliesten Stufen zu seinem Zimmer hinauf.

In jener Nacht kribbelten die gestärkten weißen Laken auf meiner Haut, und meine Wangen glühten wegen seiner Kritik. Konnte ich denn etwas dafür, dass Frauen nach wie vor eine relative Seltenheit – oder, wie manche meiner männlichen Kollegen zweifelsohne gesagt hätten, eine absolute Neuheit – auf professionellen Rennbooten waren? Und für wen hielt Theo Falys-Kings sich eigentlich?! Wie kam er dazu, Leute zu analysieren, die nicht analysiert werden wollten?

Ich hatte immer geglaubt, gut als Frau in einer von Männern dominierten Welt zurechtzukommen, und war stets in der Lage gewesen, freundliche Sticheleien zu parieren. Zu diesem Zweck hatte ich mir einen Schutzpanzer und zwei unterschiedliche Persönlichkeiten zugelegt: »Ally« zu Hause, »Al« im Beruf. Natürlich war es oft hart, und ich hatte gelernt, den Mund zu halten, besonders bei eindeutig sexistischen Äußerungen oder Blondinenwitzen. Solchen Bemerkungen beugte ich vor, indem ich meine rotgoldenen Locken streng aus dem Gesicht gekämmt und zu einem Pferdeschwanz gefasst und keinerlei Make-up trug. Außerdem schuftete ich an Bord genauso hart wie die Männer – vielleicht, dachte ich erzürnt, sogar noch härter.

Nachdem ich mich eine Weile schlaflos hin und her gewälzt hatte, erinnerte ich mich daran, dass mein Vater mir erklärt hatte, ein Großteil der Verärgerung über Kritik rühre für gewöhnlich daher, dass ein Körnchen Wahrheit darin stecke. Und als Stunde um nächtliche Stunde verging, musste ich schließlich zugeben, dass Theo wahrscheinlich recht hatte. Ich war einfach nicht »ich selbst«.

Am folgenden Abend begleitete Theo mich erneut zurück zur Pension. Trotz seines schmächtigen Körpers machte er mich nervös, und ich begann zu stottern. Er lauschte schweigend, während ich mich abmühte, ihm meine beiden Persönlichkeiten zu erklären.

»Mein Vater«, bemerkte er dann, »von dessen Meinung ich normalerweise nicht allzu viel halte, hat einmal gesagt, dass Frauen die Welt regieren würden, wenn sie nur ihre Stärken ausspielten und aufhörten, wie Männer sein zu wollen. Vielleicht solltest du das auch versuchen.«

»Als Mann sagt sich das leicht, aber hat dein Vater je in einer von Frauen beherrschten Umgebung gearbeitet? Und wäre er dort ›er selbst‹?«, konterte ich, verärgert darüber, so herablassend behandelt zu werden.

»Gutes Argument«, pflichtete Theo mir bei. »Ein bisschen würde es möglicherweise schon helfen, wenn ich dich ›Ally‹ nenne. Das passt viel besser zu dir als ›Al‹. Wäre dir das recht?«

Bevor ich antworten konnte, blieb er abrupt in dem pittoresken Hafen stehen, in dem kleine Fischerkähne sanft zwischen größeren Jachten und Motorbooten schaukelten, schaute zum Himmel hinauf und sog mit geblähten Nasenflügeln die Luft ein, um herauszufinden, welches Wetter der Morgen bringen würde. Da ich das bisher nur bei alten Seebären gesehen hatte, musste ich schmunzeln.

Er wandte sich mir mit einem fragenden Blick zu. »Was ist so komisch?«

»Nichts. Und sag ruhig ›Ally‹ zu mir.«

»Danke. Lass uns nach Hause gehen. Morgen wird ein harter Tag.«

Auch in jener Nacht schlief ich schlecht, weil mir unser Gespräch keine Ruhe ließ. Und das mir, die ich, besonders in Trainings- und Wettbewerbsphasen, immer tief und fest schlummerte.

In den folgenden Tagen stellte ich fest, dass Theos Rat mir nicht half, dass ich vielmehr zahlreiche dumme Fehler machte und mir vorkam wie eine Anfängerin. Ich hatte ein schlechtes Gewissen, doch erstaunlicherweise hörte ich, obwohl meine Teamkameraden mich neckten, kein einziges Wort der Kritik von Theo.

