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Dr. Elena Krieger

Die Milchlüge

Die Milch macht’s leider doch nicht

Dr. Elena Krieger

DIE
MILCH
LÜGE
Die Milch
macht’s
leider
doch
nicht

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Originalausgabe
1. Auflage 2015
© 2015 CBX Verlag, ein Imprint der Singer GmbH
Frankfurter Ring 150
80807 München
info@cbx-verlag.de

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf in keinerlei Form – auch nicht auszugsweise – ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Lektorat: Ulla Bucarey
Recherche-Assistenz: Christiane Mathes
Umschlaggestaltung: Nina Knollhuber
Foto: Depositphotos/Iakov
Satz: Sina Georgi
Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck
Printed in Germany
ISBN 978-3-945794-34-0

Wichtiger Hinweis:
Methoden, Anregungen und Hinweise in diesem Buch beruhen auf Erfahrung sowie sorgfältiger Recherche und Prüfung durch den Autor. Keinesfalls ist das Buch jedoch Ersatz für ärztliche oder therapeutische Untersuchung und Beratung, daher liegt die Anwendung allein in der Verantwortung des Lesers. Weder Autor noch Verlag können für eventuelle Schäden oder Nachteile, die aus den im Buch gegebenen Hinweisen resultieren, Haftung übernehmen.

Inhalt

Vorwort

Einleitung

1. Milchnation Deutschland

Milch in aller Munde

Trinkmilch wird unters Volk gebracht

Von Milchbärten und glücklichen Kühen

Früh übt sich

2. Das Märchen von der gesunden Milch

Was Sie lieber nicht über Milch wissen wollten

Mythos vs. Wissenschaft

Wachstumshormon, Toxine, Pestizide & Co.

3. Die Milch macht’s –
Milch als Ursache von Krankheiten

Akne vulgaris

Allergien und Unverträglichkeiten

Neurodermitis (Atopisches Ekzem)

Arthrose

Multiple Sklerose

Übergewicht und Adipositas

Diabetes mellitus

Kardiovaskuläre Erkrankungen

Osteoporose und erhöhtes Risiko
von Knochenfrakturen

Autismus

Neurodegenerative und neuronale Erkrankungen

Krebs (bösartige Tumorerkrankungen)

Beschleunigung der Zellalterung
und frühzeitiger Tod

Wie gefährlich ist Milch speziell für
Kinder und Heranwachsende?

Zusammenfassung

4. Interessenskonflikte zwischen
Wirtschaft und Konsument

Das dicke Geschäft mit der Laktoseintoleranz

Das Milchmonopol

5. Auswirkungen der Milchproduktion
auf Tier und Natur

Das traurige Leben einer Hochleistungskuh

Globale und lokale Auswirkungen auf die Umwelt

6. Weißes Gold – oder Gift?

Glossar

Literaturverzeichnis und Links

Vorwort

image Betrachtet man die Vielzahl an Berichten über Massentierhaltung und deren globale Auswirkungen, läuft es einem eiskalt den Rücken runter. Zumindest mir. Kommen noch Berichte über Themen wie genmanipulierter Mais oder die gesundheitsschädigenden Auswirkungen von Lebensmitteln wie Milch, von denen es in unserer Kindheit hieß, sie seien ach so gesund, ist es ganz aus. Daher ist es ist kein Wunder, dass sich immer mehr Menschen für bewusste Ernährung entscheiden, auf Milch und andere tierische Produkte verzichten und das allgemeine Bewusstsein für “Bio” steigt.

Beschäftigt man sich mit dem Thema “gesunde Ernährung”, stößt man unweigerlich auf den Begriff Veganismus, was bedeutet, neben dem Verzicht auf Fleisch und Fisch auch keine anderen tierischen Produkte, insbesondere Milch zu konsumieren. Noch vor gar nicht allzu langer Zeit waren Veganer eher selten zu finden und die meisten verbanden damit wohl eher den oft belächelten alternativen, auf einem Bauernhof lebenden, langhaarigen “Tier- und Pflanzenstreichler-Typ”. Heutzutage scheint es hingegen fast “in” zu sein, statt einem “normalen” Cappuccino einen Soja-Latte zu bestellen. Man ist ja schließlich ernährungsbewusst und tierlieb, besonders in den Großstädten. Interessanterweise gibt heute im Gespräch mit mir, einer Veganerin, kaum noch jemand offen zu, dass er oder sie viel bzw. gerne Fleisch isst. Die meisten essen offiziell Fleisch bzw. tierische Produkte eher selten, und wenn, dann natürlich nur “Bio”. Das war von zwanzig Jahren, als ich zum Leid meiner Mutter als pubertierender Teenager beschloss, Vegetarierin zu werden, deutlich anders. Zu den Zeiten wurde ich meistens mitleidig, und mit großem Fragezeichen im Gesicht, gefragt, was ich denn als Vegetarierin bloß essen und wie ich davon satt werden würde. In den gängigen Lebensmittelläden waren vegetarische Produkte eine Rarität, und an vegane schon gar nicht zu denken. Da musste man schon in Bioläden, die zu diesem Zeitpunkt noch sehr “öko” waren und aus Sicht eines Teenagers nur begrenzt “cool”. Daher verzichtete ich auf vieles und aß unter mitleidigem Blick meines Umfelds nur die Beilagen.

