Barbara Vine
König
Salomons
Teppich
Roman
Aus dem
Englischen von
Renate Orth-Guttmann
Titel der 1991 bei Viking, London,
erschienenen Originalausgabe:
›King Solomon’s Carpet‹
Copyright © 1991 by Kingsmarkham Enterprises Ltd.
Die deutsche Erstausgabe erschien 1993
im Diogenes Verlag
Der Mann, der Donnerstag war von Gilbert K. Chesterton
in der Übersetzung von Heinrich Lautensack,
Hyperion-Verlag, 1910
Umschlagillustration von Heinz Ita
Den Frauen und Männern gewidmet,
die für die Londoner U-Bahn arbeiten,
und all jenen,
die in ihren Tunnels musizieren.
Alle deutschen Rechte vorbehalten
Copyright © 2013
Diogenes Verlag AG Zürich
www.diogenes.ch
ISBN Buchausgabe 978 3 257 22736 9 (7. Auflage)
ISBN E-Book 978 3 257 60124 4
Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.
[5] »Ich sage Ihnen, ich sage Ihnen«, fuhr Syme mit Eifer fort, »daß ich allemal, sowie ein Zug ankommt, fühle, fühle: daß er Breschen schlug in die Belagerer – fühle, fühle, der Mensch erfocht einen Sieg über das Chaos. Sie schätzen es gering. Sie halten es für mehr als selbstverständlich, daß einer, wenn einer Sloane Square verlassen hat, nach Viktoria kommen muß. Ich aber sage Ihnen: daß einer statt dessen tausend andere Dinge tun könnte… und daß ich allemal, wenn ich wirklich dahin gelange, das Gefühl habe: Ich bin mit knapper Not davongekommen. Und wenn ich den Schaffner sodann ›Viktoria‹ schreien höre, so klingt das absolut nicht so mir nichts, dir nichts. Da schreit für mich, da schreit für mein Gefühl ein Herold: Sieg. Das klingt für mich in der Tat: ›Viktoria, Viktoria‹. Da siegt Adam, Adam!«
G. K. Chesterton,
›Der Mann, der Donnerstag war.
Ein Nachtmahr‹
[6] Es gibt zwar senkrechte Schächte, die von der Straße her in die Londoner U-Bahn führen, und auch einige, die von weiter oben kommen; an der Station Holborn aber, hinter dem Soane’s Museum oder in der näheren Umgebung von Lincoln’s Inn Fields, gibt es solche Schächte nicht.
Von High Street Kensington nach Notting Hill Gate auf dem Dach eines U-Bahn-Wagens zu fahren ist unmöglich, oder jedenfalls wäre es zu gefährlich, als daß ein normaler Mensch – gleich welchen Alters – es in Betracht ziehen würde.
Die übrigen Sachangaben über London Transport Underground entsprechen den Tatsachen.
[7] 1
Sehr vieles von dem, was andere Leute jeden Tag taten, hatte sie nie getan. Es waren ganz gewöhnliche Dinge, die Geld und eine schwache Gesundheit ihr erspart hatten: Sie hatte nie ein Bügeleisen benutzt oder eine Nadel eingefädelt, hatte nie mit dem Bus fahren oder für andere kochen müssen, hatte nie eigenes Geld verdient, war nie gezwungenermaßen früh aufgestanden, hatte nie beim Arzt gewartet oder in einer Schlange gestanden.
Ihre Urgroßmutter hatte sich niemals ohne den Beistand einer Zofe angekleidet, aber die Zeiten hatten sich geändert.
Häuser und Orte hatten sich weit weniger verändert, und die Familie lebte noch immer auf Temple Stephen in Derbyshire. Man feierte Weihnachten nach wie vor still und besinnlich, aber den Jahreswechsel als großes Fest mit Hausgästen. Man spielte die traditionellen Gesellschaftsspiele: Schreibspiele und das Kim-Spiel und eins, das ihr Bruder erfunden und »Wir schließen das Pfeffertor« genannt hatte. Manchmal wurde auch gewettet: wie hoch oder wie tief dies oder jenes war, wo es lag oder wieviel es davon gab.
Ein Gast schlug eine Wette über die Zahl der weltweit vorhandenen Metrosysteme vor. Ob er denn die Antwort wisse, fragten die anderen, denn wie sollte man so was sonst herausbekommen? Natürlich, sagte er, sonst hätte er doch den Vorschlag gar nicht erst gemacht.
[8] »Was ist ein Metrosystem?« fragte sie.
»Eine Bahn unter der Erde. Eine Untergrundbahn.«
»Und wie viele gibt es davon?«
»Das will ich ja gerade von euch wissen. Jeder nennt eine Zahl und gibt zehn Pfund in die Spielkasse.«
»Auf der Welt?« fragte sie.
Sie hatte keine Ahnung. Zwanzig, sagte sie, und dachte, das sei bestimmt viel zu hoch gegriffen. Jemand sagte sechzig, jemand zwölf. Der Mann, der die Wette vorgeschlagen hatte, lächelte, und angesichts dieses Lächelns sagte ihre Schwester hundert und ihr Schwager neunzig.
Damit hatte er gewonnen und kassierte den Einsatz. Die richtige Lösung lautete 89. »Eins für jedes Jahr des Säkulums«, sagte jemand sehr tiefsinnig.
»Ich bin noch nie U-Bahn gefahren«, sagte sie.
Zuerst mochte das niemand glauben. Fünfundzwanzig Jahre – und noch nie U-Bahn gefahren. Doch es stimmte. Sie lebte hauptsächlich auf dem Land, und sie war reich. Und nicht sehr kräftig. Eine Kleinigkeit war mit ihrem Herzen nicht ganz in Ordnung, ein leichtes Geräusch, eine Klappe funktionierte nicht so, wie sie sollte. Die Älteren nannten sie »zart«. Man hatte ihr gesagt, es könne Probleme geben, falls sie Kinder haben wolle, aber das würde man schon in den Griff bekommen. Später wollte sie vielleicht Kinder, aber jetzt noch nicht.
Sie war dadurch bequem geworden und ziemlich selbstbezogen. So hatte sie nie ein schlechtes Gewissen, wenn sie sich nach dem Mittagessen hinlegte, und sah gern Menschen um sich, die sich um sie kümmerten. Sie war nie auf die Idee gekommen, sich eine Arbeit zu suchen.
[9] Seit ihrem siebzehnten Lebensjahr besaß sie einen eigenen Wagen, und wenn sie nach London kam, stand ihr eine Flotte privater Leihwagen zur Verfügung, gar nicht zu reden von den Taxis, die in Mayfair herumkurvten. Sie war verheiratet gewesen und wieder geschieden, hatte – in etwa – fünfzehn Liebhaber gehabt, war siebzehnmal in den USA und zweimal in Afrika gewesen, hatte mit dem Wagen oder gemächlich zu Fuß die Hauptstädte Europas erkundet, war zweimal rund um die Welt geflogen, hatte all das getan, was »man« so tat, aber viele ganz gewöhnliche Dinge nicht. Und sie war nie mit der Londoner U-Bahn gefahren.
Sie legte auch gar keinen Wert darauf. Was man da so alles hörte! Vergewaltigungen, Überfälle, Banden, Feuer, durch Selbstmörder aufgehaltene Züge, die Rush-hour.