Am fünften Abend nahm ich, weil mir meine Patzer peinlich waren, nicht einmal am gemeinsamen Dinner der Crew teil und aß auf der kleinen Terrasse der Pension Brot, Fetakäse und Oliven. Meinen Kummer ertränkte ich mit dem herben Rotwein, den mir die Pensionswirtin einschenkte. Nach etlichen Gläsern wurde mir schwindlig, und ich fing an, mich in Selbstmitleid zu suhlen. Als ich mich schwankend vom Tisch erhob, um ins Bett zu gehen, betrat Theo die Terrasse.

»Alles in Ordnung?«, erkundigte er sich und schob seine Brille hoch.

Ich sah ihn mit verschwommenem Blick an. »Ja«, antwortete ich und setzte mich hastig wieder hin.

»Die anderen machen sich Sorgen, weil du heute Abend nicht aufgetaucht bist. Du bist doch nicht krank?«

»Nein.« Bittere Galle stieg mir in den Mund. »Mir geht’s gut.«

»Du kannst es mir ruhig sagen, wenn du dich nicht wohlfühlst. Das wird mein Urteil über dich nicht beeinflussen. Darf ich mich setzen?«

Ich schwieg, weil ich fürchtete, mich übergeben zu müssen. Er nahm auf dem Plastikstuhl mir gegenüber Platz.

»Wo liegt das Problem?«

»Da ist keins«, presste ich hervor.

»Ally, du bist schrecklich blass. Fehlt dir wirklich nichts?«

»Ich … Entschuldigung.«

Ich schaffte es gerade noch bis zum Rand der Terrasse, wo ich mich auf das Pflaster davor übergab.

»Du Arme.« Ich spürte, wie sich zwei Hände um meine Taille schlossen. »Besonders gut scheint es dir doch nicht zu gehen. Ich helfe dir in dein Zimmer. Welche Nummer hast du?«

»Alles in Ordnung«, murmelte ich entsetzt über das, was soeben geschehen war, ausgerechnet vor Theo Falys-Kings, den ich doch so gern beeindrucken wollte. Schlimmer hätte es nicht kommen können.

»Komm.« Er hob meinen schlaffen Arm über seine Schulter und trug mich halb an den anderen Gästen vorbei, die mich mit abschätzigem Blick anstarrten.

In meinem Zimmer musste ich mich noch ein paarmal übergeben, aber wenigstens in die Toilette. Als ich schließlich herauskam, wartete Theo auf mich, bereit, mir ins Bett zu helfen.

»Am Morgen bin ich wieder in Ordnung, das verspreche ich«, stöhnte ich.

»Das sagst du nun schon zwei Stunden und übergibst dich dabei die ganze Zeit«, erwiderte er nüchtern und wischte mir mit einem kühlen, feuchten Tuch den klebrigen Schweiß von der Stirn.

»Geh ins Bett, Theo«, bat ich ihn schwach. »Wirklich, ich bin auf dem Weg der Besserung. Ich brauche nur ein bisschen Schlaf.«

»Ich gehe bald.«

»Danke, dass du dich um mich gekümmert hast«, murmelte ich, als mir die Augen zufielen.

»Schon gut, Ally.«

Und dann, im Reich zwischen Wachen und Träumen, sagte ich lächelnd: »Ich glaube, ich liebe dich.«

Als ich am folgenden Morgen aufwachte, fühlte ich mich noch ein wenig wackelig, aber besser. Beim Aufstehen stolperte ich über Theo, der sich ein Kissen genommen hatte und tief und fest auf dem Boden schlief. Ich ging ins Bad, schloss die Tür, sank auf den Rand der Wanne. Nun fielen mir die Worte ein, die ich am Abend zuvor gedacht – oder am Ende gar ausgesprochen – hatte.

Ich glaube, ich liebe dich.

Wo um Himmels willen war das hergekommen? Oder hatte ich es nur geträumt? Mir war sehr übel gewesen, vielleicht hatte ich halluziniert. Hoffentlich, stöhnte ich innerlich, den Kopf in die Hände gestützt. Aber wieso erinnerte ich mich so deutlich, wenn ich es nicht tatsächlich gesagt hatte? Am Ende dachte Theo, dass ich es ernst gemeint hatte.

Als ich schließlich aus dem Bad kam, wollte Theo gerade in sein eigenes Zimmer, um zu duschen. In zehn Minuten, erklärte er mir, würde er zurückkommen und mich zum Frühstück begleiten.

