Kapitel 3
Beaulieu-sur-Mer – Côte d’Azur, 17. Oktober, 22:07 Uhr
Laura hatte sich kaum auf die Rückbank des Cherokee gesetzt, als Greg schon das Gaspedal trat und scharf wendete. Die Fliehkraft riss an der Tür, und Laura schaffte es nur mit Mühe, sie zu schließen.
»Würdest du mir bitte einen Gefallen tun und nicht fahren wie ein Teenie auf Speed«, schnappte Laura.
»Klar«, knurrte Greg, »wenn du uns das nächste Mal Bescheid sagst, bevor du für zwanzig Minuten auf dem Supermarktklo verschwindest. Und das auch noch kurz vor Ladenschluss! Wir haben uns Sorgen gemacht.«
»Glaubst du, mir macht das Spaß? Es ging halt nicht anders.«
»Es ging nicht anders?«
»Ich bin ’ne Frau, verdammt!«
»Ach ja?«, knurrte Greg. »Und Frauen können nicht Bescheid sagen?«
Laura rollte mit den Augen. »Katy, erklär du’s ihm bitte, ja.«
Katy schwieg, drehte den Kopf zur Seite und sah zum Fenster hinaus.
»Ach, Scheiße«, murmelte Laura. Sie wusste, dass Greg recht hatte – irgendwie. Und den Teil, wo er nicht recht hatte, den vollgesogenen Tampon, die blutige Hose und die ganzen übrigen Scherereien, diesen Teil konnte und wollte sie nicht erklären.
Sie beugte sich leicht nach vorne; etwas Regen war ihr unter den Kragen der Jacke gelaufen, und jetzt klebte die nasse Kleidung an ihrem Rücken. In ihrem Bauch rumorte es immer noch, und zwischen Becken und Rückenwirbeln tobte ein krampfartiger Schmerz, ganz zu schweigen von den Kopfschmerzen und der Übelkeit. Sie hatte gestern schon geahnt, dass es wieder so weit war. Doch wie immer hatte sie es verdrängt, bis es aus ihr herausbrach.
Ihre Tage als notwendiges Übel zu bezeichnen wäre eine Untertreibung gewesen. Übel ja. Aber notwendig? Wofür denn? In ihrem ersten Leben war sie zu jung für Kinder gewesen. In ihrem zweiten Leben zu verloren und zu kaputt.
Und jetzt, in ihrem dritten Leben?
Sie hatte noch nicht einmal einen Partner, geschweige denn jemanden, mit dem sie ein Kind haben wollte. Alleine der Gedanke, die Verantwortung für ein Kind tragen zu müssen, schnürte ihr die Kehle zu, weil sie immerzu an ihre eigene Kindheit denken musste, an die drückende Einsamkeit in der Villa in der Finkenstraße, an ihren Vater, der dauerabwesend war, entweder auf Geschäftsreise in Wien oder in irgendeinem seiner Zimmer, immer unansprechbar, während ihre Mutter … nun ja …
Dann schon lieber wirklich alleine. So wie jetzt. Sie hatte ihre Wohnung, ihre Arbeit bei Ultimate-Action, einer Sport-Event-Agentur, und den Rest der Zeit war sie damit beschäftigt, nicht wieder zurückzufallen in alte Gewohnheiten. Sie war gewissermaßen immerzu auf der Flucht vor Leben Nummer zwei.
Wozu also brauchte es diese elenden Regelschmerzen? Ihre Tage waren ein ständiger Störfaktor. Auch für ihren Job bei Ultimate-Action. Eine Reihe von Fallschirm-Tandemsprüngen – abgesagt. Die letzte Klettertour – ebenfalls abgesagt. Sie hatte Glück, dass Gerald, ihr Chef, sie nach wie vor mochte, und das, obwohl sie seine Annäherungsversuche bisher beharrlich ignoriert hatte.
Laura seufzte und sah aus der Seitenscheibe des Cherokee. Hinter den vom Fahrtwind verzerrten Tropfenbächen wischten die letzten Häuser von Beaulieu-sur-Mer vorbei. Ihr feuchter Rücken erinnerte sie an den gestrigen Abend, an Jan und an das, was vor dem Haus passiert war.