Ihr Bruder – ihr Zwillingsbruder – sagte, als sie wieder in London waren: »Mach dir nichts draus. Wer fragt danach? Ich war noch nie in der St. Paul’s Cathedral. Ich hasse sie. Ich würde sie am liebsten kaputtschlagen.«
»Was – St. Paul’s?«
»Die U-Bahn. Am liebsten würde ich sie dem Erdboden gleichmachen und unterpflügen, wie die Römer es mit Karthago gemacht haben.«
Sie lachte. »Du kannst nicht etwas dem Erdboden gleichmachen, was schon unter der Erde ist.«
»Sie fährt unter meiner Wohnung durch. Es ist unerträglich. Ich höre sie schon in aller Herrgottsfrühe.«
»Dann zieh doch um«, sagte sie gleichmütig. »Warum ziehst du nicht um?«
Nach dem Essen hielt sie ihre Mittagsruhe, danach [10] nahm sie sich ein Taxi nach Hampstead, zu einer Boutique in der Back Lane, die exklusive Folklorekleider führte. Sie kaufte ein peruanisches Brautkleid mit Stehkragen, hoher Taille, weiten Ärmeln und weitem bodenlangen Rock. Es war strahlend weiß wie eine weiße Rose, mit weißen Satinbändern und weißer Spitze. Man bot ihr an, es ihr nach Hause zu schicken, sogar ihre Adresse war schon notiert, aber sie überlegte es sich anders, sie wollte das Kleid abends gleich anziehen.
Es gab Taxis genug auf der Heath Street und der Fitzjohn’s Avenue. Sie ließ alle vorbeifahren, und als sie zur Station Hampstead kam, dachte sie, was es doch für ein Abenteuer wäre, für den Heimweg die U-Bahn zu nehmen. Der Kauf des Kleides hatte sie in eine Art Hochgefühl versetzt. Sie fühlte sich mutig und aufgeregt.
Dabei waren, sie wußte es wohl, auch niedrige Beweggründe im Spiel. Was würden all die Leute dazu sagen, die genötigt waren, sich tagaus, tagein dieses Verkehrsmittels zu bedienen? Der Gedanke an deren Nasenrümpfen, Abscheu und Mißgunst spornte sie an.
Es dauerte eine Weile, bis sie ihre Fahrkarte erstanden hatte. Weil sie nicht wußte, was sie am Fahrkartenschalter verlangen sollte, versuchte sie sich am Automaten. Es war ein kleiner Triumph, als das gelbe Kärtchen zusammen mit dem Wechselgeld hinter dem Sichtfenster erschien. Sie beobachtete die anderen Leute, die dem Mann im Häuschen ihren Fahrausweis zeigten, und tat es ihnen nach.
Da war eine Treppe. Und ein Schild: Man befinde sich hier in der tiefstgelegenen Untergrundstation Londons, dreihundert Stufen bis zu den Bahnsteigen. Den [11] Fahrgästen wurde anempfohlen, den Aufzug zu benutzen. Die Türen des Aufzugs schlossen sich in dem Moment, als sie hinkam. Sie würde warten, irgendwann würde der nächste kommen. Und dann überlegte sie, was für ein komplizierter Vorgang so eine U-Bahn-Fahrt doch war. Sie hielt sich selbst für intelligent, man sagte ihr nach, daß sie es sei. Wie konnte es dann aber angehen, daß all diese gewöhnlichen Leute sich hier offenbar mühelos zurechtfanden?
Der Aufzug kam, unsicher stieg sie ein. Sie war allein. Würde sie ihn selbst bedienen müssen, und wenn ja, wie? Sie atmete auf, als weitere Fahrgäste zustiegen, die keine Notiz von ihr nahmen, die wohl – falls sie sich überhaupt mit ihr befaßten – in ihr auch eine erfahrene Verkehrsteilnehmerin sahen. Eine Leuchtschrift wies sie an, zurückzutreten, die Tür schloß sich, und der Aufzug fuhr ohne fremdes Zutun nach unten.
In der Tiefe – und sie spürte sehr stark, wie tief unten sie waren – wies ein Schild ZU DEN ZÜGEN geradeaus und nach links. Ein paar Leute gingen nicht geradeaus, sondern schwenkten gleich links ab, um darzutun, wie weitläufig und erfahren sie waren und daß sie nicht gedachten, sich von der Obrigkeit einen Abkürzungsweg verbieten zu lassen. Auf dem Bahnsteig befielen sie starke Zweifel, ob sie hier richtig war. Womöglich brachte der Zug sie gar nicht nach London, am Ende landete sie unversehens in fernen, unbekannten Vororten wie Hendon oder Colindale.
Der einfahrende Zug machte einen unbändigen Lärm, es klang geradezu bedrohlich. Ihre ganze Kraft war darauf gerichtet, auf andere möglichst lässig zu wirken, während sie ihrerseits diese anderen beobachtete, um festzustellen, [12] was sie machten. Offenbar konnte man sitzen, wo man wollte, es gab keine festen Regeln. In anderen Lebensbereichen war sie nie besonders fügsam gewesen. In der U-Bahn aber war sie wieder ein Kind, das noch viel zu lernen hat, ängstlich und unsicher, ohne das ausgeprägte Selbstbewußtsein, das sie schon als kleines Mädchen an den Tag gelegt hatte.
Sie setzte sich in die Nähe der Tür. An der Tür zu sitzen schien ihr am sichersten. Sie hatte vergessen, daß diese Fahrt ja eigentlich ein Abenteuer hatte sein sollen, eine Erfahrung, die ihr im Leben noch gefehlt hatte. Statt dessen erlebte sie einen Härtetest. Der Zug fuhr an, und sie atmetet tief ein und aus, die Hände im Schoß gefaltet, in künstlich entspannter Haltung, atmete in langen, tiefen Zügen. Sie hatte Angst, der Zug könne im Tunnel stehenbleiben, und begriff, daß sie eine Abneigung gegen Tunnels hatte, obwohl ihr das bisher nicht bewußt geworden war. In kleinen Räumen oder in Aufzügen litt sie unter Platzangst. Vielleicht war sie auch noch nie in einem Tunnel gewesen und wenn, dann allenfalls in einem Auto, das rasch durch irgendeine Unterführung gefahren war.
Aber sie hielt durch. Es war zu ertragen. Der Zug fuhr in Belsize Park ein, und sie sah neugierig auf den Bahnsteig hinaus. Diese und die nächste Station, Chalk Farm, waren mit weißen und braunen Kacheln ausgekleidet und erinnerten sie an die Dienstbotenbäder von Temple Stephens. Um sich zu beschäftigen, studierte sie die Karte an der gegenüberliegenden Wand, denn irgendwann würde sie umsteigen müssen, in Tottenham Court Road wahrscheinlich, wo die schwarze und die rote Linie sich [13] kreuzten. Dieser Zug würde sie hinbringen, sie mußten gleich da sein, und auf dem Bahnhof würde sie den Hinweisschildern – es mußte ja Hinweisschilder geben – zur Central Line Richtung Westen folgen.
Sie hielten in Camden Town. Blaue und beigefarbene Kacheln, wieder eins dieser Armeleutebadezimmer.