»Geh lieber allein«, entgegnete ich. »Das möchte ich nicht riskieren.«

»Ally, du musst etwas essen. Wenn du das Frühstück nicht bei dir behalten kannst, darfst du leider erst wieder an Bord, sobald das geht. Du kennst die Regeln.«

»Okay«, sagte ich niedergeschlagen. Gott, wie peinlich!, dachte ich.

Fünfzehn Minuten später betraten wir die Terrasse gemeinsam. Die anderen Mitglieder der Crew, die bereits am Tisch saßen, begrüßten uns mit einem spöttischen Grinsen. Am liebsten hätte ich ihnen allen eine Ohrfeige gegeben.

»Ally hat sich den Magen verdorben«, teilte Theo ihnen mit, als wir uns setzten. »Aber so, wie du aussiehst, Rob, hast du auch nicht allzu viel Schlaf gekriegt.« Die anderen schmunzelten über Rob, der verlegen mit den Achseln zuckte, während Theo ganz ruhig die geplante Trainingseinheit erläuterte.

Ich lauschte schweigend, dankbar dafür, dass er das Gespräch von mir abgelenkt hatte, doch mir war klar, was die anderen mutmaßten. Ironischerweise täuschten sie sich. Ich hatte mir geschworen, niemals mit jemandem aus einer Crew zu schlafen, weil ich wusste, wie schnell man in der kleinen Welt der Segler als Frau einen schlechten Ruf bekam. Den ich nun, so schien es, ganz ohne mein Zutun hatte.

Immerhin gelang es mir, das Frühstück bei mir zu behalten, und ich durfte an Bord. Von diesem Moment an gab ich mir größte Mühe, allen – besonders ihm – klarzumachen, dass ich nicht das geringste Interesse an Theo Falys-Kings hatte. Während der Übungseinheiten hielt ich so viel Distanz zu ihm, wie auf dem kleinen Boot möglich war, und gab ihm nur einsilbige Antworten. Und abends zwang ich mich nach dem Essen, bei den anderen sitzen zu bleiben, wenn er aufstand und in die Pension zurückkehrte.

Weil ich ihn, redete ich mir ein, nicht liebte. Und auch nicht wollte, dass irgendjemand das glaubte. Doch während ich mich daranmachte, die anderen davon zu überzeugen, wurde mir klar, dass ich selbst nicht überzeugt war. Ich ertappte mich dabei, wie ich ihn anstarrte, wenn ich dachte, er merke es nicht. Ich bewunderte die ruhige, gesetzte Art, wie er mit der Crew umging, und seine einfühlsamen Kommentare, die uns zusammenschweißten und dafür sorgten, dass wir als Team funktionierten. Und seinen durchtrainierten Körper, denn wieder und wieder erwies er sich als der Fitteste und Stärkste von uns.

Jedes Mal, wenn meine Gedanken in diese gefährliche Richtung wanderten, versuchte ich, sie zurückzuholen. Plötzlich fiel mir auf, wie oft Theo ohne Hemd herumlief. Zugegeben, tagsüber war es ausgesprochen heiß, aber musste er die Seekarten wirklich oben ohne studieren …?

»Brauchst du etwas, Ally?«, fragte er mich einmal, als er sich zu mir umdrehte und mich dabei erwischte, wie ich ihn beobachtete.

Ich weiß nicht mehr, was ich murmelte, als ich mich mit tiefrotem Gesicht abwandte.

Zum Glück verlor er kein Wort über das, was ich möglicherweise in der Nacht, in der mir so übel gewesen war, gesagt hatte, und so begann ich mir einzureden, dass ich es nur geträumt hatte. Aber ich wusste, dass etwas Unwiderrufliches mit mir passiert war, etwas, über das ich zum ersten Mal im Leben keine Kontrolle hatte. Nicht nur meine sonst so zuverlässigen Schlafphasen, sondern auch mein gesunder Appetit verließen mich. Wenn es mir tatsächlich gelang wegzudösen, träumte ich so lebhaft von ihm, dass ich beim Aufwachen vor Scham errötete, und in seiner Anwesenheit wurde ich noch unbeholfener. Als Teenager waren mir harte Thriller immer lieber gewesen als Liebesgeschichten. Doch wenn ich nun die Symptome analysierte, blieb mir nur ein Schluss: Ich war in Theo Falys-Kings verschossen.

Am letzten Abend der Trainingsphase erhob sich Theo nach dem Essen vom Tisch, um uns zu sagen, dass wir alle wunderbare Arbeit geleistet hätten und er sich große Hoffnungen auf den Gewinn der bevorstehenden Regatta mache. Als ich nach dem Toast zur Pension aufbrechen wollte, sah er mich an.