Sie hatte einen Rappel bekommen und vor die Tür gemusst, an die frische Luft. Auf Dauer hielt sie es einfach nicht in geschlossenen Räumen aus. In einer ihrer Jackentaschen hatte noch eine angebrochene Packung Lucky Strikes gesteckt, von einem ihrer Kollegen. Zigaretten waren eigentlich nicht ihr Ding, wenn überhaupt war sie Gelegenheitsraucherin, doch hier und jetzt war es die perfekte Ausrede gewesen, um für einen Moment alleine vor die Tür zu gehen – zumal die anderen nicht rauchten. Eine Viertelstunde alleine, nur mit einer Zigarette, das erschien ihr als Paradies.
Das Paradies hielt ganze drei Minuten an. Sie hatte draußen gestanden, mit dem Rücken zur Eingangstür, über ihr das vorkragende Wohnzimmer des Hauses, das wie eine riesige Zigarettenschachtel in den oberen Teil des Steilhangs gerammt war. Vor ihren Augen rannen Wasserfäden vom Dach, und das Ende ihrer Zigarette glühte auf, als sie daran zog.
In der Dunkelheit, rechts von ihr, zwischen den Bäumen am Hang, blitzte plötzlich etwas auf. War da nicht ein Schatten? Sie kniff die Augen zusammen und spähte in die Nacht. Vielleicht ein Tier?
In diesem Moment trat Jan hinter ihr aus der Tür, stellte sich still neben sie und sah aufs dunkle Meer und die tiefhängenden Wolken. Sie schwiegen in stillem Einvernehmen. Nur der Regen prasselte, und die See brandete weit unter ihnen gegen die Felsen.
Laura schnippte die Zigarette in den Regen und zündete sich eine weitere an.
»Du rauchst eigentlich nicht, oder?«, fragte Jan, ohne den Blick vom Meer abzuwenden.
»Ach, nein?«
»Nein«, sagte Jan.
Laura stieß den Rauch in den Regen und musste lachen. Es klang überraschend rau und etwas spöttisch. »Was hat mich verraten, Kommissar Floss?«
Jan lächelte und zuckte mit den Schultern. »Deine Haltung. Die Hände …«
»Ich seh schon«, sagte Laura, »ein echter Fachmann. Auch eine?« Sie hielt ihm die Schachtel hin.
»Danke. Ich rauch nicht.«
Skeptisch sah sie ihn an. »So wie ich, meinst du?«
Jan zog fröstelnd den Kopf zwischen die Schultern. »Mir wär jetzt eher nach ’nem Kaffee.«
»Kaffee? Um die Uhrzeit? Da würde ich die ganze Nacht senkrecht im Bett stehen.«
Jan lächelte schief. »Alles eine Frage der Übung.«
»Wo übt man denn bitte nachts Kaffee trinken?«
»Marktforschung. Oder Werbung. Man fängt morgens damit an und hält den Koffein-Pegel die ganze Zeit über auf konstantem Niveau.«
Laura erinnerte sich dunkel daran, dass Jans und Katys Vater Inhaber einer Werbeagentur war. Deswegen auch das Ferienhaus an der Côte d’Azur. Auch wenn es inzwischen so heruntergekommen war – es hatte sicher einmal ein kleines Vermögen gekostet. »Also lange Tage im Job?«
Jan nickte. »24 Stunden, sieben Tage die Woche. Zumindest gefühlt.«
»Bravo. Beste Voraussetzungen für einen Burn-out.«
»Yepp«, sagte Jan.
»Und warum machst du es dann?«
Wieder ein schiefes Lächeln. »Mach ich ja gar nicht mehr. Ich bin raus. Ist vorbei.«
»Aha. Bist du freiwillig ausgestiegen … oder …?«
»Mehr ›oder‹«, sagte Jan und schwieg einen Moment. »Ist ’ne komplizierte Geschichte.«
»Aha.« Laura zog an ihrer Zigarette. Wenn er nicht darüber reden wollte, kein Problem. Sie mochte es schließlich auch nicht, ausgefragt zu werden. Sie drehte die Zigarette in ihrer Hand und betrachtete die Glut, die sich durch den Tabak fraß.