Aber heute ist das zum Glück ganz anders. Die Einstellung und Offenheit der Menschen, vor allem in Großstädten, hat sich stark verändert. Die Auswahl an vegetarischen und veganen Produkten steigt und es gibt neben einer Vielzahl an Biomärkten mittlerweile sogar rein vegane Lebensmittelläden. Und das betrifft auch glücklicherweise die Vielzahl an Alternativen zu Kuhmilch und Milchprodukten, wie beispielsweise Reis- oder Mandelmilch. Denn zusätzlich zu meinem früheren Vegetarierdasein gehöre ich zu denen, die eine medizinisch nachgewiesene Laktoseintoleranz haben. Die Diagnose kam vor zehn Jahren. Ich ernährte mich zwar daraufhin mit laktosefreier Milch und Milchprodukten, hatte aber weiterhin Beschwerden. Das, und sicherlich auch mein wachsendes Bewusstsein für Tierschutz wie für gesunde Ernährung ließen mich schließlich zur Veganerin werden. Aus dieser ganz persönlichen Erfahrung heraus entstand auch die intensive Beschäftigung mit dem Thema Milch und die Erkenntnis, dass das mehr als positive Image der Milch und auch die berühmte laktosefreie Milch eine einzige “Milchlüge” sind.

image In meinem Buch berichte ich, wie es dazu kommen konnte - angefangen bei der geschichtlichen Entwicklung des Milchkonsums in unserer Gesellschaft über die vielen Krankheiten, die Milch beim Menschen verursachen kann, bis zur Tatsache, dass man mit laktosefreier Milch nicht besser fährt. Denn, die traurige Wahrheit ist: Die Milch macht’s - leider doch nicht.

 

 

Dr. Elena Krieger

München, 17.06.2015

Einleitung

image Die Vorstellung von der ach so gesunden Milch ist tief in unserem heutigen Denken verwurzelt. Schon von Kindesbeinen an haben wir gelernt, dass wir brav unsere Milch trinken müssen, damit sie uns groß und stark macht. Es hieß, sie liefere wichtige Vitamine und Proteine, sei ein „Muntermacher“ und als Kalziumlieferant zur Stärkung unserer Knochen und Zähne unentbehrlich. Doch dieses saubere Bild von Milch beginnt zu bröckeln, und so gehört sie mittlerweile in der Forschung wahrscheinlich zu den umstrittensten Nahrungsmitteln.

Gerne wird die Kritik an Milch als überzogene Stimmungsmache radikaler Alternativer und Tierschützer abgetan, Anti-Milch-Kampagnen als „Milch-Quark der Veganer“ polemisch in Zeitschriften verrissen1, die öffentliche Auseinandersetzung mit den Gesundheitsrisiken gar als Verschwörungstheorie der „Öko-Fundis“ abgeschmettert.2 Schnell werden Fakten zur Schädlichkeit von Milch als ungerechtfertigte Verteufelung von militanten „Milch-Verleumdern“ abgetan. Doch so einfach und schwarz-weiß ist die Sachlage nicht. Die Reaktionen sind stark emotional aufgeladen, wenn es darum geht, ob Milchkonsum der Gesundheit schadet oder nicht. Denn es trifft auch die eigenen täglichen Gewohnheiten, von denen sich niemand so leicht verabschieden mag – sei es die Milch im morgendlichen Kaffee oder Müsli, das liebgewonnene Käsebrötchen zwischendurch oder der probiotische Joghurt, mit dem man glaubt, sich etwas Gutes zu tun. Sich von althergebrachten Vorstellungen zu verabschieden, ist für die meisten schwer und der Mythos Milch hält sich daher weiterhin hartnäckig. Doch Milch ist bei Weitem nicht so gesund, wie ihr guter Ruf glauben macht. Längst wird das auch durch zahlreiche wissenschaftliche Erkenntnisse untermauert. Wie sehen also die unvoreingenommenen Fakten hinter dem Mythos Milch aus? Diese und andere Fragestellungen zu ergründen, hat sich das vorliegende Buch zur Aufgabe gemacht.

image Beschäftigt man sich mit Milch, ist es zunächst sinnvoll, einen Blick auf die Rahmenbedingungen von Milchherstellung und -konsum zu werfen. Deutschland ist eine Nation von Milchtrinkern, doch das war nicht immer so. Milch ist als Grundnahrungsmittel lange nicht so selbstverständlich und naturgegeben wie man heutzutage denkt. Zunächst wird die Geschichte der Verbreitung von Trinkmilch nachgezeichnet und dabei verfolgt, wie das saubere Image der Milch eigentlich entstanden ist. Denn ob wir es wahrhaben wollen oder nicht – Werbung hat von Anfang an das positive Bild der Trinkmilch mitgestaltet und ist zu einem nicht unerheblichen Teil für unsere verklärte Wahrnehmung dieses Nahrungsmittels verantwortlich. Wer erinnert sich nicht an den Slogan der 1950er „Milch macht müde Männer munter“ oder das Pendant aus den 1980ern „Die Milch macht’s“. Werbung und Marketing haben die Milch schon immer und bis in die Gegenwart gestützt und steuern lautstark gegen, wenn die Milch in Verruf zu geraten droht.

Zudem ist Milch einer der bedeutendsten Wirtschaftsfaktoren der heimischen Lebensmittelindustrie. Millionenumsätze werden durch Milchherstellung generiert, der Export floriert und die Globalisierung des Rohstoffs Milch hält für die deutsche Wirtschaft das Versprechen von weiterer Expansion in noch unerschlossene Absatzmärkte bereit. Das „weiße Gold“ ist auf der ganzen Welt sprichwörtlich in aller Munde und weder Politik noch Milchwirtschaft und -lobby möchten sich durch potenzielle Gesundheitsrisiken von Milchkonsum die Butter vom Brot nehmen lassen.