»Ally, mit dir wollte ich noch etwas besprechen. Die Vorschriften besagen, dass ein Mitglied der Crew für die Erste Hilfe zuständig ist. Das ist eine reine Formalie, man muss nur ein paar Dokumente unterschreiben. Würdest du das übernehmen?« Er deutete auf eine Plastikmappe und nickte in Richtung eines freien Tischs.

»Ich habe keine Ahnung von Erster Hilfe. Und nur, weil ich eine Frau bin«, fügte ich trotzig hinzu, als wir uns an den Tisch setzten, »heißt das nicht, dass ich Kranke besser versorgen kann als ein Mann. Warum bittest du nicht Tim oder einen der andern?«

»Vergiss es, Ally. Das war nur ein Vorwand. Schau.« Theo nahm zwei leere Blätter aus der Mappe. »Gut«, sagte er dann und reichte mir einen Stift, »zum Schein unterhalten wir uns nun über Erste Hilfe. Und parallel dazu reden wir über das, was du mir an dem Abend, an dem du so krank warst, gesagt hast: dass du glaubst, du liebst mich. Ally, ich denke, ich empfinde das Gleiche für dich.«

Ich sah ihn ungläubig an, weil ich meinte, er mache sich über mich lustig, doch er war damit beschäftigt, die leeren Seiten umzublättern.

»Ich würde vorschlagen, dass wir herausfinden, was das für uns beide bedeutet«, fuhr er fort. »Ab morgen werde ich mich für ein langes Wochenende auf mein Boot zurückziehen. Und ich hätte gern, dass du mich begleitest.« Endlich hob er den Blick und sah mich an. »Einverstanden?«

Weil ich nicht wusste, was ich darauf sagen sollte, schnappte ich nach Luft wie ein Fisch an Land.

»Sag einfach ja. Entschuldige den Kalauer, aber wir sitzen im selben Boot. Wir wissen beide, dass da etwas zwischen uns ist, seit unserer ersten Begegnung vor einem Jahr. Offen gestanden hatte ich nach allem, was ich über dich wusste, ein muskelbepacktes Mannweib erwartet. Als ich dich dann mit deinen blauen Augen und rotgoldenen Haaren tatsächlich gesehen habe, war ich sofort hin und weg.«

»Oh«, sagte ich nur, da mir nichts Intelligenteres einfiel.

»Also«, Theo räusperte sich, und ich merkte, dass er genauso nervös war wie ich. »Lass uns das machen, was wir beide am liebsten tun: Verbringen wir eine Weile gemeinsam auf dem Wasser und geben wir dem, was zwischen uns ist, die Chance, sich zu entwickeln. Selbst wenn sich sonst nichts ergeben sollte: Das Boot wird dir gefallen. Es ist sehr komfortabel. Und schnell.«

»Wird sonst noch jemand an Bord sein?«, fragte ich, als ich endlich meine Stimme wiederfand.

»Nein.«

»Du wirst also der Skipper sein, und ich bin das einzige Crewmitglied?«

»Ja, aber ich verspreche, dass du nicht die ganze Nacht über im Krähennest sitzen musst.« Er schmunzelte. »Ally, sag einfach ja.«

»Okay«, antwortete ich.

»Gut. Und jetzt unterschreib auf der gepunkteten Linie, um … den Deal zu besiegeln.« Er deutete auf eine Stelle auf der leeren Seite.

Endlich erwiderte ich sein Lächeln, setzte meinen Namen aufs Papier und reichte es ihm. Er studierte es mit ernster Miene, bevor er es in die Plastikmappe schob. »Das wäre also geregelt«, sagte er ein wenig lauter, damit die anderen ihn hörten. »Wir sehen uns dann mittags unten am Hafen, damit ich dir deine Aufgaben noch genauer erklären kann.«

Nachdem er mir verschwörerisch zugezwinkert hatte, schlenderten wir zu den anderen zurück. Ich wäre vor Aufregung am liebsten gehüpft.

