cover

John Irving

Das Hotel
New Hampshire

Roman

Aus dem Amerikanischen von
Hans Hermann

 

 

 

 

 

 

 

 

Titel der 1981 bei E. P. Dutton, New York,
erschienenen Originalausgabe: ›The Hotel New Hampshire‹

Copyright © 1981 by Garp Enterprises, Ltd.

Die deutsche Erstausgabe erschien 1982 im Diogenes Verlag

A Birthday Candle Copyright © 1957 by Donald Justice

Erstmals erschienen in ›The New Yorker‹

On the Death of Friends in Childhood Copyright © 1959 by Donald Justice

Love’s Stratagems Copyright © 1958 by Donald Justice

Erstmals erschienen in ›The New Yorker‹

To a Ten-Month’s Child Copyright © 1960 by Donald Justice

Tales from a Family Album Copyright © 1957 by Donald Justice

Der Abdruck dieser Gedichte aus der Sammlung The Summer Anniversaries
erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Wesleyan University Press

The Evening of the Mind Copyright © 1965 by Donald Justice

Erstmals erschienen in ›Poetry‹

The Tourist from Syracuse Copyright © 1965 by Donald Justice

Men at Forty Copyright © 1966 by Donald Justice

Erstmals erschienen in ›Poetry‹

Der Abdruck dieser Gedichte aus der Sammlung Night Light

erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Wesleyan University Press

I Forgot to Remember to Forget Copyright © by permission of Stanley
Kesler; Highlow Music Inc., 639 Madison Avenue, Memphis, Tn. 38103

I Love You Because by Leon Payne, Copyright © 1949 by Fred Rose

Music, Inc., Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags

Alle Rechte vorbehalten

Covermotiv: Illustration von Edward Gorey

Mit freundlicher Genehmigung des
Edward Gorey Charitable Trust, New York

 

 

 

 

Alle deutschen Rechte vorbehalten

Copyright © 2011

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 21194 8

ISBN E-Book 978 3 257 60021 6

 

Für meine Frau Shyla,
deren Liebe
Licht und Raum
für fünf Romane
schuf

[9] 1.

Der Bär namens State o’ Maine

In jenem Sommer, als mein Vater den Bären kaufte, war noch keiner von uns auf der Welt – wir waren noch nicht mal gezeugt: weder Frank, der älteste, noch Franny, die lauteste, noch ich, der nächste, noch die jüngsten von uns, Lilly und Egg. Mein Vater und meine Mutter kannten sich von klein auf und waren praktisch miteinander groß geworden, doch ihre »eheliche Vereinigung«, wie Frank das immer nannte, hatte damals, als Vater den Bären kaufte, noch nicht stattgefunden.

»Ihre ›eheliche Vereinigung‹, Frank?« triezte ihn Franny gern; Frank war zwar der Älteste, aber mir kam er jünger vor als Franny, und sie behandelte ihn immer wie ein kleines Kind. »Du meinst doch Frank«, sagte Franny, »daß sie noch nicht angefangen hatten mit vögeln.«

»Sie hatten ihr Verhältnis noch nicht vollzogen«, sagte Lilly einmal; obwohl sie, abgesehen von Egg, jünger war als wir anderen, spielte sich Lilly immer als die große Schwester von allen auf – sehr zum Ärger Frannys.

»›Vollzogen‹?« sagte Franny. Ich weiß nicht mehr, wie alt Franny damals war, aber Egg war für solche Sprüche bestimmt noch zu jung: »Den Sex haben Vater und Mutter doch erst entdeckt, nachdem der alte Herr diesen Bären gekauft hatte«, sagte Franny. »Der Bär brachte sie auf die Idee – ein richtig ordinärer, geiler Bock, der dauernd Bäume besprang und an sich selber rumfummelte und versuchte, Hunde zu vergewaltigen.«

»Er hat hin und wieder einen Hund rauh angefaßt«, sagte Frank angewidert. »Er hat nie Hunde vergewaltigt.«

»Er hat es versucht«, sagte Franny. »Du kennst doch die Geschichte.«

[10] »Vaters Geschichte«, sagte daraufhin Lilly, die auf etwas andere Art angewidert war als Frank; es war Franny, die Frank anwiderte, doch Lilly fand Vater widerlich.

Und so liegt es nun an mir, dem mittleren und am wenigsten voreingenommenen von uns Kindern, die Tatsachen ins rechte – oder fast rechte – Licht zu rücken. Wir waren eine Familie, deren Lieblingsgeschichte die Romanze zwischen meiner Mutter und meinem Vater war: wie Vater den Bären kaufte, wie Mutter und Vater sich verliebten und in rascher Folge Frank, Franny und mich zeugten (»Peng, Peng, Peng!« sagt Franny gern), und wie sie dann, nach einer kurzen Verschnaufpause, noch Lilly und Egg (»Blup und Pfft«, sagt Franny) in die Welt setzten. Die Geschichte, die wir als Kinder zu hören bekamen und die wir uns in den Jahren danach immer wieder von neuem erzählten, scheint sich auf die Jahre zu konzentrieren, von denen wir selber nichts wissen konnten und die wir heute nur so sehen können, wie unsere Eltern sie in ihren vielen Versionen schilderten. Ich glaube, ich sehe meine Eltern klarer in diesen früheren Jahren als in den Jahren, an die ich mich tatsächlich erinnern kann, denn natürlich sind die Zeiten, die ich selbst erlebte, dadurch gefärbt, daß es Auf-und-Ab-Zeiten waren, über die ich Auf-und-Ab-Meinungen habe. Wenn ich aber an den berühmten Sommer des Bären und an den Zauber der ersten Liebe meiner Mutter und meines Vaters denke, dann kann ich mir da einen eindeutigeren Standpunkt erlauben.

Wenn sich Vater beim Erzählen der Geschichte verhaspelte – sei es, daß er einer früheren Version widersprach, sei es, daß er unsere Lieblingsstellen ausließ –, zeterten wir wie wütende Vögel.

»Entweder lügst du jetzt, oder du hast beim letzten Mal gelogen«, warf Franny (immer die strengste von uns) ihm vor, doch Vater schüttelte nur unschuldig den Kopf.

»Versteht ihr denn nicht?« fragte er uns dann. »In eurer Vorstellung ist die Geschichte lebendiger als in meiner Erinnerung.«

[11] »Lauf, hol Mutter«, wies Franny mich dann an und schubste mich von der Couch. Oder Frank hob Lilly von seinem Schoß und flüsterte ihr ins Ohr: »Lauf, hol Mutter.« Und dann mußte unsere Mutter als Zeugin auftreten, weil wir Vater der Fälschung verdächtigten.

