cover

Anthony McCarten

Ganz normale
Helden

Roman

Aus dem Englischen von
Manfred Allié und
Gabriele Kempf-Allié

 

 

 

 

 

 

 

 

Titel der 2012 bei

Random House Inc., Neuseeland,

erschienenen Originalausgabe:

›In the Absence of Heroes‹

Die deutsche Erstausgabe erschien

2012 im Diogenes Verlag

Umschlagillustration: Jason Brooks,

›L’Empire des Lumières‹ (Ausschnitt)

Copyright © Jason Brooks/

www.jason-brooks.com

 

 

Für Eva

 

 

All rights reserved

Alle Rechte vorbehalten

Copyright © 2014

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 24271 3 (1. Auflage)

ISBN E-Book 978 3 257 60187 9

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

[5] 50% der Personen, die online gehen, machen falsche Angaben über Alter, Gewicht, Beschäftigung, Beziehungsstatus und Geschlecht.

20% der Personen, die online gehen, berichten von eindeutig negativen Auswirkungen auf ihr Leben.

Das Internet spielt eine Rolle bei fast 50% aller Familien- und Beziehungskrisen.

11% der Personen, die online gehen, entwickeln Zwangs- oder Suchtverhalten.

Frauen sind mittlerweile häufiger online als Männer.

Quelle: Das Internet

[7] Inhalt

I

DAS ENDE  [9]

II

DIE MITTE  [261]

III

DER ANFANG  [429]

[9] I
DAS ENDE

[11] Level eins
login

Renata gerät in Panik, wenn ihr Sohn nicht pünktlich zu Hause ist. Nichts macht ihr größere Sorgen. Und sie hasst es. Hasst es, wie sich ihr Magen zusammenkrampft, wenn sie auf seinem Handy anruft und nur die Mailbox rangeht. Was kann sie der Maschine schon sagen außer: »Ich bin’s, ruf zurück, ich will wissen, wo du bist, ruf mich an. Ich mach mir Sorgen.«

Die leeren Worte, die noch leereren Minuten danach, die lähmende Angst, die sich in ihren Gedanken aufbaut und nur in der immergleichen hysterischen Schlussfolgerung enden kann: Er ist tot.

Sie kann diese Kettenreaktion nicht aufhalten. Sie weiß, dass sie durchdreht. Sie versucht, dagegen anzugehen, aber sie kann es nicht. Diese Angst, diese nagende Angst, fast eine Vorahnung, dass ein weiteres Unglück ihre Familie heimsuchen wird, bevor sie sich vom letzten erholt hat, ist allgegenwärtig.

Renata Delpe. Im Dezember wird sie fünfzig. Listenschreiberin. Optimiererin. Perfektionistin. Backt Kekse, die so frei sind von allem – Gluten, Laktose, Hefe, Weizen, Zucker, gesättigten Fettsäuren –, dass man sie kaum noch als »Nahrungsmittel« bezeichnen kann. Ehefrau von James (Jim), Mutter von Jeff und auch von dem verstorbenen [12] Donald. Eine dieser Mütter, die Kinder als Krönung ihres Lebenswerks verstehen. Alles, was sie hatte, hat sie in die Kinder gesteckt, hat sich für sie aufgeopfert. Alles, was die Wohlhabenden bei der Aufzucht ihres Nachwuchses falsch machen können, hat sie falsch gemacht (Glück mit Geld gleichsetzen, kaufen, kaufen und ihnen immer noch mehr kaufen), und gerade deshalb wollte sie als Lohn dafür das perfekte Zuhause haben, mit einem zu 150% engagierten Ehemann, der ihr helfen sollte, dieses Zuhause zu managen. Doch bekommen hat sie zwei Söhne, von denen der eine gestorben ist. Bekommen hat sie einen Mann, der nur an seine Arbeit denkt und ihr 90% der Elternarbeit aufbürden und auch noch bestimmen will, wann er seine 10% beisteuert.

Sie vertreibt sich die Zeit mit dem Internet. Neulich hat sie eine religiöse Seite gefunden. Katholisch. Obwohl sie es hirnrissig findet, dass dort virtuelle Absolution für sehr reale Sünden versprochen wird, gefällt ihr die Vorstellung, mit der Kirche in Kontakt zu bleiben, die sie hinter sich gelassen hat, aber immer noch irgendwie liebt. Und hinterher fühlt sie sich wohler. Das ist einfach so. Und so tippt sie, allein im Haus, in brennender Sorge um Jeff: Vergib mir, Herr, denn ich habe gesündigt.

Wäre sie jetzt in der Kirche, in dem kleinen finsteren Kasten mit dem Gitterfensterchen, hätte sie mit den Worten »Vergib mir, Vater« einen Priester angesprochen, der mittels einer nicht minder merkwürdigen Verbindung diese Bitte wortlos an ihren Schöpfer weitergeleitet hätte. Doch dieser Internet-Service braucht keinen Priester, keine Weiterleitung, sondern geht, wenn sie sich das mal richtig [13] überlegt, davon aus, dass sie direkt mit ihrem Schöpfer chattet. Klack, klack, klack, klack.

RENATA: Seit sechs Monaten habe ich nicht mehr gebeichtet.

Klack, klack, klack.

RENATA: Richtig gebeichtet, meine ich. Persönlich. Diese Website hier habe ich im letzten Monat viermal besucht. Aber ich weiß nicht, ob das wirklich als Beichte zählt.

