George Orwell
Farm der Tiere
Ein Märchen
Aus dem Englischen von
Michael Walter
Mit einem Nachwort
des Autors
Titel der 1945 erschienenen Originalausgabe:
›Animal Farm: A Fairy Story‹
Copyright © by The Estate
of the late Sonia Brownell Orwell
Eine erste Übersetzung von N. O. Scarpi
erschien 1946
Das Nachwort des Autors erschien
erstmals am 15. September 1972
unter dem Titel ›The Freedom of the Press‹
im Times Literary Supplement
Umschlagzeichnung von
Tomi Ungerer
Alle deutschen Rechte vorbehalten
Copyright © 2012
Diogenes Verlag AG Zürich
www.diogenes.ch
ISBN Buchausgabe 978 3 257 20118 5 (43. Auflage)
ISBN E-Book 978 3 257 60111 4
Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.
[5] Inhalt
Farm der Tiere [7]
Animal Farm
Die Pressefreiheit [133]
The Freedom of the Press
[7] Farm der Tiere
[9] Erstes Kapitel
Mr Jones von der Herren-Farm hatte die Hühnerställe zur Nacht zugesperrt, war aber zu betrunken, um auch noch daran zu denken, die Schlupflöcher dichtzumachen. Im hin- und hertanzenden Lichtkreis seiner Laterne schlingerte er quer über den Hof, schleuderte sich an der Hintertür die Stiefel von den Füßen, zapfte sich aus dem Fässchen in der Spülküche ein letztes Glas Bier und schaffte sich hoch ins Bett, wo Mrs Jones bereits schnarchte.
Gleich als das Licht im Schlafzimmer erlosch, begann es in allen Farmgebäuden zu kreuchen und fleuchen. Tagsüber hatte sich die Kunde verbreitet, dass Old Major, der preisgekrönte, mittelgroße weiße Keiler, vergangene Nacht einen sonderbaren Traum gehabt hätte, den er den übrigen Tieren mitteilen wolle. Man war übereingekommen, sich vollzählig in der großen Scheune einzufinden, sobald Mr Jones nicht mehr im Wege stand. Old Major (wie er stets genannt wurde, obwohl der Name, unter dem er ausgestellt worden war, ›Willingdoner Pracht‹ lautete) genoss ein so hohes Ansehen auf der Farm, dass ein jeder gern bereit war, ein Stündchen Schlaf zu opfern, um zu hören, was er zu sagen hatte.
Auf einer Art Empore an einem Ende der großen [10] Scheune hatte es sich Major auf seinem Strohlager bereits behaglich gemacht. Über ihm baumelte eine Laterne von einem Balken. Er zählte zwölf Jahre und hatte in letzter Zeit tüchtig angespeckt, war aber noch immer ein majestätisch anzuschauendes Schwein von weiser und gütiger Erscheinung, ungeachtet des Umstands, dass seine Hauer nie gekappt worden waren. Bald begannen auch die übrigen Tiere einzutreffen und es sich nach ihrer jeweiligen Art bequem zu machen. Zuerst kamen die drei Hunde, Glockenblume, Jessie und Zwickzwack, und dann die Schweine, die sich im Stroh direkt vor der Plattform niederließen. Die Hühner hockten sich auf die Fenstersimse, die Tauben flatterten ins Sparrenwerk auf, die Schafe und Kühe lagerten sich hinter den Schweinen und fingen an wiederzukäuen. Die beiden Zugpferde, Boxer und Kleeblatt, kamen gemeinsam herein; sie gingen sehr langsam und setzten ihre mächtigen, behaarten Hufe aus Furcht, es könne irgendein kleines Tier im Stroh verborgen liegen, ganz behutsam auf. Kleeblatt war eine stämmige Mutterstute, die sich den mittleren Jahren näherte und die nach ihrem vierten Fohlen ihre alte Figur nie wieder so recht zurückgewonnen hatte. Boxer war ein Mordstier, beinahe achtzehn Hand hoch und so stark wie zwei gewöhnliche Pferde zusammen. Eine Blesse auf der Nase verlieh ihm ein etwas dümmliches Aussehen, und er war auch wirklich keine große Leuchte, wurde aber wegen seiner Charakterfestigkeit und ungeheuren Arbeitskraft allgemein geachtet. Nach den Pferden kamen Muriel, die weiße Ziege, und Benjamin, der Esel. Benjamin war das älteste Tier auf der Farm und das übellaunigste. Er sprach selten, und wenn, dann meist nur, um irgendeine zynische [11] Bemerkung von sich zu geben – er sagte beispielsweise, Gott habe ihm zwar einen Schwanz geschenkt, um damit die Fliegen zu verscheuchen, doch er persönlich würde lieber sowohl auf Schwanz wie Fliegen verzichtet haben. Er war das einzige Tier auf der Farm, das niemals lachte. Fragte man ihn, warum, so pflegte er zu entgegnen, er fände nichts zum Lachen. Trotzdem hing er, ohne dies offen einzugestehen, an Boxer; die beiden verbrachten für gewöhnlich ihre Sonntage zusammen auf der kleinen Koppel hinter dem Obstgarten, grasten Flanke an Flanke und sagten nie einen Ton.