»Mein Vater hatte einen Schlaganfall«, sagte Jan unvermittelt.
»Oh«, rutschte es Laura heraus. »Das tut mir leid, ich –«
»Nein, nein«, beeilte sich Jan zu sagen. »Schon okay, er hat’s überlebt. Ist jetzt in einem wirklich guten Altenheim untergebracht, Residenz Blankenburg. Ich war nur so dumm, zu glauben, dass er meine Hilfe braucht. Also hab ich gekündigt. Ich habe Marktforschung gemacht, hatte eine ganz gute Stellung bei einem Institut, als Psychologe, seit acht Jahren. Die waren ziemlich sauer, weil ich von jetzt auf gleich aufgehört habe.«
»Und dann?«
»Ich hab mich um die Werbeagentur meines Vaters gekümmert.«
»Einfach so? Ich dachte, du bist Psychologe.«
»Du wirst lachen«, sagte Jan ohne einen Anflug von Humor, »eigentlich habe ich Psychologie studiert, weil ich dachte, dann würde ich auf jeden Fall etwas anderes machen als mein Vater.«
»Hört sich so an, als wärt ihr nicht sonderlich gut miteinander klargekommen, du und dein Vater.«
Jan schwieg einen langen Moment. »Immer zweihundert Prozent verlangen, aber nie da sein, wenn man ihn braucht. Das ist mein Vater.«
Laura sagte nichts. Sie wusste nur zu gut, was Jan meinte – und wie es sich anfühlte. Nur dass ihr Vater nie etwas verlangt hatte. Sie war ihm schlicht egal gewesen.
»Nach dem Studium«, fuhr Jan fort, »habe ich dann die Ausbildung zum Psychotherapeuten angefangen, mit einem praktischen Jahr in einer Tagesklinik. Schon am dritten Tag sollte ich eine Gruppe leiten. 18 Alkoholiker und ich als Azubi, ohne jede Praxiserfahrung. Genauso gut kannst du einen Medizinstudenten alleine in den OP stellen und sagen, er solle jetzt gefälligst am offenen Herzen operieren. Meine Patienten waren teilweise hochaggressiv, die hatten nicht das geringste Bedürfnis, behandelt zu werden. Einer ist auf mich losgegangen und hat mir die Nase gebrochen. Danach habe ich mich umorientiert und bin in die Marktforschung. Und die ist letztlich eng mit der Werbung verknüpft.«
»Also genau das, was du eigentlich nicht machen wolltest.«
»Na ja.« Jan zuckte mit den Schultern. »Im Grunde hatte ich nichts gegen Werbung. Es ging eher um meinen Vater …«
»Und er? War vermutlich begeistert, als das verlorene Schaf endlich heimgekehrt ist.«
»Mein Vater ist nicht zu begeistern. Jedenfalls nicht von mir.«
»Vielleicht ist er’s, kann es aber nicht sagen«, meinte Laura.
Jan lächelte bitter.
»Verstehe.«
»Selbst wenn’s so wäre, besser anfühlen würde es sich deswegen auch nicht«, sagte Jan. »Jedenfalls, als er im Krankenhaus lag, da geriet die Agentur ins Schleudern. Ich kam mir ziemlich mies dabei vor, zuzusehen, wie alles den Bach runtergeht. Also hab ich gekündigt und ihn vertreten.«
»Und wo ist jetzt das Problem?«, fragte Laura. »Ist die Agentur pleite?«
»Im Gegenteil. Es läuft wieder.«
»Hört sich doch nach einem Happy End an.«
»Mehr End als Happy. Er hat die Agentur verkauft, kaum dass er wieder geradeaus gucken konnte. Einfach so. Ohne mir ein Wort zu sagen. Vertragsbestandteil war, dass ich mit sofortiger Wirkung die Agentur zu verlassen habe.«
Laura sah ihn sprachlos an.
