Für Monique Buffet
Tom schlich über das Parkett in sein Badezimmer, blieb stehen und horchte: Sss-sss---ss-ss----sss-sss. Die eifrigen kleinen Biester waren schon wieder am Werk, dabei konnte er noch das Xylamon riechen, das er am Nachmittag mühsam in jedes ihrer Schlupflöcher (oder was immer die waren) gespritzt hatte. Sie sägten immer weiter, als sei seine Mühe vergebens gewesen. Ein Blick auf ein gefaltetes rosa Handtuch unter einem Holzregal zeigte ihm, schon wieder, ein winziges Häufchen feinsten Sägemehls.
»Ruhe!« Tom schlug mit der Faust gegen den Schrank.
Sie verstummten tatsächlich. Stille. Tom sah die kleinen Mistviecher vor sich, wie sie innehielten, die Sägen in den Händchen, und einander sorgenvolle Blicke zuwarfen, aber womöglich auch nickten, als wollten sie sagen: »Das kennen wir schon. Ist wieder mal unser Herr und Gebieter, aber der verschwindet bald.« Auch Tom kannte das schon: Wenn er nicht betont leise ins Bad ging und nicht einmal an Holzameisen dachte, konnte er sie manchmal emsig nagen hören, bevor sie ihn bemerkten – doch wenn er nur einen weiteren Schritt tat oder den Wasserhahn aufdrehte, verstummten sie für eine Weile.
Héloïse fand, er nehme das alles zu ernst. »Die brauchen doch Jahre, bis der Schrank in sich zusammenfällt!«
Aber Tom gefiel es gar nicht, daß ihn die Ameisen besiegt hatten, daß er jedesmal, wenn er einen frisch gewaschenen, ordentlich gefalteten Pyjama aus dem Regal nahm, ihr Sägemehl wegpusten mußte, daß er umsonst ein französisches Mittel namens Xylophène (beschönigend für Kerosin) gekauft und ins Holz gespritzt und erfolglos in seinen beiden Konversationslexika nachgeschlagen hatte: Camponotus nagt Gänge ins Holz und legt dort seinen Bau an. Siehe Campodea: Flügellose, blinde, wurmförmige, lichtscheue Insekten; leben unter Steinen. Tom konnte sich seine Plagegeister nicht als Würmer vorstellen, und unter Steinen lebten sie auch nicht. Gestern hatte er sich eigens aus Fontainebleau das gute alte Xylamon besorgt und seinen Blitzkrieg begonnen. Heute war der zweite Angriffstag, und noch immer hatte er sie nicht besiegt. Allerdings war es auch schwierig, das Pestizid nach oben zu spritzen; weil die Löcher auf der Unterseite der Regalbretter lagen, ging es aber nicht anders.
Das Ss-ss-ss setzte genau in dem Moment wieder ein, als unten im Wohnzimmer, wo Schwanensee auflag, die Musik anmutig in einen eleganten Walzer überging – so als verhöhne sie ihn, genau wie die Ameisen.
Na gut, gib’s auf, sagte sich Tom, wenigstens für heute. Eigentlich hatte er diesen Tag ebenso gut nutzen wollen wie den gestrigen – er hatte den Schreibtisch aufgeräumt, alte Zeitungen weggeworfen, das Gewächshaus ausgefegt und Geschäftsbriefe geschrieben, darunter einen wichtigen an Jeff Constants Londoner Privatadresse. Diesen Brief, den er Jeff sofort zu vernichten bat, hatte Tom bis gestern immer wieder aufgeschoben. Er riet Jeff darin strikt von weiteren »Entdeckungen« gefälschter Bilder oder Zeichnungen Derwatts ab und stellte die rhetorische Frage, ob denn die Gewinne aus der nach wie vor florierenden Firma für Künstlerbedarf und aus der Kunstakademie in Perugia nicht reichten. Die beiden Teilhaber und Betreiber der Galerie Buckmaster, der Journalist Edmund Banbury und insbesondere Jeff Constant, ursprünglich von Beruf Fotograf, hatten mit der Idee gespielt, weitere mißlungene Bilder Bernard Tufts’ zu verkaufen – weniger überzeugende Derwatt-Fälschungen also. Bislang war alles gutgegangen, doch nun wollte Tom, daß sie damit aufhörten, der Sicherheit halber.