image Der Globalisierungsdruck ebenso wie der technische Fortschritt bei der Milchverarbeitung zeigen jedoch auch ihre Schattenseiten. Die handelsübliche Hochleistungsindustriemilch aus dem Supermarktregal hat mit einem Naturerzeugnis nicht mehr viel gemein. Vielmehr ist Milch heute ein in der Molkerei von Lebensmitteltechnikern in seine Bestandteile zerlegtes und neu zusammengesetztes Design-Produkt, das weniger den Bedürfnissen des Verbrauchers als den Erfordernissen des Marktes angepasst ist. Die Milch, die wir heute verzehren, ist in vielerlei Hinsicht eine ganz andere als noch vor 100 Jahren. Neue Techniken und Behandlungsmethoden haben sie als Rohstoff verändert, und auch Faktoren wie Zucht, Fütterung, Haltung, Lagerung und Verarbeitung haben Auswirkungen auf die Inhaltsstoffe und Zusammensetzung von Milch in ihrer heutigen Form. Daher werden anschließend die Inhaltstoffe von Milch einer genaueren Betrachtung unterzogen. Der Mythos der gesunden Milch wird mit neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen abgeglichen und dabei der Frage nachgegangen, ob Milch wirklich hält, was sie verspricht. Wie viele Vitamine sind tatsächlich noch in der Milch, nachdem sie behandelt wurde? Ist Milch als Kalziumlieferant wirklich so unverzichtbar wie man meint? Braucht der Körper unbedingt tierisches Eiweiß, um ausreichend mit lebensnotwendigen Proteinen versorgt zu sein? Die Beantwortung dieser Fragestellungen wird einige Überraschungen bereithalten. image Doch neben den vielgelobten Vitaminen und Mineralien sind auch Substanzen in Milch enthalten, die gerne verschwiegen werden. Hormone und Wachstumsfaktoren in hohen Konzentrationen sind Belastungen, die mit äußerster Vorsicht zu genießen sind. Auch Rückstände und Kontaminanten wie Pestizide, Antibiotika und Umweltgifte haben unter anderem über Futtermittel ihren Weg in die Milch und damit auch in unseren Körper gefunden. Und das ist nur die Spitze des Eisbergs. Hinter dem fälschlich positiven Image von Milch verstecken sich in Wahrheit besorgniserregende Risiken.

Demzufolge wird die Verbindung zwischen Milch und Krankheiten den dritten Teil dieses Buches bilden. Anhand etablierter sowie neuester Studien wird gezeigt werden, wie die Inhaltsstoffe von Milch das empfindliche Gleichgewicht des Organismus stören und erhebliche Beschwerden verursachen können. Die bekannteste Unverträglichkeitsreaktion auf Milchbestandteile ist wohl die Laktoseintoleranz, deren genetische Ursache, ein Mangel oder Fehlen des zur Spaltung der Laktose notwendigen Enzyms, auch Rückschlüsse darauf zulässt, wie und wann Milch überhaupt in unseren Breitengraden heimisch werden konnte. Doch auch Allergien gegen die verschiedenen Eiweißarten der Kuhmilch sind mittlerweile sowohl bei Erwachsenen als auch besonders bei Kindern weit verbreitet. Zudem gelten Laktose und ihr Baustein Galaktose erwiesenermaßen als entzündungsfördernd. Darüber hinaus stehen auch Erkrankungen des Nervensystems sowie vorzeitige Zellalterung in Verbindung mit Milchzucker und seinem Spaltungsprodukt. Der Fettanteil der Milch wiederum transportiert Hormone und sorgt mit seinem hohen Gehalt an gesättigten Fettsäuren für eine Erhöhung des Cholesterinspiegels – Übergewicht und Arteriosklerose sind die Konsequenzen. Proteine, Milchzucker und Fette bilden so die heimliche Ursache für eine Vielzahl von chronischen Beschwerden. Studien häufen sich in beunruhigendem Ausmaß, die einen Zusammenhang zwischen Milch und Krankheiten wie Arthrose, Multipler Sklerose, Autismus, Unfruchtbarkeit, Diabetes mellitus und Herz-Kreislauf-Erkrankungen erkennen lassen. Auch schützt der regelmäßige Verzehr von Milch nicht wie allgemein angenommen vor Osteoporose, sondern fördert im Gegenteil auf lange Sicht sogar die Kalziumentleerung der Knochen. Schlimmer noch – die Hormone und Wachstumsfaktoren in der Milch stehen in begründetem Verdacht, das vermehrte Wachstum von bösartigen Tumorzellen zu steigern. Insbesondere die Entstehung von hormonabhängigen bösartigen Tumoren in Brust, Eierstöcken, Prostata und Hoden wird durch den regelmäßigen Verzehr von Milch begünstigt.

image Erkrankungen wie Laktoseintoleranz bieten der Milchindustrie neue Möglichkeiten für geschäftsträchtige Marktsegmente und lassen sich lukrativ vermarkten. Hier wird mit der Verunsicherung und Uninformiertheit der Verbraucher gespielt und der Konsument mit oft unnötigen und überteuerten laktosefreien Spezialprodukten skrupellos über den Tisch gezogen. Man suggeriert gleichzeitig, dass niemand trotz Unverträglichkeitsreaktionen auf Milchgenuss verzichten müsse, so als gäbe es keine Alternative zur Kuhmilch. Und damit das möglichst so bleibt, werden pflanzliche Ersatzprodukte marginalisiert und kleingehalten – und sei es durch Vorgaben der Gesetzgebung, welche die Monopolstellung von Milch weiterhin zu festigen sucht.

Zuletzt muss man beim System Milch auch die Auswirkungen ihrer Herstellungsbedingungen einbeziehen. Denn die Modernisierung der Produktionsprozesse, das Streben nach einer Steigerung von Produktivität und Effizienz bleibt für Milchkühe, Mensch und Natur nicht ohne Folgen. So gibt es auch eine Reihe von ethischen Gründen, auf den Konsum von Milch zu verzichten – das Leid der Tiere durch nicht artgemäße Haltung, die Mastitis quasi als Berufskrankheit von sogenannten Hochleistungskühen und die Verkürzung ihrer Lebensdauer durch die exzessive Vernutzung der Tiere, seien an dieser Stelle neben dem Treibhauseffekt, Carbon Footprint und Umweltverschmutzung nur als Stichpunkte genannt.

image All die aufgezählten Faktoren führen schlussendlich zu der entscheidenden Frage: Ist Milch weißes Gold – oder doch eher Gift?