»Das ist jetzt sechs Wochen her. Seitdem bin ich etwas von der Rolle.«
»Wow«, sagte Laura.
Jan holte tief Luft und zuckte wieder mit den Schultern. »Jedenfalls brauchte ich dringend mal eine Luftveränderung. Deswegen bin ich hier.«
Laura nickte, stieß eine Rauchwolke aus und fragte sich, warum Jan für diese Luftveränderung ausgerechnet in das Haus seines Vaters gekommen war.
»Und du?«, fragte Jan. »Warum ist es Katy gelungen, dich zu diesem Trip zu überreden?«
»Wie meinst du das?«
Jan warf ihr einen langen Blick zu. »Na, so richtig glücklich siehst du jedenfalls auch nicht aus.«
»So?«, lachte Laura. Etwas zu schrill, wie sie selbst fand. »Woran siehst du das denn?«
Jan fixierte sie, ruhig und wortlos, mit seinen braunen Augen, und plötzlich hatte sie den Eindruck, er könnte bis in ihr Innerstes sehen. Bis dorthin, wo niemand hinsehen durfte.
Sie stieß erneut eine Rauchwolke in die Nacht, und die Regentropfen durchschlugen lautlos den Qualm. Die Zigarette brannte dunkelrot. Sie nahm sich vor, auf der Hut zu sein, und warf ihm einen raschen kühlen Seitenblick zu. »Das willst du gar nicht wissen.«
»So schlimm?«
Schlimmer, dachte sie. Höchste Zeit für einen Themenwechsel. »Vielleicht nicht ganz so schlimm wie die Versuche deiner Schwester, uns zu verkuppeln.«
Jan lachte. Ein peinlich berührtes Lachen, fand Laura.
»So ist sie, meine große Schwester. Das ging schon so, bevor meine Mutter abgehauen ist. Tu dies, Jan, lass das … Ist auch nicht das erste Mal, dass sie mich verkuppeln will. Ist immer etwas … peinlich.«
»Und, funktioniert es denn wenigstens?«
»Was denn?«
»Das mit dem Verkuppeln«, fragte Laura. »Also, äh, im Allgemeinen.« Am liebsten hätte sie sich auf die Zunge gebissen.
Jan schwieg einen Moment. »Ich tue grundsätzlich nicht, was meine Schwester sagt. Schon aus Prinzip nicht.«
»Gut«, sagte Laura. »Dann hätten wir das ja geklärt.« Sie schnippte die abgebrannte Zigarette in den Regen hinaus, wo sie einen roten Bogen beschrieb und im feuchten Schotter vor dem Haus verlosch.
Sie blickte zu Jan. Das Mal auf seiner Wange sah aus wie ein zerklüfteter dunkler See auf einer Landkarte. Auch damals schon, in der Schule, hatte sie sein Mal nie gestört, sondern eher angezogen.
Ich hätte nicht die Zigarette wegwerfen sollen, dachte sie. Und ich stehe viel zu nah an ihm dran.
Sie spürte seinen Blick, sah, wie sein Blick flackerte, als wäre er unsicher, so wie sie. Er sollte sich jetzt besser umdrehen – dachte sie – , die Treppe hochgehen und im Haus verschwinden.
Aber er blieb. Stand viel zu nah vor ihr. Sah hinunter, zwischen ihre Brüste, dahin, wo ihr schwarzes Gothic-Kreuz an der dünnen silbernen Kette hing, die sie ihrer Mutter gestohlen hatte.
Als sie ihre Lippen öffnete, floss ein elektrischer Strom, schon bevor sie seine Lippen berührte. Sie wusste, dass sie nach Rauch schmeckte, aber es schien ihn nicht zu stören. Er war vorsichtig, als ob er sich selbst nicht sicher war, und das erregte sie nur noch mehr. Sie taumelte, hielt sich an ihm fest und spürte, wie ihr Regenwasser in den Kragen lief. Sie musste lachen, hielt inne und – konnte nicht anders, als seine Lippen anzustarren und ihn dann wieder zu küssen, viel heftiger, als sie wollte. Sie erinnerte sich an früher, es war wie ein Flashback, sie, mit 14 auf dem Schulhof, verstohlen nach Jan schielend, mit schwitzigen Händen und ihrem unerträglich schnell schlagenden Herz. Jan war so anders gewesen. Still und sensibel. Kein ständiges Auf-die-Brust-Getrommel wie bei den anderen Jungs. Er war, wie It could be sweet von Portishead klang, genauso verloren, genauso melancholisch, genauso süß.