Renata starrt auf das Bild von Michelangelos Erschaffung Adams auf dem Monitor, auf die Fingerspitzen von Gott und Mensch, die sich fast berühren. Im Vordergrund ist ein Fenster mit blinkendem Cursor, ein Briefkasten, in den sie ihre Sünden werfen kann. Darunter ein zweites Fenster, vermutlich für die Antworten des Beichtvaters, für Gottes strengen Tadel – und wenn nicht den Tadel Gottes, dann den der Person, die hinter dieser Maschine steckt: Vielleicht ist es ein verstoßener Priester in Omaha mit offenem Hemd und karierter Golfhose, der für die Betreiber der Website arbeitet (etwas, das sich katholischer Vermittlungsdienst nennt). Gott, denkt sie, hoffentlich sitzt am anderen Ende keiner von diesen grässlichen Priestern, die wegen Unzucht (mit Haushälterin, Chorknabe oder Straßendirne) gehen mussten und die sich jetzt in keiner echten Kirche mehr blicken lassen können und ihren Lebensunterhalt als Seelentröster von Jammergestalten wie Renata verdienen.

Vergib mir, denn ich habe gesündigt.

Irgendwie bedrückt sie das – der Gedanke an die Unbeholfenheit der Kirche. Sie denkt zurück an all die Jahre, in denen sie sich unwürdig gefühlt hat. Immer die Drohung mit dem Tod, diese Obsession mit Sünde, Fehltritt, Versagen. Sie hat oft gedacht, dass die katholische Kirche im [14] Grunde eine Form von anhaltender leichter Depression ist.

Dann kommt eine Antwort: »Und welche Sünden möchtest du heute beichten?«

Jetzt wird sie den Gedanken an den verstoßenen Priester nicht mehr los. Es wäre furchtbar, wenn der Verfasser dieser Zeilen ein Perverser wäre. Aber wie zum Teufel soll man wissen, mit wem man es heutzutage im Internet zu tun hat? Und so stellt sie sich dann doch lieber wieder vor, dass der Schreiber am anderen Ende Gott ist. Ja, das ist Gott, mit dem sie hier redet, Gott persönlich, der sie gerade in unmissverständlichen Worten gefragt hat, was sie beichten will. Sie stellt sich ein freundliches Gesicht vor, ein bisschen wie ihr ältester Bruder, nachdem er mit Mitte vierzig beschlossen hatte, sich einen Vollbart stehen zu lassen – so stellt sie sich den Gott vor, auf den sie so wütend ist.

RENATA: Ich bin schon lange nicht mehr zur Beichte gewesen. Ich gehe nicht mehr in die Kirche. Wie immer kann sie nicht mehr aufhören zu tippen, wenn sie einmal angefangen hat. Ich war ohnehin schwankend im Glauben. Und am Ende saß ich nur noch in der Kirche und kämpfte mit den Tränen. Ich hatte nicht das Gefühl, dass ein Kirchenbesuch mir wirklich hilft, ich wurde wütend, also bin ich nicht mehr hingegangen.

GOTT: Und warum bist du wütend auf die Kirche?

RENATA: Man hat mir meinen Sohn genommen.

GOTT: Dein Sohn ist gestorben?

RENATA: Ich wusste nicht, wofür ich noch beten sollte. Ich habe nie »warum?« gefragt, weder Gott noch sonst jemanden. Ich hatte das Gefühl, keine Antwort ist gut genug.

GOTT: Dein Sohn ist gestorben?

[Lange Pause.]

[15]  RENATA: Es hat mir das Herz gebrochen, und jetzt habe ich das Gefühl, dass ich nicht genug getan habe, um Donald zu helfen. Ich bin so niedergeschlagen, dass es mir vorkommt, als gebe es einen tiefen Graben zwischen mir und der Welt. Kein Mensch versteht, wie elend mir zumute ist. Ich habe keine Tränen mehr. Wozu soll ich noch weiterleben?

GOTT: Jedes Leben hat einen Anfang, eine Mitte und ein Ende… wenn auch nicht unbedingt in dieser Reihenfolge.

RENATA: Neuerdings habe ich sogar Träume, Tagträume, in denen ich mit allem Schluss mache. Nichts außer Donald kann die Leere füllen, die er hinterlassen hat. Und mein älterer Sohn kommt nie pünktlich nach Hause. Heute auch nicht. Und dann denke ich – was, wenn ihm auch noch etwas zustößt? Wenn ich anrufe und er geht nicht ran, das macht mich verrückt. Tut mir leid, das gehört wirklich nicht hierher.

GOTT: Es gibt nichts, was nicht hierhergehört. Wie heißt dein Sohn?

RENATA: Jeffrey. Er ist knapp neunzehn. Schulversager. Muss ein ganzes Schuljahr wiederholen, und ich fürchte, er schafft es wieder nicht. Er macht es mir so schwer. Er hintergeht mich. Ein notorischer Lügner. Ich rege mich furchtbar auf. Werde ungeduldig. Wütend.

GOTT: Vielleicht liegt das daran, dass allein die Tatsache, dass er da ist, dafür sorgt, dass du nicht ganz aufgibst.

[Lange Pause.]

RENATA: Vielleicht. Für ihn muss ich weiterhin Mutter sein, obwohl ich eigentlich nicht mehr Mutter sein möchte. Ja, das klingt plausibel.

GOTT: Und etwas in dir ist deshalb wütend auf ihn. Vielleicht war er nicht dein Lieblingssohn. Deinen Liebling hast du verloren.

[16]  RENATA: Ich habe sie immer beide gleich lieb gehabt.

GOTT: Das stimmt nie. Man zieht immer ein Kind vor.

[Lange Pause.]

RENATA: Das ist entsetzlich – ja, stimmt, nur weil er da ist, kann ich nicht laut aufschreien und aufgeben. Die Vorstellung, dass er nicht mein Liebling ist – furchtbar!!