II

Ich sollte erwähnen, dass wir beide nicht wussten, was uns erwartete, als wir mit seiner Neptun, einer Sunseeker, einer schlanken, schnellen Motorjacht, die gute sechs Meter länger war als die Hanse, mit der wir an der Regatta teilnehmen wollten, von Naxos losfuhren. Mittlerweile hatte ich mich so sehr daran gewöhnt, mir den geringen Raum auf dem Boot mit vielen anderen zu teilen, dass mir der großzügig bemessene Platz, den wir beide nun für uns allein hatten, fast verdächtig vorkam. Die Kapitänskajüte war luxuriös mit hochglanzpoliertem Teak ausgestattet, und beim Anblick des großen Doppelbetts darin erinnerte ich mich mit Unbehagen an das letzte Mal, als wir im selben Zimmer geschlafen hatten.

»Die Jacht habe ich vor ein paar Jahren billig bekommen, weil der Eigentümer Bankrott gemacht hat«, erklärte Theo, als er die Neptun aus dem Hafen von Naxos steuerte. »Immerhin habe ich seitdem ein Dach über dem Kopf.«

»Du wohnst hier?«, fragte ich überrascht.

»In den längeren Pausen komme ich bei meiner Mum in London unter, aber im vergangenen Jahr habe ich die wenige Zeit, in der ich nicht an Rennen teilnahm, hier verbracht. Obwohl ich mir allmählich ein Zuhause an Land wünschen würde. Ich habe mir gerade etwas gekauft, aber da steht noch viel Arbeit an, und der Himmel allein weiß, wann ich Zeit haben werde, mich an die Renovierung zu machen.«

Da ich die Titan, die ozeantaugliche Superjacht meines Vaters mit ihrer ausgeklügelten computergesteuerten Navigation, gewöhnt war, konnten wir die Neptun abwechselnd lenken. Doch an jenem ersten Morgen fiel es mir schwer, mich von meiner angestammten Rolle an Bord zu lösen. Wenn Theo mich bat, etwas zu tun, musste ich mich zusammenreißen, nicht mit »Ja, Skipper!« zu antworten.

Zwischen uns herrschte eine deutlich spürbare Spannung – wir wussten beide nicht, wie wir von unserem bisherigen Verhältnis zu einer vertrauteren Basis gelangen sollten. Unsere Gespräche waren gestelzt; da ich in dieser merkwürdigen Situation jedes meiner Worte hinterfragte, beschränkte ich mich auf Floskeln. Theo war ohnehin wortkarg, und als wir zum Mittagessen vor Anker gingen, bekam ich allmählich das Gefühl, dass das Ganze eine schlechte Idee gewesen war.

Ich war dankbar, als er zum Salat eine Flasche gekühlten provenzalischen Rosé auf den Tisch stellte. Obwohl ich auf dem Wasser nie viel Alkohol trank, leerten wir sie ziemlich schnell. Um Theo zum Reden zu bringen, sprach ich mit ihm übers Segeln. Wir gingen noch einmal unsere Strategie für die Zykladenregatta durch und diskutierten darüber, wie anders die Rennen bei den bevorstehenden Olympischen Spielen in Peking sein würden. Die letzte Qualifikation für einen Platz im Schweizer Team würde für mich Ende des Sommers stattfinden, und Theo teilte mir mit, dass er für die Vereinigten Staaten antreten wolle.

»Dann bist du also gebürtiger Amerikaner? Du klingst so britisch.«

»Ich habe einen amerikanischen Vater und eine englische Mutter, war im Internat in Hampshire, dann in Oxford und schließlich in Yale«, erzählte er. »War immer schon ein Streber.«

»Und was hast du studiert?«

»Altphilologie in Oxford, und anschließend habe ich in Yale den Master in Psychologie gemacht. Ich hatte das Glück, für das Segelteam der Uni ausgewählt zu werden, und am Ende war ich Kapitän. War alles sehr elitär. Und du?«

»Ich habe am Genfer Konservatorium Flöte studiert. Jetzt begreife ich manches«, meinte ich grinsend.

»Was begreifst du?«

»Dass du gern Leute analysierst. Und dein Erfolg als Skipper beruht mindestens zur Hälfte darauf, dass du so gut mit deiner Crew umgehen kannst. Besonders mit mir«, fügte ich, durch den Alkohol mutig geworden, hinzu. »Deine Kritik hat mir geholfen, auch wenn ich sie anfangs nicht hören wollte.«

»Danke.« Er senkte verlegen den Blick. »In Yale konnte ich meine Liebe zum Segeln mit der Psychologie verbinden und habe meinen für manche ungewöhnlichen Führungsstil entwickelt.«