Dann passierte etwas Unangenehmes. In bösen Träumen passierte einem dergleichen, in jenen immer wiederkehrenden Träumen, aus denen man mit wild klopfendem Herzen und voller Angst erwacht. So etwas allerdings hatte sie noch nie geträumt. Wie denn auch, da sie ja noch nie U-Bahn gefahren war?
Die nächste Station hätte Mornington Crescent sein müssen, war es aber nicht. Sie hielten in Euston. Es dauerte geraume Zeit, bis sie begriffen hatte, was geschehen war und was sie falsch gemacht hatte. Sie begriff es anhand der Karte, nachdem sie dahintergekommen war, wie man sie lesen mußte. Inzwischen zitterte sie.
Ihr Zug fuhr, wie alle anderen vielleicht auch, ins südliche London, aber nicht über Tottenham Court Road, sondern über Bank, wobei er eine lange Schleife durch die City beschrieb. Sie war falsch eingestiegen.
Bisher hatte sie kaum bemerkt, daß noch andere Leute im Wagen waren. Jetzt erst nahm sie Notiz von ihnen. Sie sahen anders aus als die Menschen, mit denen sie sonst Umgang hatte, wirkten feindselig, gewöhnlich, ja, primitiv, hatten aggressive, verdrießliche Gesichter. Nur nicht die Nerven verlieren, sagte sie sich, es ist nichts Unabänderliches geschehen, du steigst einfach in Bank in die Central Line um, in die rote Linie.
[14] Auf King’s Cross wurde es voll. Hier hatte es damals gebrannt, sie hatte darüber gelesen und die Berichte im Fernsehen verfolgt. Ihr Mann – damals war sie noch verheiratet gewesen – hatte gesagt, sie solle nicht hinschauen.
»Reg dich nicht auf. Es ist bestimmt niemand dabei, den du kennst.«
Sie sah durchs Fenster nichts, was auf einen Brand hindeutete. Dann fuhr der Zug an, und sie sah durchs Fenster überhaupt nichts mehr, ja, sie konnte kaum mehr das Fenster selbst sehen, so viele Menschen standen davor. Sie saß sehr still und machte sich klein – die Tüte mit dem Kleid hatte sie hinter ihre Beine gestellt – und dachte sich, daß sie von Glück sagen konnte, einen Sitzplatz zu haben. Tausende, wenn nicht Millionen von Menschen machten das tagtäglich mit.
Nur gut, dachte sie, daß jetzt wirklich niemand mehr hineinpaßt. Auf der Station Angel mußte sie diese Ansicht revidieren und bei Old Street erneut. Vielleicht kam es nie so weit, daß niemand mehr hineinpaßte, vielleicht schoben und preßten sie sich zusammen, bis sie tot waren oder bis unter dem Druck der Menschenleiber der Wagen barst. Ein abgegriffener, oft gehörter Vergleich fiel ihr ein – der Vergleich eines überfüllten Zuges mit einer Sardinenbüchse. Wenn eine Konservendose verdorben ist, bilden sich Gase, der Inhalt quillt auf, und es gibt eine Explosion…
Nach Moorgate mußte sie sich überlegen, wie sie beim nächsten Halt herauskommen sollte.
Sie beobachtete, was die anderen machten. Nicht einmal aufstehen konnte man, ohne zu drängeln, zu schieben, die [15] Ellbogen zu gebrauchen. Die Türen waren aufgegangen, eine Lautsprecherstimme rief irgend etwas. Wenn sie es nicht schaffte, würde der Zug sie bis zur nächsten Station, bis London Bridge, mitnehmen, mit ihr den Fluß unterqueren. Das war jenes Band dort auf der Karte, jener blaue Bereich mit einem Knick nach oben und einem nach links wie ein Abflußrohr, das war die Themse.
Sie wurde mitgerissen, als andere ausstiegen. Es wäre in diesem Moment schwer gewesen, sich von dem Zug nicht ausspeien zu lassen. Ihr war, als würde sie ausgekippt, sie wurde herumgestoßen, hin- und hergezerrt. Die säuerlich abgestandene Luft auf dem Bahnsteig schien frisch im Vergleich zu dem Mief im Wagen. Sie atmete tief. Jetzt galt es, die rote Linie, die Central Line, zu finden.
Seltsamerweise kam sie nicht auf den Gedanken, den Hinweisschildern zum Ausgang zu folgen, das U-Bahn-Gelände zu verlassen und auf der Straße ein Taxi anzuhalten. Der Gedanke kam ihr später, als sie in dem Zug der Central Line saß, aber nicht in diesem Moment, da ging es ihr nur darum, den Umsteigevorgang zu bewältigen. Ihre ganze Kraft, all ihr Denken war darauf gerichtet, sich zurechtzufinden, es richtig zu machen. Die Einkaufstüte mit dem Kleid war zerknittert, ihre hellen Schuhe hatten schwarze Schrammen. Sie kam sich besudelt vor.
Ein Fehler unterlief ihr dann doch. Sie wartete ein paar Minuten auf einem Bahnsteig, ein Zug lief ein, und sie wäre eingestiegen, wenn sich das irgendwie hätte machen lassen. Doch sie brachte es einfach nicht über sich, wie die anderen ihren Körper an die dichte Masse aus Menschenleibern zu drücken, die schon aus den geöffneten Türen [16] quoll. Ächzend gingen die Türen zu. Sie blickte zu der Leuchttafel hoch und war froh, daß sie nicht versucht hatte, sich hineinzuzwängen. Der Zug fuhr in östliche Richtung, nach Hainault, sie hatte den Namen noch nie gehört.
Sie ging auf den richtigen Bahnsteig hinüber, auf dem viele Menschen warteten. Ein Zug lief ein, der auch wieder einen ihr unbekannten Bestimmungsort hatte. Hanger Lane. Die Richtung aber stimmte, er hielt in Bond Street, und dorthin wollte sie. Wenn ich das noch ein paarmal mache, dachte sie, komme ich allmählich dahinter. Aber nein, dieses eine Mal reicht mir vollauf.
Das Hineinkommen war nicht so schwierig wie bei dem Zug in östlicher Richtung. Man konnte einsteigen, ohne zu schieben oder geschoben zu werden, aber einen Sitzplatz bekam sie natürlich nicht. Wenn andere standen, würde sie es wohl auch können, und es war ja nur eine kurze Strecke. Sie hätte der Stimme folgen sollen, die sie aufforderte, zur Wagenmitte durchzugehen. Statt dessen blieb sie in der Nähe der Tür und hielt sich mehr schlecht als recht an einer Haltestange fest, während sie mit der anderen Hand die Einkaufstüte mit dem Kleid an sich drückte.
Ein noch recht junger Mann saß direkt an der Tür. Natürlich würde er aufstehen und ihr seinen Platz anbieten, sie rechnete fest damit. Ein Leben lang hatten Männer ihr zuliebe auf die eigenen Plätze verzichtet, beim Jagdrennen und beim Tennisturnier, auf den Fensterplatz im Flugzeug, auf den Mittelplatz des Balkons, unter dem die königliche Prozession vorbeizog. Der junge Mann blieb [17] sitzen und las den Star. Sie hielt die Stange und ihre Einkaufstüte fest.