»Oder aber, du läßt all die saftigen Stellen absichtlich weg«, beschuldigte ihn Franny, »nur weil du meinst, Lilly und Egg seien noch zu jung für die ganzen Rumvögeleien.«

»Es gab keine Rumvögeleien«, schaltete Mutter sich ein. »Es gab nicht die sexuellen Freiheiten und das Durcheinander von heute. Wenn ein Mädchen die Nacht oder das Wochenende mit einem Mann verbrachte, hielten sogar Gleichaltrige sie für ein Flittchen oder was Schlimmeres; danach war sie für uns so gut wie gestorben. ›Die Sorte hält sich an ihresgleichen‹, sagten wir immer, oder: ›Schlecht und schlecht gesellt sich gern.‹« Und Franny, ob acht oder zehn oder fünfzehn oder fünfundzwanzig, verdrehte dann immer die Augen und stieß mir den Ellbogen in die Rippen oder kitzelte mich, und wenn ich zurückkitzelte, brüllte sie: »Perverser Kerl! Befingert die eigene Schwester!« Und ob Frank nun neun oder elf oder einundzwanzig oder einundvierzig war, sexuelle Themen und Zurschaustellungen wie die von Franny waren ihm schon immer verhaßt, und so sagte er rasch zu Vater: »Laß nur. Wie war denn das mit dem Motorrad?«

»Nein, erzähl weiter vom Sex«, sagte dann Lilly völlig humorlos zu Mutter, und Franny fuhr mir mit der Zunge ins Ohr oder machte mit den Lippen ein furzendes Geräusch an meinem Hals.

»Jedenfalls«, sagte Mutter, »redeten wir in gemischter Gesellschaft nicht offen über Sex. Es wurde geschmust und geknutscht, mehr oder weniger heftig; das geschah gewöhnlich in einem Auto. Es gab immer stille Gegenden, wo man parken konnte. Natürlich mehr Feldwege als heute, nicht so viele Menschen und nicht so viele Autos – und die Autos, das waren damals keine Kleinwagen.«

»So daß ihr euch schön langlegen konntet«, sagte Franny.

[12] Mutter warf Franny einen mißbilligenden Blick zu und fuhr mit ihrer Darstellung der Vergangenheit fort. Sie war eine wahrheitsliebende, aber langweilige Geschichtenerzählerin – mit meinem Vater gar nicht zu vergleichen –, und immer wenn wir sie beizogen, um den Wahrheitsgehalt einer Geschichte festzustellen, bereuten wir das hinterher.

»Lieber soll der alte Herr immer weitererzählen«, meinte Franny, »Mutter nimmt alles so ernst.« Frank blickte finster drein, und Franny forderte ihn auf: »Spiel doch ein bißchen mit deinem Ding, Frank, dann fühlst du dich wohler.«

Aber Frank blickte nur noch finsterer drein. Dann sagte er: »Du würdest eine bessere Antwort bekommen, wenn du Vater erst mal nach dem Motorrad oder nach etwas Konkretem fragen würdest; stattdessen kommst du mit diesen allgemeinen Dingen, Kleidern, Bräuchen, sexuellen Gewohnheiten.«

»Frank, erklär doch mal, was Sex ist«, sagte Franny, doch Vater rettete uns alle, indem er mit seiner verträumten Stimme sagte: »Glaubt mir, sowas wär heute nicht mehr möglich. Ihr denkt vielleicht, ihr habt mehr Freiheit, aber ihr habt auch mehr Gesetze. Der Bär wäre heute nicht mehr möglich. Sie würden ihn gar nicht zulassen.« Und in dem Augenblick verstummten wir, unsere ganzen Streitereien waren schlagartig vergessen. Wenn Vater redete, konnten sogar Frank und Franny in Reichweite voneinander sitzen, ohne sich zu zanken. Ich konnte dann so dicht neben Franny sitzen, daß ich sogar ihr Haar in meinem Gesicht und ihr Bein an meinem Bein spürte, doch wenn Vater redete, dachte ich überhaupt nicht an Franny. Lilly saß dann totenstill (wie das nur Lilly konnte) auf Franks Schoß. Egg war gewöhnlich zu jung, um zuzuhören oder gar etwas zu begreifen, aber er war ein ruhiges Kind. Selbst wenn Franny ihn auf den Schoß nahm, war er still; bei mir auf dem Schoß schlief er immer ein.

»Er war ein Schwarzbär«, sagte Vater; »er wog dreieinhalb Zentner und war ein bißchen widerspenstig.«

»Ursus americanus«, murmelte Frank. »Und er war unberechenbar.«

[13] »Ja«, sagte Vater, »aber doch ganz gutmütig, die meiste Zeit jedenfalls.«

»Er war zu alt, um noch ein Bär zu sein«, sagte Franny andächtig.

Das war der Satz, mit dem Vater gewöhnlich anfing – mit dem er auch damals anfing, als ich, soweit ich mich erinnern kann, die Geschichte erstmals zu hören bekam. »Er war zu alt, um noch ein Bär zu sein.« Ich saß bei dieser Fassung auf dem Schoß meiner Mutter, und ich kann mich erinnern, daß ich das Gefühl hatte, auf immer an die Zeit und den Ort gefesselt zu sein: Mutters Schoß, Franny auf Vaters Schoß neben mir, Frank aufrecht und abseits – im Schneidersitz auf dem abgewetzten Perserteppich, daneben unser erster Familienhund, Kummer (der eines Tages eingeschläfert werden sollte wegen seiner schrecklichen Furzerei). »Er war zu alt, um noch ein Bär zu sein«, fing Vater an. Ich sah Kummer an, unseren vertrottelten und treuen Labrador, und er wuchs vor meinen Augen bis zur Größe eines Bären und wurde dann alt und sackte neben Frank in stinkender Verfilztheit zusammen, bis er wieder bloß ein Hund war (auch wenn Kummer nie »bloß ein Hund« war).

Ich kann mich bei diesem ersten Mal nicht an Lilly oder Egg erinnern – sie müssen noch so klein gewesen sein, daß sie nicht wahrnehmbar waren, jedenfalls nicht bewußt. »Er war zu alt, um noch ein Bär zu sein«, sagte Vater. »Er ging auf seinen letzten Füßen.«

»Doch es waren die einzigen Füße, die er hatte!« sangen wir dann im Chor – Frank, Franny und ich –, das war unser einstudierter Anteil am Ritual. Und später, als sie die Geschichte draufhatten, stimmten auch Lilly und schließlich sogar Egg mit ein.

»Der Bär hatte keine Freude mehr an seiner Rolle als Entertainer«, sagte Vater. »Er spielte sie lustlos, ohne innere Beteiligung. Und von allen Menschen und Tieren und Gegenständen liebte er nur noch dieses Motorrad. Deshalb mußte ich mit dem Bären auch das Motorrad kaufen. Und deshalb fiel es dem [14] Bären auch nicht sonderlich schwer, seinen Lehrmeister zu verlassen und mir zu folgen; das Motorrad bedeutete diesem Bären mehr als irgendein Lehrmeister.«

Und später stieß Frank Lilly an, die gelernt hatte, an dieser Stelle zu fragen: »Wie hieß der Bär?«

Und Frank und Franny und Vater und ich riefen wie mit einer Stimme: »State o’ Maine!« Der doofe Bär hieß tatsächlich so, und zusammen mit einem Motorrad – einer 1937er Indian mit handgefertigtem Beiwagen – kaufte ihn mein Vater im Sommer 1939 für 200 Dollar und die besten Kleider in seiner Feldkiste.