Er beschloß, spazierenzugehen und in Georges’ Bar einen Kaffee zu trinken, um auf andere Gedanken zu kommen. Erst halb zehn: Héloïse war im Wohnzimmer, sie unterhielt sich auf französisch mit ihrer Freundin. Noëlle war verheiratet und lebte in Paris. Sie würde über Nacht bleiben, allerdings ohne ihren Mann.
»Succès, chéri?« fragte Héloïse gutgelaunt und setzte sich auf dem gelben Sofa auf.
Tom rang sich ein Lachen ab. »Non!« Er fuhr auf französisch fort: »Ich gebe mich geschlagen. Die Holzameisen haben mich besiegt.«
»Aaah«, seufzte Noëlle mitfühlend. Gleich darauf lachte sie glucksend. Sicher war sie in Gedanken woanders und wollte lieber mit Héloïse weiterreden. Die beiden planten für Ende September oder Anfang Oktober eine Abenteuerkreuzfahrt, in die Antarktis vielleicht, und wollten, daß er mitkam. Noëlles Mann hatte bereits abgelehnt, aus geschäftlichen Gründen.
»Ich mache einen kleinen Spaziergang. Nur eine halbe Stunde. Braucht jemand Zigaretten?« fragte Tom.
»Ah oui!« sagte Héloïse. Marlboros, meinte sie.
»Ich habe aufgehört!« verkündete Noëlle.
Mindestens zum drittenmal, wenn er sich recht erinnerte. Tom nickte und verließ das Haus durch die Vordertür.
Madame Annette hatte das Einfahrtstor noch nicht geschlossen. Er würde es nachher tun. Tom wandte sich nach links und ging in Richtung Villeperce. Für Mitte August war es ziemlich kühl. In den Vorgärten seiner Nachbarn standen die Rosen hinter Drahtzäunen in voller Blütenpracht. Wegen der Sommerzeit war es noch ziemlich hell, dennoch dachte Tom, er hätte für den Rückweg lieber eine Taschenlampe mitnehmen sollen. Richtige Gehwege gab es neben dieser Straße nicht. Er atmete tief durch: Denk an morgen, an Scarlatti, an das Cembalo statt an die Holzameisen. Denk daran, daß du vielleicht Ende Oktober mit Héloïse nach Amerika fliegst. Es wäre ihre zweite Reise in die Staaten. New York hatte sie geliebt, San Francisco wunderschön gefunden, den blauen Pazifik auch.
Gelbliches Licht brannte schon in einigen Häuschen des Dorfes. Und da war Georges’ tabac-Talisman, der schräge rote Neonbalken über der Tür, der warme Lichtschein darunter. Die Bar war hell erleuchtet.
Tom trat ein. »Marie.« Er nickte der Wirtin zu, die einem Gast gerade schwungvoll ein Bier vorsetzte. In ihrem tabac trafen sich Arbeiter, einfache Leute, doch er lag näher an Belle Ombre als die andere Bar des Dorfes, und oft war hier mehr los.
»Monsieur Tomme! Ça va?« Marie warf kokett ihre schwarzen Locken zurück und schenkte ihm ein verwegenes Lächeln ihres breiten, grellroten Mundes. Sie war keinen Tag jünger als fünfundfünfzig. »Dis donc!« rief sie und warf sich wieder in die Unterhaltung mit zwei Männern, die über ihrem Pastis an der Theke hockten. »So ein Arschloch – so ein Riesenarschloch!« rief sie, als hoffe sie, sich mit diesem Wort, das hier täglich oftmals fiel, Gehör zu verschaffen. Die beiden Männer, die beide zugleich lauthals aufeinander einredeten, beachteten sie nicht, als sie fortfuhr: »Dieses Arschloch plustert sich auf wie eine Nutte mit mehr Freiern, als sie bedienen kann. Er kriegt nur, was er verdient!«
Tom fragte sich, ob sie Giscard d’Estaing meinte oder einen Maurer aus dem Dorf. »Café!« warf er ein, als er für einen winzigen Augenblick Maries Aufmerksamkeit erlangte. »Und eine Schachtel Marlboro.« Georges und Marie, das wußte er, waren für Chirac, den sogenannten Faschisten.