Die Küsse lösten ein Feuerwerk in ihrem Kopf aus, und ihr wurde schwindelig.
Gibt es das?
Das kann nicht sein. Nicht so. Das sind nur Küsse!
Sie spürte die Spitzen ihrer Brüste, die Gänsehaut überall. In ihrem Rücken meldete sich der wohlbekannte ziehende Schmerz. Innerlich verfluchte sie ihren Zyklus, und dankte ihm zugleich auf Knien. Wären nicht ihre Tage im Anmarsch gewesen, sie hätte hier und jetzt mit ihm geschlafen, weil es sich mit Jan plötzlich anfühlte, wie nach Hause zu kommen, obwohl sie nie wirklich ein Zuhause gehabt hatte. Als wäre das in der Schule nicht nur eine Teenie-Schwärmerei gewesen, sondern er schon damals der einzige Mensch, der sie hätte verstehen können, ein Seelenverwandter.
»Das hab ich mir immer gewünscht, damals«, flüsterte Jan ihr ins Ohr.
Sie presste ihn an sich. »Warum hast du nie was gesagt?«
»Du hast doch nie etwas gesagt. Und plötzlich warst du weg. Einfach so.«
Plötzlich versteifte sie sich in seinen Armen. Als wäre es ihre Schuld gewesen, dass sie damals weggemusst hatte. Was fiel ihm ein, so etwas auch nur zu denken!
Eine Bodenwelle riss sie aus ihren Gedanken. Katy stieß einen überraschten Laut aus, und Greg bremste den Cherokee ruckartig ab. Hinter ihnen scherte ein schwerer SUV nach links aus, fuhr neben sie und hielt einen Moment ihr Tempo. Am Steuer saß eine dunkle Gestalt, die durch die nassen Scheiben vorwurfsvoll zu ihnen herüberzustarren schien – ein gefährliches Manöver auf der immer höher ansteigenden Küstenstraße.
»Ja, ja. Schon gut«, knurrte Greg in Richtung des Fahrers. »Reg dich ab.«
Der Wagen fuhr immer noch neben ihnen her. »Verschwinde«, knurrte Greg und zeigte mit seiner Linken den Mittelfinger.
Der Mann – wenn es überhaupt ein Mann war – reagierte nicht darauf. Für einen Moment schien es Laura so, als hätte er seinen Blick ausschließlich auf sie gerichtet.
Sekunden später wurde der SUV langsamer und fiel zurück.
»Penner«, murmelte Katy und drückte mit ihrer Hand beschwichtigend Gregs Arm.
Laura verdrehte die Augen. Schon auf der Hinfahrt hatte Katy bei jeder Gelegenheit an Greg herumgefingert. Ihre weit auseinanderstehenden dunklen Augen brannten förmlich für ihn, und sie fragte sich allmählich, ob Katy Jan nur mit ihr hatte verkuppeln wollen, um ungestört mit Greg zusammen zu sein.
Es rauschte dumpf, als der Cherokee durch eine breite Pfütze fuhr und auf die D6007, die Avenue Bella Vista, Richtung Èze abbog. Nach ein paar hundert Metern teilte sich die Straße und wurde zweispurig. Bogenförmige Straßenlampen warfen in regelmäßigen Abständen Lichtinseln auf den nassen Asphalt. Rechts unten lagen die Lichter von Beaulieu und wurden immer kleiner. Links türmten sich Felswände oder bewaldete Hänge, die sich im Dunkeln verloren.