»Haben deine Eltern deine Liebe zum Segeln gefördert?«

»Meine Mutter schon, aber mein Vater … Sie haben sich getrennt, als ich elf war, und ein paar Jahre später folgte die ziemlich unschöne Scheidung. Danach ist Dad in die Staaten zurückgegangen. In meiner Kindheit habe ich die Ferien bei ihm verbracht, doch weil er ständig arbeitete oder unterwegs war, hat er Kindermädchen für mich eingestellt. Zu Wettbewerben in Yale hat er mich ein paarmal besucht, aber ich kann nicht behaupten, ihn besonders gut zu kennen. Ich weiß nur, was er meiner Mum angetan hat, und muss zugeben, dass das meine Meinung über ihn beeinflusst. Lassen wir das Thema. Ich würde dich gern einmal Flöte spielen hören«, sagte er und sah mir tief in die Augen, wandte den Blick jedoch schon bald wieder ab.

Frustriert darüber, dass meine Versuche, ihn aus der Reserve zu locken, nichts fruchteten, verfiel auch ich in gereiztes Schweigen. Nachdem wir die schmutzigen Teller in die Kombüse getragen hatten, sprang ich von der Seite des Boots ins Wasser und schwamm eine Weile mit schnellen Zügen, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen.

»Wollen wir uns auf dem Oberdeck in die Sonne legen, bevor wir weiterfahren?«, fragte er, als ich zurück an Bord war.

»Okay«, antwortete ich, obwohl ich spürte, dass meine helle, sommersprossige Haut schon mehr als genug UV-Strahlung ausgesetzt gewesen war. Normalerweise trug ich auf dem Wasser Sunblocker auf, aber diese weiße Ganzkörperbemalung wirkte natürlich nicht sonderlich verführerisch. Deswegen hatte ich an jenem Morgen bewusst einen weniger hohen Lichtschutzfaktor verwendet, was ich inzwischen fast bedauerte.

Theo nahm zwei Flaschen Wasser aus der Kühlbox, bevor wir auf das komfortable Sonnendeck im Bug der Jacht gingen. Dort ließen wir uns nebeneinander auf dicken Kissen nieder, von wo aus ich immer wieder verstohlen zu ihm hinüberschaute. Mein Herz klopfte beim Anblick seines halbnackten Körpers wie wild. Wenn er nicht bald die Initiative ergriff, dachte ich, wäre ich gezwungen, mich ausgesprochen undamenhaft auf ihn zu stürzen.

»Erzähl mir doch von deinen Schwestern und eurem Haus am Genfer See. Es klingt idyllisch«, sagte er nach einer Weile.

»Es ist …«

Angesichts meines vor Begierde und Alkohol vernebelten Gehirns wollte ich mich nicht in langen Ausführungen über meine komplexe Familiensituation ergehen. »Mir fallen gleich die Augen zu; kann ich das später machen?«, fragte ich und legte mich auf den Bauch.

»Natürlich. Ally?«

Ich spürte die leichte Berührung seiner Finger auf meinem Rücken. »Ja?« Ich drehte mich wieder um und sah ihn mit vor Erwartung trockenem Mund an.

»Du hast einen Sonnenbrand an der Schulter.«

»Dann geh ich wohl lieber nach unten in den Schatten.«

»Soll ich mitkommen?«

Ich erhob mich achselzuckend und stolperte in Richtung Achterdeck. Da ergriff er meine Hand.

»Ally, was ist los?«

»Nichts, warum?«

»Du wirkst sehr … angespannt.«

»Ha! Du auch«, erwiderte ich.

»Tatsächlich?«

»Ja«, antwortete ich, als er mir ins Heck hinunterfolgte, wo ich auf eine Bank im Schatten sank.

»Das tut mir leid, Ally«, seufzte er. »Ich stelle mich nicht besonders geschickt an.«

»Wobei?«

»Ach, du weißt schon. Bei dem Geplänkel vorher. Ich achte und mag dich und möchte dir nicht das Gefühl geben, dass ich dich nur an Bord eingeladen habe, um mit dir schlafen zu können. Auf die Idee könntest du leicht kommen, weil du dich als einzige Frau in einer Männerwelt exponiert fühlst, und …«

»Herrgott, Theo, das tue ich nicht!«

»Wirklich, Ally?« Theo verdrehte ungläubig die Augen. »Ehrlich gesagt haben wir Männer alle Angst, gleich eine Klage wegen sexueller Belästigung an den Hals zu kriegen, wenn wir ein weibliches Wesen auch nur bewundernd ansehen. Das ist mir mal bei einer anderen Frau in meiner Crew passiert.«

»Ach.« Ich tat überrascht.