»Eh, Marie!« Zu Toms Linken versuchte Georges in seinem dröhnenden Bariton, seine Frau zu beruhigen. Der Mann, ein Dicker mit fleischigen Händen, polierte gerade langstielige Gläser und stellte sie behutsam in das Regal rechts von der Kasse. Hinter Tom war ein lärmendes Tischfußballmatch im Gang: Vier Jugendliche kurbelten an den Stangen; kleine Bleimännchen in bleiernen Shorts traten, vorwärts und rückwärts wirbelnd, gegen einen murmelgroßen Ball. Auf einmal bemerkte Tom ganz links von ihm, am Ende der geschwungenen Theke, einen Jungen, der ihm schon vor ein paar Tagen auf der Straße vor seinem Haus aufgefallen war. Der Junge hatte braunes Haar, er trug eine Arbeitsjacke im üblichen französischen Blau und Blue jeans, erinnerte sich Tom. Er hatte ihn zuerst gesehen, als er eines Nachmittags das Tor öffnete, weil er Besuch erwartete: Da war der Junge unter der großen Kastanie auf der anderen Straßenseite hervorgetreten, wo er gestanden hatte, und davongegangen, weg von Villeperce. Hatte er Belle Ombre beschattet, die Gewohnheiten der Hausbewohner ausgespäht? Eine kleine Sorge mehr, dachte Tom, so wie die Holzameisen. Denk an etwas anderes. Er rührte in seinem Kaffee, nippte daran und sah kurz zu dem Jungen hinüber, der ihn anschaute, doch sofort den Blick senkte und sein Bierglas hob.
»’coutez, Monsieur Tomme!« Marie beugte sich über die Theke vor und wies mit dem Daumen auf den Jungen. »Américain«, zischte sie gegen das ohrenbetäubende Dröhnen der Jukebox an, das gerade einsetzte. »Sagt, er ist rübergekommen, weil er den Sommer hier arbeiten will. Ha-ha-ha!« Sie lachte rauh, als sei die Vorstellung eines arbeitenden Amerikaners komisch, vielleicht aber auch, weil sie glaubte, in Frankreich finde man keinen Job – daher die vielen Arbeitslosen. »Soll ich Sie vorstellen?«
»Merci, non. Wo arbeitet er?« fragte Tom.
Marie zuckte die Achseln. Jemand rief nach einem Bier, und sie wandte sich ab. »Ach, du weißt schon, wo du dir das hinstecken kannst!« rief sie einem anderen Gast fröhlich zu, während sie Bier zapfte.
Tom dachte an Héloïse, an die geplante Reise nach Amerika. Diesmal sollten sie in den Norden fliegen, nach Neuengland, nach Boston: der Fischmarkt, die Independence Hall, Milk Street und Bread Street. Dort war er zu Hause gewesen, auch wenn er die Stadt heute wohl kaum wiedererkennen würde. Tante Dottie mit ihren widerwilligen 11,79-Dollar-Geschenken, damals noch in Form von Schecks, war gestorben und hatte ihm 10000 Dollar hinterlassen, nicht aber ihr muffiges Häuschen in Boston, das Tom gern gehabt hätte. Wenigstens konnte er Héloïse das Haus zeigen, in dem er aufgewachsen war, von außen jedenfalls. Da Dottie kinderlos gestorben war, dürften die Kinder der Schwester seiner Tante das Haus geerbt haben. Tom legte sieben Franc auf die Theke, für Kaffee und Zigaretten, warf dem Jungen in der blauen Jacke noch einen Blick zu und sah, daß auch er zahlte. Er drückte seine Zigarette aus, rief »’soir!« in die Runde und ging.