Mein Vater und meine Mutter waren in diesem Sommer neunzehn Jahre alt; sie wurden beide 1920 in Dairy, New Hampshire, geboren und wuchsen beide dort auf, doch sie waren sich in diesen Jahren mehr oder weniger aus dem Weg gegangen. Es ist einer jener logischen, vielen guten Geschichten zugrunde liegenden Zufälle, daß beide – zu ihrer Überraschung – den Sommer über im Arbuthnot-by-the-Sea arbeiteten, einem Strandhotel fernab von zuhause, jedenfalls für sie, denn Maine lag (damals und in ihrer Vorstellung) fernab von New Hampshire.

Meine Mutter war Zimmermädchen, trug jedoch ihre eigene Kleidung, wenn sie servierte oder bei den Cocktailparties aushalf, die im Freien unter Zeltdächern stattfanden und von den Golfern, den Tennis- und Krocketspielern und, nach einer Regatta, von den Segelsportlern besucht wurden. Mein Vater half in der Küche, schleppte Gepäck, hegte und pflegte die Grüns auf dem Golfplatz und sorgte dafür, daß die weißen Linien auf den Tennisplätzen immer gut sichtbar und gerade waren und daß die Leute, die wackelig auf den Beinen waren und erst gar nicht an Bord eines Schiffes hätten gehen sollen, beim Ein- und Aussteigen am Anlegeplatz möglichst davor bewahrt wurden, sich wehzutun oder ins Wasser zu fallen.

Es waren Ferienjobs, die sowohl von den Eltern meiner Mutter als auch denen meines Vaters gebilligt wurden, doch [15] für Mutter und Vater war es irgendwie demütigend, einander dort zu entdecken. Es war der erste Sommer, den sie nicht in Dairy, New Hampshire, verbrachten, und sie hatten sich das noble Ferienhotel zweifellos als einen Ort vorgestellt, an dem auch sie – zwei völlig Fremde – als einigermaßen glanzvoll gelten könnten. Mein Vater hatte gerade die Dairy School, eine Privatschule für Jungen, hinter sich gebracht; für den Herbst war er zum Studium an der Harvard University zugelassen worden. Er wußte zwar, daß er frühestens im Herbst 1941 hingehen konnte, da er sich vorgenommen hatte, erst das Geld für die Studiengebühren zu verdienen; aber im Sommer 39 im Arbuthnot-by-the-Sea hätte mein Vater nur zu gerne bei den Gästen und den anderen Bediensteten den Eindruck erweckt, er sei morgen schon Harvard-Student. Da nun meine Mutter da war, die seine Verhältnisse natürlich genau kannte, war er gezwungen, die Wahrheit zu sagen. Er konnte das Studium an der Harvard University erst aufnehmen, wenn er das Geld für die Kosten zusammen hatte; aber natürlich war es schon eine Leistung, überhaupt dort studieren zu können, und die meisten Leute in Dairy, New Hampshire, hatten mit Überraschung auf die Neuigkeit reagiert, daß die Harvard University ihn tatsächlich angenommen hatte.

Als Sohn des Football-Coaches an der Dairy School gehörte mein Vater, Winslow Berry, nicht ganz in die Kategorie der Lehrerkinder. Er war der einzige Sohn eines Kraftprotzes, und sein Vater, den jeder nur Coach Bob nannte, war kein Harvard-Mann – ja, er galt als unfähig, Nachwuchs für Harvard zu produzieren.

Robert Berry hatte Iowa verlassen und war in den Osten gezogen, nachdem seine Frau im Kindbett gestorben war. Bob Berry war ein wenig alt für einen alleinstehenden Mann, der gerade erstmals Vater geworden war – er war zweiunddreißig. Er kam dahin auf der Suche nach einer geeigneten Schule für seinen kleinen Jungen und bot dafür als Gegenwert sich selbst an. Er verkaufte seine sportpädagogischen Fähigkeiten an die beste Privatschule, die versprach, seinen Sohn aufzunehmen, [16] wenn sein Sohn in das entsprechende Alter kam. Die Dairy School war nicht gerade eine Bastion der höheren Schulbildung.

Sie mochte sich einst einen Status wie Exeter oder Andover gewünscht haben, aber sie hatte sich dann kurz nach der Jahrhundertwende für eine Zukunft der Kompromisse entschieden. Nicht weit von Boston gelegen, nahm sie ein paar Hundert Jungen auf, die von Exeter und Andover abgewiesen worden waren, und dazu weitere hundert, die man nirgends hätte aufnehmen dürfen, und sie gab ihnen einen vernünftigen Lehrplan, der nicht aus dem Rahmen fiel – und der strenger war als die meisten Lehrkräfte, die man einstellte; auch von diesen waren die meisten anderswo abgewiesen worden. Doch wenn die Dairy School unter den Privatschulen Neuenglands auch nur zweitklassig war, so war sie doch weit besser als die öffentlichen Schulen in der Gegend und insbesondere besser als die einzige High School in Dairy.

Die Dairy School war genau die richtige Schule für einen Handel wie den mit Coach Bob Berry: ein mickriges Gehalt und das Versprechen, daß sein Sohn Win die Schule (kostenfrei) besuchen konnte, wenn er erst alt genug war. Weder Coach Bob noch die Dairy School ahnten, daß mein Vater, Win Berry, einmal ein so guter Schüler werden würde. Er war in der ersten Gruppe der Bewerber, die von Harvard zugelassen wurden, aber er wurde nicht so hoch eingestuft, daß es für ein Stipendium gereicht hätte. Wäre er von einer besseren Schule als der Dairy School zu ihnen gekommen, hätte er wahrscheinlich irgendein Latein- oder Griechisch-Stipendium bekommen; er hielt sich für sprachbegabt und wollte ursprünglich Russisch studieren.

Meine Mutter, die (als Mädchen) nie die Dairy School besuchen konnte, ging auf die höhere Schule für Mädchen, eine weitere Privatschule am Ort und ebenfalls zweitklassig, aber dennoch besser als die öffentliche High School und außerdem die einzige Möglichkeit für die Eltern im Ort, die ihre Töchter ohne die Gegenwart von Jungen erzogen haben wollten. [17] Anders als die Dairy School, die Wohnheime hatte – und zu 95 Prozent Internatsschüler –, war das Thompson Female Seminary eine reine Tagesschule. Die Eltern meiner Mutter, die aus irgendeinem Grund sogar noch älter waren als Coach Bob, wünschten, daß ihre Tochter nur mit den Jungs von der Dairy School Umgang pflegte, und nicht mit den Jungs aus dem Ort – schließlich war der Vater meiner Mutter ein pensionierter Lehrer der Dairy School (alle nannten ihn nur Latein-Emeritus) und die Mutter meiner Mutter eine Arzttochter aus Brookline in Massachusetts, verheiratet mit einem Harvard-Mann; sie hoffte, ihre Tochter würde das gleiche Schicksal anstreben. Auch wenn die Mutter meiner Mutter sich nie darüber beklagte, daß ihr Harvard-Mann sie postwendend in die Provinz verfrachtet (und aus der Bostoner Gesellschaft gerissen) hatte, so hoffte sie doch, meine Mutter würde einen richtigen Dairy-School-Jungen kennenlernen und von ihm postwendend nach Boston zurückverfrachtet werden.