Auf dem Bahnhof St. Paul’s wogte eine gewaltige Menschenmenge. Sie blickte in ein Meer von Gesichtern, die allesamt geprägt waren von einer Art drängender, gieriger Zielstrebigkeit, einer wilden Entschlossenheit, in diesem Zug Platz zu finden.
Wie schon vorhin auf der Northern Line dachte sie, es müsse doch eine Vorschrift geben, eine Betriebsanweisung, die verhinderte, daß mehr als eine begrenzte, überschaubare Zahl an Fahrgästen zustieg. Die Obrigkeit würde einschreiten und dem Spuk ein Ende machen.
Doch die Obrigkeit schritt nicht ein, nicht einmal in Form einer körperlosen Stimme, und immer mehr Menschen schoben sich hinein, mehr und mehr, eine Armee auf dem Vormarsch, ein unaufhaltsam vorwärtsdrängender Rammbock aus Menschenleibern. Sie konnte nicht sehen, ob der Bahnsteig leerer wurde, denn sie konnte den Bahnsteig nicht sehen. Ein vorbeidrängender Mann riß ihr die Einkaufstüte aus der Hand und zog sie in seinem kraftvollen Vorstoß mit. Noch konnte sie die Tüte erkennen, sie haschte vergeblich danach, bekam statt dessen einen Frauenrock zu fassen, ließ ihn, erschrocken nach Luft schnappend, wieder los, und sah das Gesicht der Frau vor dem ihren aufragen, hilflos verstört und damit gewiß dem ihren gleich.
Die Einkaufstüte wurde zwischen den Beinen der stolpernden Menge gebauscht und gequetscht, auseinandergezogen und zusammengedrückt, es gelang ihr nicht mehr, sie zu erreichen, sie traute sich nicht loszulassen, [18] klammerte sich an die Stange, um die sich schon viele andere Hände krampften, als ginge es ums liebe Leben. Noch nie, außer beim Liebesakt, hatte sie Gesichter so dicht vor sich gesehen. Ein Hinterkopf drängte eins beiseite und kam ihr so nah, daß Haare in ihren Mund gerieten, sie roch das unsaubere Haar, sah die Schuppenplättchen. Sie wandte das Gesicht ab, verdrehte den Kopf, sah in ein Paar Männeraugen, ganz nah waren sie, weit geöffnet wie vor einem Kuß, Augen ohne Leben, glanzlos, jeden Kontakt verweigernd.
Und dann, als die Türen sich stöhnend schlossen und der Zug anfuhr, hörte das Zappeln, das Zurechtrücken, das Umgreifen der Hände plötzlich auf, jede Regung hörte auf. Die Menschen verfielen in völlige Bewegungslosigkeit – wie beim Figurenwerfen, wenn die Musik verstummt. Sie wußte, warum: Hätte das Gewoge sich fortgesetzt, die bewegte Unruhe angehalten, wäre das Zusammensein in diesem Zug unmöglich geworden, irgend jemand hätte angefangen zu schreien, die Leute hätten aufeinander eingeschlagen vor lauter Verzweiflung, weil ihnen so Unerträgliches auferlegt worden war.
Sie regte sich nicht. Einige Fahrgäste reckten das Kinn hoch und machten den Hals lang, mit gequältem Gesicht, wie Märtyrer auf alten Bildern, andere wieder standen demütig-ergeben da, mit gesenktem Kopf. Schlimm war es für die besonders Kleinen, wie jenes dicke Mädchen, das sie zwischen zwei Gesichtern und einem Hinterkopf sah, das sich nirgends festhalten konnte und nur an den Umstehenden Halt fand, wobei der Kopf an den Ellbogen eines Mannes stieß und der Hals schmerzhafte Bekanntschaft mit der harten Kante einer Unterarmtasche machte.
[19] Inzwischen hatte sie die Einkaufstüte aus den Augen verloren. Um das zu erwerben, was in der Tüte war, hatte sie sich auf den Weg gemacht. Doch der Inhalt der Tüte war ihr nicht mehr wichtig. Wichtig war ihr das Überleben, wichtig war ihr, still und ergeben auszuharren, durchzuhalten, bis der Zug auf Chancery Lane hielt. Dort würde sie den Zug verlassen, würde die U-Bahn verlassen. Sie hätte schon auf Bank aussteigen sollen, das war ihr inzwischen klargeworden. Ihre Rettung war mit dem Verlust des Kleides, des weißen peruanischen Hochzeitskleides, nicht zu hoch bezahlt.
Als der Zug hielt, glaubte sie sich am Ziel. Warum gehen denn die Türen nicht auf, dachte sie. Vor dem Fenster herrschte undurchdringliche Finsternis, und sie begriff, daß der Zug in einem Tunnel hielt. Ob das je ohne gefährlichen Anlaß vorkam, ob es oft vorkam, was der Halt zu bedeuten hatte – das alles wußte sie nicht. Sie hätte gern gefragt, hätte gern in das Gesicht jenes Mannes hineingesprochen, dessen knoblauchgesättigter Atem ihre Nase umfächelte. Ihre Kehle war ausgedörrt, die Stimme war ihr abhanden gekommen. Immer intensiver spürte sie die vielen Menschenleiber, die sich an sie drängten, spürte Ellbogen und Brüste, Bäuche und Hinterbacken und Schultern und die harte Glasscheibe, gegen die sie selbst gedrückt wurde.
Die Temperatur stieg. Sie hatte die Wärme kaum bewußt wahrgenommen – bis jetzt, da sich Schweißtröpfchen auf ihrer Stirn und ihrer Oberlippe bildeten, da ein einziger langgezogener Schweißtropfen gemessen und sehr kalt zwischen ihren Brüsten herabrann. Diese [20] Eiseskälte nahm sie sehr bewußt wahr, doch nicht so sehr als Wohltat denn als Schmerz, ja als Schock.
Es wurde immer heißer. Der Zug ruckte an, es war wie ein Rülpser, und sie klammerte sich fest und wartete mit angehaltenem Atem auf die Weiterfahrt. Der Zug seufzte und verfiel erneut in Reglosigkeit. Der Mann neben ihr grunzte. Sein Gesicht war dunkelrot angelaufen und sah aus wie naßgesprüht. Ein Schweißtropfen lief ihr über die Stirn ins Auge. Dort brannte er. Merkwürdig, dachte sie, wie kommt es, daß eine salzige Träne nicht brennt, wohl aber salziger Schweiß?
Während sie darüber nachdachte, mit feucht-glitschiger Hand die Stange umklammernd, indes die Hitze aufstieg und sich verdichtete, rülpste der Zug erneut, und diese Bewegung, die viel heftiger war als die erste, brachte die Leiber um sie her in wogende Bewegung, so daß sie in eine Art menschlicher Flutwelle geriet. Das Gesicht an einen Tweedrücken gepreßt, rang sie nach Luft, versuchte sich zappelnd freizukämpfen, und dann stöhnte sie auf, als wieder ein eisiger Tropfen an ihrem Körper herunterrann und den Schmerz auslöste.
Er schien ihn auszulösen, schien ihn zu bewirken, denn als der Tropfen, einer Eisperle gleich, über ihre Haut rollte, durchfuhr ein rasender Schmerz ihren linken Arm, als habe eine eherne Pranke ihn gepackt. Sie wölbte den Rücken, versuchte den Hals hochzurecken, über Fleisch und Haare und Gerüche hinweg. Der Zug fuhr an, setzte sich mühelos gleitend in Bewegung, und die ehernen Pranken umfaßten sie wie die Gliedmaßen eines Monsters.