Die beiden Pferde hatten sich eben niedergelegt, da schnürte eine Schar Entlein, die ihre Mutter verloren hatten, kläglich piepsend in die Scheune und watschelte hin und her, um einen Platz zu finden, wo man nicht auf sie treten würde. Kleeblatt legte mit ihrem langen Vorderbein eine Art Mauer um sie, und die Entlein kuschelten sich ein und waren auf der Stelle eingeschlafen. Im letzten Augenblick kam Mollie, die törichte, hübsche Schimmelstute, die Mr Jones’ offenen Zweisitzer zog, geziert hereingetrippelt und malmte ein Stück Zucker. Sie wählte sich einen Platz weit vorne und begann kokett ihre weiße Mähne zu schütteln, in der Hoffnung, damit auf die roten Bänder aufmerksam zu machen, mit der sie durchflochten war. Zuallerletzt erschien die Katze, die wie üblich Ausschau nach dem wärmsten Plätzchen hielt und sich schließlich zwischen Boxer und Kleeblatt drängte; dort schnurrte sie Majors ganze Rede über zufrieden, ohne auch nur auf ein Wort von dem zu hören, was er sagte.
Bis auf Moses, den zahmen Raben, der auf einer [12] Vogelstange bei der Hintertür schlief, waren jetzt alle Tiere anwesend. Als Major sah, dass alle es sich bequem gemacht hatten und gespannt warteten, räusperte er sich und begann:
»Genossen, ihr habt schon von dem sonderbaren Traum vernommen, den ich letzte Nacht hatte. Doch auf den Traum komme ich später zu sprechen. Zuerst habe ich euch noch etwas anderes zu sagen. Ich glaube nicht, Genossen, dass ich noch sehr viele Monate unter euch weilen werde, und bevor ich sterbe, halte ich es für meine Pflicht, euch die Weisheit weiterzugeben, die ich mir erworben habe. Hinter mir liegt ein langes Leben, ich hatte viel Zeit nachzudenken, während ich allein in meinem Koben lag, und ich darf wohl von mir behaupten, dass ich die Natur des Daseins auf dieser Erde ebenso gut begreife wie nur irgendein heute lebendes Tier. Und darüber möchte ich zu euch sprechen.
Nun, Genossen, wie ist die Natur dieses unseres Lebens? Seien wir ehrlich: Unser Leben ist elend, mühevoll und kurz. Wir werden geboren, wir bekommen gerade so viel Futter, dass uns die Puste nicht ausgeht, und wer von uns dazu geeignet ist, wird gezwungen, bis zum letzten Deut seiner Kraft zu schuften; und just in dem Augenblick, wo es mit unserer Nützlichkeit aus ist, werden wir mit scheußlicher Grausamkeit hingeschlachtet. Wenn es erst einmal ein Jahr alt geworden ist, hat kein Tier in England mehr eine Vorstellung von Muße und Glück. Kein Tier in England ist frei. Das Leben eines Tieres ist Jammer und Sklaverei: Das ist die nackte Wahrheit.