Meine Mutter, Mary Bates, wußte, daß mein Vater, Win Berry, nicht der richtige Dairy-Schüler war, wie er ihrer Mutter vorschwebte. Harvard hin, Harvard her – er war Coach Bobs Sohn, und wer das Studium erst mit Verzögerung aufnehmen konnte, war nicht zu vergleichen mit einem, der schon studierte oder es sich leisten konnte, umgehend damit zu beginnen.

Mutters eigene Pläne in diesem Sommer 1939 machten ihr selber kaum Freude. Ihr Vater, der alte Latein-Emeritus, hatte einen Schlaganfall hinter sich; sabbernd und wirr im Kopf und lateinische Brocken murmelnd geisterte er durch das Haus in Dairy, nutzlos umsorgt von seiner Frau, wenn nicht Mary da war und sich um beide kümmerte. Mit ihren neunzehn Jahren hatte Mary Bates Eltern, die älter waren als anderer Leute Großeltern, und aus Pflichtgefühl – wenn auch ohne Begeisterung – verzichtete sie auf ein mögliches Universitätsstudium, damit sie zuhause bleiben und sich um ihre Eltern kümmern konnte. Sie nahm sich vor, das Maschinenschreiben zu erlernen und sich im Ort Arbeit zu suchen. Dieser Job im Arbuthnot [18] war für sie in Wirklichkeit so etwas wie ein exotischer Sommerurlaub vor der Plackerei, die im Herbst auf sie zukommen würde. Mit jedem Jahr, so blickte sie in die Zukunft, würden die Jungs von der Dairy School jünger werden – bis schließlich keiner mehr daran interessiert sein würde, sie nach Boston zurückzuverfrachten.

Mary Bates war mit Winslow Berry groß geworden, doch sie hatten sich höchstens mal zugenickt oder einen kurzen Blick des gegenseitigen Erkennens ausgetauscht. »Irgendwie haben wir immer über den anderen hinausgeschaut, ich weiß nicht, warum«, erzählte Vater uns Kindern – vielleicht bis sie sich erstmals außerhalb der vertrauten Umgebung sahen, in der sie beide groß geworden waren: der Stadt Dairy und des Campus der Dairy School, die beide nichts Ganzes und nichts Halbes waren.

Als das Thompson Female Seminary meine Mutter im Juni 1939 nach bestandenem Examen entließ, stellte sie gekränkt fest, daß die Dairy School ihre Abschlußfeier bereits hinter sich hatte und geschlossen war; die interessanteren, auswärtigen Schüler waren nach Hause gefahren, und ihre zwei, drei »Beaus« (wie sie sie nannte) – von denen sie vielleicht eine Einladung zu ihrem eigenen Abschlußball hätte erhoffen können – waren fort. Sie kannte keinen der Jungs von der einheimischen High School, und als ihre Mutter Win Berry vorschlug, rannte meine Mutter aus dem Eßzimmer. »Warum denn nicht gleich Coach Bob!« schrie sie ihre Mutter an. Latein-Emeritus, ihr Vater, der ein Nickerchen gemacht hatte, hob den Kopf von der Tischplatte.

»Coach Bob?« sagte er. »Ist der Schwachkopf wieder hier, um sich den Schlitten auszuleihen?«

Coach Bob, den sie auch Iowa-Bob nannten, war kein Schwachkopf, aber für Latein-Emeritus, dessen Zeitgefühl seit dem Schlaganfall offenbar durcheinander war, gehörte der gedungene Kraftprotz aus dem mittleren Westen nicht in eine Klasse mit dem regulären Lehrkörper. Und vor Jahren, als Mary Bates und Win Berry noch Kinder gewesen waren, [19] war Coach Bob einmal gekommen, um sich einen alten Schlitten auszuleihen, von dem jeder wußte, daß er schon drei Jahre lang ungenutzt bei den Bates im Garten gestanden hatte.

»Hat der Trottel denn ein Pferd dafür?« hatte Latein-Emeritus seine Frau gefragt.

»Nein, er will ihn selber ziehen!« sagte die Mutter meiner Mutter. Und die Familie Bates stand am Fenster und sah zu, wie Coach Bob den kleinen Win auf den Kutschersitz hievte, das Ortscheit mit den Händen hinter seinem Rücken umklammerte und den Schlitten in Bewegung setzte; der gewaltige Schlitten glitt über den Schnee und hinunter auf die glatte Straße, die zu der Zeit noch von Ulmen eingefaßt war – »So schnell, als hätte ein Pferd ihn gezogen!« sagte meine Mutter immer.

Iowa-Bob war der kleinste Innenverteidiger gewesen, der jemals in der Liga der ›Großen Zehn‹ einen Stammplatz in einer Footballmannschaft gehabt hatte. Sein Einsatz war, wie er einmal zugab, so groß, daß er einen gegnerischen Angreifer biß, nachdem er ihn zu Fall gebracht hatte. An der Dairy School trainierte er zusätzlich zu seinen Pflichten als Football-Coach auch noch die Kugelstoßer und all diejenigen, die sich fürs Gewichtheben interessierten. Doch für die Familie Bates war Iowa-Bob zu unkompliziert, als daß man ihn hätte ernst nehmen können: ein komischer, untersetzter Kraftmensch, dessen Haare so kurz geschnitten waren, daß er glatzköpfig wirkte; und ständig sah man ihn durch den Ort traben – »gekrönt mit einem Schweißband von abscheulicher Farbe«, wie Latein-Emeritus zu sagen pflegte.

Da Coach Bob noch lange lebte, war er von den Großeltern der einzige, an den wir Kinder uns erinnern konnten.

»Was ist das für ein Geräusch?« fragte Frank einmal beunruhigt mitten in der Nacht, nachdem Bob zu uns gezogen war.

Was Frank hörte und was wir danach noch oft hören sollten, waren die knarrenden Liegestütze und die ächzenden Sit-ups des alten Mannes auf seinem Fußboden (unserer Decke) über uns.

[20] »Das ist Iowa-Bob«, flüsterte Lilly einmal. »Er möchte ewig in Form bleiben.«

Jedenfalls war es nicht Win Berry, der Mary Bates zu ihrem Abschlußball führte. Der Pfarrer der Familie, der erheblich älter war als meine Mutter, aber ledig, war so nett, sie einzuladen. »Es wurde ein langer Abend«, erzählte uns Mutter. »Ich war niedergeschlagen. Ich war in meinem eigenen Heimatort eine Außenseiterin. Doch nur wenig später war es eben dieser Pfarrer, der euren Vater und mich traute!«

Das hätten sie sich nicht träumen lassen, als sie zusammen mit den anderen Aushilfskräften, die für die Sommermonate eingestellt wurden, auf dem unwirklichen Grün des verwöhnten Rasens am Arbuthnot-by-the-Sea einander »vorgestellt« wurden. Selbst die Vorstellung des Personals war dort ein formeller Akt. Ein Mädchen wurde aufgerufen aus einer Reihe anderer Mädchen und Frauen; und aus einer Reihe von Jungen und Männern kam ihr ein ebenfalls namentlich aufgerufener Junge entgegen wie bei einer Aufforderung zum Tanz.