 

1 Vgl. Frederik Jötten: „Dick wie eine Kuh“-Kampagne: Der Milch-Quark der Veganer. In: Spiegel online, 14.08.2014. Abrufbar unter: http://www.spiegel.de/gesundheit/ernaehrung/milch-kampagne-bringt-milch-in-zusammenhang-mit-uebergewicht-a-985707.html (Stand 30.05.2015)

2 Vgl. Christina Berndt: Öko-Fundis halten Milch für schädlich. In: Die Zeit, 26.09.2011. Abrufbar unter: http://www.sueddeutsche.de/gesundheit/ernaehrung-oeko-fundis-halten-milch-fuer-schaedlich-1.1149095 (Stand 30.05.2015)

1. Milchnation Deutschland

Milch in aller Munde

image Schon vom Frühstückstisch ist sie für die meisten nicht mehr wegzudenken, die Milch im Müsli, Morgenkaffee oder pur. Geschäumt im Latte Macchiato hat sie sich längst zum hippen Dauerbrenner entwickelt. Ebenso stehen die klassischen Milchprodukte wie Butter und Käse bei einem Großteil der deutschen Bevölkerung auf dem täglichen Speiseplan. Ganz vorne in der Beliebtheit rangieren Frucht- und Naturjoghurt, gefolgt von Quark, auch in Form von Kräuter- oder Fruchtquark, und nicht zuletzt Trinkjoghurt sowie Buttermilch.3 Im Sommer hat natürlich Eiscreme Hochkonjunktur bei Groß und Klein. Die Auswahl an der Kühltheke des Supermarktes scheint mittlerweile unendlich. Immer neue Geschmacksrichtungen und Trends erweitern die heimische Milchproduktepalette: Von Frischkäse mit Chili, Erdbeere oder Schokolade über Milchmixgetränke mit Piña-Colada-Aroma oder Trinkmolke mit Aloe-Vera-Extrakt bis hin zu probiotischem Joghurt. Auch diejenigen, die Milch aufgrund von Laktoseintoleranz gar nicht verdauen können, werden mit laktosefreien Produkten zum Konsum von Milch und Milchprodukten motiviert.

Milch ist omnipräsent – und schwer zu vermeiden. Denn zusätzlich konsumieren wir Milch oft auch ohne es zu bemerken: Nicht leicht auf den ersten Blick zu erkennen, verstecken sich Milch und deren Bestandteile als Zusatzstoffe in unterschiedlichsten Nahrungsmitteln. Der Milchzucker Laktose beispielsweise ist wegen seiner hohen Wasserbindungsfähigkeit ein beliebtes Bindemittel in Lebens- und Arzneimitteln. Außerdem ist Laktose auch in vielen fettreduzierten Produkten als Füllmittel zur Erhöhung von Gewicht und Volumen enthalten. Ebenso kann man Milch- und Molkenpulver häufig im Verzeichnis von Inhaltsstoffen finden, angefangen von Süßigkeiten wie Schokolade und Kekse über Backwaren bis zu Fertigsaucen und -gerichten.

image Im modernen Europa ist der Konsum von Kuhmilch besonders im Norden sehr verbreitet, und Deutschland bildet da keine Ausnahme. Der Verzehr von Milch und Milchprodukten hat hierzulande in der letzten Dekade merklich zugenommen und in den vergangenen Jahren neue Höchstwerte erreicht: Der Pro-Kopf-Verbrauch von Milch in Deutschland hat sich nach einem kontinuierlichen Anstieg in den Vorjahren seit 2011 auf einen etwa gleichbleibenden Wert von 54,8 Litern jährlich eingependelt.4 Hierbei verteilt sich der Verbrauch zu annähernd gleichen Anteilen auf Vollmilch und teilentrahmte Milch. Überdies verzehrt der Durchschnittsdeutsche etwa 24 Kilo Käse und 6 Kilo Butter im Jahr.5

Deutschland ist unzweifelhaft eine Nation von Milchtrinkern. Im weltweiten Vergleich liegt Deutschland bezüglich des höchsten Pro-Kopf-Verbrauchs an Trinkmilch im mittleren Drittel. In Europa, wo Milchkonsum seit geraumer Zeit Usus ist, entfällt der höchste durchschnittliche Jahresverbrauch allerdings auf die traditionellen Milchländer Irland mit 137 Litern, Finnland mit 127 Litern und Großbritannien mit 102 Litern, Estland hat jedoch mit 113 Litern beträchtlich aufgeholt.6 Außerhalb Europas gehören Australien mit 106 Litern pro Kopf und Neuseeland mit 96 Litern zu den Spitzenreitern beim Milchkonsum.7

image Es liegt im Interesse vieler Parteien, dass Milchkonsum weiter zunimmt oder zumindest stabil bleibt, denn die Produktion und Verarbeitung von Milch und Milchprodukten ist für Deutschland einer der wichtigsten Wirtschaftsfaktoren. Laut der Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung erreichte die Milchproduktion in Deutschland im Jahr 2014 nach konstantem Wachstum in den letzten Jahren einen neuen Rekordwert von ca. 32,3 Millionen Tonnen.8 Auf das Bio-Kuhmilchsegment entfallen davon lediglich etwa 286.000 Tonnen, also stammen weniger als 1% des gesamten Milchaufkommens aus ökologischer Erzeugung.9 Die Tendenz ist jedoch aufgrund der hohen Nachfrage nach Bio-Produkten steigend, und die Herstellung von Bio-Milch verzeichnete im Vergleich zu 2013 einen Zuwachs von 7%.10

Mit einem jährlichen Umsatz von rund 25 Milliarden Euro ist die Milchindustrie nach der Fleischwirtschaft mit über 40 Milliarden Euro die mit Abstand größte Lebensmittelbranche in Deutschland.11 Sie schafft somit viele Arbeitsplätze und Ausbildungsmöglichkeiten, bei über 38.000 Beschäftigten ist die Milchindustrie, trotz Umstrukturierungen durch Unternehmenszusammenschlüsse, als eine stabile Konstante des Arbeitsmarkts nicht zu unterschätzen.12

