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Martin Suter

Die dunkle Seite
des Mondes

Roman

 
 
 

 

 

 

 

 

 

 

 

Die Erstausgabe

erschien 2000 im Diogenes Verlag

Umschlagillustration: Ernst Ludwig Kirchner,

›Waldlandschaft mit Bach

(Bündner Landschaft)‹, 1925/26

Mit freundlicher Unterstützung

von Dr. Wolfgang Henze und

Ingeborg Henze-Ketterer, Wichtrach/Bern

 

 

Für Margrith

 

 

Alle Rechte vorbehalten

Copyright © 2015

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 23301 8 (36. Auflage)

ISBN E-Book 978 3 257 60044 5

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

[5] 1

»Kein Problem«, antwortete Urs Blank freundlich und stellte sich vor, wie er Dr. Fluri ohrfeigte, »dazu bin ich schließlich da.«

Das stimmte nicht. Blank war nicht dazu da, Fusionsverträge immer wieder neu aufzusetzen, nur weil der unbedeutendste der Vertragspartner noch ein allerletztes Mal seine Macht auskosten wollte. Dafür hatte er nicht seine Doktorarbeit geschrieben, sein bar exam in New York bestanden und jahrelang bei Geiger, von Berg & Minder die Knochenarbeit gemacht, bis sie seinen Namen endlich in den Briefkopf aufnahmen.

Seit bald drei Wochen zogen sich die Fusionsverhandlungen hin. Es ging um den Zusammenschluß zweier Textilketten. Es war klar, daß ›Fusion‹ nur eine schonende Bezeichnung für den Kauf des Unternehmens war, das Dr. Fluri in dreiundzwanzig Jahren bis zur Übernahmereife gemanagt hatte. In wenigen Wochen würde alles, was an die ELEGANTSA erinnerte, ausgemerzt sein. Die Filialen in erster Lage, Dr. Fluris beste Karte, würden in CHARADE umbenannt sein. Darüber machte er sich so wenig Illusionen wie alle anderen Beteiligten. Ihm ging es nur darum, das Gesicht zu wahren, das Urs Blank an diesem Nachmittag so gerne geohrfeigt hätte.

[6] Sie saßen aus Gründen der Geheimhaltung im Hinterzimmer der Waldruhe, eines Ausflugslokals im Stadtwald. Der Anwalt von Dr. Fluri hatte den konspirativen Treffpunkt vorgeschlagen. Er schien die Verhandlungen als großes Abenteuer zu genießen und war der einzige, der sich mit Wanderkleidung getarnt hatte. Alle anderen trugen dunkle Busineßanzüge. Aber nur der von Urs Blank stammte aus der Savile Row in London. Ein Schneider dort verfügte über seine Maße.

Die Unterzeichnung der Verträge war diesmal an der Pressemitteilung gescheitert. Dr. Fluri bestand darauf, daß ihr Wortlaut integrierender Bestandteil des Vertragstextes werde. Eine neue und ungewöhnliche Bedingung, auf die die Gegenseite erst nach langen Diskussionen eingegangen war.

Der Verhandlungsführer von CHARADE, Hans-Rudolf Nauer, hatte sich auch diesmal Bedenkzeit ausbedungen. Für Urs Blank jedesmal ein sicheres Zeichen dafür, daß er nicht das letzte Wort hatte. Es hielt sich ein Gerücht, daß die Kriegskasse von CHARADE mit dem Geld eines stillen Teilhabers gefüllt war. Blank vermutete, mit dem von Pius Ott, einem Spekulanten, der sich in letzter Zeit auf den Textilsektor zu konzentrieren schien.

Die Herren holten ihre Agenden hervor und einigten sich auf einen neuen Termin. Als sie vor der Waldruhe in die wartenden Taxis stiegen, beschloß Blank, zu Fuß bis zur Tramstation zu gehen.

Der Himmel über der kahlen Waldkuppel hatte sich aufgeklärt. Zwischen den silbernen Buchenstämmen glänzte das [7] Laub in der Nachmittagssonne. Urs Blank überlegte, wann er das letzte Mal durch einen Wald gegangen war. Er konnte sich nicht erinnern.

Er war vor zwei Monaten fünfundvierzig geworden und galt in Fachkreisen als einer der brillantesten Wirtschaftsanwälte des Landes. Seine amerikanische Zulassung hatte ihn zum Experten für Firmenübernahmen und Fusionen mit schweizerisch-amerikanischer Beteiligung werden lassen. Einige der bedeutendsten mergers der letzten Jahre trugen seine Handschrift. Er verdiente viel Geld, und weil er wenig Zeit hatte, es auszugeben, war ihm einiges davon geblieben. Er hatte eine zum Glück kinderlos gebliebene Ehe mit Anstand hinter sich gebracht und lebte mit Evelyne Vogt zusammen, einer unabhängigen Frau, die einen Laden für Designmöbel aus den zwanziger und dreißiger Jahren besaß.

Urs Blank hatte mehr erreicht, als er sich zu Beginn seines Jurastudiums hatte träumen lassen. Aber etwas stimmte wohl nicht in seinem Leben, wenn es einer konspirativen Fusionsverhandlung bedurfte, um ihn nach Jahren wieder einmal in den Genuß eines Waldspaziergangs zu bringen.

Bei einem Wegweiser blieb er stehen. »Tramstation Buchenfeld 15 Min.« stand auf dem einen Pfeil. »Tramstation Obertal 25 Min.« stand auf dem anderen. Der Pfad, auf den er wies, war unter der dichten Laubdecke nur zu erahnen. Urs Blank schlug ihn ein. Er genoß das Rascheln des Laubes, durch das er watete. Und den Gedanken, was es mit seinen Schuhen anrichtete. Sie stammten aus der Jermyn Street in London. Ein Schuhmacher dort besaß seinen Leisten.

[8] Aus achttausend Metern Höhe sahen die kahlen Buchenwälder aus wie vertrocknete Moosflechten auf einem Stein. Aber der einzige Passagier des Learjets hatte die Rollos runtergelassen. Er schlief ausgestreckt auf seinem Sitz, der mit ein paar Handgriffen in ein Bett verwandelt worden war.

Er hatte die letzten Nächte wenig geschlafen. Vor drei Tagen um sechs Uhr früh waren sie gestartet. Er hatte am Vorabend einen Anruf aus Estland bekommen, es sei Schnee gefallen. Kurz nach neun waren sie in Tallinn gelandet. Der Jagdführer hatte ihn am Flughafen abgeholt und direkt ins Revier gefahren. Noch am gleichen Abend zeigte er ihm die Luchsspur im frischen Schnee.