»Ja. Ich glaube, ich habe so etwas gesagt wie: ›Hi, Jo, schön, dich an Bord zu haben, jetzt kommt endlich Leben in die Bude.‹ Das hat sie mir sehr verübelt.«

»Das hast du gesagt?«

»Ich hab doch bloß gemeint, dass sie uns alle auf Trab hält. Sie hatte beruflich einen ausgezeichneten Ruf. Aber das hat sie irgendwie in den falschen Hals gekriegt.«

»Keine Ahnung, warum«, bemerkte ich spöttisch.

»Ich weiß es auch nicht.«

»Theo, das war ein Scherz! Ich kann gut verstehen, warum sie eingeschnappt war. Du machst dir keinen Begriff, was für Kommentare wir Seglerinnen uns manchmal anhören müssen. Kein Wunder, dass sie so reagiert hat.«

»Deswegen hatte ich ja anfangs auch so große Bedenken, dich an Bord zu nehmen. Und weil ich dich attraktiv finde.«

»Ich bin doch das genaue Gegenteil von dem, was du erwartet hast, weißt du nicht mehr? Und du hast mir vorgeworfen, wie ein Mann sein zu wollen und meine Stärken nicht zu nutzen!«

»Ich gebe mich geschlagen«, sagte er schmunzelnd. »Jetzt bist du hier mit mir allein, und du könntest denken …«

»Theo! Allmählich wird’s absurd! Ich glaube, du hast hier das Problem, nicht ich!«, herrschte ich ihn an. »Du hast mich auf dein Boot eingeladen, und ich bin aus freien Stücken gekommen.«

»Ja, das stimmt, Ally, aber …« Er schwieg kurz. »Du bedeutest mir so viel. Du musst entschuldigen, wenn ich mich wie ein Idiot benehme. Es ist lange her, dass ich … um eine Frau geworben habe. Ich möchte nichts falsch machen.«

Ich lenkte ein. »Wie wär’s, wenn du aufhören würdest, alles zu analysieren, und dich einfach ein bisschen entspannst? Vielleicht gelingt mir das dann auch. Vergiss nicht: Ich möchte hier sein.«

»Okay, ich versuch’s.«

»Gut. Und jetzt«, sagte ich mit einem Blick auf meine sonnenverbrannten Oberarme, »gehe ich endgültig aus der Sonne, weil ich aussehe wie eine überreife Tomate. Wenn du möchtest, kannst du gern mitkommen.« Ich stand auf und machte mich auf den Weg zur Treppe. »Und ich verspreche dir, dich nicht wegen sexueller Belästigung zu verklagen. Möglicherweise«, fügte ich kokett hinzu, »ermutige ich dich sogar dazu.«

Ich verschwand, belustigt über meine offene Einladung, nach unten und fragte mich, ob er sie annehmen würde. Als ich mich in meiner Kabine aufs Bett legte, fühlte ich mich plötzlich stark. Beruflich war Theo vielleicht der Boss, aber in der privaten Beziehung, die wir beide unter Umständen künftig haben würden, wollte ich gleichberechtigt sein.

Fünf Minuten später erschien Theo verlegen an der Tür und entschuldigte sich ausführlich für sein »albernes Verhalten«. Irgendwann bat ich ihn, den Mund zu halten und zu mir ins Bett zu kommen.

Sobald das geschafft war, lief es prima mit uns beiden. Und in den folgenden Tagen erkannten wir, dass zwischen uns nicht nur eine körperliche Anziehung existierte, sondern dass es bedeutend tiefer ging und wir die so seltene Einheit von Körper, Seele und Geist gefunden hatten.

Wir kamen uns schnell näher, weil wir die Stärken und Schwächen des jeweils anderen bereits kannten, obwohl wir nicht viel über Letztere sprachen und uns eher auf das Positive konzentrierten. Wir brachten die Zeit damit zu, miteinander zu schlafen, Wein zu trinken und den frischen Fisch zu essen, den Theo von der Rückseite des Boots aus fing, während ich, den Kopf auf seinem Schoß, faul in einem Buch las. Unsere körperliche Begierde wurde begleitet von großer Neugier auf alles, was den anderen betraf. Allein auf dem ruhigen Meer, wo wir nur einander brauchten, hatte ich das Gefühl, aus der Zeit gefallen zu sein.