Innerhalb der Europäischen Union ist Deutschland der führende Produzent für Milch und Milchprodukte, mit einigem Abstand folgen Frankreich, England und die Niederlande.13 China und Russland gehören zu den wichtigsten Importeuren von Milch und Milcherzeugnissen deutschen Ursprungs.14 Besonders im von Lebensmittelskandalen gebeutelten China ist der Durst nach ausländischer Milch extrem groß, der Export von deutscher Trinkmilch nach China hat sich seit 2007 gar vertausendfacht.15 Beim Export sind allerdings in jüngster Zeit deutliche Rückgänge zu verzeichnen: Durch das Russland-Embargo aufgrund der Ukraine-Krise im August 2014 musste die deutsche Milchindustrie schwere Einbußen hinnehmen. In China hingegen scheint vorerst eine Sättigung des Abnahmemarkts eingetreten zu sein.16 Einen großen Teil des Exports nimmt auch das sehr einträgliche Geschäft mit Trockenmilcherzeugnissen ein. So steigt die Ausfuhr von Molkenpulver, Milchpulver, Kasein und Laktose weiterhin exponentiell an.17 Ebenfalls in China ist ausländisches Milchpulver sehr gefragt. Die Chinesen misstrauen heimischen Produkten nach den dortigen Skandalen um vergiftete Babynahrung. Sage und schreibe 300.000 Säuglinge erkrankten im Jahr 2008 schwer, einige starben sogar durch Milchpulver, das mit der Industriechemikalie Melamin verseucht war.18 2010 wurden erneut 38 Tonnen von mit Melamin kontaminiertem Milchpulver entdeckt, darunter auch Restbestände von 2008.19 Die Chemikalie Melamin, die zur Kunststoffherstellung sowie in Düngemitteln eingesetzt wird, täuscht einen höheren Proteingehalt und damit bessere Qualität vor. Doch der Skandal zog noch weitere Kreise: Da viele Lebensmittelkonzerne ihre Produktionsstätten in China angesiedelt haben, gerieten beispielsweise mit Melamin-Milchpulver hergestellte Schokolade, Kekse und Kuchen weltweit in Umlauf.20

Der Milch-Boom scheint weit davon entfernt zu sein, seine Grenzen zu erreichen. Neue Absatzmärkte werden in ehemals kuhmilchlosen Ländern wie Indien, Pakistan oder Brasilien erschlossen, neue Marktsegmente etabliert. Die Globalisierung der Milch schreitet unaufhaltsam voran.

image Mit der Aufhebung der Milchquote, die über 30 Jahre den Milchmarkt der Europäischen Union regulierte, sind seit April 2015 der heimischen Milchproduktion keine Grenzen mehr gesetzt. Die damalige Europäische Gemeinschaft wollte mit der Einführung dieser Quotenregelung 1984 die Milchproduktion der Mitgliedstaaten beschränken, um der Überproduktion Einhalt zu gebieten. Durch die staatliche Subventionspolitik waren den Milcherzeugern feste Abnahmepreise zugesichert worden, um die Landwirte vor den Preiseinbrüchen des internationalen Milchmarkts zu schützen. Dies führte jedoch dazu, dass die Produktion den Bedarf noch weiter überstieg. Die Konsequenz waren die berühmt-berüchtigten Milchseen und Butterberge der 1980er Jahre. Die Folgen, die das Ende der Milchquote nach sich ziehen wird, sind zu diesem Zeitpunkt noch schwer abzuschätzen. Es ist jedoch wahrscheinlich, dass die Produktion nun sprunghaft weiter ansteigen wird und die Milchpreise noch stärkeren Schwankungen als ohnehin schon unterliegen werden. Die Aufhebung der Milchquote könnte somit für viele Kleinbetriebe das Aus bedeuten.21

Traurig wie erschreckend ist nämlich der Umstand, dass die eigentlichen Erzeuger, die Bauern, beim profitablen Geschäft mit dem „weißen Erdöl“ am schlechtesten abschneiden. Eine 2009 von der EU-Kommission beauftragte Analyse ergab, dass die „Verteilung des Mehrwerts, der entlang der Wertschöpfungskette vom Hof über die Molkerei bis zum Handel entstehe, […] sehr unausgewogen und zu Ungunsten der Milchbauern verteilt [sei].“22 Die Landwirte müssen sich mit dem begnügen, was die Milchpreispolitik des Handels festlegt und die Molkereien nach Abzug ihrer Kosten übrig lassen. Da zudem die Milchpreise sehr stark schwanken, können viele Bauern kaum noch von der Milchherstellung leben. Das ist leider keine neue Entwicklung, sondern der Dauerzustand: Im Mai 2008 gingen vielerorts in Deutschland die Milchbauern auf die Barrikaden und setzten dabei sehr bildliche Zeichen. Um gegen die drastischen Preiseinbrüche zu protestieren, verhängten sie einen Lieferstreik an die Molkereien – und schütteten stattdessen ihre Milch zu Tonnen auf den Feldern aus.23 Von den immensen Umsätzen profitiert seit jeher nur die Milchindustrie. Die Politik spielt nur zu gerne mit: „Wachstumspotenzial für die deutsche Milchwirtschaft bietet übrigens der erfolgreiche Abschluss des Freihandelsabkommens mit den USA.“ 24, so gibt Bundeslandwirtschaftsminister Christian Schmidt euphorisch im Interview mit der Passauer Neuen Presse zum Besten. Ob das wirklich gute Aussichten sind?

 

Trinkmilch wird unters Volk
gebracht

image Dass Milch als Getränk nicht immer so omnipräsent war wie heutzutage, kann man sich in unserer Generation kaum mehr vorstellen. Im Gegenteil, ihr wurde sogar eher mit beträchtlichen Vorbehalten begegnet. Die Verwendung von Milch als Trinkmilch ist in Deutschland längst nicht so lange gebräuchlich, wie man annehmen würde.