Die Nacht verbrachten sie in einer zugigen Jagdhütte, deren Petroleumofen mehr stank als heizte. Ganz in der Nähe trieb sich ein Rudel Wölfe herum, deren Heulen ihn immer wieder aus seinem leichten Schlaf riß.

In der Nacht war noch mehr Schnee gefallen und hatte die Spur des Luchses wieder verschluckt. Es wurde bereits dunkel, als sie auf eine neue stießen. Sie mußten zurück.

Dafür hatten sie am nächsten Tag Glück. Der Luchs war ihnen entgegengekommen. Schon auf halbem Weg trafen sie auf seine Spur.

Am Nachmittag überraschten sie ihn. Ein ausgewachsenes Männchen, bestimmt eins dreißig lang. Es hatte ein Reh gerissen und war dabei, es zu fressen. Es ließ dem Jäger viel Zeit zum Zielen.

Jetzt, knapp vierundzwanzig Stunden später, lag der Luchs gut verpackt im Laderaum des Learjets, auf dem Weg zum Kühlraum des Präparators.

[9] Der Mann, dem er das zu verdanken hatte, erwachte jetzt. Die Maschine hatte ihren Landeanflug begonnen und durchflog ein paar Turbulenzen. Er wartete, bis sie vorbei waren und ging in den Toilettenraum. Vor dem Spiegel reinigte er sich die Zähne mit Zahnseide. Eine alte Gewohnheit, die dazu geführt hatte, daß er noch alle zweiunddreißig besaß. Jeder Zahnhals war fest umschlossen von gut durchblutetem elastischem Zahnfleisch.

Er war auch sonst gut in Form für seine dreiundsechzig Jahre. Achtundfünfzig Kilo, das gleiche Gewicht wie bei der Musterung, ideal für seinen feingliedrigen Bau und seine Körpergröße von einem Meter einundsechzig. Er besaß einen Ruhepuls von sechzig und einen Blutdruck von hundertfünfundzwanzig auf fünfundsiebzig. Seine blaßgrünen Augen brauchten nur zum Lesen eine Brille, sein weißes, kurzgeschorenes Haar war noch dicht.

Er spritzte etwas Rasierwasser in die Hand und tätschelte es sich ins hagere Gesicht. Dazu machte er eine Grimasse, die wie ein Lächeln aussah.

Vielleicht war es ja auch ein Lächeln. Er fühlte sich gut. Das war zwar nicht der erste Luchs in seinem Leben, aber einen Luchs erlegt zu haben war immer wieder ein gutes Gefühl. Auch wenn es nur in Estland war, wo Luchse noch nicht geschützt waren.

Als er zu seinem Platz zurückkam, war der Kopilot dabei, das Bett in einen Sitz zurückzuverwandeln. »Als Sie schliefen, hat ein Hans-Rudolf Nauer angerufen. Er bittet um Ihren Rückruf.«

Der Passagier nahm den Hörer von der Konsole neben dem Sitz und stellte eine Nummer ein. Er war stolz auf sein [10] Zahlengedächtnis. Er kannte die meisten Nummern seiner Geschäftsbeziehungen auswendig.

»Verbinden Sie mich bitte mit Herrn Nauer«, sagte er, als sich die Gegenstelle meldete. »Hier spricht Ott.«

Die Maschine flog über ein Wäldchen und eine Kiesgrube und setzte zur Landung an.

Über jedem der sechs Schaufenster von Evelyne Vogts Laden stand in Lettern aus poliertem Stahl »Collection V.«. Der Eingang wurde von einem Sicherheitsmann bewacht. Drinnen herrschte großes Gedränge. Die Eröffnung von Evelynes Präsentation einer Sammlung seltener Bauhaus-Originale war ein Erfolg.

Urs Blank schlängelte sich lächelnd und nickend und händeschüttelnd und Küßchen vortäuschend zwischen den Vernissagebesuchern hindurch. Fast alle waren schwarz gekleidet. Er fühlte sich wie auf der Versammlung eines Geheimordens.

Evelyne stand neben dem Büffet und unterhielt sich mit zwei Männern. Beide waren kahlgeschoren. Beim einen sah es aus, als hätte die Natur den größeren Teil zur Frisur beigetragen. Evelyne stellte die beiden mit der Feststellung vor: »Du kennst ja Niklaus Halter und Luc Hafner.«

Blank kannte beide. Sie gehörten zum erweiterten Umfeld der neuen Architekturschule des Landes, die zur Zeit international Furore machte. Genaugenommen waren es vor allem sie selbst, die dieses Umfeld um Halter + Hafner erweiterten. »Ich erwähnte gerade«, sagte Hafner, »wie trostlos es ist, daß das, was wir als moderne Möbel bezeichnen, praktisch aus den zwanziger Jahren stammt.«

[11] Das überrascht mich nicht, daß du Schafskopf den in diesen Räumen meistgehörten Satz äußerst, als sei er auf deinem eigenen schäbigen Mist gewachsen, wollte Urs Blank antworten. Er hielt sich zurück. Aber ganz ohne Bosheit blieb seine Antwort nicht.

»Auch in der Architektur hat sich seit Gropius und Mies van der Rohe nicht viel getan.«

Sie senkten ihre Blicke betreten auf die Schuhspitzen. »Wo hast denn du dich herumgetrieben!« rief Evelyne aus. Urs Blank hatte seine Schuhe beim Waldausgang so gut es ging mit einer Handvoll Laub gereinigt. Es war ihm nicht entgangen, daß bereits im Tram die feuchte Walderde getrocknet war und eine helle Farbe angenommen hatte. Aber er hatte sich nicht weiter darum gekümmert. Auch das Buchenlaub hatte er in seinen Hosenaufschlägen belassen.

»Im Wald«, gab er zur Antwort.

»Etwas vom Besten«, sagte Halter. »Wer Architektur begreifen will, sag ich, muß in den Wald gehen.«

»Arschloch«, murmelte Blank.

»Beleidige doch deine eigenen Kunden«, schimpfte Evelyne, als sie nach Hause kam. Urs Blank saß im Wohnzimmer, hätschelte ein Glas Armagnac und hörte Mendelssohn. Er trug noch immer die lehmigen Schuhe.