»Das ist Mary Bates, die soeben ihren Abschluß am Thompson Female Seminary gemacht hat! Sie wird im Hotel und beim Betreuen der Gäste aushelfen. Sie segelt gerne, nicht wahr, Mary?«

Kellner und Kellnerinnen, die Rasenpfleger und Caddies, die Bootshilfen und das Küchenpersonal, Mädchen für alles, Empfangsdamen, Zimmermädchen, die Leute aus der Wäscherei, ein Klempner und die Mitglieder der Band. Bälle waren sehr beliebt; die Hotels in den weiter südlich gelegenen Badeorten – wie das Weirs in Laconia und Hampton Beach – lockten im Sommer einige der berühmten Bands an. Doch das Arbuthnot-by-the-Sea hatte seine eigene Band, die auf eine kalte, für Maine typische Art den Sound der Big-Bands nachahmte.

»Und das ist Winslow Berry, der es mag, wenn man ihn Win nennt! Nicht wahr, Win? Er geht im Herbst auf die Harvard University!«

[21] Aber mein Vater blickte geradeaus auf meine Mutter, die lächelte und das Gesicht abwandte – seinetwegen ebenso verlegen wie ihretwegen. Sie hatte noch nie bemerkt, wie gut er wirklich aussah; er war so robust gebaut wie Coach Bob, doch durch die Dairy School hatte er sich die Manieren, die Kleidung und die Art Frisur angeeignet, wie sie in Boston (und nicht in Iowa) Mode waren. Er sah aus, als gehe er schon jetzt auf die Harvard University, was immer das damals für meine Mutter bedeutet haben mag. »Ich weiß nicht, was es bedeutete«, erzählte sie uns Kindern. »Irgendwie kultiviert, nehme ich an. Er sah wie ein Junge aus, der trinken kann, ohne daß ihm schlecht davon wird. Er hatte die dunkelsten, strahlendsten Augen, und wenn man ihn ansah, hatte man immer das Gefühl, daß auch er einen gerade angesehen hatte – aber man konnte ihn nie dabei ertappen.«

Diese Fähigkeit blieb meinem Vater sein ganzes Leben erhalten; wir hatten in seiner Gegenwart immer das Gefühl, daß er uns sorgfältig und liebevoll beobachtet hatte – selbst wenn er, sobald wir hinblickten, offenbar in eine andere Richtung sah, träumte oder Pläne schmiedete, angestrengt nachdachte oder in Gedanken ganz weit weg war. Selbst als er wirklich blind war gegenüber unseren Plänen und Taten, schien er uns noch zu »beobachten«. Es war eine merkwürdige Verbindung von Zurückgezogenheit und Wärme – und meine Mutter spürte sie zum ersten Mal auf dieser leuchtend grünen Rasenzunge, eingerahmt vom grauen Meer von Maine.

VORSTELLUNG DES PERSONALS: 16.00 UHR

So erfuhr sie also, daß er da war.

Als die Vorstellungen vorbei waren und das Personal angewiesen wurde, sich für die erste Cocktailstunde, das erste Dinner und die erste Abendunterhaltung bereitzumachen, fiel der Blick meines Vaters auf meine Mutter, und er kam zu ihr herüber.

»Ich kann mir Harvard erst in zwei Jahren leisten«, war das erste, was er zu ihr sagte.

[22] »Das dachte ich mir«, sagte meine Mutter. »Aber ich finde es wunderbar, daß sie dich genommen haben«, fügte sie rasch hinzu.

»Warum sollten sie mich nicht nehmen?« fragte er.

Mary Bates zuckte mit den Achseln, eine Geste, die sie sich angewöhnt hatte, weil sie ihren Vater nie verstand (da er seit dem Schlaganfall höchst undeutlich redete). Sie trug weiße Handschuhe und einen weißen Hut mit einem Schleier; sie war schon für die erste Gartenparty angezogen, bei der sie servieren sollte, und mein Vater staunte, wie hübsch ihr Haar sich an ihren Kopf schmiegte – es war hinten länger, vom Gesicht aus nach hinten gekämmt und irgendwie an Hut und Schleier auf eine Art und Weise festgemacht, die so einfach und doch geheimnisvoll war, daß mein Vater anfing, sich Gedanken über meine Mutter zu machen.

»Was tust du im Herbst?« fragte er sie.

Wieder zuckte sie mit den Achseln, aber vielleicht sah mein Vater in den Augen hinter dem weißen Schleier, daß meine Mutter hoffte, vor der Zukunft bewahrt zu werden, die sie auf sich zukommen sah.

»Wir waren nett zueinander bei dieser ersten Begegnung, das weiß ich noch genau«, erzählte uns Mutter. »Wir waren beide allein, in einer neuen Umgebung, und wir wußten Dinge voneinander, die sonst niemand wußte.« Damals war das wohl bereits ziemlich intim.

»Zu der Zeit war man überhaupt nicht intim«, sagte Franny einmal. »Nicht mal Leute, die sich liebten, furzten voreinander.«

Und Franny wirkte überzeugend – ich glaubte ihr oft. Selbst mit der Sprache war sie ihrer Zeit voraus – als wüßte sie immer, wo es langging; und ich konnte nie ganz Schritt mit ihr halten.

An diesem ersten Abend im Arbuthnot spielte die hauseigene Band ihre Imitation des Big-Band-Sounds, aber es waren sehr wenige Gäste da, und noch weniger Tänzer; die Saison lief gerade erst an, und in Maine läuft sie langsam an – [23] es ist so kalt dort, selbst im Sommer. Der Ballsaal hatte einen blank gewienerten Holzboden, der über die offenen, zum Meer hin gelegenen Veranden hinauszugehen schien. Wenn es regnete, mußte man Markisen über die Veranden herunterlassen, da der Ballsaal ringsum so offen war, daß der Regen hereingeweht wurde und die gebohnerte Tanzfläche naßmachte.

An diesem ersten Abend, als Bonbon für das Personal – und weil so wenige Gäste da waren, von denen sowieso die meisten zu Bett gegangen waren, um sich zu wärmen – spielte die Band länger als sonst. Mein Vater und meine Mutter und die anderen Angestellten durften eine Stunde oder länger tanzen. Meine Mutter erinnerte sich immer daran, daß der Kronleuchter im Ballsaal kaputt war – er verbreitete nur einen matten Schimmer; unregelmäßige Farbtupfen sprenkelten die Tanzfläche, die in dem kümmerlichen Licht so weich und glatt wirkte, daß der Boden die Beschaffenheit einer Kerze zu haben schien.