Umfaßten sie und zogen sie zu Boden, vorbei an [21] Schultern und Armen und Hüften und Beinen, zogen sie herunter zu einer Ansammlung schmutzig-abgetretener Schuhe. Die U-Bahn rollte zügig in Richtung Chancery Lane. Als letztes, ehe das Herz stillstand, mit dem eine Kleinigkeit nicht ganz in Ordnung war, sah sie zwischen zwei Hosenbeinen die Einkaufstüte mit dem Kleid.
Es war kein Platz im Zug. Kein einziger Fahrgast hätte sich mehr hineinzwängen können. Und doch wichen die anderen zurück, als sie zu Boden sank und starb, sie rückten von ihr ab und schafften ihr den Raum, den sie zum Leben gebraucht hätte.
Auf Chancery Lane wurde der Zug geräumt und die Leiche weggeschafft. Im U-Bahn-Wagen verblieb eine große Kleidertüte aus dickem, reißfestem Papier mit dunkelblauer Lackbeschichtung und dem Bild einer Frau in einer nicht näher bestimmbaren Nationaltracht. Weil das Personal Bedenken hatte, die Tüte aufzumachen, schickten sie nach dem Sprengstofftrupp.
Viel später dann fand sich in der Tüte ein Hochzeitskleid und auf einer quittierten Rechnung die Anschrift der Kundin. Man schickte das Kleid an die angegebene Adresse, wo es endlich in die Hände ihrer Angehörigen gelangte.
[22] 2
Der Tod dieser jungen Frau blieb unerwähnt in dem Buch, das Jarvis Stringer schrieb.
Es enthielt nur besonders spektakuläre Unfälle, den ersten »U-Bahn-Surfer« etwa, der zu Schaden gekommen war, die übereifrigen U-Bahn-Bediensteten, die bei dem Versuch, Türen zu schließen, an Tunneleinfahrten enthauptet worden waren, oder die Opfer eines Feuers. Jarvis las den Bericht über die gerichtliche Untersuchung und über den später gescheiterten Versuch der Familie, die London Transport Underground zu verklagen. Hätte die Klage Erfolg gehabt, hätte er den Vorfall vielleicht in einem seiner Katastrophenkapitel untergebracht.
Später sollte der Bruder der jungen Frau sich als ein Bekannter von ihm ausgeben, aber da war Jarvis schon in Rußland und sein Buch halb fertig. Angefangen hatte er es, als er noch bei seiner Mutter in Wimbledon wohnte, vor seinem Umzug in die Schule.
Es sollte eine vollständige Geschichte der Londoner Untergrundbahn werden.
London (so begann er) hat das älteste Metrosystem der Welt. Es stammt aus dem Jahr 1863, aus dem viktorianischen London mit Elendsquartieren und Gaslicht, einer Stadt der Armen und Ohnmächtigen. Täglich kam eine Dreiviertelmillion Menschen nach London zur Arbeit. Sie [23] kamen zu Fuß, mit Flußdampfern, in Pferdeomnibussen und Rollwagen. So mancher aber kam nicht, weil der Weg zu weit war.
Ein Mann entwarf den vorausschauenden Plan einer Eisenbahn als Verbindung zwischen allen großen Kopfbahnhöfen der Stadt. Er hieß Charles Pearson und wurde, obwohl er nur der Sohn eines Polsterers war, oberster Justizbeamter der City of London.
»Der Arme«, schrieb Pearson, »lebt wie in Ketten. Zum Gehen fehlt ihm die Zeit, und für längere Fahrten zu seiner Arbeitsstelle fehlt ihm das Geld.«
Vorher hatte es bereits Pläne für unterirdische, mit Gas beleuchtete Straßen für Pferdefuhrwerke gegeben. Sie waren verworfen worden mit der Begründung, daß solche finsteren Tunnels zu Tummelplätzen für Diebsgesindel werden würden. Zwanzig Jahre ehe der Bau seiner Eisenbahn Wirklichkeit wurde, hatte Pearson eine Bahnlinie vor Augen, die durch einen gut beleuchteten und gut belüfteten »geräumigen Bogengang« führen sollte.
Er war der Erfinder des »Zugs in der Röhre«.
[24] 3
Das Haus an der Bahn hieß seit eh und je die Schule. Jarvis Stringer nannte es so, seit er ein kleiner Bub war. Er war zu jung, um sich an die Zeit zu erinnern, in der es tatsächlich eine Schule gewesen war, aber seine Mutter hatte dort noch Unterricht gehabt. Jarvis war fünf gewesen, da war die Schule geschlossen und aufgegeben worden, und sein Großvater hatte sich umgebracht.
Es war ein viktorianischer Backsteinbau in West Hampstead, an jener Straße, die parallel zur Metropolitan Line und zur Jubilee Line der London Underground verläuft. Das große Haus – neugotisch bis auf seinen Belvedere im italienischen Stil – stand auf dem ersten Drittel des U-Bahn-Abschnitts zwischen West Hampstead und Finchley Road, wo die Gleise hinter Tunnelbögen im Untergrund verschwinden. Das Grundstück war klein für ein so großes Haus, nur zwei Buschreihen trennten es von den Nachbarn, hinten zog sich ein Stück baumbestandener Rasen bis zu einem Zaun. Hinter dem Zaun sah man die Züge vorbeifahren, nach Norden bis Amersham und Harrow und Stanmore, nach Süden in die Innenstadt. Auch hören konnte man sie, ein ständiges – wenn auch sporadisches – singendes Rattern. Still wurde es nur in den späten Nachtstunden.
Als Ernest Jarvis in den zwanziger Jahren das Haus gekauft hatte, gab es diese Strecke schon lange, denn die [25] Metropolitan Railway war bereits 1879 von Swiss Cottage bis West Hampstead verlängert worden. Ernest war durch seinen Anteil am Vermögen der Familie Jarvis ein wohlhabender Mann, es war nicht recht einzusehen, warum er nicht seine Schule in einem ansprechenden Viertel von London NW 6, Fortune Green etwa, eröffnet hatte. Nicht einmal seine Tochter hätte sagen können, warum er sich für ein Haus mit Blick auf die Bahn entschieden hatte oder warum es ausgerechnet eine Schule hatte sein müssen. Für Kinder hatte er nicht viel übrig, aber er war ein Eisenbahnnarr. Zum Führen einer Schule fühlten sich Jarvis Stringers Großeltern dadurch befähigt, daß er in Oxford alte Sprachen studiert und sie eine Lehrerausbildung am Goldsmith College angefangen und auf halber Strecke abgebrochen hatte.