»Er hat es nicht mitbekommen. Ich habe dazu gelächelt.«

»Ich habe es aber mitbekommen. Es hat mich beleidigt.«

»Das wollte ich nicht. Entschuldige.«

Evelyne ging aus dem Zimmer. Er hörte ihre Schritte auf dem Parkett des langen Korridors und dann die Tür zum Ankleidezimmer. Als sie zurückkam, war Urs gerade der [12] Versuchung erlegen, noch einen Fingerbreit nachzuschenken. Evelyne war abgeschminkt und trug einen schokoladenbraunen Kimono. Sie hatte ihre schwarzen Haare im Nacken zusammengebunden, und ihre Haut glänzte von einer Nachtcreme. So war sie zurechtgemacht, wenn sie vorhatte, in ihrem eigenen Schlafzimmer zu schlafen.

»Ich tauche ja auch nicht bei deinen Geschäftsanlässen auf und beschimpfe deine Klienten als Arschlöcher.«

»Du wärst jederzeit willkommen.«

Evelyne musterte Urs aus leicht zusammengekniffenen Augen. Sie hatte ihre Kontaktlinsen schon entfernt. »Ist etwas nicht in Ordnung?«

Urs Blank hob die Schultern. »Ab und zu stinkt’s jedem.«

Evelyne beugte sich zu ihm hinunter und hielt ihm die Wange hin. Sie roch gut nach teuren Cremes. Er küßte sie. Sie deutete auf das Glas. »Das macht es auch nicht besser, das ist dir wohl klar.«

Als sie draußen war, schenkte sich Urs noch einen Fingerbreit nach.

Aus den zwölf Lautsprechern des Hallenbades drangen die Stimmen des Urwalds. Das einzige Licht stammte von den Unterwasserlampen des Fünfzigmeterbeckens, in dem Pius Ott seinen Kilometer schwamm. Er tat das fast lautlos, in regelmäßigen, unangestrengten Zügen.

Das Bad lag zwei Stockwerke unter dem Haus und war daher fensterlos. Am Rande des Beckens standen ein paar deck-chairs und Liegen, dahinter einige Trophäen: Flußpferd, Alligator, Wasserbüffel, Hammerhai und ein paar andere, die gut zu Wasser paßten.

[13] Als Ott wendete, sprang die rote Leuchtziffer am Beckenrand auf »1000 m«. Er schwamm weiter. Schwimmen beruhigte ihn. Er ärgerte sich immer noch darüber, daß er Nauer zurückgerufen hatte. Er hatte insgeheim gehofft, dieser würde ihm als Zugabe zum Luchs auch Fluris Balg liefern. Die Nachricht, daß sich der alte Wichtigtuer noch nicht genug aufgespielt hatte, hätte auch bis morgen warten können.

Er hatte den ELEGANTSA-Coup lange vorbereitet. Sein Engagement bei CHARADE war Teil einer längerfristigen Strategie und band Mittel, die ihm anderswo fehlten. Es war zwar nicht das erste Mal, daß er aus persönlichen Motiven mehr riskierte, als geschäftlich ratsam war. Aber diesmal war er doch etwas weit über das Limit hinausgegangen, das er sich zu setzen pflegte. Selbst für die Maßstäbe des risikofreudigen Investors, der er war.

Es war natürlich nicht so, daß er einen großen finanziellen Einbruch oder gar so etwas wie einen Bankrott riskierte. Dafür hatte er sich zu breit abgesichert. Aber er riskierte, sich aus dem einen oder anderen Geschäft zurückziehen zu müssen. Rückzüge waren nicht nach Pius Otts Geschmack.

Deswegen machte ihn Fluris Hinhaltetaktik langsam nervös. Und daß er sich im Hintergrund halten mußte und nicht persönlich eingreifen konnte, machte die Sache nicht besser.

Die Leuchtziffer sprang auf »1500 m«. Ott schwamm zur verchromten Leiter und kletterte aus dem Wasser. Er war nackt. Das hatte keine erotischen Gründe, Erotik hatte in seinem Leben nie eine besondere Rolle gespielt. Sie beschränkte sich inzwischen auf sehr sporadische [14] Begegnungen mit Frauen, denen es nichts ausmachte, sich für etwas Geld in ein paar Ketten legen zu lassen. Ott war auch kein Anhänger der Freikörperkultur. Daß er nackt war, hatte nur einen einzigen Grund: In seinem eigenen Hallenbad schwamm er seine Längen so, wie es ihm paßte.

Am nächsten Morgen, als er in seinen schwarzen Jaguar stieg, spürte Urs Blank einen Druck über den Brauen. Erst als er in die Tiefgarage der Kanzlei einbog, wurde ihm klar, daß dieser die Folge des dritten Armagnac sein mußte. Auch was seinen Alkoholkonsum betraf, hatte er sich in der Hand. Sein letzter Kater lag beinahe noch weiter zurück als sein letzter Waldspaziergang.

In der Kanzlei erwartete ihn Christoph Gerber, sein Assistent. Gerber war Anfang dreißig und hatte vor einem Jahr seine Doktorarbeit abgeschlossen. Er war fleißig, billig und sich für keine Arbeit zu schade. Er ähnelte in vielen Belangen Urs Blank, als der vor etwas über zehn Jahren in der Kanzlei anfing. Das gefiel Urs normalerweise an Gerber. Heute ging es ihm auf die Nerven.

»Die Partnersitzung ist um eine halbe Stunde vorverlegt, Herr Dr. von Berg hat einen Gerichtstermin«, teilte Gerber ihm mit. »Und Dr. Fluris Sekretärin hat schon dreimal angerufen. Es sei sehr dringend. Sie sollen zurückrufen in der gleichen Sekunde, in der Sie ins Büro kommen.«

»Was will das Arschloch jetzt schon wieder?«

Gerber schaute Blank erschrocken an.

»Haben Sie noch nie zu einem Klienten Arschloch gesagt?«

Gerber schüttelte den Kopf. »Sie schon?«

[15] »Ich bin drauf und dran.«

Die Telefonistin kam mit einem Fax herein. Es stammte von Fluri und enthielt den nach dessen Vorstellungen abgeänderten Pressetext. »Ich soll Ihnen das auf den Schreibtisch legen und Sie dann mit ihm verbinden.«

»Das werden Sie nicht tun.«

»Und was sage ich ihm?«

»Er soll mich am Arsch lecken.«

Die Telefonistin lachte. »Ich hätte große Lust, ihm das zu sagen.«

»Tun Sie sich keinen Zwang an.«

Als sie draußen war, fragte Gerber besorgt: »Und wenn sie es sagt?«

»Bekommt sie eine Lohnerhöhung.«

Blanks Partner waren alle um die Sechzig. Sie betrachteten es als ihre Hauptaufgabe, das Beziehungsnetz der Kanzlei zu pflegen und auszubauen.