Laura dachte wieder an Jan und daran, dass sie insgeheim gehofft hatte, er käme mit nach Beaulieu. Sie kramte in ihrer Jackentasche, zog ihr Handy hervor und überlegte, ihn anzurufen. Doch das Display zeigte Kein Netz an. Aus dem Augenwinkel registrierte sie plötzlich einen Lichtreflex, dann einen klobigen Schatten neben sich. Der SUV war wieder da und wollte offenbar überholen.
»Was will der denn schon wieder«, murmelte Greg. Offenbar drückte er aufs Gas, denn der Cherokee zog spürbar an.
Für einen langen Moment schien es, als könnte sich der Fahrer des SUV nicht entscheiden, ob er überholen oder langsamer werden wolle, stattdessen hielt er das Tempo mit dem schneller werdenden Cherokee und fuhr links neben ihnen. Die grellen Halogenscheinwerfer der beiden Wagen durchschnitten den Regen. Die Tachonadel kletterte auf 80, dann 90 Stundenkilometer.
»Greg …«, sagte Katy leise.
Greg starrte stur geradeaus, seine Kieferknochen traten deutlich hervor.
Für einen Augenblick fürchtete Laura, der SUV könnte sie abdrängen, über die Leitplanke und in den Abgrund. Sie reckte den Hals, versuchte den Fahrer zu erkennen, der offenbar wieder direkt zu ihr herüberstarrte.
Auch das noch.
Mit ein paar Tastendrücken aktivierte sie den Videomodus ihres Handys und tat das, was die meisten schrägen Typen verschreckte: Sie hob die Kamera und filmte den Mann so demonstrativ wie möglich. Ob er sie sehen konnte, im dunklen Fond des Wagens? Jedenfalls warf die Straßenbeleuchtung alle fünfzig Meter ein Schlaglicht auf die beiden Wagen.
Und dann, ganz plötzlich, blitzte aus dem Nichts ein Licht am Rand der Straße auf.
Laura sog scharf die Luft ein. »O Gott«, murmelte sie leise. Für einen Augenblick meinte sie das Gesicht des Fahrers gesehen zu haben, aber es hatte so unwirklich ausgesehen, so grotesk, dass sie ihren Augen nicht trauen mochte. Sie ließ das Handy sinken. Kälte kroch ihr den Rücken empor.
»Na bravo«, knurrte Greg. »Hier ist Tempo siebzig.«
»Wieso? Wie schnell warst du denn?«, fragte Katy.
»Auf jeden Fall schneller.«
Laura sah, wie der SUV wieder zurückfiel. Sie wollte sich umdrehen, sich vergewissern, dass der Wagen verschwand, aber irgendetwas sagte ihr, dass sie es lassen sollte, dass die unheimliche Gestalt am Steuer des Wagens das vielleicht sogar als Aufforderung auffassen könnte.
»Habt ihr das eben auch gesehen?«, fragte sie.
»Stell dir vor, ich hab sogar direkt ins Licht geguckt und nett gelächelt«, ätzte Greg, »damit ich wenigstens ein ordentliches Foto für mein Geld bekomme.«
»Schon okay«, sagte Katy. »Wir teilen uns das Knöllchen.«
Der Cherokee fuhr durch eine tiefe Pfütze und warf lautstark links und rechts Wasserfontänen auf.
Katy quietschte und fasste Greg am Arm.
Laura stöhnte genervt.
Vor ihnen tauchte der Tunnel auf, und die D6007 wurde wieder schmaler – mit nur einer Spur in jede Richtung. Laura wollte endlich raus aus der verdammten Blechbüchse. Hätte es nicht geschüttet wie aus Eimern und wäre da nicht dieser unheimliche Typ gewesen, sie wäre ausgestiegen und zu Fuß gelaufen.
Das nächste Mal, sagte sie sich, bleibe ich bei Jan.
Irritiert stellte sie fest, wie sehr sie sich auf ihn freute. Noch fünf Minuten, dachte sie. Ein paar Kilometer die Moyenne Corniche hinauf bis nach Èze und von dort wieder ein paar Serpentinen den Steilhang hinab bis zum Haus …
Dann kam der Tunnel. Die Einfahrt glich einem Maul und verschluckte den Cherokee in der 200 Meter langen, schwarzen Felsröhre.