»Ich bin froh, daß jemand hier ist, den ich kenne«, flüsterte meine Mutter meinem Vater zu, der sie ziemlich förmlich zum Tanz aufgefordert hatte und sehr steif mit ihr tanzte.

»Aber du kennst mich doch gar nicht«, sagte Vater.

»Das«, erzählte uns Vater, »habe ich nur gesagt, damit eure Mutter wieder mit den Achseln zuckte.« Und als sie es tatsächlich tat und sich dachte, was für ein unendlich schwieriger – und vielleicht überlegener – Gesprächspartner er doch sei, da war mein Vater überzeugt, daß er sich nicht nur zufällig zu ihr hingezogen fühlte.

»Aber ich möchte, daß du mich kennst«, sagte er zu ihr, »und ich möchte auch dich kennenlernen.«

(»Puh«, sagte Franny immer an dieser Stelle der Erzählung.)

Ein Motorengeräusch übertönte die Band, und viele hörten zu tanzen auf, um nachzusehen, was das für ein Lärm war. Meine Mutter war für die Unterbrechung dankbar: sie wußte nicht, was sie Vater antworten sollte. Sie gingen, ohne sich an den Händen zu halten, auf die Veranda hinaus, die den Blick [24] auf den Bootsanlegeplatz freigab; im Licht der Lampen, die dort an Freileitungen schwankten, sahen sie einen Hummerfänger, der gerade in See stach, nachdem er offenbar ein dunkles Motorrad an Land abgesetzt hatte, das nun aufheulend auf Touren gebracht wurde – vielleicht sollte so die feuchte salzige Luft aus seinen Röhren und Leitungen geblasen werden. Der Fahrer schien darauf bedacht, erst das richtige Motorengeräusch zu bekommen, bevor er den Gang einlegte. Das Motorrad hatte einen Beiwagen, und darin saß eine dunkle Gestalt, plump und reglos, wie ein bis zur Unbeholfenheit vermummter Mann.

»Es ist Freud«, sagte jemand aus dem Personal. Und dann riefen auch andere, ältere Angestellte aus: »Ja, Freud! Freud und State o’ Maine!«

Meine Mutter und mein Vater dachten beide, »State o’ Maine« sei der Markenname des Motorrads. Doch dann hörte die Band zu spielen auf, da niemand mehr tanzte, und auch von den Musikern kamen einige auf die Veranda heraus.

»Freud!« riefen die Leute.

Mein Vater erzählte uns immer, ihn habe die Vorstellung amüsiert, der Freud werde im nächsten Augenblick mit dem Motorrad an die Veranda herangefahren kommen und sich dann im Licht der hoch oben hängenden Lampen, die den makellosen Kiesweg säumten, dem Personal vorstellen. Hier kommt also Sigmund Freud, dachte Vater; er war gerade dabei, sich zu verlieben – da war alles möglich.

Aber es war natürlich nicht der Freud; es war das Jahr, in dem der Freud starb. Dieser Freud war ein Wiener Jude, der ein Bein nachzog und dessen Namen keiner aussprechen konnte; seit 1933, als er seine österreichische Heimat verlassen hatte, arbeitete er den Sommer über im Arbuthnot, und dort hatte er den Namen Freud verdient wegen seiner Fähigkeit, bekümmerte Angestellte und Gäste zu trösten. Er war ein Entertainer, und da er aus Wien stammte und Jude war, fanden es einige der eigenartigen, fremden Geister im Arbuthnot-by-the-Sea ganz natürlich, ihn »Freud« zu nennen. Der Name [25] schien erst recht angemessen, als Freud im Sommer 1937 mit einem neuen Motorrad angereist kam, einer Indian mit einem Beiwagen, den er eigenhändig gebaut hatte.

»Wer darf hinten sitzen, Freud, und wer kommt in den Beiwagen?« neckten ihn die Mädchen vom Hotel – denn mit den schrecklichen Pockennarben im Gesicht (den »alten Furunkellöchern«, wie er sie nannte) war er so häßlich, daß keine Frau ihn je lieben konnte.

»Mit mir fährt niemand außer State o’ Maine«, sagte Freud, und er löste das Segeltuch-Verdeck über dem Beiwagen. Im Beiwagen saß ein Bär, schwarz wie Ruß, dicker vollgepackt mit Muskeln als selbst Iowa-Bob, wachsamer als jeder streunende Hund. Freud hatte den Bären aus einem Holzfällercamp im Norden von Maine herausgeholt, und er hatte die Direktion des Arbuthnot überzeugt, daß er das Biest dressieren und mit ihm die Hotelgäste unterhalten konnte. Als Freud aus Österreich emigriert und mit dem Schiff von New York aus nach Boothbay Harbour gefahren war, hatte er Arbeitspapiere bei sich, die seine beruflichen Fähigkeiten in Großbuchstaben schilderten: ERFAHRUNG IN DRESSUR UND PFLEGE VON TIEREN. GUTE HANDWERKLICHE BEGABUNG. Da keine Tiere verfügbar waren, reparierte er Fahrzeuge für das Arbuthnot und mottete sie fachmännisch für die Monate ein, in denen keine Touristen kamen; er selbst verbrachte diese Zeit als Mechaniker in den Holzfällercamps und Papierfabriken.

In dieser ganzen Zeit hatte er, wie er später meinem Vater erzählte, nach einem Bären gesucht. Bären, sagte Freud, seien eine Goldgrube.

Als mein Vater den Mann unterhalb der Veranda vom Motorrad steigen sah, wunderte er sich über die Hochrufe der altgedienten Hotelangestellten; als Freud seinem Passagier aus dem Beiwagen half, war der erste Gedanke meiner Mutter, es sei eine uralte Frau – möglicherweise die Mutter des Motorradfahrers (eine beleibte, in eine dunkle Decke gehüllte Frau).

»State o’ Main!« brüllte jemand in der Band und ließ ein Trompetensignal hören.

[26] Meine Mutter und mein Vater sahen, wie der Bär anfing zu tanzen. Auf den Hinterbeinen tanzte er von Freud weg; er ließ sich auf alle viere fallen und lief ein, zwei Runden um das Motorrad herum. Freud stand auf dem Motorrad und klatschte in die Hände. Der Bär namens State o’ Maine fing ebenfalls an zu klatschen. Als meine Mutter spürte, daß mein Vater ihre Hand in die seine nahm – sie gehörten nicht zu denen, die klatschten –, wehrte sie sich nicht; sie erwiderte den Druck seiner Hand, und beide ließen den massigen Bären, der vor ihnen tanzte, nicht eine Sekunde aus den Augen, und meine Mutter dachte: Ich bin neunzehn, und mein Leben fängt gerade erst an.

»Hattest du wirklich das Gefühl?« fragte Franny immer.

»Alles ist relativ«, sagte Mutter dann. »Aber ich hatte wirklich das Gefühl, ja: daß mein Leben anfing.«

»Heiliger Strohsack«, sagte Frank.

»War ich es, den du mochtest, oder war es der Bär?« fragte Vater.