GOTT: Eltern sind immer nur so glücklich wie das unglücklichste ihrer Kinder.

RENATA: Interessanter Gedanke.

GOTT: Der Vater des Jungen – wo ist er?

RENATA: Jim und ich, wir sind Lichtjahre voneinander entfernt.

GOTT: So heißt er, Jim?

RENATA: Er ist wütend auf mich, weil ich nicht mehr so bin wie früher. Als hätte ich unseren Pakt gebrochen. Ich bin mit einem Mann verheiratet, der es nicht ertragen kann, dass ich so bedürftig geworden bin.

GOTT: Gib ihn nicht auf.

RENATA: Was ich durchmache – er will nichts mehr davon hören!! Deshalb reden wir kaum noch miteinander. Er ist überhaupt nicht mehr zärtlich zu mir, er schläft jetzt in einem anderen Zimmer. Kann sein, dass wir uns trennen werden. Er will mich loswerden, ich seh’s ihm an. Anfangs war er wütend, als ich ihn um getrennte Schlafzimmer gebeten habe, aber jetzt scheint er froh zu sein, dass er sich mir entziehen kann. Wenn wir doch mal miteinander schlafen –

[Langes Schweigen.]

GOTT: Bist du noch da?

RENATA: Das hier ist doch strikt vertraulich, ja?

GOTT: Absolut.

RENATA: Manchmal, ganz selten, kommt Jim zu mir in mein [17] Schlafzimmer. Und dann fühle ich mich, als hätte ich Valium genommen, mein Körper empfindet so gut wie nichts, ich empfinde so gut wie nichts – es ist eher wie ein Termin beim Arzt, eine gynäkologische Untersuchung, zu der ich mich zwinge, um mich zu vergewissern, dass dieser Teil von mir noch funktioniert.

GOTT: Immerhin habt ihr noch nicht aufgegeben.

RENATA: Eigentlich sollte ich das alles gar nicht sagen, aber sogar meine beste Freundin will davon nichts mehr hören. Ich bin sicher, was Jim und ich jetzt bräuchten, das wäre Trauer – wir müssten ganz offen trauern –, aber es ist, wie wenn man in einen Spiegel schaut. Statt Trost finden wir im Anderen nur das Spiegelbild unseres eigenen Schmerzes. Hören Sie, ich muss jetzt Schluss machen. Mein eigenes Unglück ekelt mich an. Ich danke Ihnen, wer immer Sie sind! Jetzt muss ich wieder Jeffrey anrufen. Der ist schon zwanzig Minuten überfällig… Aber eins will ich noch sagen. Wenn ich mit anderen Leuten zusammenkomme, sogar mit Elsbeth, dann habe ich immer das Gefühl, ich bin denen peinlich.

GOTT: Elsbeth?

RENATA: Meine beste Freundin. Jims Schwester.

GOTT: Sprich weiter.

RENATA: Offenbar fällt es Menschen enorm schwer, auf jemanden mit meinen Schwierigkeiten einzugehen. Vielleicht gibt es ja Trauerregeln, und ich trauere nicht KORREKT. Nur ein Beispiel: Kurz nachdem Donny gestorben war, hat es mal bei mir an der Tür geklopft. Die Nachbarin von nebenan, sonst immer sehr nett. »Hallo – nein, ich komme nicht rein, ich will nicht stören«, sagt sie. »Wir haben nur überlegt, ob wir etwas für Sie tun können. Egal, was.« Ich habe kurz überlegt, dann habe ich gesagt: »Würden Sie das Auto waschen?« Sie hätten ihr Gesicht sehen sollen, total [18] geschockt. »Soll das ein Witz sein?«, hat sie gefragt. Und als ich gesagt habe, nein, gar nicht, hat sie erwidert: »Tut mir leid, das ist nicht die Art Hilfe, an die wir gedacht hatten.« Und weg war sie!

GOTT: Hilfe in praktischen Dingen ist unter solchen Umständen oft das, was wir am meisten brauchen.

RENATA: Mein Auto musste nun mal dringend gewaschen werden. Ich hatte einfach keine Zeit und Kraft dafür. Autowaschen und solche Sachen sind bis heute die Art Hilfe, die ich wirklich brauchen kann.

GOTT: Das erscheint mir wirklich nicht zu viel verlangt.

RENATA: Danke. Wie geht’s jetzt weiter? Bekomme ich Buße und Absolution?

GOTT: Ich will nicht zu streng sein. Als Buße betest du drei Ave Maria und ein Vaterunser. Versuch, wirklich an die Worte zu glauben, wenn du sie sprichst. Ich spreche dich los und gebe dir Frieden, und ich vergebe dir deine Sünden im Namen des Vaters, des Sohns und des Heiligen Geistes.

RENATA: Amen.

Und so seltsam das ist, selbst nach dieser noch so unnatürlichen Absolution, der noch so oberflächlichen Segnung, fühlt sie sich ein wenig besser. Wie kann das sein? Das ist doch absurd, dass sie eine Vergebung annimmt, die nichts weiter ist als ein Placebo! Aber es lässt sich nicht bestreiten, dass es ihr mehr und tieferen Trost bietet als alles, was ihre Kirche oder ihre Familie in den letzten zwölf Monaten für sie getan hat.

[19] Fünf Minuten später kommt Jeffrey.

Renata kann nicht anders. Sofort schreit sie ihren Sohn an. Puterrot im Gesicht, die Hände in die Hüften gestemmt, legt sie los. Sie mag zwar schuldlos sein, von allen Sünden befreit, aber sie ist und bleibt Mutter, und mit dem Jungen geht es so nicht weiter.