Dr. Geiger konzentrierte sich auf die militärischen Verbindungen. Er war ein hoher Milizoffizier in der Militärjustiz gewesen.

Dr. Minders Gebiet war die akademische Klientel. Er war seit Jahren Privatdozent an der Handelshochschule.

Dr. von Berg kümmerte sich um die übrigen. Er spielte Golf.

Die Partnersitzung diente nicht so sehr der Erläuterung hängiger Fälle als der Feinabstimmung ihrer Akquisitionsaktivitäten. Es lag in der Natur ihrer Beziehungsnetze, daß diese sich an vielen Stellen überschnitten. Natürlich waren diese wöchentlichen Zusammenkünfte auch eine [16] hervorragende Gelegenheit für den Austausch von Klatsch, Hintergrundinformationen und Indiskretionen.

»Kannst du bestätigen, daß es Ott ist, der CHARADE die Mittel zur Verfügung stellt, mit denen diese die ELEGANTSA schluckt?« Urs Blanks Frage war an Geiger gerichtet, der einen befreundeten Auditor im Verwaltungsrat von CHARADE sitzen hatte.

»Beschwören kann ich es nicht«, bestätigte Geiger.

Blank blickte in die Runde. »Hat jemand eine Ahnung weshalb?«

Minder meldete sich. »Er will die ELEGANTSA als Mitgift. CHARADE hat sich übernommen. In einem Jahr fällt sie ihm in den Schoß. In spätestens zwei verkauft er sie an UNIVERSAL TEXTILE

»Abgesehen davon«, ergänzte von Berg, »haßt Pius Ott den alten Fluri.«

»Das kann ich ihm allerdings nachfühlen«, brummte Urs Blank.

Blank war zum Mittagessen mit Alfred Wenger verabredet. Der Mittwoch war ihr Jour fixe. Alfred war ein alter Schulfreund, der einzige, mit dem Blank über all die Jahre den Kontakt aufrechterhalten hatte. Sie hatten zusammen das Gymnasium und die Universität besucht. Obwohl – oder vielleicht weil ihre Interessen weit auseinanderlagen, hatten sie sich während der ganzen Studienzeit regelmäßig getroffen. Selbst als sich Alfred auf die Psychiatrie und Urs auf die Wirtschaft konzentrierte – ein Gebiet, das der andere jeweils für absolut überflüssig hielt –, tat das ihrer Freundschaft keinen Abbruch. Sofern sie nicht gerade im Ausland [17] studierten, versuchten sie, ihren fixen Tag einzuhalten. Das einzige, was sich mit dem wachsenden Erfolg der beiden änderte, war die Kategorie des Restaurants. Seit ein paar Jahren trafen sie sich im ›Goldenen‹, wie die Habitués den Goldenen Löwen nannten.

Es herrschte Föhn. Die Autos glitzerten in der Sonne, und die Alpenkette hinter dem See war zum Greifen nahe. Die Passanten auf der Geschäftsstraße, an der die Büros von Geiger, von Berg, Minder & Blank lagen, hatten die Mäntel aufgeknöpft und gingen etwas gemächlicher als an anderen Tagen.

Urs Blank winkte ab, als der vorderste Fahrer am Taxistand vor dem Büro den Schlag aufmachte. Er war früh dran, es roch nach Frühling, und vielleicht sollte er sowieso ein paar Dinge in seinem Leben ändern.

Zum Goldenen Löwen gab es eine Abkürzung, die durch einen kleinen Park führte. Er war voller Leute. Die Kieswege waren von Ständen gesäumt, die antiquarische Bücher, getragene Kleider, gebrauchte Haushaltsgegenstände, alte Möbel und allerlei anderen Trödel anboten. Blank schlenderte, die Hände in den Hosentaschen, staunend an den Ständen vorbei. Es war ihm neu, daß es hier einen Flohmarkt gab.

Vor einem Stand mit Spielsachen blieb er stehen. Er überlegte sich, wem er eine alte Puppe oder eine Dampflokomotive aus Blech schenken könnte. Ein vertrauter Duft stieg ihm in die Nase. Er stammte von einem kleinen Stand. Sein Zeltdach war behängt mit indischen Seidentüchern und Sarongs. Auf dem Verkaufstisch lagen Räucherstäbchenhalter aus Holz und Messing, Duftfläschchen, Glöckchen und [18] andere Meditations-Accessoires neben Marihuana-Pfeifen in allen Größen und Formen. In der Mitte des Tisches brannte ein Gesteck aus fünf Räucherstäbchen und verströmte den Duft, der ihm bekannt vorkam.

»Was riecht so?« fragte er das junge Mädchen hinter dem Stand. Sie trug einen chinesischen Seidenmantel und mehrere der Seidenschals aus ihrem Angebot. Mit einem hatte sie die Überfülle ihrer schwarzen Locken aus dem Gesicht gebunden.

Als sie aufschaute, sah er, daß ihre Stirn mit einem goldenen Kastenzeichen geschmückt und ihre Lider schwarz umrandet waren.

Was ihm einen Moment die Sprache verschlug, war die Farbe ihrer Augen. Sie waren nicht schwarz, wie das von ihrer Aufmachung her zu erwarten war, sondern von einem blassen Blau wie bei einem Huskie. Sie lächelte und schien nicht im geringsten erstaunt über den Mann im Maßanzug an ihrem Stand. »Es sind fünf Düfte, welchen meinen Sie?«

Das Mädchen fächelte ihm mit beiden Händen die Rauchfäden gegen die Nase, einen nach dem anderen. Schmale Silberreifen klingelten an ihren Armen. »Den hier meine ich.«

Sie schnupperte. »Sandlewood. Vierzehn Franken.«

Urs Blank bezahlte und steckte das Päckchen in die Manteltasche.

Er war vor Alfred Wenger im Goldenen. Herr Foppa, der Kellner, der sie immer bediente, brachte ihm sein Ginger Ale mit Eis und Zitrone. Blank trank keinen Alkohol zum Mittagessen. Ginger Ale wirkte nicht so missionarisch.

[19] Das Lokal füllte sich langsam mit dem üblichen Mittagspublikum. Geschäftsleute, Banker, Anwälte, Prominenz und Halbprominenz und Damen im Society-Look: groß, schlank, sportlich, blond, pastellfarbene Jackie-Onassis-Kostüme, deren Röcke weit über den spitzen Knien endeten. Keine einen Tag älter oder jünger als fünfunddreißig.