Der Konsum von Trinkmilch setzte vielmehr als Randerscheinung mit der Entstehung der Milchwirtschaft im Zuge der fortschreitenden Industrialisierung ein. In der Agrargesellschaft, die noch bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Deutschland vorherrschte, waren die Produktion und der Verbrauch von Milch fast ausschließlich auf ländliche Gegenden beschränkt. Doch auch hier wurde Milch damals kaum getrunken, sondern diente meist als Grundlage für die Verarbeitung zu Butter und Käse. Da Milch zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch nicht haltbar gemacht und über längere Zeit gelagert werden konnte, musste sie in den ruralen Haushalten entweder sofort verbraucht oder weiterverarbeitet werden. Der Vorteil von unbehandelter Rohmilch war aber, dass sie durch die in ihr enthaltenen Milchsäurebakterien nicht schlecht und faulig, sondern sauer wurde und verzehrbar blieb. Daher war die gängige Praxis oft, die Milch als Sauer- oder Dickmilch zu verzehren.

Vom Anfang bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts hatte sich die deutsche Bevölkerung fast verdoppelt und die Urbanisierung ging mit schnellen Schritten voran. So kam es in den Großstädten zu Versorgungsnotständen und die Nachfrage nach Milch, Käse und Butter aus ländlicher Produktion wuchs allmählich. Die Agraringenieurin Andrea Fink-Keßler konstatiert in ihrem aufschlussreichen Buch „Milch – Vom Mythos zur Massenware“: „Eine neue soziale Gruppe ist entstanden: die marktabhängigen, städtischen Konsumenten.“25 Mit diesen Konsumenten kam nun der Milchhandel in Schwung: Um den steigenden Bedarf zu decken, mussten die Landwirtschaftsbetriebe mehr Milch erzeugen, sprich die Milchleistung der Kühe durch gezielte Zucht und bessere Fütterung erhöhen. Auch musste die Frischmilchversorgung der Städte organisiert werden.

Eine Vorstufe der heutigen Molkereien waren die zu Beginn des 19. Jahrhunderts in den größeren deutschen Städten gegründeten Milchniederlagen. In diese Sammelstellen konnten die Bauern nun ihre überschüssige Milch gegen Bezahlung abliefern. Hier wurde die Rohmilch zunächst zwischengelagert und von dort in die Haushalte verteilt. Schließlich fand der Abverkauf von Milch auch direkt in den sogenannten Milchniederlagen statt.26 Parallel entstanden zu dieser Zeit auch sogenannte Abmelkbetriebe. Diese Kuhhaltungen in den Städten ersparten sich die kostenintensive Aufzucht und kauften melkreife Kühe. Zum Teil waren sie Brauereien oder Brennereien angeschlossen, da deren organische Reste günstig an die Kühe verfüttert werden konnten. Von den Abmelkbetrieben wurde die frische Milch direkt an Kleinhändler weitergegeben.27

Die gewerbliche Milchproduktion nahm in den 1870er Jahren ihren Anfang. Eine Ausweitung vom lokalen hin zum überregionalen Milchhandel konnte jedoch erst stattfinden, als sich die technischen Bedingungen verbesserten und logistische Probleme überwunden wurden. Mit neuen Entwicklungen in der Kühlung wurde eine längere Haltbarkeit der Frischmilch ermöglicht. 1874 erfand Karl von Linde die Ammoniak-Kompressionsmaschine, ein Quantensprung für die Kühltechnik. Zudem setzte in dieser Phase auch der Ausbau des Schienennetzes der Eisenbahn ein, was den schnelleren Transport über längere Strecken möglich machte und so auch den Verteilungsradius des Milchhandels erweiterte.28 So konnte die Rohmilch von den Bauernhöfen auf dem Land in die Stadt zur Weiterverteilung und -verarbeitung transportiert werden. Die Herausbildung der nötigen Infrastruktur war somit der Beginn des Milchhandels und machte frische Milch überhaupt erst einer breiteren Bevölkerung zugänglich. Dies bedeutete jedoch nicht, dass sich alle Bevölkerungsschichten auch Milch leisten konnten. Anfangs war Milch nur für bessergestellte Schichten in der Stadt erschwinglich. In den urbanen Haushalten mangelte es oftmals an der Ausstattung, um die frische Milch zu Butter oder Käse weiterzuverarbeiten, weshalb sie immer häufiger auch getrunken wurde: „Die Etablierung des Milchhandels für nicht bäuerliche, städtische Haushalte war verknüpft mit dem Aufkommen des Trinkmilchkonsums.“29

Meist wurde Milch jedoch vornehmlich zum Kochen und Backen verwendet. Zu jener Zeit aß man vermehrt Milchsuppen und Mehlspeisen, auch wurde sie für Soßen, Nachspeisen und Gebäck benutzt.30 Damals wie heute wurde Milch schon in den Kaffee gegossen, früher war die Milch jedoch nur ein Ersatz, wenn keine Sahne zur Hand war, die für Kaffee bevorzugt wurde.

image Ganz anders gestaltete sich das Verhältnis zur Milch für die weniger gut gestellten Gesellschaftsschichten: Für die Arbeiterklasse der damaligen Zeit war lediglich Milch von schlechterer Qualität, meist mit Wasser verdünnt, bezahlbar. Sie galt eher als kräftigendes Nahrungsmittel für Kinder, Alte und Kranke, sodass Trinkmilch in den Haushalten des Proletariats eher eine Ausnahme als die Regel war.31 So „spiegelte sich der Milchverbrauch im sozialen Gefälle wieder“32 und der Konsum von Milch hing vom Einkommen ab. Milch war somit noch lange kein Grundnahrungsmittel, sondern ein Luxusgut und Genussmittel. Insgesamt war Milch weiterhin als Basis zur Weiterverwertung in Gebrauch, der Verzehr von Trinkmilch nahm zunächst nur als Nebeneffekt unmerklich zu: „Milch blieb hauptsächlich Verarbeitungsmilch, die allerdings immer häufiger auch getrunken wurde.“33