Rätselhafterweise war die Schule über dreißig Jahre lang sehr erfolgreich. Es war eben üblich, daß man seine Töchter mit der von Elizabeth Jarvis ausgewählten Schuluniform in Hellbraun und Himmelblau ausstaffierte und auf die Cambridge School schickte. Vielleicht lag es ja an Ernest Jarvis’ geschickter Namensgebung und Elizabeths psychologisch gut überlegter Entscheidung für die cambridgeblauen Schulblazer-Paspeln und Hutbänder. Daß es Verbindungen zwischen dieser privaten Mädchenschule an der Bahn und der berühmten Universität geben könnte, wurde natürlich nie auch nur andeutungsweise ausgesprochen, wohl aber impliziert. Ihres Namens und der hellblauen Paspeln wegen erfreute sich die Cambridge School einer merkwürdig nebulösen Distinktion. Trotz des eher bescheidenen Schulgeldes war es dem Ansehen durchaus [26] förderlich, sie zu besuchen. Der Lehrplan war nicht anspruchsvoll, und auf das Ablegen von Prüfungen wurde wenig Wert gelegt. Jarvis’ Mutter pflegte zu sagen, daß nachweislich keine Absolventin der Cambridge School je studiert hatte, und in Cambridge schon mal gar nicht.
Als 1939 die neue Doppelröhrenkonstruktion entstand, die von der Bakerloo Line abzweigte, ließ Ernest häufig die Schule im Stich und sah zu, wie unter den Häusern von Finchley Road die neue Metropolitan Line ausgeschachtet wurde. Er verfolgte, wie das North Star Hotel unterfangen und die Station Finchley Road neu gebaut wurde. Wenige Jahre später, im Zweiten Weltkrieg, fielen Bomben in der Straße, denen mehrere Nachbarhäuser zum Opfer fielen, aber die Cambridge School blieb unversehrt. Wie die St. Paul’s Cathedral, sagte Elizabeth Jarvis, auf wunderbare Weise bewahrt, indes rings umher alles in Schutt und Asche sank.
Elsie Stringer fand den Vergleich unglücklich gewählt, aber typisch für die Einstellung ihrer Eltern zu der Schule.
Jarvis machte in Cambridge einen Abschluß in Maschinenbau. Es war kein sehr guter Abschluß, weil er nichts dafür getan hatte. Von seinem Großvater hatte er die Liebe zur Bahn und zu der Schule geerbt. Das heißt, die Schule erbte zunächst seine Mutter, und die fuhr nie mit der Bahn, wenn es sich irgendwie vermeiden ließ. Jarvis zog es wie alle jungen Leute in die weite Welt hinaus, aber statt im Kleinbus nach Indien zu fahren, die politischen Wirren in Mittelamerika zu beobachten oder sich in Afrika Probleme einzuhandeln, besichtigte er Metrosysteme. Er gehörte zu den ersten Fahrgästen von MARTA, der 1979 [27] eingeweihten U-Bahn von Atlanta, zwei Jahre später fuhr er mit der neuen Untergrundbahn von Fukuoka und verfolgte im Jahr darauf den Bau der MMTA in Baltimore und der Metro in Caracas.
Während er mit seiner ersten Eisenbahn spielte, einem Geschenk zu seinem fünften Geburtstag, erreichte seine Mutter die Nachricht vom Selbstmord ihres Vaters. Jarvis war in seinem Zimmer und Elsie nebenan, wo sie den Anruf entgegennahm. Er hatte das Telefon läuten hören, aber nicht darauf geachtet, was seine Mutter sagte. Er spielte Eisenbahn. Wenn er an jenen Tag dachte, was hin und wieder der Fall war, überlegte er oft, daß ihm damals zum erstenmal die Bahn Trost in dieser leidvollen Welt gewesen war. Und das war sie geblieben.
Seine Mutter kam herein, fiel vor ihm auf die Knie und zog ihn an sich. Sie schluchzte und zitterte, sie hielt ihn ganz fest und sagte halblaut: »Mein Liebling, komm, umarme die Mami, halt die arme Mami fest, die arme Mami hat sich ganz furchtbar erschrocken.«
Jarvis ließ sich das ein, zwei Minuten gefallen, dann zappelte er und wollte weg. Er sah seine Mutter an. Sie war sehr blaß.
»Was ist denn?« fragte er.
»Mein armer Kleiner, das kann ich dir nicht sagen, es wäre nicht recht.«
Sie setzte sich zitternd aufs Bett und legte die Arme fest um ihren Körper. Jarvis fuhr seinen Zug von London nach Penzance – an der Riviera von Cornwall.
In seiner Phantasie war er Lokomotivführer und Fahrgast zugleich. In Plymouth würde er außerdem noch [28] Stationsvorsteher sein. Schon damals galt seine besondere Liebe den unterirdischen Strecken, und als der Zug zum Wellington-Tunnel kam (im Sommer war er mit seinen Eltern auf Urlaub in Cornwall gewesen), stieß er eine Reihe langgezogener Tutlaute aus.
Seine Mutter fing an zu weinen. Jarvis tutete noch einmal. Doch er war ein liebevoller, zärtlicher kleiner Junge und begriff, daß in dieser Situation mehr von ihm verlangt wurde. Er stand auf, stellte sich neben seine Mutter und legte seine Hand auf die ihre. Als vor ein paar Monaten seine Großmutter gestorben war, hatte sie sich ähnlich benommen. Er fragte: »Ist Großvater tot?«
Sie war so betroffen, daß sie aufhörte zu weinen und ihn fragte, woher er das wisse. Er habe es sich gedacht, sagte Jarvis. Er hatte auch gemerkt, daß sie diesmal nicht nur traurig war, daß da noch etwas anderes sein mußte. Er setzte sich auf ihren Schoß und ließ sich von ihr umarmen. Fünf Minuten, sagte er sich, müßten dafür eigentlich reichen, fünf Minuten sind eine halbe Ewigkeit für einen Fünfjährigen, und weil er gerade gelernt hatte, die Uhrzeit zu lesen, behielt er die Wanduhr über ihrer Schulter im Auge. Sie saß noch immer da und sah ihn mit leerem Blick an, als er schon längst wieder auf dem Fußboden hockte. Bis sein Zug in Exeter St. David’s, dem ersten Halt, eingetroffen war, hatten sie das Haus voller Leute, sein Vater war sogar mit dem Taxi gekommen.
Ernest Jarvis hatte sich erhängt. In den vierziger und fünfziger Jahren war es mit der Schule bergab gegangen, die Zahl der Schülerinnen war auf fünfzehn, auf zehn, auf drei gesunken. Längst vorbei waren die Zeiten, als man [29] vier Lehrerinnen beschäftigt hatte. Die letzten Schülerinnen, drei Siebzehnjährige, hatte seine Frau selbst unterrichtet, und als habe sie den Tod nur so lange hinausgeschoben, bis sie ihre Pflicht erfüllt hatte, starb sie Ende Juli, einen Tag nach dem Abgang der drei, an einem Herzschlag. Ernest hatte nun keine Frau mehr, keine Beschäftigung, sehr wenig Geld und ein riesengroßes Haus als Klotz am Bein, in das er zehntausend Pfund hätte stecken müssen.