Es war dunkel geworden. Im schwachen Licht einer Straßenlaterne überquerte er die Hauptstraße und betrat die noch dunklere Straße, an der ein paar hundert Meter weiter sein Haus lag – sie verlief fast gerade, war zweispurig und asphaltiert, und Tom kannte sie gut; dennoch war er froh, als sich von hinten ein Wagen näherte und er im Licht der Scheinwerfer die linke Straßenseite sehen konnte, auf der er ging. Kaum hatte das Auto ihn überholt, hörte er hinter sich schnelle, leise Schritte und fuhr herum.
Die Gestalt trug eine Taschenlampe. Tom sah Jeans und Tennisschuhe: der Junge aus der Bar.
»Mr. Ripley!«
Tom fragte angespannt: »Ja?«
»Guten Abend.« Der Junge blieb stehen, spielte mit der Taschenlampe herum. »Ich heiße Billy – Billy Rollins. Könnte ich Sie nach Hause begleiten, da ich doch eine Taschenlampe habe …?«
Undeutlich konnte Tom ein kantiges Gesicht ausmachen, dunkle Augen. Der Junge war kleiner als er und hatte ihn höflich angesprochen. Sollte das hier ein Überfall werden, oder war er heute abend überängstlich? Tom hatte nur ein paar Zehnfrancscheine dabei, doch keine Lust auf ein Handgemenge. »Ich komme schon klar, danke. Wohne ganz in der Nähe.«
»Ich weiß. – Na ja, wir haben denselben Weg.«
Tom warf einen besorgten Blick in die Dunkelheit vor ihm und ging weiter. »Amerikaner?« fragte er.
»Ja, Sir.« Der Junge leuchtete sorgsam so, daß beide sehen konnten, blickte aber mehr auf Tom als auf die Straße.
Tom hielt Abstand von dem Jungen. Er war bereit: Die Hände hingen frei herunter. »Machst du hier Urlaub?«
»Irgendwie schon. Ein bißchen arbeite ich auch. Als Gärtner.«
»So? Wo denn?«
»In Moret. Ein Privathaus.«
Tom hoffte auf ein weiteres Auto – er wollte den Ausdruck auf dem Gesicht des Jungen besser sehen können, weil er eine Spannung spürte, die gefährlich werden könnte. »Wo in Moret?«
»Chez Madame Jeanne Boutin, Rue de Paris achtundsiebzig«, antwortete der Junge prompt. »Ihr Garten ist ziemlich groß. Obstbäume. Vor allem aber jäte ich Unkraut und mähe den Rasen.«
Nervös ballte Tom die Fäuste. »Du schläfst in Moret?«
»Ja. Madame Boutin hat ein kleines Gartenhaus. Ein Bett und ein Waschbecken. Kaltes Wasser, aber im Sommer geht’s schon.«
Nun war Tom wirklich überrascht. »Ungewöhnlich für einen Amerikaner, aufs Land zu gehen statt nach Paris. Woher kommst du?«
»New York.«
»Und wie alt bist du?«
»Bald neunzehn.«
Tom hätte ihn für jünger gehalten. »Hast du eine Arbeitserlaubnis?« Zum ersten Mal sah er den Jungen lächeln. »Nein. Wir haben eine formlose Absprache – fünfzig Franc pro Tag. Ich weiß, das ist wenig, doch dafür läßt Madame Boutin mich frei wohnen. Einmal hat sie mich zum Lunch eingeladen. Natürlich kann ich mir Brot und Käse kaufen und in dem Häuschen essen. Oder in einem Café.«
Aus der Gosse kam er nicht, das merkte Tom an seiner Wortwahl, und wie er Madame Boutins Namen aussprach, zeigte, daß er ein bißchen Französisch konnte. »Wie lange machst du das schon?« fragte er auf französisch.
»Cinq, six jours«, erwiderte der Junge, den Blick noch immer auf Tom gerichtet.