Doch liegt dies einfach in der Ordnung der Natur? Liegt es daran, dass dieses unser Land zu arm ist, um denen, die [13] es bevölkern, ein anständiges Leben bieten zu können? Nein, Genossen, und tausendmal nein! Englands Boden ist fruchtbar, sein Klima ist gut, es ist durchaus imstande, einer unvergleichlich größeren Zahl von Tieren, als jetzt darauf wohnen, Futter im Überfluss zu bieten. Unsere eine Farm hier würde ein Dutzend Pferde, zwanzig Kühe, Hunderte von Schafen ernähren – und alle würden sie in einer Bequemlichkeit und Würde leben, die wir uns jetzt kaum vorzustellen vermögen. Warum also leben wir in diesem elenden Zustand weiter? Weil uns fast das gesamte Produkt unserer Arbeit von Menschen gestohlen wird. Darin, Genossen, liegt die Antwort auf all unsere Probleme. Sie lässt sich in einem einzigen Wort zusammenfassen – Mensch. Der Mensch ist unser einzig wirklicher Feind. Lasst den Menschen von der Bildfläche verschwinden, und der Urgrund von Hunger und Überarbeitung ist ein für alle Mal beseitigt.
Der Mensch ist das einzige Geschöpf, das konsumiert, ohne zu produzieren. Er gibt keine Milch, er legt keine Eier, er ist zu schwach, den Pflug zu ziehen, er läuft nicht schnell genug, um Kaninchen zu fangen. Und doch ist er Herr über alle Tiere. Er schickt sie an die Arbeit und lässt ihnen dafür das bare Existenzminimum, damit sie ihm nicht verhungern, und den Rest behält er für sich. Unsere Arbeit ackert den Boden, unser Dung düngt ihn, und doch gibt es keinen unter uns, der mehr besäße als die nackte Haut. Ihr Kühe dort vor mir, wie viele tausend Gallonen Milch habt ihr in diesem letzten Jahr gegeben? Und was ist mit jener Milch geschehen, mit der robuste Kälbchen hätten großgezogen werden sollen? Jeder Tropfen davon ist die [14] Kehlen unserer Feinde hinuntergeronnen. Und ihr Hennen, wie viele Eier habt ihr in diesem letzten Jahr gelegt, und aus wie vielen dieser Eier sind je Küken geschlüpft? Alle übrigen sind auf den Markt gewandert, um Jones und seinen Leuten Geld zu bringen. Und du, Kleeblatt, wo sind die vier Fohlen, die du geboren hast und die die Stütze und Erbauung deines Alters hätten sein sollen? Ein jedes wurde verkauft, als es ein Jahr alt war – du wirst keins von ihnen jemals mehr wiedersehen. Was hast du als Dank für deine vier Niederkünfte und all deine Feldarbeit je anderes erhalten als die kargen Rationen und einen Stall?
Und nicht einmal das elende Leben, das wir fristen, darf seine natürliche Spanne währen. Ich, für mein Teil, murre nicht, denn ich gehöre zu den Glücklichen. Ich bin zwölf Jahre alt und habe über vierhundert Kinder gehabt. So verläuft ein natürliches Schweineleben. Doch am Ende entgeht kein Tier dem grausamen Messer. Ihr jungen Mastferkel, die ihr da vor mir sitzt, binnen einem Jahr wird ein jedes von euch sein Leben auf dem Hackklotz ausquieken. Dieses Grauen erwartet uns alle – Kühe, Schweine, Hühner, Schafe, jeden. Selbst den Pferden und Hunden steht kein besseres Schicksal bevor. Dich, Boxer, wird Jones an genau dem Tag, da deine mächtigen Muskeln erlahmen, dem Abdecker verkaufen, der dir die Kehle durchschneiden und dich für die Fuchshunde einkochen wird. Und was die Hunde betrifft, denen bindet Jones einen Ziegelstein um den Hals und ersäuft sie im nächstbesten Teich, wenn sie alt werden und die Zähne verlieren.