»Red keinen Unsinn«, sagte Mutter. »Es war alles zusammen. Es war der Anfang meines Lebens.«

Und dieser Satz hatte dieselbe, uns völlig in Bann schlagende Qualität wie Vaters Satz über den Bären (»Er war zu alt, um noch ein Bär zu sein«). Ich fühlte mich vollkommen in die Geschichte hineingezogen, wenn meine Mutter sagte, dies sei der Anfang ihres Lebens gewesen; es war, als könnte ich sehen, wie in Mutters Leben – wie beim Motorrad – nach langem Warmlaufen endlich der Gang einrastete und es sich schlingernd in Bewegung setzte.

Und was muß sich mein Vater vorgestellt haben, als er nach ihrer Hand griff, nur weil ein Hummerfänger einen Bären in sein Leben brachte?

»Ich wußte, es würde mein Bär sein«, sagte Vater zu uns. »Ich weiß nicht, warum.« Und dieses Wissen – daß er etwas sah, was einmal ihm gehören würde – war es vielleicht auch, das ihn die Hand nach meiner Mutter ausstrecken ließ.

Sie sehen, warum wir Kinder so viele Fragen stellten. Es ist [27] eine vage Geschichte – von der Sorte, wie Eltern sie am liebsten erzählen.

An diesem ersten Abend, an dem sie Freud und seinen Bären sahen, küßten sich mein Vater und meine Mutter nicht einmal. Als die Band Schluß machte und das Dienstpersonal sich in die Männer- und Frauenschlafräume zurückzog – es waren die etwas weniger eleganten Gebäude abseits vom Hotel –, da gingen mein Vater und meine Mutter hinunter zum Anlegeplatz und blickten aufs Wasser hinaus. Falls sie überhaupt miteinander redeten, so erzählten sie uns Kindern jedenfalls nie, was. Es muß dort ein paar tolle Segelboote gegeben haben, und in Maine waren selbst an privaten Landestegen immer ein, zwei Hummerfänger festgemacht. Wahrscheinlich lag dort auch ein Beiboot, und mein Vater schlug vor, es für eine kleine Ruderpartie auszuleihen; meine Mutter lehnte das wahrscheinlich ab. Fort Popham war damals eine Ruine, nicht das attraktive Ausflugsziel von heute; sollte es aber dort am Ufer irgendeine Beleuchtung gegeben haben, hätte man sie vom Arbuthnot-by-the-Sea gesehen. Außerdem gab es in der breiten Mündung des Kennebec bei Bay Point eine Glockenboje und ein Leuchtfeuer, und es könnte schon 1939 einen Leuchtturm auf Stage Island gegeben haben – mein Vater konnte sich nie genau erinnern.

Im allgemeinen muß jedoch das Ufer damals im Dunkel gelegen haben, so daß mein Vater und meine Mutter die weiße Schaluppe, die auf sie zugesegelt kam – aus Boston oder New York: jedenfalls aus dem Südwesten, der zivilisierten Welt – deutlich sehen und ungestört so lange betrachten konnten, bis sie beim Landesteg längsseits kam. Mein Vater fing das Tau auf; er erzählte uns immer, daß er der Panik nahe war, da er nicht wußte, ob er es irgendwo festbinden oder daran ziehen sollte, als der Mann in der weißen Smokingjacke, den schwarzen Hosen und den schwarzen Halbschuhen lässig von Bord ging, die Leiter zum Landesteg erklomm und meinem Vater das Tau abnahm. Mühelos dirigierte der Mann die Schaluppe [28] um das Ende des Stegs herum, bevor er das Tau zurückwarf. »Alles klar!« rief er dann zu dem Boot hinüber. Meine Mutter und mein Vater behaupteten, sie hätten niemanden an Bord gesehen, doch die Schaluppe glitt davon, hinaus aufs Meer – ihre gelben Lichter entschwanden wie versinkendes Glas –, und der Mann in der Smokingjacke wandte sich meinem Vater zu und sagte: »Vielen Dank für die Hilfe. Sind Sie neu hier?«

»Ja, wir sind beide neu«, sagte Vater.

Die makellose Kleidung des Mannes zeigte keine Spuren von der Bootsfahrt. Dafür, daß der Sommer erst begann, war der Mann bereits sehr braun, und er bot meiner Mutter und meinem Vater Zigaretten an aus einem eleganten, flachen schwarzen Etui. Sie rauchten nicht. »Ich hatte gehofft, rechtzeitig zum letzten Tanz zu kommen«, sagte der Mann, »aber die Band hat wohl schon Schluß gemacht?«

»Ja«, sagte meine Mutter. Mit ihren neunzehn Jahren hatten meine Mutter und mein Vater noch nie jemand wie diesen Mann gesehen. »Er hatte ein geradezu obszönes Selbstvertrauen«, erzählte uns meine Mutter.

»Er hatte Geld«, sagte Vater.

»Sind Freud und der Bär angekommen?« fragte der Mann.

»Ja«, sagte Vater. »Und das Motorrad.«

Der Mann in der weißen Smokingjacke rauchte hungrig, doch nicht ohne Eleganz, während er auf das dunkle Hotel blickte. Nur in ganz wenigen Zimmern brannte noch Licht, aber die zur Beleuchtung der Wege, Hecken und Anlegeplätze aufgehängten Lampen erhellten das braune Gesicht des Mannes und machten seine Augen schmal, und sie spiegelten sich in der schwarzen, bewegten See. »Freud ist nämlich Jude«, sagte der Mann. »Nur gut, daß er Europa rechtzeitig den Rücken gekehrt hat. In Europa wird es nicht zum Aushalten sein für Juden. Das weiß ich von meinem Makler.«

Diese ernste Neuigkeit muß tiefen Eindruck auf meinen Vater gemacht haben, der es kaum erwarten konnte, Harvard – und die Welt – zu erobern, und der noch nicht ahnte, daß sich ein Krieg für längere Zeit zwischen ihn und seine [29] Pläne schieben würde. Der Mann in der weißen Smokingjacke veranlaßte meinen Vater, zum zweiten Mal an diesem Abend nach der Hand meiner Mutter zu greifen, und auch diesmal erwiderte sie seinen Händedruck, während sie höflich darauf warteten, daß der Mann seine Zigarette zu Ende rauchte oder Gutenacht sagte oder weiterredete.

Doch er sagte lediglich: »Und die Welt wird nicht zum Aushalten sein für Bären!« Seine Zähne waren so weiß wie seine Smokingjacke, als er lachte, und bei dem Wind hörten mein Vater und meine Mutter das Zischen seiner Zigarette beim Auftreffen auf den Wellen nicht – ebensowenig wie die Schaluppe, die wieder längsseits kam. Plötzlich ging der Mann auf die Leiter zu, und erst als er flink die Sprossen hinabstieg, merkten Mary Bates und Win Berry, daß die weiße Schaluppe unter die Leiter glitt und daß der Mann genau im richtigen Augenblick unten war, um an Deck zu springen. Kein Tau wurde angerührt. Die Schaluppe, die keine Segel gesetzt hatte, sondern sonstwie angetrieben langsam tuckerte, drehte ab nach Südwesten (wieder nach Boston oder New York) – ohne Angst vor der Nacht –, und was ihnen der Mann in der weißen Smokingjacke zuletzt noch zurief, verlor sich im lauten Blubbern des Motors, im Klatschen des Schiffsrumpfes auf dem Wasser und im Wind, der die Möwen vorbeitrug (wie gefiederte Party-Hüte, die auf den Wellen tanzten, von Betrunkenen hineingeworfen). Für den Rest seines Lebens wünschte sich mein Vater, er hätte gehört, was der Mann damals zu sagen hatte.