Jeffrey will es erklären: »Akku leer. Wo ist das Problem? Jetzt beruhige dich doch.«

»Kann ich aber nicht. Du weißt, dass du dein Handy an lassen und dafür sorgen sollst, dass es aufgeladen ist, falls was ist. Wie oft muss ich dir noch sagen, dass ich mir Sorgen mache, wenn du nicht erreichbar bist. Wo warst du?«

»Nirgendwo. Reg dich ab, Mum. Meine Güte!«

»Ich frage dich noch einmal.«

»Ich… ich war bei einem Mädchen. Ich habe mich mit einem Mädchen getroffen.«

»Kelly? Die habe ich angerufen.«

»Nicht Kelly.«

»Saskia? Mit deren Eltern habe ich auch telefoniert.«

»Jemand, den du nicht kennst. Was soll das?«

»Kann ich bitte dein Handy sehen?«

»Mum, du spinnst wohl.«

»Kann ich jetzt bitte kurz dein Handy sehen?«

»Warum?«

»Das weißt du ganz genau.«

»Der Akku ist leer.«

»Gib mir bitte dein Handy!«

»Scheiße, Mum. Ich bin achtzehn. Was soll das?«

»Du bist vielleicht achtzehn, lebst aber immer noch bei uns, und hier gibt’s Regeln. Los, dein Handy, wird’s bald?«

[20] »Ich weiß nicht, wo ich es habe.«

»Versuch’s mal in deiner Tasche.«

Wütend, betont langsam, tastet Jeffrey seine Taschen ab, zuerst die unwahrscheinlichste, die Brusttasche, und kommt schließlich bei der rechten Gesäßtasche seiner Jeans an, in der er sein Handy immer hat. Er zieht es heraus. Hält es zögernd seiner Mutter hin. Erwischt.

Mutter und Sohn starren einander an. Jeff ist einen halben Kopf größer als Renata mit ihren einssiebenundsechzig. Er hat das gleiche Grübchen am Kinn wie seine Mutter. Den gleichen verkniffenen Mund, den sie beide von der griesgrämigen Großmutter Rasmussen geerbt haben. Renata hat manchmal das Gefühl, dass sie Jeff nicht mögen würde, wäre er nicht ihr Sohn. Sie stellt sich vor, wie er mit sechzig aussehen wird – immer noch schlank, wie sein Vater, immer noch unergründlich, schwer zu durchschauen, ein durchtriebener Lügner. Wenn er mal heiratet, wird er sich scheiden lassen, denkt sie, vielleicht mehr als einmal. Zu unaufrichtig. Die zornigen Frauen werden Schlange stehen und ihn »Mistkerl« nennen.

Sie schaltet das Handy ein. Das Display leuchtet auf. Der Akku ist mehr als halbvoll. Renata blickt zu ihm auf, mit müden, enttäuschten Augen, ein Blick, der sagt: Was ist nur schiefgegangen mit uns beiden, Schatz?

Jeff Delpe. Der große Lügner. Wie Donald mal von ihm gesagt hat: »Der kann dermaßen lügen, dass selbst das Gegenteil von dem, was er sagt, nicht stimmt – D.D. © 2007.«

»Ich will dich heute Abend nicht mehr sehen.«

»Aber gern.«

Jeffrey ist fort. Oben in seinem Versteck. Seinem Zimmer.

[21] Warum müssen sich sämtliche Männer in Renatas Leben verstecken?

Kurz darauf kommt James Delpe nach Hause. Außer Atem, mit wehendem Mantel, eine schwere Aktentasche in der rechten, Schlüssel in seiner linken Hand. Er schnauft. Hat leichte Kopfschmerzen. Ein langer Tag. Er spürt seine vierundfünfzig Jahre. Er stellt die Tasche ab, sieht niemanden und ruft »Ich bin’s nur«, für den Fall, dass ihn doch einer hört, trotz der lauten Musik oben in Jeffs Zimmer.

Von der Anrichte nimmt Jim die an ihn adressierte Post: eine Kreditkartenabrechnung, einen Rundbrief einer Hilfsorganisation, die Rechnung der Autowerkstatt für die Bremsenreparatur, zwei Broschüren von Grundstücksmaklern, die immer noch auf seine Anfrage nach einem »Häuschen im Grünen« antworten. Er reißt die Umschläge auf, überfliegt den Inhalt. Mit der Kreditkarte hat er diesen Monat zu viel ausgegeben; er muss aus dem Weinschmecker-Club austreten, die Weine sind eh nur mittelmäßig, aber was kann er mit all den anderen Dingen machen, die sein Einkommen auffressen: £ 35 pro Monat für sein Blackberry, zwei weitere Handy-Abos für Jeff und Renata, von denen jedes noch einmal mindestens £ 70 im Monat kostet, die Abbuchungen für Satellitenfernsehen, DSL, DVD-Filmclub und natürlich noch die Gebühr für das Festnetztelefon? Er erinnert sich kaum noch an die Zeiten, als die Telefonrechnung das Einzige war, was eine Familie für die Telekommunikation zu zahlen hatte!

Er reißt auch die anderen Umschläge mit Rechnungen [22] auf und wirft noch einen Blick auf die bunten Hausprospekte, so unpassend und so teuer, dass er sich umso mehr zu dem Haus gratuliert, das er tatsächlich gekauft hat. Wenigstens hier, bei den wirklich wichtigen, großen Entscheidungen, hat er seine Familie nicht im Stich gelassen.