Urs Blank war schon beim zweiten Ginger Ale, als Alfred Wenger sich zu ihm setzte. »Entschuldige, jemand der nicht aufhören konnte.« Wenger war etwas jünger als Blank, aber sein Haar war bereits in der Studienzeit grau geworden. Jetzt war es schlohweiß. Es fiel ihm bis auf die Schultern. Blank behauptete, daß Wenger seinem Haar mindestens fünfzig Prozent seines Erfolgs als Psychiater verdanke. Er selbst war brünett und trug einen Kurzhaarschnitt, der monatlich zwei Coiffeurbesuche erforderte.

Auch sonst waren die beiden Freunde unterschiedliche Erscheinungen. Der Psychiater hochgeschossen und kantig, der Anwalt mittelgroß und trotz Disziplin und eigenem Fitneßraum etwas weich in den Konturen.

Wenger bestellte den gemischten Braten vom Wagen. Blank entschied sich für eine Kalbspaillarde mit Gemüse. Aber als Herr Foppa wie immer zum Essen Mineralwasser brachte, sagte Blank: »Ach, wissen Sie was, bringen Sie mir einen Dreier Bordeaux.«

Alfred schaute ihn erstaunt an. Urs fragte: »Passiert dir das nie, daß du einmal nicht das Ewiggleiche sagen und hören und tun und lassen und essen und trinken willst?«

»Doch.«

»Und was tust du dann?«

[20] »Das gleiche wie du: etwas anderes.«

»Und was rätst du deinen Patienten?«

»Das gleiche wie dir. Es zu tun.«

»Und das hat Erfolg?«

»Kommt darauf an, was du unter Erfolg verstehst.«

»Ändert sich etwas?«

»Nein. Aber für die meisten besteht darin der Erfolg.«

Blank grinste. »Ich sag’s ja: Ihr Psychiater helft den Menschen nicht, sich zu ändern. Ihr helft ihnen, sich damit abzufinden, daß sie gleich bleiben.«

Als Blank in die Kanzlei zurückkam, bedeutete ihm die Telefonistin, daß Dr. Fluri am Apparat sei. Er ging in sein Büro und nahm das Gespräch an.

Später kam Christoph Gerber mit den Ausdrucken der überarbeiteten Verträge herein. Blank war immer noch am Telefon. »Überhaupt kein Problem«, sagte er zuvorkommend, »dazu sind wir schließlich da. Auf Wiedersehen.«

»Herr Dr. Arschloch«, fügte er hinzu, als er aufgelegt hatte.

Urs und Evelynes gemeinsame Wohnung lag in einem herrschaftlichen Haus aus den zwanziger Jahren auf dem Villenhügel am Stadtrand. Sie bewohnten das ganze Erdgeschoß, dessen französische Fenster sich auf eine gepflegte Rasenkuppel öffneten. Von dort aus überblickte man die Stadt und einen Teil des Sees. Die Wohnung besaß vier große Gesellschaftsräume. Wohn- und Eßzimmer teilten sie sich, das Musikzimmer war Evelynes Reich und die Bibliothek das von Urs. Jeder besaß ein Schlafzimmer mit eigenem Bad. [21] Eine Grundbedingung für das erfolgreiche Zusammenleben zweier erwachsener Menschen, fand Evelyne.

Die Wohnung verfügte über eine große Küche mit Anrichteraum und Vorratskammer und über viele technische Räume wie Bügelzimmer, Nähzimmer, Putzraum, Waschküche und Blumenzimmer. Die kleine Personalwohnung mit separatem Eingang war unbewohnt. Urs und Evelyne benutzten sie als Gästezimmer und Fitneßraum. Sie hatten keine festen Hausangestellten. Aber sie beschäftigten eine Putzfrau, die fünfmal die Woche vormittags kam. Und eine Frau, die sich um die Wäsche kümmerte und bügelte. Bei größeren Einladungen ließen sie eine Köchin kommen.

Als Urs den Mantel an die Garderobe hängte, fiel die Packung Räucherstäbchen auf den Boden. Er hob sie auf und nahm sie mit in die Bibliothek. Dann ging er in die Küche und machte sich einen Salat. Er schnitt etwas Bündnerfleisch an der Schneidemaschine, schenkte sich ein Glas Rotwein ein und aß am Personaltisch im Anrichteraum sein Abendessen. Evelyne würde spät kommen, hatte sie im Büro ausrichten lassen. Sie war bei einem Anlaß. Er hatte vergessen, bei was für einem.

Er füllte sein Glas und ging damit in die Bibliothek. Dort kamen ihm die Räucherstäbchen wieder in die Hände. Er öffnete die Packung, zog eines heraus und roch daran. Woran erinnerte ihn der Duft?

Er legte das Stäbchen in einen Aschenbecher auf dem Kaminsims und zündete es an. Langsam füllte sich der Raum mit dem Duft von Sandelholz. Er setzte sich in einen Sessel, nippte am Wein und schloß die Augen. Jemand in seiner Jugend hatte so gerochen. Ein Mädchen.

[22] Er versuchte, sich das Gesicht, das zu diesem Duft gehörte, in Erinnerung zu rufen. Aber es gelang ihm nicht. Immer wieder kam ihm das Mädchen mit den blaßblauen Augen dazwischen.

Urs wurde von Evelynes Stimme geweckt. »Was stinkt hier so?«

Am nächsten Tag ging Urs Blank wieder zum kleinen Park. Aber er war leer bis auf zwei Männer in Overalls, die eine Rabatte mit Stiefmütterchen bepflanzten. »Weshalb ist heute kein Flohmarkt?« erkundigte er sich beim Älteren der beiden.

»Immer mittwochs«, antwortete der, ohne aufzuschauen. »Seit Jahren.«

[23] 2

Lucille fror. Sie trug gestrickte Pulswärmer und hatte wollene Ballettstulpen über ihre Strümpfe gezogen. Wie im Winter. Dabei war es Ende März. Am letzten Mittwoch hatte es noch ausgesehen, als komme der Frühling. Sie hatte sich schon zwei Zimttees geholt und eigentlich Lust auf einen dritten. Damit wäre sie dann – Standgebühr und Transportspesen inbegriffen – zwölf Franken im Minus. Es bestand wenig Hoffnung, daß sich diese Bilanz noch entscheidend verbessern würde. An Tagen wie diesem kauften die Leute weder indische Seidentücher noch Räucherstäbchen.

Lucille besaß den Stand schon seit drei Jahren. Sie hatte ihn von ihrem damaligen Freund übernommen. Mit ihm reiste sie zweimal im Jahr nach Indien und Indonesien und kaufte dort für ein halbes Jahr ein. Sie war dreiundzwanzig, als er beschloß, dort zu bleiben. Sie flog alleine zurück. Am Anfang kaufte er noch für sie ein. Aber inzwischen hatte Lucille ihre eigenen Quellen.