Die Cambridge School hatte eine Glocke, die nie geläutet wurde, die nie geläutet worden war. Sie hing im Belvedere, dem »Glockenturm«, wie Ernest auch dann noch hartnäckig sagte, als seine Schwester Cecilia ihm bedeutet hatte, Belvedere hieße wörtlich übersetzt »schöne Aussicht« oder »schön anzusehen«. Er hatte die Glocke in einem Laden in der Camden Passage gekauft und sie aufgehängt in der Absicht, damit säumige Kinder zur Schule zu rufen. Dann aber hatte seine Schwester ihm behutsam klargemacht, daß in Schulen dieser Art Glocken fehl am Platz waren, daß seine Schule durch eine Glocke an Niveau verlieren und die Eltern angehender Schülerinnen abschrecken würde. Die Glocke blieb hängen, wo sie war, das Glockenseil führte durch Luken in den Decken von Obergeschoß, erstem Stock und Erdgeschoß in ein enges Gelaß, das als Garderobe und gleichzeitig als Glöcknerstube hatte dienen sollen. Nach einem Jahr war das Seil aus den unteren Räumen eingeholt und im Obergeschoß um eine Klampe gewickelt worden.
Ernest Jarvis ging bei seinem Vorhaben sehr gewissenhaft zu Werke und muß lange dazu gebraucht haben. Die [30] dreißig Jahre lang geschlossenen Luken öffnete er mit Hilfe eines Werkzeugs – die Spuren ließen auf einen Schraubenzieher schließen das er wieder ordentlich in einer Werkzeugkiste im Gartenschuppen verstaute, obgleich man ihn sonst nicht als besonders ordnungsliebend gekannt hatte.
Als er das Seil von der Klampe abwickelte, schlug die Glocke einmal an. Vielleicht hatte er vergessen, daß er sie damit zum Läuten bringen würde, oder vielleicht kümmerte es ihn nicht. Cecilia Darne, die um die Ecke wohnte, sagte, sie habe gegen acht Uhr morgens die Glocke einmal anschlagen hören. Etwa eine Viertelstunde später hatte dann die Glocke erneut angeschlagen, und gleich darauf hatte Cecilia ein gebrochenes Läuten, ein grausiges, stotterndes Scheppern gehört. Das hatten viele Leute gehört, aber diesen einzelnen ersten Ton, als ihr Bruder Ernest kurz an dem Seil ruckte, während er es von seiner Befestigung befreite, so daß die Glocke nach oben schwang und wieder herabfiel, hatte offenbar nur Cecilia vernommen.
Er hatte das Seil durch die nun geöffneten Luken in den kleinen Raum geführt, in dem einst die hellbraunen Mäntel gehangen hatten und darüber die braunen Filzhüte mit den cambridgeblauen Bändern. Jetzt, im November 1958, war die Garderobe leer. An einer Wand war eine Reihe von Garderobenhaken angebracht, in drei Metern Entfernung an der Wand gegenüber eine zweite. Das einzige, ziemlich hoch in die Wand eingelassene Fenster gegenüber der Tür hatte Milchglasscheiben, nur eine einzige Scheibe war aus dunkelrotem Glas. Der Estrich hatte einen Belag aus hellbraunem Linoleum mit einem Muster aus schwarzen [31] Bourbonenlilien. Ernest hatte sich aus einem der Klassenzimmer einen Schemel geholt, einen Lehrerschemel, der früher hinter einem hohen Pult gestanden hatte, ihn aber dann doch nicht benutzt. Er war fast siebzig und hatte Arthritis. Vielleicht traute er es sich nicht zu, diesen Schemel zu besteigen und das zu tun, was er sich vorgenommen hatte.
Der Schemel war da, als man ihn fand, ebenso der Wohnzimmerstuhl, den er dann für zweckmäßiger gehalten und im Fallen umgestoßen hatte. Als Jarvis das Haus übernahm, waren, obgleich inzwischen viele Leute in der Schule ein und aus gegangen waren und darin gewohnt hatten, Stuhl und Schemel noch immer in der Glöcknerstube. Der Schemel stand in der Ecke links vom Fenster, der Stuhl schräg gegenüber. Es sah aus, als habe eine fremde Putzfrau, die nicht wußte, daß sich in diesem Raum Ernest Jarvis erhängt hatte, sie so hingestellt. Das Seil aber ging nicht mehr durch die Luke in der Decke. Als Jarvis dreißig Jahre später das Haus in Besitz nahm, war an der Glocke ein Glockenstrang, dessen freies Ende um die Klampe gewickelt war. Er überlegte, ob es wohl dasselbe Seil war, mochte aber seine Mutter nicht danach fragen.
Es sprach viel dafür, denn in der Schule hatte sich so gut wie nichts geändert. Tante Evelina, die Schwester von Ernest Jarvis und Cecilia Dame, hatte die Wohnung von Ernest und Elizabeth übernommen und bis zu ihrem Ende darin gelebt. Dann hatte Tina Darne – Cecilias Tochter, die aber nur ein, zwei Jahre älter als Jarvis war – dessen Mutter die Erlaubnis abgebettelt, in die Schule zu ziehen und dort eine Wohngemeinschaft zu gründen. Tina hielt nur ein halbes Jahr durch, aber ein paar anständige, fleißige [32] Idealisten, Typen, die für WGs geschaffen sind und ohne die es keine Wohngemeinschaften gäbe, blieben dort wohnen, reparierten die Fensterrahmen und bauten im Garten Gemüse an. Doch auch sie änderten nichts Grundlegendes an der Schule, das hätte ihre Mittel bei weitem überstiegen. Inzwischen hätte man in das Haus nicht zehntausend, sondern eher vierzigtausend Pfund stecken müssen.
Ernest hatte nach dem Tod seiner Frau ein Testament gemacht, in dem er alles seinem einzigen Kind hinterließ. »Alles« waren die Schule und 98 Pfund auf der Bank. Wenn man bedenkt, daß er aus dem gewissenhaft angelegten Familienvermögen jährlich zehntausend Pfund bezog – was 1925 ein sehr gutes Einkommen aus Kapitalvermögen war –, hatte er es nicht gerade weit gebracht. Vielleicht dachte er unter anderem auch daran, als er auf den Stuhl stieg und das Ende des Seils zu einer Schlinge legte, zu einer sehr ordentlichen Schlinge, bei der das Seil zehnmal in gleichmäßigen Windungen um die Schlaufe gewickelt war.
Es gelang wie geplant. Als Ernest im Fallen den Stuhl umstieß, schlug die Glocke einmal an. Der arme Ernest muß gestrampelt und gezappelt haben, denn sie läutete noch einmal, mit einem zitternden, stotternden Hall, und war dann still. Eine Nachbarin, die zum erstenmal in fünfzehn Jahren die Glocke hatte läuten hören, rätselte eine halbe Stunde daran herum, dann ging sie zur Schule hinüber.
Von seiner Mutter hörte Jarvis, sein Großvater sei zum Herrn Jesus gegangen. Wie er diese Reise bewerkstelligt hatte, erfuhr er von ihr nicht, hörte aber wenig später [33] zufällig ein Gespräch mit an, bei dem es um Selbstmord ging und in dem seine Mutter von ihrem »armen Vater« sprach, und reimte sich einiges zusammen. Als er fünfzehn war, erzählte seine Mutter ihm von dem Tod am Glockenseil. Warum ziehen wir nicht in die Schule, hatte er immer wieder gefragt, statt all diese fremden Leute dort wohnen zu lassen, und endlich hatte sie sich dazu durchgerungen, es ihm zu sagen.