Ist es also nicht glasklar, Genossen, dass alle Übel dieses unseres Lebens der Tyrannei der Menschen entspringen? [15] Werdet nur erst den Menschen los, und die Produkte unserer Arbeit gehören uns. Beinahe über Nacht könnten wir reich und frei werden. Was, also, müssen wir tun? Nun, natürlich Tag und Nacht mit Leib und Seele auf den Sturz des Menschengeschlechts hinarbeiten! Das ist meine Botschaft an euch, Genossen: Rebellion! Ich weiß nicht, wann diese Rebellion kommen wird, vielleicht in einer Woche oder in hundert Jahren, doch ich weiß, so gewiss, wie ich dieses Stroh hier unter meinen Füßen sehe, dass früher oder später Gerechtigkeit geübt werden wird. Darauf, Genossen, heftet während der euch noch verbleibenden, kurzen Lebensspanne fest den Blick! Und vor allem, gebt diese meine Botschaft jenen weiter, die nach euch kommen, damit zukünftige Generationen den Kampf bis zum siegreichen Ende weiterführen.
Und vergesst nicht, Genossen, nie darf eure Entschlusskraft ins Wanken geraten. Kein Argument darf euch irreleiten. Hört nie auf jene, die euch erzählen, der Mensch und die Tiere hätten ein gemeinsames Interesse, der Wohlstand des einen bedinge den Wohlstand der anderen. Lauter Lügen. Der Mensch dient einzig und allein seinem eigenen Interesse. Und unter uns Tieren soll vollkommene Eintracht, vollkommene Genossenschaft im Kampf herrschen. Alle Menschen sind Feinde. Alle Tiere sind Genossen.«
In diesem Augenblick entstand ein Riesentumult. Während Major sprach, waren vier große Ratten aus ihren Löchern gekrochen, die ihm, auf ihren Hinterteilen sitzend, zuhörten. Plötzlich hatten die Hunde sie entdeckt, und nur ein Blitzspurt in ihre Löcher rettete den Ratten das Leben. Major hob Ruhe gebietend seine Haxe.
[16] »Genossen«, sagte er, »dieser Punkt bedarf der Klärung. Die wildlebenden Geschöpfe, wie Ratten und Kaninchen – sind sie unsere Freunde oder unsere Feinde? Wir lassen darüber abstimmen. Ich unterbreite der Versammlung die Frage: Sind Ratten Genossen?«
Man schritt sogleich zur Abstimmung und kam mit überwältigender Mehrheit überein, dass Ratten Genossen seien. Es gab nur vier Gegenstimmen, die der drei Hunde und die der Katze, die freilich, wie sich später herausstellte, für beide Seiten gestimmt hatte. Major fuhr fort:
»Ich habe nur noch wenig zu sagen. Ich wiederhole bloß: Denkt stets an eure Pflicht, dem Menschen und all seinem Tun feindlich gegenüberzustehen. Alles, was auf zwei Beinen einhergeht, ist ein Feind. Alles, was auf vier Beinen einhergeht oder Flügel hat, ist ein Freund. Und denkt auch daran, dass wir in unserem Kampf gegen den Menschen ihm nie gleich werden dürfen. Auch wenn ihr ihn besiegt habt, verfallt nicht in seine Laster. Kein Tier darf je in einem Haus wohnen oder in einem Bett schlafen oder Kleider tragen oder Alkohol trinken oder Tabak rauchen oder Geld anrühren oder Geschäfte machen. Der Mensch hat nur schlimme Gewohnheiten. Und vor allem darf ein Tier nie seinesgleichen unterdrücken. Schwach oder stark, schlau oder schlicht, wir alle sind Brüder. Kein Tier darf je ein anderes töten. Alle Tiere sind gleich.
Und jetzt, Genossen, will ich euch von meinem Traum der letzten Nacht erzählen. Beschreiben kann ich euch diesen Traum nicht. Es war ein Traum von der Erde, so wie sie dereinst sein wird, wenn der Mensch verschwunden ist. Doch er erinnerte mich an etwas, das ich lange vergessen [17] hatte. Vor vielen Jahren, als ich noch ein kleines Schweinchen war, da pflegten meine Mutter und die anderen Sauen ein altes Lied zu singen, von dem sie nur die Melodie und die ersten drei Worte kannten. In meiner Kindheit hatte ich diese Melodie auch gekannt, doch seitdem ist sie mir längst aus dem Sinn gekommen. Letzte Nacht jedoch kehrte sie mir im Traum zurück. Und nicht nur das, auch die Worte des Liedes kehrten zurück – Worte, die, ich bin sicher, von den Tieren vor langer Zeit gesungen wurden und die der Erinnerung generationenlang entfallen waren. Dieses Lied, Genossen, will ich euch jetzt vorsingen. Ich bin alt, und meine Stimme ist heiser, aber wenn ich euch die Melodie erst einmal beigebracht habe, werdet ihr es selbst besser singen. Das Lied heißt: Tiere Englands.«
Old Major räusperte sich und begann zu singen. Seine Stimme war, wie er selbst gesagt hatte, heiser, aber er sang doch recht ordentlich, und die Melodie war mitreißend, ein Mittelding zwischen Hänschen klein und La Cucaracha. Die Worte lauteten:
»Tiere Englands, Tiere Irlands,
Tiere, ihr, von fern und weit,
Höret meine frohe Botschaft
Von der gold’nen Zukunftszeit.