Es war Freud, der meinem Vater sagte, er habe den Besitzer des Arbuthnot-by-the-Sea gesehen.

»Ja, das war er und kein anderer«, sagte Freud. »So kommt er immer, nur ein paarmal jeden Sommer. Einmal hat er mit einem der Mädchen getanzt, die hier arbeiten – den letzten Tanz; wir haben sie nie wieder gesehen. Eine Woche danach kam einer und holte ihre Sachen ab.«

»Wie heißt er eigentlich?« fragte Vater.

[30] »Vielleicht ist er Arbuthnot persönlich, wer weiß?« sagte Freud. »Irgendwer sagte, er sei Holländer, aber seinen Namen hab ich nie gehört. Über Europa weiß er allerdings Bescheid – das kann ich Ihnen sagen!«

Mein Vater brannte darauf, ihn nach den Juden zu fragen; er spürte, wie ihn meine Mutter sanft in die Rippen stieß. Sie saßen auf einem der Grüns auf dem Golfplatz lange nach Feierabend – wenn das Grün im Mondlicht blau wurde und das rote Tuch schlaff an dem im Loch steckenden Flaggenstock hing. Der Bär namens State o’ Maine war ohne Maulkorb und versuchte gerade, sich an dem dünnen Flaggenstock zu scheuern.

»Komm her, Dummkopf!« sagte Freud zu dem Bären, doch der Bär beachtete ihn nicht.

»Lebt Ihre Familie immer noch in Wien?« fragte meine Mutter Freud.

»Meine Schwester ist meine ganze Familie«, sagte er. »Und ich hab schon lange nichts mehr von ihr gehört, im März war es ein Jahr.«

»Und im März war es ein Jahr«, sagte mein Vater, »daß die Nazis Österreich geschnappt haben.«

»Als ob ich das nicht wüßte!« sagte Freud.

State o’ Maine, dem der Flaggenstock zu wenig Widerstand entgegensetzte, als daß er sich richtig daran hätte scheuern können, schlug in seiner Enttäuschung den Flaggenstock aus dem Loch, so daß er über das gepflegte Grün wirbelte.

»Jessas Gott«, sagte Freud. »Er gräbt noch Löcher in den Golfplatz, wenn wir nicht anderswo hingehen.« Mein Vater steckte die alberne, mit einer »18« versehene Flagge in das Loch zurück. Meine Mutter hatte den Abend frei bekommen und mußte nicht servieren, darum trug sie noch die Zimmermädchen-Uniform; sie rannte dem Bären voraus und rief seinen Namen.

Der Bär rannte nur selten. Es war eher ein Watscheln – und er entfernte sich nie sehr weit von dem Motorrad. Er rieb sich so oft am Motorrad, daß die rote Farbe am Schutzblech ebenso [31] glänzte wie die Chromteile, und der Beiwagen war vorne, wo er spitz zulief, eingedrückt, weil der Bär ständig dagegendrückte. Er hatte sich oft an den Auspuffrohren verbrannt, wenn er sich, kaum daß die Maschine zum Stillstand kam, daran reiben wollte; so kam es, daß ominöse Fetzen verkohlten Bärenfells an den Auspuffrohren klebten – als sei das Motorrad selbst (früher einmal) ein Pelztier gewesen. Entsprechend hatte State o’ Maine zerschlissene Stellen in seinem Fell, wo der Pelz fehlte oder zu bräunlichen Klumpen versengt war – Flecken, die die stumpfe Farbe getrockneten Seetangs hatten.

Wofür der Bär dressiert worden war, blieb allen ein Rätsel – selbst Freud schien es nicht genau zu wissen.

Ihre gemeinsame Nummer, die sie am späten Nachmittag vor den Gartenparties zeigten, war eine größere Anstrengung für das Motorrad und Freud als für den Bären. Runde um Runde fuhr Freud im Kreis herum, der Bär im Beiwagen, das Verdeck abgenommen – der Bär wie ein Pilot in einem offenen Cockpit ohne Instrumente. State o’ Maine trug in der Öffentlichkeit meistens seinen Maulkorb; es war ein Ding aus rotem Leder, das meinen Vater an die Masken erinnerte, mit denen Lacrossespieler manchmal ihr Gesicht schützen. Der Maulkorb ließ den Bären kleiner erscheinen, drückte sein ohnehin schon runzliges Gesicht noch mehr zusammen und verlängerte seine Schnauze, so daß er mehr denn je einem übergewichtigen Hund glich.

Runde um Runde fuhren sie, und unmittelbar bevor die gelangweilten Gäste ihre Gespräche wiederaufnehmen und diese Kuriosität sich selbst überlassen wollten, hielt Freud das Motorrad an, stieg bei laufendem Motor ab und trat an den Beiwagen, wo er den Bären mit einem deutschen Wortschwall piesackte. Das fanden die Zuhörer dann komisch, vor allem, weil es komisch war, wenn jemand deutsch redete, aber Freud ließ nicht locker, bis der Bär langsam aus dem Beiwagen kletterte und auf das Motorrad stieg, um den Platz des Fahrers einzunehmen; er legte seine schweren Pfoten auf die [32] Lenkstange, doch seine kurzen Hinterbeine reichten nicht bis zu den Fußrasten oder den Hebeln für die Hinterradbremse. Freud stieg in den Beiwagen und befahl dem Bären loszufahren.

Nichts passierte. Freud saß im Beiwagen und zeterte, weil sie nicht vom Fleck kamen; der Bär hielt sich wild entschlossen an der Lenkstange fest, wippte auf dem Sattel und strampelte mit den Beinen, als gelte es, Wasser zu treten.

»State o’ Maine!« rief dann mal einer aus der Menge. Und der Bär nickte, mit einer Art verlegener Würde, und blieb, wo er war.

Mit deutschen Flüchen, die die Leute so gerne hörten, stieg Freud aus dem Beiwagen und versuchte, dem Bären zu zeigen, wie man ein Motorrad in Gang setzt.

»Kupplung!« sagte Freud und hielt die große Bärenpfote über den Kupplungshebel. »Gas!« schrie er und brachte mit der anderen Pfote den Motor auf Touren. Freuds 1937er Indian hatte den Schalthebel neben dem Benzintank, so daß der Fahrer einen beängstigenden Augenblick lang die Hand vom Lenker nehmen mußte, um einen Gang einzulegen oder in einen anderen Gang zu schalten. »Schalten!« schrie Freud und knallte den ersten Gang rein.