Der Stand ermöglichte ihr, zu überleben und ab und zu nach Asien zu reisen, wo sie nach ihrer Überzeugung in einem früheren Leben gelebt haben mußte. Sie teilte die Wohnung mit einer Freundin, die in einem Jeansladen arbeitete. Im Moment hatte sie keinen festen Freund.

[24] Jetzt fing es auch noch an zu regnen. Lucille beeilte sich, zum Teestand zu kommen, bevor der Regen stärker wurde. Als sie mit ihrem Zimttee zurückkam, stand ein Mann vor ihrem Stand. Der vom letzten Mittwoch.

»Ich hätte einen Halter kaufen sollen«, erklärte er. »Welchen empfehlen Sie?«

»Bei diesem Wetter den teuersten.« Der Mann sah aus, als hätte er Humor.

»Welcher ist das?«

Sie zeigte ihm einen in der Form eines kleinen Holzskis mit eingelegten Messingsternen.

»Und der zweitteuerste?« Der Mann sah nicht aus, als ob es ihm auf fünfundzwanzig Franken mehr oder weniger ankam. Aber sie zeigte auf ein rundes verziertes Messingmodell.

»Wäre Ihnen auch gedient, wenn ich zwei von den Zweitteuersten nehme? Sie gefallen mir besser.«

»Sehr gedient.« Lucille lächelte. Er war nicht ihre Welt, aber er gefiel ihr. Wenn sie sich ein paar Zentimeter Haare dazu- und ein paar Jahre wegdachte. »Suchen Sie sich zwei aus.«

»Könnten nicht Sie das für mich tun? Ich weiß nicht, worauf man achten muß.«

Lucille suchte zwei Stäbchenhalter aus und verpackte sie in weinrotes Seidenpapier. »Stäbchen haben Sie noch genug?«

»Ein Päckchen könnte nicht schaden. Ich hatte Sandlewood.«

Sie legte die Stäbchen neben die Päckchen. »Kennen Sie Superior Tibet Incense

[25] Urs schüttelte den Kopf.

»Das habe ich am liebsten.«

»Dann möchte ich es versuchen.«

Lucille suchte eine Packung heraus. »Anstatt oder zusätzlich?«

Urs mußte lachen. »Zusätzlich.«

»Ein Seidentuch brauchen Sie nicht?«

»Ich trage Krawatten.«

»Für Ihre Frau, dachte ich.«

»Ich habe keine Frau.«

Auch Evelyne Vogt hatte ihren Jour fixe. Sie traf sich mit ihrer Freundin Ruth Zopp zum Lunch. Die Restaurants wechselten, der Tag blieb immer der gleiche: jeder zweite Freitag.

Diesmal hatten sie sich für eine neueröffnete Sushi-Bar entschieden. Ruth Zopp war über alles auf dem laufenden, was in der Stadt kulinarisch, künstlerisch und gesellschaftlich los war. Sie war eine Tochter aus reichem Haus und mit einem Mann aus ihren Kreisen verheiratet. Sie arbeitete nicht, aber ihr Filofax war vollgekritzelt mit Terminen und platzte aus den Nähten vor Visitenkärtchen und Freßzetteln. Sie liebte es, Leute zusammenzubringen, ihre Beziehungen spielen zu lassen und die Fäden zu ziehen. Evelyne hatte ihr viele Kunden zu verdanken.

»Laß uns an ein Tischchen sitzen. Sushi-barmen sind immer so geschwätzig«, raunte sie Evelyne zu, als sie zu ihr an die Bar trat. Sie hatte zwanzig Minuten Verspätung, wenig für ihre Verhältnisse.

Ruth Zopp war eine attraktive Frau. Ihre Kleidung und [26] ihr Schmuck waren immer spektakulär und ihre Mimik immer in Bewegung. Evelyne kannte sie seit vielen Jahren. Aber noch immer hätte sie nicht sagen können, ob Ruth eigentlich auch eine schöne Frau war.

Sie setzten sich also an ein Tischchen und bestellten gemischtes Sushi – Inari, Chirashi, Nigiri und Norimaki. Ruth beherrschte ihre Stäbchen mit atemberaubender Beiläufigkeit. Sie fischte sich die Häppchen, tunkte sie in die Soja-Wasabi-Sauce und redete dazu, ohne ihre Freundin aus den Augen zu lassen.

Es dauerte eine Weile, bis Evelyne zu Wort kam. »Weißt du, was das Neuste ist? Urs brennt Räucherstäbchen.«

»Urs und Räucherstäbchen?«

»Am Abend riecht das ganze Haus wie ein Aschram. Und er: wie weggetreten.«

»Vielleicht meditiert er.«

»Ich habe ihn gefragt. Er behauptet, er rieche es einfach gerne.«

»Kommt auf die Sorte an.«

»Sandelholz. Und etwas Tibetanisches.«

»Tibetanisch? Dann meditiert er doch. Wäre nicht der einzige. Geiser hat auch angefangen. Und Grafs fliegen jeden Monat nach New York zu ihrem Rinpoche.«

»Aber weshalb meditiert er ohne mich?«

»Vielleicht ist er sich noch zu wenig sicher. Vielleicht ist es noch zu persönlich. Urs ist ja nicht gerade der meditative Typ.«

Evelyne legte ihr letztes Norimaki auf den Teller zurück. »Meditieren tut man nur, wenn man Probleme hat.«

»Vielleicht hat er.«

[27] »Wenn ich einen Menschen kenne, der keine Probleme zu haben braucht, dann Urs.«

»Vielleicht Midlife-crisis.«

»Seine Midlife-crisis war ich.«

»Bedeutende Männer haben mehr als eine Midlife-crisis.«

»Du glaubst, es steckt eine Frau dahinter.«

»Wenn Männer sich verändern, ist das nicht der abwegigste Gedanke.«

Einer der ganz großen Klienten von Urs Blank war Anton Huwyler. Er war Präsident der CONFED, der größten Versicherungsgruppe des Landes, und saß in den Verwaltungsräten der meisten bedeutenden Unternehmen. Ihm hatte Urs es letztlich zu verdanken, daß er von Geiger, von Berg & Minder als Partner aufgenommen worden war. Huwyler hatte einen Narren an ihm gefressen und in immer mehr Fällen auf ihm als Gesprächspartner bestanden. Nach und nach war Urs’ Portefeuille so gewichtig geworden, daß ihm die drei Anwälte der Kanzlei die Partnerschaft angeboten hatten. Urs vermutete allerdings, daß die Anregung dazu von Huwyler gekommen war.