Tom war froh, als die hohe, zur Straße geneigte Ulme in Sicht kam: noch rund fünfzig Schritte bis zu seinem Haus. »Was hat dich in diesen Teil Frankreichs verschlagen?«
»Ach, vielleicht der Wald von Fontainebleau. Ich gehe gern im Wald spazieren. Und Paris ist nicht weit. Dort bin ich eine Woche geblieben – hab mich nur mal umgeschaut.«
Tom ging langsamer. Warum war der Junge so an ihm interessiert, daß er wußte, wo er wohnte? »Gehen wir hinüber.«
Jetzt sah er im Licht der Türlaterne den beigen Kies von Belle Ombres Vorhof. Nur noch wenige Meter. »Woher weißt du, wo ich wohne?« fragte Tom. Er spürte die Verlegenheit des Jungen am Ducken des Kopfes, am Zucken des Lichtstrahls. »Ich habe dich hier auf der Straße gesehen – vor zwei, drei Tagen, nicht?«
»Ja«, erwiderte Billy mit tieferer Stimme. »Ich hatte Ihren Namen in den Zeitungen gelesen, drüben in den Staaten. Da ich nicht weit von Villeperce wohne, dachte ich mir, ich würde gern Ihr Haus sehen.«
In den Zeitungen? Wann? Und warum? Tom wußte allerdings, daß es ein Dossier über ihn gab. »Du hast ein Rad im Dorf stehen?«
»Nein«, sagte der Junge.
»Wie kommst du dann heute abend nach Moret zurück?«
»Ach, per Anhalter. Oder zu Fuß.«
Sieben Kilometer. Warum sollte jemand, der in Moret wohnte, nach neun Uhr abends sieben Kilometer nach Villeperce laufen? Tom sah einen schwachen Lichtschein links der Bäume: Madame Annette war noch wach, aber auf ihrem Zimmer. Er legte die Hand auf einen Flügel des angelehnten Eisentors. »Wenn du willst, kannst du gern auf ein Bier hereinkommen.«
Der Junge runzelte die Stirn, biß sich auf die Lippe und sah bedrückt zu Belle Ombres beiden Vordertürmen auf, als stelle ihn das vor eine schwere Entscheidung. »Ich …«
Sein Zögern verblüffte Tom noch mehr. »Mein Wagen steht hier. Ich kann dich nach Moret fahren.« Unschlüssiges Schweigen. Ob der Junge wirklich in Moret wohnte und arbeitete?
»Na gut. Vielen Dank. Ich komme kurz mit hinein«, sagte er.
Sie gingen durchs Tor, und Tom zog die Flügel zu, ohne jedoch abzuschließen. Der große Schlüssel steckte innen im Schloß. Nachts lag er unter einem Rhododendronbusch unweit des Tors versteckt.
»Meine Frau hat heute abend eine Freundin zu Besuch«, sagte Tom, »aber wir können in der Küche ein Bier trinken.«
Die Haustür war nicht abgeschlossen. Im Wohnzimmer brannte noch Licht, eine Lampe nur, doch Héloïse und Noëlle waren wohl nach oben gegangen. Oft unterhielten sich die beiden noch bis in die Nacht, entweder im Gästezimmer oder bei Héloïse.
»Bier? Kaffee?«
»Was für ein schönes Haus!« Der Junge stand nur da und sah sich um. »Sie spielen Cembalo?«
Tom lächelte. »Ich nehme Unterricht, zweimal die Woche. Gehen wir in die Küche.«
Sie gingen links durch den Flur. In der Küche machte Tom Licht, öffnete den Kühlschrank und nahm ein Sechserpack Heineken heraus.
»Hast du Hunger?« fragte Tom. Ein Rest Roastbeef lag auf einem Servierteller, unter Alufolie.
»Nein, danke, Sir.«
Im Wohnzimmer betrachtete der Junge das Bild Mann im Sessel über dem Kamin, dann den etwas kleineren, dafür echten Derwatt Die roten Stühle an der Wand neben der Flügeltür: blitzschnelle Blicke nur, die Tom aber nicht entgingen. Warum die Derwatts und nicht der größere Soutine in auffälligem Rot und Blau, der über dem Cembalo hing?
Tom wies auf das Sofa.