»Ich könnte nie in dieses Haus ziehen«, sagte sie und fügte typischerweise noch hinzu: »Außerdem müßte man Tausende von Pfund investieren, ehe anständige Leute dort wohnen könnten.«
Ihre Tante Evelina, Cousine Tina oder die idealistischen Gemüsegärtner zählten aus ihrer Sicht nicht zu den anständigen Leuten. Sie, Jarvis’ Vater und Jarvis wohnten in einer Doppelhaushälfte in Wimbledon. Jarvis mochte das Vorstadtleben nicht, aber vorläufig konnte er dagegen nicht viel machen. Manchmal fuhr er nach West Hampstead und besuchte die Schule und die Wohngemeinschaft. Das gefiel ihm immer sehr, und er hätte am liebsten auch dort gewohnt. Wenn er, was gelegentlich vorkam, in der Schule übernachtete, in dem Zimmer im Erdgeschoß, das kurioserweise »die Übergangsklasse« hieß, hörte er am Ende des Gartens die Züge vorbeifahren, ein hochromantisches Geräusch, wie er fand. Wenn er dann am nächsten Tag wieder heimfuhr und auf den Zug nach Baker Street wartete, hörte er, schon lange ehe der Zug in West Hampstead einfuhr, das Singen des Schienenstrangs und sah das Beben der silbernen Gleise, wenn der Zug sich näherte.
ln den siebziger Jahren kam es zu einem [34] Immobilienboom. Im Vergleich zu der Entwicklung zehn Jahre danach war er nicht riesig, aber die Preise gerieten in Bewegung, die Makler rieben sich die Hände, gürteten ihre Lenden und ließen ihre Blicke schweifen. Einer schrieb an Jarvis’ Mutter, er könne für die Cambridge School einen guten Preis erzielen. In den achtziger Jahren suchten Makler Jarvis in der Schule heim und flehten ihn praktisch auf den Knien an, ihnen das Haus zu überlassen. Sie bombardierten ihn mit Briefen und riefen ihn mindestens einmal in der Woche an. Es habe gar keinen Zweck, sagte er ihnen immer wieder, die Schule sei einsturzgefährdet, sie habe sich gesenkt, eines Tages würde sie in sich zusammenfallen, die Bahn habe das Haus kaputtgemacht. Das hatte der Architekt dem ersten Interessenten gesagt, dem Jarvis’ Mutter 1976 die Schule angeboten hatte. Er hatte Etagenwohnungen einbauen wollen, hatte sich aber aus dem Geschäft fast ebenso schnell zurückgezogen wie der zweite Interessent, der selbst Architekt war.
Die Wohngemeinschaft zog nach Devon und hinterließ eine Rhabarberpflanzung, die bei Jarvis’ Einzug noch da war. Inzwischen hatte die Stadtverwaltung schon mit einer Abrißklage gedroht, um Jarvis’ Mutter zu zwingen, das Haus instandsetzen zu lassen. Sein Vater starb, zwei Jahre später heiratete seine Mutter zum zweiten Mal und zog nach Frankreich. Sie war sich mittlerweile darüber klargeworden – es war ja nicht zu übersehen! –, daß Jarvis ein Sonderling war, kein Typ, der sich zielstrebig einen Job sucht und danach einen besseren Job, den Blick unverdrossen auf die nächste Sprosse der Karriereleiter gerichtet, der sich eine Frau nimmt, zwei Kinder in die Welt [35] setzt, Junge und Mädchen, ein Haus kauft und danach ein besseres Haus, ein Auto und und und. Sobald er ein bißchen Geld hatte, reiste er so preiswert wie möglich nach Mittelamerika oder Thailand, um irgendwelche neuen Untergrundbahnen zu besichtigen. Er sammelte Material für ein Buch über die Metrosysteme der Welt, ein Projekt, mit dem er sich schon seit Jahren beschäftigte. Wenn er zu Hause war, wohnte er neuerdings immer öfter in der Schule, er nagelte Bretter vor die kaputten Scheiben und ließ die Kamine kehren.
»Es wird das Gescheiteste sein, wenn du sie nimmst«, sagte Elsie vor ihrer Abreise nach Bordeaux. »Wär schade drum, wenn das liebe alte Gemäuer ganz und gar verkommen würde. Du könntest einen Teil vermieten und von den Einnahmen leben.«
Sehr überzeugt klang das nicht, denn sie hatte – genau wie Jarvis – die Schule gerade erst gesehen und hielt es für wenig wahrscheinlich, daß »anständige Leute« sich dort einmieten würden. Doch sie machte sich Sorgen, weil Jarvis ihrer Meinung nach praktisch keine Einkünfte hatte – was aber Jarvis nicht besonders bedrückte.
Er hatte etwas Geld von seinem Vater geerbt, dafür hatte seine Mutter das Haus in Wimbledon bekommen. Aus diesem Kapital bezog Jarvis ein winziges Einkommen, das knapp zum Leben reichte, wenn er konsequent zu Fuß ging, auf jeden Kinobesuch verzichtete, nie etwas Nettes aß, nicht rauchte oder trank, sich keine neuen Sachen kaufte und nicht telefonierte. All diese Dinge reizten Jarvis auch gar nicht, hingegen reizte es ihn sehr, in den Norden hinaufzufahren, um die alte PTE in Glasgow zu [36] bewundern, gar nicht zu reden von einer zweiten Reise zur BART nach San Francisco, deren Tunnelröhre unter der Bucht durch den Fels getrieben ist. Er besserte sein Einkommen auf, indem er Eisenbahnbroschüren schrieb, Abendkurse für Autoreparaturen gab – ein Fach, von dem er nicht viel verstand, für das er sich aber am Vorabend vorher rasch aus einem Lehrbuch schlau machte – und, wenn es wirklich eng wurde, als Anstreicher jobbte.
Als seine Mutter abgereist war, stieg Jarvis in Wimbledon Park in die District Line, wechselte in Victoria in die Victoria Line über und stieg in Green Park nochmals um, diesmal in die Jubilee Line, die ihn nach West Hampstead brachte. Es war eine lange, umständliche Fahrt, aber Jarvis störte das nicht. Von der U-Bahn konnte er nie genug bekommen.
Eine halbe Stunde später ging er über die Fußgängerbrücke, die Nord- und Südseite der Bahntrasse verbindet. Die stählern blinkenden Schienen unter ihm bildeten einen breiten silbernen Strom. Die Brücke war in neuerer Zeit mit dicken Stahlträgern verstärkt worden, die einem viel von der Sicht nahmen, aber auf dem Mittelteil lagen alte, bemooste Schwellen, und auch die Stufen waren aus Holz. Zwischen den Trägem hindurch konnte man die Hinterfront der Schule sehen, das ziemlich düstere Dunkelrot der Mauern und die gotischen Fenster, die eher zu einer Kirche gepaßt hätten. Rechts und links waren in Jarvis’ Kinderzeit anstelle der zerbombten Häuser langweilige Wohnblocks hochgezogen worden.
Ein Zug der Metropolitan Line donnerte ohne Halt weiter nach Wembley Park, ein langsamerer Zug der [37] Jubilee Line begegnete ihm und hielt unten am Bahnsteig. Es muß schön sein, diese Züge zu hören, dachte er, wenn ich meine Geschichte der Londoner U-Bahn schreibe. Er ging die Treppe hinunter und über die schmale, durch eine kleine Backsteinmauer begrenzte Gasse zur Schule.