Das war Jims Patentrezept nach Donalds Tod – aus London wegzuziehen. Die Trauer über diesen schrecklichen Verlust verlangte nach etwas Großem, aber das Stadtleben ist für Renata und für ihn auch sonst schlicht zu anstrengend geworden. Und er ist stolz darauf, dass ihm die Logistik des Umzugs so gut von der Hand geht: das eine Haus verkauft (auch wenn die Unterzeichnung des Vertrages noch aussteht), das andere, ein Natursteincottage in Gloucestershire, bereits bezahlt, und die Handwerker sind schon zugange und richten es her. Wenn sie zügig vorankommen, können die Delpes direkt nach Jeffs Abschlussprüfung aufs Land ziehen. Zwei Stunden Fahrtzeit von London – Jim hofft, dass dort seine Familie wieder zusammenfinden kann, dass dort ein Leben möglich ist, bei dem die heilenden Kräfte der Natur ihre Wirkung entfalten können. Auf drei Seiten grenzt das Anwesen an Wald, eine riesige Wildnis aus Bäumen, Pfaden und üppigem Laub, und Jim, der alte Romantiker, ist überzeugt, dass ein Waldweg helfen kann, wo auf dem Beton des Bürgersteigs alles verloren ist.

Doch nun, wo das Umzugsdatum näher rückt, ist die Anspannung mit Händen zu greifen. Schon ein Witz, dass das Heilmittel für ihre Krankheit die Symptome verschlimmert. Renata wird sich in das neue Leben hineinfinden, da ist er sicher, aber er kann nur hoffen, dass Jeff seinem [23] Vater eines Tages verzeihen wird, dass er ihn vom Großstadtleben abgeschnitten hat.

Ganz unten im Poststapel liegt ein Brief mit dem Aufdruck Life of Lore, adressiert an Jeffrey Delpe. Seltsam, dass die Betreiber an ihre Spieler schreiben.

Life of Lore. Ein Online-Videospiel. Tausende von gesunden Stunden vergeudet an eine ungesunde Beschäftigung. Millionen unbekannter User, die in Verkleidung zusammenkommen, der größte Maskenball aller Zeiten. Der Brief sieht aus, als hätte sich jemand daran zu schaffen gemacht. Ihn geöffnet und dann wieder zugeklebt. Er legt ihn beiseite, als Renata grußlos an ihm vorbeigeht.

Abendessen. Am Tisch nur Renata und Jim.

»Er hat heute einen Brief gekriegt.«

»Hmmmm?«

»Hörst du mir überhaupt zu? Ich hab gesagt, er hat heute einen Brief gekriegt.«

»Hab’s gerade gesehen«, antwortet er.

»Ich habe ihn aufgemacht.«

Er hört auf zu essen. »Du hast ihn aufgemacht?« Er starrt sie an. »Was hast du dir dabei gedacht?«

»Er kriegt andauernd solche Briefe. Von diesem Videospiel. Ich hab gleich gewusst, dass da was faul ist.«

»Renata! Das kannst du nicht machen.«

»Es ist ein Scheck!«, sagt sie triumphierend. »Siebenhundertfünfzig Pfund.«

»Du kannst doch seine Post nicht öffnen, Renata! Er ist achtzehn!«

[24] »Aber der Scheck – siebenhundertfünfzig Pfund.«

»Schon gut, aber –«

»Was sollen wir deswegen unternehmen?«

»Ich weiß nicht. Aber –«

»Was?«

»Er ist erwachsen, verdammt noch mal. Wir müssen –«

»Womit verdient er so viel Geld?«

»Wir müssen ihn fragen. Fragen! Mit ihm reden! Nicht seine Post aufmachen!«

»Siebenhundertfünfzig Pfund. Dafür, dass er ein Videospiel spielt? Wird man jetzt für so was schon bezahlt?«

»Geh hin, und frag ihn.«

»Geh du. Los! Ich will, dass du mit ihm redest.«

»Du hast seine Post aufgemacht, dann musst du auch mit ihm reden.«

»Ich habe etwas unternommen. Jetzt bist du dran.«

Er schüttelt den Kopf, betont gleichgültig. »Gut. Ich mach’s.«

»Machst du dir denn keine Sorgen?«

»Natürlich mache ich mir Sorgen.«

»Ja, weil ich seinen Brief aufgemacht habe. Nicht weil dein Sohn riesige Schecks von wildfremden Leuten bekommt.«

»Renata, du kannst nicht anderer Leute Briefe aufmachen.«

»Bist du denn nicht froh darüber?«

»Ehrlich gesagt, nein. Ich finde es nicht okay.«

»Nicht okay? Dass ich –?«

»Ich sage nur, dass es hier auch noch um was anderes geht. Um Vertrauen. Privatsphäre.«

[25] Sie sieht rot. »Das ist wieder mal typisch. So geht das doch jedes Mal. So reagierst du auf alles. Aussitzen. Pseudophilosophisches Geschwafel. Ein einziges großes schwabbeliges Nichts aus Unentschlossenheit.«

Es hört sich an, als habe sie diese Vorwürfe geprobt. Lange daran gefeilt. »Ich hab gesagt, ich red mit ihm, und das werde ich auch. Aber gerade eben habe ich von etwas anderem gesprochen.«

»Vergiss es. Ich mach es schon selbst.«

»Meinetwegen. Wenn dir das lieber ist. Mach, was du willst.« Er zuckt mit den Achseln. Er ist nicht bereit, sich wegen jeder Kleinigkeit zu streiten.

»Erbärmlich«, sagt sie. »Die Drecksarbeit muss mal wieder ich erledigen. Ich soll herausfinden, was mit Jeff los ist, und dann machst du mir Vorwürfe, dass ich ihm nicht vertraue. Ich bin ganz auf mich gestellt, Jim. Ganz auf mich allein!«

Gleich wird sie weinen. Er sieht es schon kommen. Er muss sich beeilen, um seinen nächsten Gedanken noch anzubringen, und deshalb klingt der Satz falsch, er klingt zu hart. »Hast du mal überlegt, ob Jeff vielleicht ein Leben verdient, in dem du ihn nicht dauernd bemutterst?«

»Geh du nur zurück an deine Arbeit. Mach schon, versteck dich. Versteck dich.« Schon ist sie in der Küche verschwunden. Töpfe scheppern.