Sie saßen in Anton Huwylers »Sakristei«, wie dessen persönliches Arbeitszimmer intern genannt wurde. Ein geräumiges Büro, das eingerichtet war wie das Arbeitszimmer eines vom Erfolg überraschten Bauunternehmers in den siebziger Jahren. Viel gemasertes Holz mit Messingbeschlägen, eine Polstergruppe aus grünem Samt mit Kordelborten, Zinnkrüge mit Inschriften, ein Steinbockgeweih mit Messingschild: »Unserem verehrten [28] Bataillonskommandanten in dankbarer Erinnerung. Offiziere und Unteroffiziere Geb S Bat 11. 24. Juni 1987.«

Huwyler empfing dort nur seine engsten Mitarbeiter. Normalerweise hielt er Sitzungen in seinem repräsentativen Sitzungszimmer ab, das vom hauseigenen Architektenteam nach den neuen Unternehmensrichtlinien für Spitzenkader gestylt war und in welchem er sich wie ein Fremder fühlte.

Huwyler war kein Mann, der lange um den heißen Brei herumredet. »Was ich Ihnen jetzt sage, wissen nicht einmal Ihre Partner. Wir gehen mit BRITISH LIFE, SECURITÉ DU NORD und HANSA ALLGEMEINE zusammen. Das gibt den größten Versicherungskonzern der Welt. Mit Abstand.«

Er gab Urs Blank etwas Zeit, sich gebührend überrascht zu zeigen. Dann fügte er hinzu: »Und ich möchte, daß Sie das für uns machen.«

Blank hatte soeben das aufsehenerregendste Mandat erhalten, das bisher auf diesem Gebiet vergeben worden war. Aber alles, was er hervorbrachte, war: »Wenn Sie mir das zutrauen.«

Huwyler lachte. »Sie sich etwa nicht?«

Blank stimmte in sein Lachen ein. Aber als er eine Viertelstunde später die »Sakristei« verließ, haßte er sich dafür, daß er nicht nein gesagt hatte.

Die CONFED-Fusion wäre normalerweise das Haupttraktandum der Partnersitzung gewesen. Aber Urs Blank erwähnte sie mit keinem Wort. Er war sich seiner Sache nicht sicher. Und um seinen Partnern die Ungeheuerlichkeit begreiflich zu machen, daß er das Mandat ablehnen wollte, mußte er ganz sicher sein.

[29] Dafür kam die CHARADE-ELEGANTSA-Fusion zur Sprache. Dr. Minder wandte sich an Blank: »Die ELEGANTSA-Sache ist nicht mehr lange unter dem Deckel zu halten. Alle wissen davon und wundern sich, weshalb ihr damit nicht herauskommt.«

»Fluri«, erklärte Blank. »Ziert sich.«

»Kann er sich das leisten?« fragte Dr. von Berg. Die Frage war an die ganze Runde gerichtet.

Dr. Geiger räusperte sich. »Nach meinen Informationen nicht.«

Blank wunderte sich immer wieder über die Quellen seiner Partner. »Was für Informationen?«

»Er steht das nächste Jahr nicht durch. Zu viele Leichen im Keller.«

»Was für Leichen?«

»Der ›Rußlandfeldzug‹.«

»Das ist auf dem Tisch.« Der ›Rußlandfeldzug‹ war Fluris Versuch gewesen, auf dem russischen Markt Fuß zu fassen. Die Rubelkrise war ihm dazwischengekommen, und er mußte sich damals mit einer blutigen Nase zurückziehen.

»Wieviel?«

»Er rechnet mit zwei, schlimmstenfalls zweieinhalb Millionen.«

Dr. Geiger lachte auf. »Häng eine Null dran.«

»Bist du sicher?«

Geiger nickte. »Du darfst es nicht verwenden. Aber ich könnte mir vorstellen, daß es deine Verhandlungsposition verbessert, wenn du weißt, daß die Fusion Fluris letzte Hoffnung ist.«

[30] Als die Partner das Sitzungszimmer verließen, hielt Dr. von Berg Urs am Arm zurück. »Hast du noch einen Moment?« Urs nickte. Sie setzten sich noch einmal an den Besprechungstisch.

»Du trinkst keinen Apéro um diese Zeit, nicht wahr?«

»Sonst bin ich nachher zu nichts mehr zu gebrauchen.«

»Mach eine Ausnahme«, schlug von Berg vor und wählte, ohne Urs’ Antwort abzuwarten, die Nummer seiner Sekretärin. »Zweimal«, war alles, was er sagte. Kurz darauf kam sie mit einem Tablett herein. Darauf eine Flasche Bourbon, ein Eisbehälter und zwei Gläser.

Von Berg fischte mit der Eiszange nach Eiswürfeln und ließ für jeden drei ins Glas klimpern. »Als ich in deinem Alter war, wachte ich eines Morgens auf und hatte das Gefühl, mein Leben sei ein einziger riesiger Fehler. Es gab keinen Grund, keinen äußeren Anlaß, alles lief nach Wunsch, es war der Anfang unserer großen Zeit.«

Von Berg goß Bourbon über die Eiswürfel. »Ich dachte, das geht vorbei. Eine Laune. Mit dem falschen Bein aufgestanden. Aber es ging nicht vorbei. Am nächsten Tag nicht, nach einer Woche nicht, nach einem Monat nicht. Ich wußte: Alles, was du bisher gemacht hast, hast du falsch gemacht.«

»Und was hast du dagegen unternommen?«

»Nichts. Es gibt nichts, was man selbst dagegen tun kann.« Von Berg hob das Glas und trank einen Schluck. Urs nippte nur ein wenig. »Erinnerst du dich an Annette Weber?«

»Die Praktikantin?« Blank erinnerte sich. Annette Weber hatte damals in der Kanzlei viel Aufsehen erregt. Sie [31] hatte einigen unter ihnen den Kopf verdreht und keinen einzigen erhört. Es hieß, sie hätte eine feste, geheime Liaison mit einem verheirateten Mann. Nach ihrem Praktikum war sie von der Bildfläche verschwunden.

»Sie tat etwas dagegen.«

Urs verstand nicht.

»Gegen mein Gefühl, daß ich im falschen Film sei«, erklärte von Berg.

Jetzt begriff Urs. »Du warst die geheime Liaison.«

Von Berg lächelte.