Seid gewiss, der Tag wird kommen,
Wo der Tyrann Mensch muss geh’n,
Und auf Englands satten Fluren
Werden nur noch Tiere steh’n.
[18] Nasenringe werden schwinden,
Das Geschirr wird abgeschnallt,
Bügel, Sporen werden rosten,
Keine Peitsche dann mehr knallt.
Unvorstellbar reiche Güter:
Korn und Gerste, Klee und Heu,
Hafer, Bohnen, Mangoldwurzeln,
Schenkt uns dieser Tag erst neu.
Leuchten werden Englands Felder,
Lauterer sein Wasser rinnt,
Lieblicher die Lüfte wehen,
Wenn der Freiheit Tag beginnt.
Diesen Tag gilt’s zu erringen,
Sterben wir auch, eh er naht;
Kuh und Ross und Gans und Truthahn
Müssen säen der Freiheit Saat.
Tiere Englands, Tiere Irlands,
Tiere, ihr, von fern und weit,
Hört und kündet frohe Botschaft
Von der gold’nen Zukunftszeit.«
Das Singen dieses Liedes versetzte die Tiere in helle Aufregung. Noch fast ehe Major zu Ende gekommen war, hatten sie begonnen, es für sich allein zu singen. Sogar die dümmsten unter ihnen hatten schon die Melodie und ein paar der Worte aufgeschnappt, und was die klügeren, wie Schweine [19] und Hunde, anlangte, so konnten die das ganze Lied in wenigen Minuten auswendig. Und dann brach, nach einigen Probeversuchen, die ganze Farm mit ungeheurer Einstimmigkeit in Tiere Englands aus. Die Kühe muhten es, die Hunde jaulten es, die Schafe blökten es, die Pferde wieherten es, die Enten quakten es. Sie waren so begeistert von dem Lied, dass sie es gleich fünfmal hintereinanderweg sangen und es vielleicht noch die ganze Nacht hindurch gesungen hätten, wenn sie nicht unterbrochen worden wären.
Unglücklicherweise weckte der Spektakel Mr Jones auf, der aus dem Bett sprang, weil er mit Sicherheit glaubte, dass sich ein Fuchs auf dem Hof herumtrieb. Er griff sich die Flinte, die immer in einer Ecke seines Schlafzimmers lehnte, und feuerte eine Ladung Schrot vom Kaliber 6 in die Dunkelheit hinaus. Die Schrotkörner gruben sich in die Scheunenwand, und die Versammlung zerstreute sich eilends. Ein jedes floh zu seinem Schlafplatz. Das Federvieh hüpfte auf seine Stangen, die anderen Tiere legten sich ins Stroh, und im Nu war die ganze Farm eingeschlafen.
[20] Zweites Kapitel
Drei Nächte später entschlief Old Major sanft. Sein Leib wurde im hintersten Winkel des Obstgartens begraben.