Er folgt ihr. »Ich habe gesagt, ich rede mit ihm.«

»Immer das Gleiche«, sagt sie. »Wie damals, als ich gemerkt habe, dass er in seinem Zimmer Marihuana raucht. Und dann habe ich rausgefunden, dass du Bescheid wusstest.«

[26] »Das ist ein anderes Thema.«

»Du hast deinem Sohn erlaubt, Hasch zu rauchen.«

»Hab ich nicht.«

»Hast du doch. Ich konnte mir den Mund fusselig reden, er wusste immer, dass du dachtest, es ist alles halb so wild.«

Jim spürt, wie der Ärger in ihm aufsteigt. Warum ist immer er schuld, wenn sein Sohn etwas falsch macht? »Stimmt doch gar nicht. Ich habe ihm einen Vortrag gehalten, habe ihm gesagt, wer Hasch raucht, verliert den Blick für die Zukunft, lässt sich treiben et cetera et cetera. Was kann ich denn sonst noch tun? Er ist volljährig.«

»Wenn du doch nur einmal…«

»Wenn du doch nur einmal was…? Los, sag schon!«

»Dich einmal wie ein Vater benehmen würdest.«

Gnadenlos. Jeder Streit über eine Einzelfrage wird zur Generalabrechnung. »Was soll das heißen?«

»Vergiss es. Frag ihn einfach, wofür das Geld ist. Bitte. Ich hab’s satt, jedes Mal der Drache zu sein.«

»Mich belügt er ja doch nur.«

»Er belügt jeden!« Sie schüttelt den Kopf und ballt die Fäuste. Weiß offenbar nicht mehr weiter. »Hör zu, das hängt alles zusammen. Es ist –« Sie greift aus Verzweiflung nach ihrem Weinglas, ihre Lippen mit einem Mal feucht – Lippen, die man küssen könnte. »Es ist – diese gewohnheitsmäßige Art, dieser Hang zu täuschen. Als wäre es langweilig, die Wahrheit zu sagen. Selbst wenn ihm das Lügen keinen Vorteil bringt, erzählt er lieber eine Lüge, und es ist unglaublich, wie gut er das macht. Er blufft, betrügt, erfindet, schwindelt, phantasiert, und sogar wenn man genau weiß, dass er lügt, möchte man ihm noch glauben. Er ist [27] der geborene Hochstapler. Ein Pokerface, wie es im Buche steht!« Renata starrt Jim an, dann redet sie weiter: »Woher hat er das? Wir sind doch nicht so.«

Jim zuckt mit den Achseln, stimmt ihr zu, dass sie etwas gegen diese notorische Verlogenheit unternehmen müssen. »Ich lasse mir was einfallen.«

Aber Renata will, dass sie sofort etwas tun. »Wir müssen ihn kurieren, gemeinsam. Wäre das möglich? Ich will, dass du das wirklich in Angriff nimmst. Wir müssen einen Weg finden, ihn von dieser ständigen Flucht vor der Realität abzuhalten. Den ganzen Tag hockt er vor seinen Computerspielen. Als hätte er Angst, dass er mit der Wirklichkeit nicht zurechtkommt. Nur in der virtuellen Realität fühlt er sich wohl. Das ist einfach schrecklich.« Ein Seufzer tief aus ihrem Inneren sucht sich einen Weg ins Freie, und es klingt, als habe sie ihn dort Stunden, Tage, Jahre festgehalten. »Ich weiß nicht, woher er das hat. Wir haben unsere Probleme, aber wir sind wenigstens immer ehrlich zueinander.«

Er nickt. »Und was schlägst du vor?«

»Sprich mit ihm. Ein Gespräch zwischen Vater und Sohn.«

Er blickt aus dem Fenster. Auf die andere Straßenseite. In die Wohnzimmer von zwei Häusern, die ganz genau so aussehen wie ihres. Bühnen für die menschliche Tragödie. »Schön. Aber wir müssen auch seine Privatsphäre respektieren.«

»Natürlich.«

»Ihm nicht mehr nachspionieren.«

[28] Nach dem Essen bringt Jim den Teller für Jeff nach oben; er hält ihn mit einem Küchentuch, damit er sich nicht die Finger verbrennt. In seiner Tasche steckt der Brief, den Renata schon geöffnet und wieder zugeklebt hat. Ist sein Sohn ihm wirklich ein Rätsel? Schon, aber doch kein größeres als das Rätsel seiner eigenen Person. Denn wer ist Jim Delpe? Weiß, in jeder Hinsicht in der Mitte – Schicht, Einkommen, Alter –, ungesellig, tüchtig auf seinem Gebiet, doch auf allen anderen unerprobt, folglich zu 90% unwissend. Vielleicht liegt es daran, dass er niemals Widerstand gespürt hat, dass es nie Schlachten gab, die ihm, wenn er sie gewonnen hätte, gezeigt hätten, was in ihm steckt; seinen wahren Charakter gezeigt.