»Verstehe.«

»Gut.«

»Und weshalb erzählst du mir das?«

»Einfach so. – Und weil du nichts von Huwylers Mandat erwähnt hast.«

»Wie machen Sie das eigentlich mit dem Mittagessen?« Blank hatte ein Seidentuch gekauft und eine neue Sorte Räucherstäbchen.

»Wenn mir jemand auf den Stand aufpaßt, esse ich etwas Kleines in der Nähe.«

»Paßt heute jemand auf?«

»Ist das ein Angebot?«

Urs nickte. Lucille musterte ihn von oben bis unten. »Ich weiß nicht, ob Sie dazu richtig angezogen sind.«

»Um mit Ihnen etwas zu essen?«

Sie lachte. »Ach so. Ich dachte, Sie wollten auf den Stand aufpassen.«

Einen Moment lang spielte er mit dem Gedanken, darauf einzugehen. Aber dann sagte er doch: »Nein, ich dachte, [32] falls jemand so lange auf den Stand aufpaßt, könnten wir zusammen eine Kleinigkeit essen gehen.«

»Heute habe ich leider niemanden, der aufpaßt.«

»Schade. Vielleicht ein andermal.«

»Vielleicht.«

Blank steckte seine beiden Päckchen in die Manteltasche und wollte sich verabschieden.

»Wenn Sie Lust haben, könnten Sie uns etwas holen, und wir essen es hier am Stand.«

»Was, zum Beispiel?«

»Egal, einfach kein Fleisch.«

Urs Blank kannte ein Feinkostgeschäft in der Nähe. Dort ließ er sich sechs Brötchen machen. Zwei mit Wildlachs, zwei mit Mozzarella und Tomate und zwei, warum nicht?, mit Kaviar. Dazu kaufte er zwei Perrier und, für alle Fälle, eine halbe Flasche Meursault. Auf dem Weg zurück zum Park fiel ihm Alfred Wenger ein. Er rief im Goldenen an und ließ ausrichten, es sei ihm etwas Unerwartetes dazwischengekommen. Etwas Unerwartetes? dachte er, als er lächelnd sein Handy in die Brusttasche zurücksteckte.

»Ist es okay, wenn ich die beiden mit Mozzarella nehme?« fragte Lucille, als Blank die Brötchen ausgepackt hatte. »Ich esse kein Fleisch.«

»Das ist Fisch.«

»Nichts, was Augen hatte.«

»Und Kaviar? Kaviar hatte keine Augen. Kaviar ist wie Eier. Essen Sie auch keine Eier?«

»Eier werden den Hühnern nicht aus dem Bauch herausgeschnitten.«

Blank setzte sich neben Lucille auf einen Hocker. »Aber [33] Wein trinken Sie?« Er stellte das Fläschchen, das er sich beim Traiteur hatte entkorken lassen, auf den Verkaufstisch. Sie nickte.

Das schöne Wetter lockte viele Angestellte der umliegenden Banken, Kanzleien und Büros in den Park. Ihre Mahlzeit wurde mehrmals durch Kunden unterbrochen, die sich wohl wunderten über den Herrn im Busineßanzug, der neben Lucille Lachs- und Kaviarbrötchen verzehrte.

Blank hoffte nur, daß ihn niemand erkannte.

Christoph Gerber erzählte der Telefonistin gerade, seine Freundin habe Urs Blank auf dem Flohmarkt am Stand eines Hippiemädchens Kanapees essen sehen, als Dr. Fluris Sekretärin anrief. Man möge Dr. Blank mitteilen, daß Dr. Fluri den Sitzungstermin absagen müsse. Bei der Überprüfung des Vertragstextes mit seinen Juristen seien Fragen aufgetaucht, die er mit Dr. Blank abklären wolle. Er solle am Donnerstagmorgen um sieben Uhr fünfzehn bei ihm im Büro vorbeikommen. Ausweichtermin: gleicher Tag, eine Stunde früher.

Christoph Gerber übernahm es, Blank die Nachricht zu überbringen. »Um sieben Uhr fünfzehn oder eine Stunde früher?« wiederholte Urs fassungslos.

»Ein Arschloch, wie Sie richtig bemerkten«, grinste Gerber.

Und du ein Arschkriecher, dachte Blank.

Sobald Gerber draußen war, ließ er sich mit Hans-Rudolf Nauer verbinden. Der stöhnte auf, als er von der erneuten Verzögerung erfuhr. »Wie lange wird der dieses Spielchen noch weitertreiben?«

[34] »Bis Sie stop sagen.«

»Ich?«

»Sagen Sie nein. Sagen Sie, Sie hätten genug. Er solle das Ganze vergessen, Sie hätten es sich anders überlegt.«

»Dann fällt die Sache ins Wasser.«

»Er wird einlenken.«

»Und wenn nicht?«

»Er wird.«

»Was macht Sie so sicher?«

»Vertrauen Sie mir.«

Nauer bat um eine halbe Stunde Bedenkzeit.

Eine Viertelstunde später erhielt Urs Blank einen Anruf von Pius Ott. »Können wir uns treffen? Sagen wir in einer Stunde? Bei mir zu Hause. Es muß uns ja nicht die halbe Stadt zusammen sehen.«

Das Schönste an Pius Otts Villa war ihre Lage. Im Nordosten war das Grundstück durch einen Wald begrenzt, im Südwesten überblickte es das Tal und den See. Das Gebäude selbst war von zweifelhafter Architektur. Viel abgerundeter Beton im Stil der späten siebziger Jahre, obwohl es keine drei Jahre alt war.

Ein kräftiger Mann im dunklen Anzug wies den Jaguar in einen Parkplatz neben der Einfahrt und führte Blank in Otts Arbeitszimmer.

Der Raum war bestimmt zweihundert Quadratmeter groß und eingerichtet wie eine Safari-lodge. Die Wände waren bis unter die falsche Holzdecke getäfelt, der Boden bestand aus polierten Riemen verschiedener exotischer Hölzer. An beiden Stirnseiten standen mächtige offene Kamine, [35] um die wuchtige Ledersessel gruppiert waren. In der Mitte des Raumes, an einem Mahagonischreibtisch von der Größe eines Pingpongtisches, saß Pius Ott. Er hatte den Rücken der Fensterfront zugewandt. Der Blick auf die Jagdtrophäen an der gegenüberliegenden Wand sagte ihm mehr zu als der auf das Tal und die biederen Häuschen der steuergünstigen Gemeinden.

Als Urs Blank den Raum betrat, stoben zwei Dachsbracken bellend auf ihn zu. Auf einen Pfiff von Ott verstummten sie und zogen sich wieder unter den Mahagonischreibtisch zurück.