In unserer zweiten gemeinsamen Nacht lag ich in Theos Armen unter den Sternen auf dem Sonnendeck und erzählte ihm von Pa Salt und meinen Schwestern. Wie jeder, dem ich über sie berichtete, lauschte auch Theo fasziniert der Geschichte meiner merkwürdigen, magischen Kindheit.

»Habe ich das richtig verstanden? Dein Vater, dem deine älteste Schwester den Kosenamen ›Pa Salt‹ gegeben hat, brachte dich und fünf andere kleine Mädchen von seinen Reisen um die Welt mit nach Hause. So wie andere Leute Kühlschrankmagneten?«

»So könnte man es ausdrücken, ja. Obwohl ich glaube, dass ich ein bisschen mehr wert bin als ein Kühlschrankmagnet.«

»Das werden wir noch sehen«, neckte er mich und knabberte sanft an meinem Ohr. »Hat er sich allein um euch gekümmert?«

»Nein. Wir hatten Marina, die wir ›Ma‹ nennen. Pa hat sie nach der Adoption von Maia, meiner ältesten Schwester, als Kindermädchen eingestellt. Marina ist unser Mutterersatz, und wir lieben sie heiß und innig. Sie stammt aus Frankreich, weswegen wir alle fließend Französisch sprechen, aber natürlich ist das auch eine der Nationalsprachen in der Schweiz. Weil Pa unbedingt wollte, dass wir zweisprachig aufwachsen, hat er Englisch mit uns geredet.«

»Das hat er gut hingekriegt. Nur dein verführerischer französischer Akzent verrät mir, dass Englisch nicht deine Muttersprache ist«, sagte er und küsste mich auf die Stirn. »Hat dein Vater dir je erklärt, warum er euch alle adoptiert hat?«

»Ich habe Ma mal gefragt. Sie meint, er sei einsam gewesen in ›Atlantis‹ und habe jede Menge Geld gehabt. Wir Mädchen haben nie nachgefragt und alles hingenommen, wie Kinder das eben tun. Wir waren eine Familie; einen Grund dafür brauchten wir nicht. Wir … sind einfach.«

»Das klingt wie ein Märchen. Der reiche Wohltäter, der sechs Waisen adoptiert. Warum nur Mädchen?«

»Ein Junge hätte wohl das Muster durchbrochen: Er hat uns alle nach den Plejaden, den Sieben Schwestern, benannt«, antwortete ich schmunzelnd. »Doch ehrlich gesagt wissen wir es nicht.«

»Eigentlich heißt du als zweite Schwester also ›Alkyone‹? Hört sich viel pompöser an als ›Al‹«, meinte er.

»Ja, aber niemand sagt so zu mir, außer Ma, wenn sie sauer auf mich ist«, gestand ich und verzog das Gesicht. »Und gewöhn du dir das ja nicht an!«

»Ich liebe diesen Namen, er passt zu dir. Wir verbringen sozusagen gerade unsere alkyonischen Tage miteinander. Warum seid ihr nur zu sechst, wenn es doch der Mythologie nach sieben Schwestern sein müssten?«

Titan,

»Wow! Dagegen ist meine Neptun ja ein Kinderschlauchboot. Mit euren Palästen zu Lande und zur See«, neckte Theo mich, »scheinst du mir eine richtige Prinzessin zu sein.«

»Ja, wir leben in der Tat nicht schlecht, aber Pa war wichtig, dass wir alle unser eigenes Geld verdienen. Als Erwachsene haben wir außer für unsere Bildung nie für irgendetwas Blankoschecks erhalten.«

»Vernünftig. Stehst du ihm nahe?«

»Ja, sogar sehr. Er ist alles für mich und die anderen. Wahrscheinlich glaubt jede von uns, ein besonderes Verhältnis zu ihm zu haben, aber weil wir beide so gern segeln, habe ich in meiner Kindheit und Jugend viel Zeit mit ihm allein verbracht. Er ist der freundlichste und klügste Mensch, den ich kenne.«

»Du bist also Papas Liebling. Ich scheine mich mit einem großen Vorbild messen zu müssen«, bemerkte Theo und begann, meinen Nacken zu liebkosen.

»Genug von mir, ich möchte auch etwas über dich erfahren«, sagte ich.

»Später, Ally, später … Du hast ja keine Ahnung, welche Wirkung dein hinreißender französischer Akzent auf mich hat. Ich könnte dir die ganze Nacht lauschen.« Theo stützte sich auf einen Ellbogen, um mich auf den Mund zu küssen, und dann hörten wir auf zu reden.