Er klopft zweimal an Jeffs Tür. Drinnen läuft laute Musik, also öffnet er. Eine andere Welt – Kabel, Rechner, das Summen der Maschinen, das für diese Generation so berauschend ist wie Marihuana und Fliegenpilz einst für die seine. »Jeff?« Er gibt seiner Stimme einen sanften Ton, um zum Ausdruck zu bringen, wie sehr er seinen Sohn liebt, diesen verschlüsselten Jungen, ihn so liebt, dass es ihm weh tut. Sein Sohn, einer von nur zweien, die Jim Delpe gezeugt hat. Und selbst das verblüfft ihn immer wieder – dass er es geschafft hat, seine Gene weiterzugeben, zweimal. Kopieren. <STRG+C>. »Abendessen?«

Der Junge hat Jim den Rücken zugewandt, er starrt gebannt auf den Monitor.

Jeffrey. Er war nicht immer ein Computerkid. Erst seit Donalds Tod. Vielleicht war es der jähe Verlust oder das Leichentuch, das sich danach auf die Familie gelegt hat und nie wieder gelüftet wurde. Jedenfalls hat Jeff sich, genau [29] wie Jim auch, vom Familienleben zurückgezogen. Keine Spur mehr von dem Schwadroneur aus dem vorigen Jahr, der am laufenden Band Geschichten erzählte, die weder er noch sonst einer je erlebt haben konnten. Damals hatten Jim und Renata überlegt, ob er womöglich am Münchhausen-Syndrom litt und ob vielleicht die Medikamente helfen würden, die man hyperaktiven Kindern gibt. Verschwunden auch der jugendliche Schürzenjäger, dessen lange Liste von angeblichen Eroberungen seinen frommen Eltern Seelenqualen verursacht hatte. Verschwunden der junge Mann, der auf dem Basketballfeld triumphierend die Faust gen Himmel reckte, dessen »Zeigt’s ihnen!« sekundenlang in einer Sporthalle nachhallen konnte. Gänzlich verschwunden der aufsässige Jugendliche, der lebte, als hätte er permanent die FESTSTELLTASTE GEDRÜCKT, alles war ÜBERTRIEBEN UND SUPERDRINGEND UND ZU GROSS GESCHRIEBEN, GEFÜHLE WICHTIGER ALS VERSTAND, TRÄUME WICHTIGER ALS DAS GEWISSEN, ANGETRIEBEN VON SO VIEL ÜBERZEUGUNGSWILLEN UND HYPE, DASS DIE GRENZE ZWISCHEN FAKT UND FIKTION SCHLIESSLICH… VERPUFFT. Dieser Junge? Nicht mehr da. Renata und Jim suchen noch nach der Original-Software, die diese frühere Version ihres Sohnes wiederherstellt. In der Zwischenzeit müssen sie sehen, dass sie sich mit dem Zombie arrangieren, dem blutlosen Autisten mit den hängenden Schultern, der seine Kontakte mit der Außenwelt auf ein gebrummtes »Okay« oder »Schön« oder »Gleich« beschränkt.

»Hallo, Sohn?«

Erst da dreht Jeff sich um. Die Augen blinzeln wässrig, [30] als erwache er aus einem tiefen Traum. Er wird Jim immer ähnlicher. Aber anstelle von Stolz auf seine eigenen Gene, darauf, dass die Übertragung so perfekt geklappt hat, empfindet Jim wieder einmal nichts als Ärger über das, was er im Gesicht seines Sohnes entdeckt und was ihn an sich selbst immer gestört hat: die etwas zu groß geratene Nase, die blasse Haut, die unentschlossene Weinerlichkeit im Zusammenspiel von Augen, Brauen, hängenden Mundwinkeln und dem gemeinhin als fliehend beschriebenen Kinn.

Mittelmäßige Eltern bekommen mittelmäßige Kinder.

»Danke, kein Hunger.«

»Du musst was essen. Komm schon, bevor es kalt wird. Tu’s deiner Mutter zuliebe.«

»Ich hab echt keinen Hunger.«

Was kann Jim da machen? Er stellt das Tablett auf den Schreibtisch. »Wenigstens ein paar Bissen. Und hör mal, wie wär’s, wenn wir beide versuchen würden, mehr Rücksicht auf den Druck zu nehmen, unter dem deine Mutter steht, und uns vornehmen, dass wir es ihr nicht noch schwerer machen? Verstehst du, was ich sagen will? Nicht den Kontakt zu ihr verlieren. Und wenn du dich verspätest, schick ihr eine SMS, ruf sie kurz an, einfach nur, damit sie sich keine Sorgen macht. Du weißt doch, wie sie ist. Meinst du, das könntest du tun?«

»Mache ich doch. Fast immer. Meine Güte, Dad.«

»Ja, ich weiß.«

»Manchmal ist das, als ob ich unter Beobachtung stehe oder so. Wie ein Verbrecher mit einer elektronischen Fußfessel. Also, ich würde ja ausziehen, aber –«

»Ausziehen?«

[31] »Eigentlich bleibe ich nur euretwegen.«

»Was soll das heißen?«

»Damit ihr beide euch nicht an die Gurgel geht.« Jeffs Gesichtsausdruck lässt keinen Zweifel, dass er es ernst meint. »Ihr seid so kurz davor, euch zu trennen, es ist lächerlich. Also versuch ich einfach, der Kitt zu sein, der alles zusammenhält. Und was ist der Dank?«

Erstaunliche Idee – Jeffrey als Retter seiner Eltern! »Von Trennung ist gar keine Rede. Kümmere dich einfach um dich selbst. Besteh deine Prüfung, und hab ein bisschen Nachsicht mit deiner Mutter.« Aber Jeff beugt sich schon wieder über seine Tastatur und tippt. Es ist zum Verrücktwerden. »Und wir sollten auch darüber reden, wie viel Zeit du mit diesen Internetspielen verbringst. Wir verstehen nicht, was das für ein Leben ist, das du führst.«

Der junge Mann blickt nicht einmal von seinem Bildschirm auf. »Was soll man denn hier sonst schon machen?«