Das geschah Anfang März. Während der nächsten drei Monate gab es viel geheime Aktivitäten. Majors Rede hatte den intelligenteren Tieren auf der Farm zu einer völlig neuen Lebensanschauung verholfen. Sie wussten nicht, wann die von Major vorausgesagte Rebellion stattfinden würde, sie hatten keinerlei Anlass zu glauben, dass es noch zu ihren Lebzeiten geschehen würde, doch sie erkannten deutlich ihre Pflicht, sich darauf vorzubereiten. Die Aufgabe, die anderen zu unterweisen und zu organisieren, fiel naturgemäß den Schweinen zu, die allgemein als die schlauesten Tiere anerkannt wurden. Unter ihnen wiederum taten sich zwei junge Keiler namens Schneeball und Napoleon hervor, die Mr Jones zum Verkauf großzog. Napoleon war ein wuchtiger, ziemlich wild ausschauender Berkshirekeiler, das einzige Berkshireschwein auf der Farm, kein großer Redner, aber bekannt dafür, sich durchsetzen zu können. Schneeball war ein lebhafteres Schwein als Napoleon, redegewandter und einfallsreicher, dem aber nicht die gleiche Charaktertiefe zugesprochen wurde. Alle übrigen männlichen Schweine auf der Farm waren Mastferkel. [21] Das bekannteste von ihnen war ein kleines, fettes Schwein, Schwatzwutz genannt, mit kugelrunden Backen, Zwinkeräuglein, flinken Bewegungen und einer schrillen Stimme. Er war ein brillanter Redner, und wenn er eine schwierige Frage diskutierte, hatte er dabei eine Art, von einer Seite auf die andere zu hopsen und mit dem Schwanz durch die Luft zu fegen, die irgendwie sehr überzeugend wirkte. Die anderen sagten von Schwatzwutz, er könnte aus Schwarz Weiß machen.
Diese drei hatten die Lehren Old Majors zu einem kompletten Denksystem ausgearbeitet, dem sie den Namen Animalismus gaben. Mehrere Nächte in der Woche hielten sie, wenn Mr Jones schlafen gegangen war, geheime Versammlungen in der Scheune ab und erläuterten den Übrigen die Prinzipien des Animalismus. Anfangs stießen sie auf viel Dummheit und Wurstigkeit. Einige der Tiere redeten von der Loyalitätspflicht gegenüber Mr Jones, den sie als ›Herrn‹ bezeichneten, oder sie machten grundsätzliche Bemerkungen wie: ›Mr Jones füttert uns. Wenn er fort wäre, würden wir verhungern.‹ Andere stellten solche Fragen wie: ›Warum sollen wir uns Gedanken darüber machen, was nach unserem Tod passiert?‹ oder ›Wenn diese Rebellion sowieso kommt, was macht es da für einen Unterschied, ob wir für sie arbeiten oder nicht?‹, und die Schweine hatten alle Mühe, ihnen klarzumachen, dass dies dem Geist des Animalismus zuwiderliefe. Die allerdümmsten Fragen stellte Mollie, die Schimmelstute. Ihre erste Frage an Schneeball lautete: »Wird es nach der Rebellion auch noch Zucker geben?«
»Nein«, sagte Schneeball fest. »Wir verfügen nicht über [22] die Mittel, um auf dieser Farm Zucker herzustellen. Außerdem brauchst du gar keinen Zucker. Du wirst so viel Hafer und Heu haben, wie du nur möchtest.«
»Und werde ich dann auch noch die Bänder in meiner Mähne tragen dürfen?«, fragte Mollie.
»Genossin«, sagte Schneeball, »diese Bänder, an denen du so hängst, sind das Abzeichen der Knechtschaft. Begreifst du denn nicht, dass Freiheit mehr wert ist als bunte Bänder?«
Mollie gab ihm recht, doch sehr überzeugt klang es nicht. Noch härter war der Kampf, den die Schweine ausfechten mussten, um den Lügen entgegenzuwirken, die Moses, der zahme Rabe, verbreitete. Moses, Mr Jones’ Augenstern, war ein Spitzel und Ohrenbläser, aber auch ein erzgeschickter Redner. Er behauptete, von der Existenz eines geheimnisvollen Landes mit Namen Kandiszucker-Berg zu wissen, in das alle Tiere nach ihrem Tod eingingen. Es lag irgendwo im Himmel droben, ein Stückchen weit über den Wolken, sagte Moses. In Kandiszucker-Berg war alle Tage Sonntag, der Klee grünte immerfort, und an den Hecken wuchsen Würfelzucker und Ölkuchen. Die Tiere hassten Moses, weil er ein Klatschmaul war und nichts arbeitete, aber ein paar von ihnen glaubten doch an Kandiszucker-Berg, und die Schweine mussten heftigst debattieren, um sie davon zu überzeugen, dass es solch einen Ort überhaupt nicht gab.