Doch der Aufschwung der Milchproduktion brachte zunehmend hygienische Probleme mit sich. Für viele Städter haftete der nicht verarbeiteten Milch noch der schlechte Ruf eines bäuerlichen Naturprodukts an – sie war gekennzeichnet von erheblichen Verunreinigungen und strengem Stallgeruch. Verständlich, dass dies nicht dazu einlud, sie pur zu trinken. Durch das vermehrte Aufkommen von Krankheiten wie Rindertuberkulose und Tierseuchen im Allgemeinen geriet die Milch noch stärker in Verruf.34 Insbesondere die Abmelkbetriebe wurden mit größter Skepsis betrachtet, da sich hier durch den „Zukauf von Tieren verschiedener Herkunft leicht […] Seuchen und Krankheiten“35 ausbreiten konnten. Obendrein wurde der Geschmack der aus Abmelkbetrieben stammenden Milch als fade und bitter, ja geradezu widerlich bemängelt.36 Aber auch durch die Vermischung der Milch von unterschiedlichen Bauernhöfen in den Sammelstellen der Milchniederlagen konnten Krankheitserreger im Gemelk von einer befallenen Kuh ungehindert den gesamten Milchbestand infizieren. Es herrschte zunächst noch Unsicherheit bei der Bevölkerung und Uneinigkeit bei den Wissenschaftlern darüber, ob die Seuchen vom Tier durch die Milch an den Menschen weitergegeben werden konnten. In den 1880ern standen Verunreinigungen der Milch zu recht in Verdacht, an der Übertragung von Infektionskrankheiten Schuld zu tragen.37 Dies hatte schließlich strengere Hygienemaßnahmen zur Folge und die Methode der Abtötung von Keimen durch Erhitzung der Milch setzte sich ab 1884 langsam durch. Vorangegangen waren zwei wegweisende wissenschaftliche Entdeckungen, die für die Milchwirtschaft große Bedeutung erlangen sollten: Der Mediziner und Mikrobiologe Robert Koch identifizierte 1882 die Tuberkelbakterien und verifizierte deren Übertragbarkeit von Rindern auf andere Spezies – also auch auf den Menschen. Louis Pasteur fand heraus, dass durch kurzzeitiges Erhitzen von Lebensmitteln auf hohe Temperaturen darin enthaltene Mikroorganismen abgetötet werden – dies war die Geburtsstunde der Pasteurisierung.

Sicherlich ein weiterer Grund, warum die Bevölkerung auf frische Milch noch mit massiver Skepsis reagierte, waren die zur damaligen Zeit sehr gängigen Milchpanschereien, die dem Milchhandel einen unseriösen Anstrich verliehen.38 Die ärmeren Gesellschaftsschichten kannten im Grunde genommen nur diese mit Wasser verdünnte Milch von minderer Qualität. Fink-Keßler schreibt hierzu:

„Der Bericht, den die Sachverständigenkommission, die das neue Reichsnahrungsgesetz vorbereiten sollte, 1878 vorlegte, beklagte, dass bei keinem anderen Nahrungsmittel ‚die Entwerthung resp. Verfälschung vor dem Verkauf so häufig beobachtet (würde) wie bei der Milch‘. Es gäbe eine ‚Sortenunsicherheit‘, und ‚der Begriff einer reinen unverfälschten Milch sei dem consumierenden Publicum nahezu abhanden gekommen‘. Gerade die weniger gut verdienenden Personen würden sich eben in ihr Schicksal fügen, wohl wissend, dass das, was ihnen verkauft würde, keine gute Milch sei.“39

Die Frage, was echte und was verfälschte oder verwässerte Milch ist, war in jenen Tagen schwer zu beantworten. Es gab zwar eine Marktpolizei, deren Möglichkeiten waren jedoch eingeschränkt. Da der Fettgehalt der Milch von Natur aus variiert, gab es keine verlässlichen Vergleichswerte und so konnten auch vermehrte Kontrollen der Streckung von Milch zunächst keinen Einhalt gebieten.40 Erst 1890 entwickelte der amerikanische Agrikulturchemiker Stephen Moulton Babcock eine Methode zur korrekten Bestimmung des Milchfettgehalts, den nach ihm benannten Babcock-Test.41

Kein Wunder also, dass sich frische Milch als Getränk nur sehr schwer durchsetzen konnte. Der damalige Verbraucher wusste nie, was er mit einem Glas Milch bekam – ob „nur“ schlechte, mit Wasser gepanschte Qualität oder schlimmstenfalls tödliche Krankheitskeime. Bei derartig bedenklichen Risiken bleibt einem natürlich die Milch im Halse stecken. Die Assoziationen, die Milch damals bei einem Großteil der deutschen Bevölkerung hervorrief, waren nicht sehr appetitlich.

An dieser äußerst negativen Reputation der Milch etwas zu ändern, schickte sich nun eine neue treibende Kraft auf dem Milchmarkt an. Zum Ende des 19. Jahrhunderts hin entstanden nach und nach die ersten Molkereien in deutschen Großstädten. Diese produzierten jedoch noch immer zum Großteil lediglich die bewährten Milchprodukte Butter und Käse. Überdies bestand ihre Funktion darin, die Verwertung der Restmilch aus der Butter- und Käseherstellung zu organisieren, die Molkeabfälle zu den Bauern zur Tierfütterung zurück zu transferieren sowie den Milchhandel zu regulieren.42 Aber schließlich entdeckten die Molkereien, dass Trinkmilch wesentlich höhere Gewinne abwarf als die ungleich aufwändigere Herstellung von Butter oder Käse. Daher mussten schnell Mittel gefunden werden, um das Image der Milch zu verbessern und ihren Absatz zu erhöhen. Die Milch sollte aller Vorbehalte zum Trotz unters Volk gebracht werden.