»Da kann ich nicht sitzen, meine Jeans sind zu schmutzig.«
Das Sofa war mit gelbem Satin bezogen. Im Wohnzimmer standen auch ein paar ungepolsterte Stühle, doch Tom sagte: »Gehen wir zu mir nach oben.«
Sie stiegen die geschwungene Treppe hinauf; Tom trug die Bierflaschen und einen Öffner. In Noëlles Zimmer brannte Licht, die Tür war angelehnt. Héloïses Tür auch: Tom hörte Stimmen und Gelächter, ging nach links in sein Zimmer und machte Licht.
»Nimm den Stuhl. Ist nur Holz.« Tom drehte den Schreibtischstuhl mit den Armlehnen zur Mitte des Zimmers und öffnete zwei Heineken.
Der Blick des Jungen ruhte auf der eckigen Wellington-Kommode. Holz, Messingecken und eingelassene Schubladengriffe hatte Madame Annette wie immer auf Hochglanz poliert. Er nickte beifällig. Ein gutaussehendes, eher ernstes Gesicht mit einem markanten, noch bartlosen Kinn. »Ein schönes Leben haben Sie hier, oder?«
Der Ton hätte spöttisch sein können oder auch wehmütig. Hatte der Junge die Berichte über ihn gelesen und ihn als Gauner abgestempelt? »Warum auch nicht?« Er gab dem Jungen eine Flasche. »Tut mir leid, Gläser hab ich vergessen.«
»Könnte ich mir wohl erst mal die Hände waschen?« fragte der Junge ernsthaft und höflich.
»Aber natürlich. Gleich hier.« Tom machte Licht in seinem Bad.
Der Junge beugte sich über das Waschbecken und schrubbte eine ganze Weile an sich herum. Die Tür hatte er offengelassen. Lächelnd kam er zurück: weiche Lippen, kräftige Zähne und glattes, dunkelbraunes Haar. »Schon besser. Heißes Wasser!« Er lächelte, wegen seiner Hände, nahm dann die Bierflasche wieder auf. »Wonach riecht es dort drin? Terpentin? Malen Sie?«
Tom lachte kurz. »Manchmal schon, aber heute hab ich die Holzameisen in den Regalen bekämpft.« Über die Ameisen wollte Tom nun wirklich nicht sprechen. Als der Junge Platz genommen hatte, fragte Tom, der auf einem zweiten Holzstuhl saß: »Wie lange willst du in Frankreich bleiben?«
Der Junge überlegte. »Vielleicht noch etwa einen Monat.«
»Und dann zurück aufs College? Du gehst doch aufs College?«
»Noch nicht. Ich weiß gar nicht, ob ich dorthin will. Muß mich noch entscheiden.« Er fuhr sich mit den Fingern durchs Haar, strich es nach links. Auf seinem Kopf standen noch ein paar widerborstige Strähnen hoch. Toms Musterung war ihm sichtlich peinlich, er trank einen Schluck Bier.
Jetzt fiel Tom ein kleines Muttermal auf der rechten Wange des Jungen auf. Beiläufig bemerkte er: »Du kannst gerne heiß duschen. Macht gar keine Umstände.«
»Ach nein, vielen Dank. Vielleicht sehe ich dreckig aus, aber ich kann mich auch mit kaltem Wasser waschen. Wie jeder andere auch.« Ein zaghaftes Lächeln lag auf seinen vollen jungen Lippen. Als der Junge die Bierflasche auf den Boden stellte, bemerkte er etwas in dem Papierkorb neben seinem Stuhl. Er sah genauer hin. »Auberge Réserve des Quatre Pattes«, las er laut von einem weggeworfenen Briefumschlag vor. »Das ist ja komisch! Waren Sie mal dort?«
»Nein. Ab und zu schicken sie mir fotokopierte Bettelbriefe. Warum?«
»Weil ich gerade diese Woche spazierengegangen bin, irgendwo im Wald östlich von Moret, und da traf ich auf dem Weg ein Paar – die beiden fragten mich, ob ich wüßte, wo diese Réserve wäre, angeblich läge sie bei Veneux-les-Sablons. Sie sagten, sie suchten schon seit Stunden danach, hätten ein paarmal Geld geschickt und wollten sich das Heim einmal anschauen.«
»In ihren Mitteilungen schreiben sie, Besucher wären dort unerwünscht, sie würden die Tiere nervös machen. Sie versuchen, für die Tiere per Post ein neues Heim zu finden – und dann schreiben sie Erfolgsgeschichten darüber, wie glücklich der Hund oder die Katze dort ist.« Tom lächelte bei dem Gedanken, wie sentimental manche dieser Geschichten waren.