Mit der Technik der Pasteurisierung konnten immerhin die hygienischen Probleme gelöst und die krankheitserregenden Mikroben wirksam beseitigt werden. Zum einen stieß aber nun der „Kochgeschmack“, den die Milch durch das Erhitzen bekam, auf Widerwillen. Zum anderen ließ das Abkochen wiederum Zweifel an der Hochwertigkeit des Ausgangsprodukts aufkommen. Die Erhitzungsmethode weckte bei den Konsumenten den Verdacht, dass nun jegliche Milch, egal, wie schlecht ihre Qualität sei, keimfrei gemacht und zum Verzehr angeboten würde: „Die Pasteurisierung aber würde nur den Molkereien Tür und Tor öffnen, um die Milch kranker Tiere sowie unhygienisch gewonnene Milch als gute Milch zu verkaufen.“43 So war also für die Molkereien mit dieser neuen Methode zunächst noch nicht viel gewonnen. 1909 gab es einen ersten halbherzigen Versuch, die Verpflichtung zur Pasteurisierung im Viehseuchengesetz juristisch zu verankern. Der allgemeine Pasteurisierungszwang wurde allerdings erst mit dem ersten Milchgesetz von 1930 eingeführt.44 In Bezug auf die Hygiene hatten die Molkereien einen vorläufigen Etappenerfolg erzielt. Auf diesem wurde nun aufgebaut, doch zur Verbesserung des allgemeinen Ansehens der Milch mussten drastischere Mittel her.

 

Von Milchbärten und glücklichen
Kühen

Wie Milch zu ihrer weißen Weste kam

image Die Durchsetzung strikterer Hygienevorschriften setzte einen der ersten Impulse, um einen Wandel des bis dahin eher negativen Bildes von der Milch zum positiven in die Wege zu leiten. Der Mythos von der gesunden Milch nahm seinen Anfang also in dem simplen Umstand, dass durch Pasteurisierung die Milch nun frei von schädlichen Bakterien und somit – jedenfalls was die Übertragung von Infektionen betraf – unbedenklich zum Verzehr war. Die Reputation der Milch als ein bäuerlich-ländliches Naturerzeugnis voller Krankheitserreger veränderte sich langsam zum Image eines sauberen Industrieprodukts. Der nächste Schritt war nun die künstlich geschaffene Aufwertung von „sauber“ zu „gesund“:

„Man propagierte als gesunde Milch diejenige, die möglichst keimfrei war. Damit wurde allmählich ein Image kreiert, das nur die Milch als gut, gesund, hygienisch und modern betrachtete, die in einer Molkerei bearbeitet worden war. Letztlich trugen die langen Kämpfe gegen die Gesundheitsvorbehalte zur Gestaltung des modernen Milchimages bei, und dieses rankte sich hauptsächlich um den Begriff gesund, weil ‚hygienisch einwandfrei‘.“45

Hier wurde demnach der Grundstein gelegt für die irrige Annahme, dass Milch prinzipiell gesund sei.

image Schon damals begann eine Marketing-Kampagne, die bis heute andauert. So kam es in den Jahren nach 1870 zu einer groß angelegten Werbe-Aktion. 1871 schuf Benno Martiny, seit 1861 Generalsekretär des Landwirtschaftlichen Hauptvereins preußischer Landwirte, die erste Milchzeitung und in der Folge wurden Informationsschriften zur Milch in Umlauf gebracht.46 Insbesondere die Arbeiterschicht sollte an den Konsum von Trinkmilch herangeführt werden. Man hoffte damit einerseits, der Unter- und Fehlernährung der Kleinkinder sowie der hohen Säuglingssterblichkeit in dieser sozialen Schicht Abhilfe zu schaffen.47 Andererseits sollten die ärmeren Teile der Bevölkerung auch durch verstärkten Konsum von Milch vom weit verbreiteten Alkohol- bzw. Bierkonsum abgebracht werden.48 Zudem war das Proletariat bisher als Konsumentengruppe noch relativ unerschlossen, aufgrund steigender Einkommen verfügten die Arbeiter jedoch inzwischen über die notwendige Kaufkraft. Schon damals war die Anpreisung der gesunden Milch bloße Augenwischerei und ein eigentlich minderwertiges oder zumindest fragwürdiges Lebensmittel wurde den Massen als die Lösung aller Ernährungsprobleme und Mangelerscheinungen schmackhaft gemacht. Und das war mit Sicherheit keine leichte Aufgabe, sagte man der herkömmlichen Marktmilch doch einen öligen Geschmack nach. Gerade Kinder ekelten sich daher und waren kaum zum Milchtrinken zu bewegen, was noch durch den Stallgeruch potenziert wurde. Auch hatte es sich herumgesprochen, dass Milch bei vielen Menschen Verdauungsstörungen, Erbrechen sowie Durchfälle hervorrief. 49 Zeitungen und Flugblätter lobten daraufhin die kräftigende Wirkung von Milch, hoben ihre Nährstoffe hervor und rühmten sie als das Wundermittel schlechthin für eine gesunde Ernährung. Die hartnäckige Propagierung der Milch zeigte schließlich Erfolg und führte dazu, dass bis zum Ersten Weltkrieg der Milchkonsum auch in den ärmeren Bevölkerungsschichten üblicher geworden war.50

image Währenddessen hatte die Nahrungsmittelindustrie eine neue Produktkategorie hervorgebracht – Konserven und synthetisch erzeugte Lebensmittel. Diese entwickelten sich rasch zu einer ernstzunehmenden Gegenbewegung und die Kondensmilch stand in den Startlöchern, um der althergebrachten Milch den Rang abzulaufen. Ihre Markteinführung war getragen von Werbeversprechen, die ganz gezielt sowohl an das ehemals schlechte Ansehen des Konkurrenzprodukts Milch anknüpften als auch dessen neu aufgekommenes Positiv-Image für ihre Zwecke nutzten:

„1912 umwirbt die neu auf den deutschen Markt gekommene Kondensmilch ‚Bärenmarke‘ ihre Kundinnen mit dem Hinweis, sie sei steril, sauber gewonnen und ‚absolut keimfrei und der Gesundheit in ganz außerordentlicher Weise zuträglich‘ und es gäbe weder Zucker, Fremdkörper noch Mikroben. Zudem, so das Etikett weiter, sei sie speziell ‚für Kranke, Genesende und Kinder‘, da es eine ‚kräftige Milch‘ der Alpenweiden sei.“51

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