»Haben Sie ihnen Geld geschickt?«
»Ach, ab und zu dreißig Franc.«
»Und wohin?«
»An eine Pariser Adresse. Ich glaube, ein Postfach.«
Nun lächelte Billy. »Wäre es nicht komisch, wenn es das Tierheim gar nicht gäbe?«
Die Möglichkeit fand auch Tom amüsant. »Ja. Nur eine Wohltätigkeitsmasche. Warum bin ich nicht selber darauf gekommen?« Tom machte zwei neue Flaschen auf.
»Kann ich ihn mir mal anschauen?« Billy meinte den Umschlag im Papierkorb.
»Sicher.«
Der Junge fischte auch die fotokopierten Blätter heraus, die in dem Umschlag gesteckt hatten. Er überflog die Seiten und las vor: »›… ein allerliebstes Geschöpf. Es verdient das paradiesische Heim, das ihm eine gütige Vorsehung beschert hat.‹ Ein Kätzchen. ›Nun ist uns ein abgemagerter braunweißer Hund zugelaufen, ein Fuchsterrier, der Penicillin und andere Schutzimpfungen braucht …‹« Der Junge sah zu Tom auf. »Ich frage mich nur, wohin ›zugelaufen‹? Was, wenn das alles Betrug ist?« Er betonte das Wort fast genießerisch. »Wenn es dieses Tierheim gibt, mache ich mir gern die Mühe, es zu suchen. Ich bin neugierig.«
Tom betrachtete ihn interessiert: Billy – Rollins, nicht? – war mit einem Mal zum Leben erwacht.
»Poste restante, case deux-cent quatre-vingt-sept, dixhuitième arrondissement«, las der Junge weiter. »Welches Postamt im Achtzehnten, frage ich mich? Kann ich das behalten? Sie wollten es ja offenbar wegwerfen.«
Der Eifer des Jungen beeindruckte Tom. Und woher kam, in so jungen Jahren, diese Begeisterung, einen Betrug aufzudecken? »Natürlich kannst du das behalten.« Tom setzte sich wieder. »Bist du womöglich selbst einmal betrogen worden?«
Billy lachte kurz auf, dann wurde er nachdenklich, als versuche er sich zu erinnern. »Nein, eigentlich nicht. Kein echter Betrug.«
Vielleicht eine Art Täuschung, dachte Tom, beschloß aber, nicht weiterzubohren. »Wäre es nicht amüsant, diesen Leuten unter falschem Namen einen Brief zu schicken: ›Wir sind Ihnen auf die Schliche gekommen, Sie machen Ihr Geld mit Tieren, die es gar nicht gibt, rechnen Sie also damit, daß die Polizei Ihrem – Postfach einen Besuch abstatten wird.‹«
»Wir sollten sie nicht warnen, wir sollten herausfinden, wo die wohnen, und sie dort überrumpeln. Mal angenommen, es sind ein paar harte Jungs in einem schicken Pariser Appartement! Wir müßten ihnen vom Postamt folgen.«
In dem Moment klopfte es. Tom ging zur Tür.
Héloïse stand in der Diele, im Pyjama und einem Hausmantel aus rosa Seersucker-Leinen. »Oh, Tomme, du hast Besuch! Ich dachte, die Stimmen kämen aus dem Radio.«
»Ein Amerikaner, den ich vorhin im Dorf kennengelernt habe. Billy –« Tom drehte sich um, nahm sie an der Hand, zog sie ins Zimmer. »Meine Frau Héloïse.«
»Billy Rollins. Enchanté, Madame.« Billy war aufgestanden und deutete eine Verbeugung an.
Auf französisch fuhr Tom fort: »Billy arbeitet als Gärtner in Moret. Er kommt aus New York. – Bist du ein guter Gärtner, Billy?« Er lächelte.
»Jedenfalls habe ich gute Absichten«, erwiderte Billy. Er zog den Kopf ein und stellte die Bierflasche erneut vorsichtig auf dem Boden neben Toms Schreibtisch ab.
»Ich hoffe, du verlebst angenehme Tage in Frankreich«, sagte Héloïse leichthin, doch ihr schneller Blick hatte den Jungen schon taxiert. »Ich wollte nur gute Nacht sagen, Tomme. Morgen vormittag fahren Noëlle und ich zu dem Antiquitätengeschäft in Le Pavé du Roi und dann weiter nach Fontainebleau, zum Mittagessen im Aigle Noir. Willst du dorthin kommen?«
»Danke, aber ich glaube nicht, Liebes. Amüsiert euch. Wir sehen uns morgen früh, bevor ihr fahrt, oder? Gute Nacht, schlaf gut.« Er küßte sie auf die Wange. »Ich fahre Billy nach Hause, also erschrick nicht, wenn du mich später hereinkommen hörst. Ich schließe ab, wenn ich gehe.«
Billy meinte, er könne per Anhalter fahren, kein Problem, doch Tom bestand darauf, ihn hinzufahren. Er wollte sehen, ob es das Haus in Moret an der Rue de Paris wirklich gab.
Im Wagen sagte Tom zu Billy: »Deine Familie lebt in New York? Was macht dein Vater beruflich, wenn du die Frage gestattest?«
»Er ist – in der Elektronikbranche. Die Firma stellt Meßgeräte her. Für alle möglichen elektronischen Messungen. Er ist einer der Geschäftsführer.«
Tom spürte, daß Billy log. »Kommst du gut mit deinen Eltern aus?«
»Na klar. Sie …«
»Schreiben sie dir?«
»Ja, sicher. Sie wissen, wo ich bin.«
»Und nach Frankreich, was dann? Zurück nach Hause?«
Pause. »Vielleicht Italien. Weiß noch nicht.«
»Ist das die Straße? Soll ich hier abbiegen?«
»Nein – die andere Richtung«, sagte der Junge gerade noch rechtzeitig. »Doch die Straße stimmt.«
Kurz darauf zeigte der Junge, wo Tom halten sollte: ein bescheidenes, mittelgroßes Haus, alle Fenster schon dunkel, davor ein Garten, eine niedrige weiße Mauer zum Gehweg hin, seitlich ein geschlossenes Einfahrtstor.
»Mein Schlüssel.« Billy zog einen langen Schlüssel aus der Innentasche seiner Jacke. »Vielen Dank, Mr. Ripley.« Er stieß die Wagentür auf.
»Lass mich wissen, was du über das Tierheim herausbekommst.«
Der Junge lächelte. »Ja, Sir.«
Tom sah zu, wie er zum dunklen Tor ging, den Strahl der Taschenlampe auf das Schloß richtete, den Schlüssel umdrehte. Billy ging hinein, winkte Tom zu und schloß hinter sich ab. Als Tom zum Wenden zurücksetzte, konnte er auf dem amtlichen blauen Metallschildchen neben der Haustür deutlich die Nummer 78 lesen. Seltsam, dachte er: Warum sollte ein Junge so eine langweilige Arbeit annehmen, selbst für kurze Zeit – es sei denn, er lief vor etwas davon und mußte sich verstecken? Aber Billy kam ihm nicht vor wie ein jugendlicher Krimineller. Wahrscheinlich hatte er Krach mit seinen Eltern gehabt. Oder ein Mädchen hatte mit ihm gebrochen, und in seiner Enttäuschung hatte er ein Flugzeug genommen, um zu vergessen. Toms Gefühl sagte ihm, daß der Junge reich war und es nicht nötig hatte, für fünfzig Franc am Tag im Garten zu arbeiten.