»Wie wär’s mit Schulaufgaben?«

»Hab ich fertig.«

»Tatsächlich?«

»Ja.«

Jim war Donald kein guter Vater gewesen. Erst am Schluss waren sie sich wirklich nahegekommen und hatten aufrichtig miteinander reden können. Er will bei seinem Erstgeborenen nicht die gleichen Fehler machen. Er erhebt die Stimme, legt all seine Autorität hinein: »Du weißt, dass diese Spiele gefährlich sind, nicht wahr?«

»Klar weiß ich das. Wenn man hundert Stunden spielt, sinkt der IQ um einen Punkt.«

Jim hebt eine Augenbraue. »Ehrlich?«

[32] »Mann, Dad, lass uns über was anderes reden. Du weißt nicht das Geringste darüber, also sag lieber nichts. Du hast doch keine Ahnung.«

»Du kannst dir das vielleicht nicht vorstellen, aber es gab eine Zeit, da war der Buchstabe I einfach nur ein unschuldiger Vokal, und wenn es überhaupt jemanden gab, der von einem weltumspannenden Netz träumte, dann war das eine Spinne auf wirklich gutem LSD

»Danke, dass du das Essen hochgebracht hast.«

So leicht lässt Jim sich nicht abwimmeln. »In den USA gab es einen Fall, da hat ein Mann die Polizei gerufen, weil seine Frau so merkwürdig atmete. Wie sich herausstellte, hatte sie ihr Handy verschluckt, weil ihr Mann damit gedroht hatte, es ihr wegzunehmen und in Stücke zu schlagen.«

»Was willst du mir damit sagen?«

»Und in Südkorea hat ein Sohn seine Mutter umgebracht, weil sie ihn aufgefordert hat, mit einem Onlinespiel aufzuhören. Umgebracht.«

»Und trotzdem willst du mich dazu auffordern?«

Schachmatt. Jim greift zur Türklinke. Aber er hat etwas vergessen. Was war es doch gleich? »Ach ja, ich möchte, dass du am Wochenende mit in das neue Haus kommst. Nur wir beide. Wir fahren Sonntag zurück.«

»Ich bleib lieber hier, wenn’s recht ist.«

»Warum?«

»Ich möchte einfach hierbleiben.«

Jim muss schnell seine Autorität wiederherstellen, seine schwindende Macht. »Ich möchte, dass du mit mir zwei Tage raus aufs Land fährst.«

[33] »Das hast du schon gesagt.«

»Ich warte darauf, dass du ›ja‹ sagst.«

»Aber ich hab keine Lust.«

»Du kommst mit. Du hast das Haus noch nicht ein Mal gesehen. Die Sache ist entschieden.«

»Von wem? Ich bin doch nicht dein Sklave.«

Sklave. Das falsche Wort. »Du wohnst unter meinem Dach. Also tust du gefälligst das Wenige, was ich von dir verlange. Ich brauche Hilfe in dem neuen Haus und damit basta.« Jim schäumt jetzt vor Wut. Verdammte Blagen. »Wenn ich bedenke, was ich alles für dich tue.«

»Was denn? Was tust du für mich? Du tust überhaupt nichts für mich.«

»Wie bitte?«

»Dann sag mir mal, was du für mich tust.«

Jim ist sprachlos. »Was ich für dich tue? Dann schlage ich vor, dass du in diesem Zimmer bleibst, du Klugscheißer. Du bleibst in diesem Zimmer und kommst erst wieder raus, wenn du fünfzig Dinge aufgeschrieben hast, die ich für dich tue.«

»Fünfzig?«

»Jawohl. Fünfzig.«

»Ich bin kein Kind mehr, Dad. Und überhaupt: Du tust nie im Leben fünfzig Dinge für mich.«

»Fünfzig. Nimm dir ein Stück Papier – du weißt doch, was das ist, Papier? –, nimm dir ein Stück Papier und fang an!«

»Das ist ja lachhaft.«

»Halt dich nicht mit der Vorrede auf. Von jetzt an tue ich nur noch das, was auf der Liste steht. Was du nicht [34] draufschreibst, das tue ich nicht. Wenn du drei Sachen auf die Liste schreibst, dann sind das die drei Dinge, die ich von jetzt an für dich tue. Kapiert? Und wenn dir überhaupt nichts einfällt, dann hast du von jetzt an eben einen Vater, der wirklich nichts für dich tut.«

Jim knallt die Tür zu und hört von drinnen noch Jeffs angewidertes »Lachhaft«. Erst jetzt fällt Jim ein, dass er dem Jungen den Brief von Life of Lore nicht gegeben hat. Er starrt ihn an. Schließlich steckt er den Brief wieder in die Tasche und geht nach unten.

Renata sitzt am Computer, in die Lektüre einer bunten Website vertieft. »Was hat er gesagt?«, fragt sie.

»Ich hab vergessen, ihm den Brief zu geben.«

»Gib ihn her.«

Sie poltert die Treppe hinauf, den unrechtmäßig geöffneten Umschlag in der Hand. Türen schlagen. Laute Stimmen. Türen werden aufgerissen und wieder zugeknallt. Renata erledigt Jims Aufgaben, Aufgaben, die er nicht erledigen wollte, Aufgaben, die er nicht ernst genommen hat. Er lauscht, setzt sich auf den Computerstuhl. Seine Augen wandern zum Bildschirm. Facebook. Hat Renata einen Facebook-Account? Vor ein paar Tagen erst hat er gelesen, wie viele Menschen jetzt Mitglied in diesem Onlineclub sind, und war schockiert von der Tatsache, dass jedes dieser Mitglieder durchschnittlich mehr als vier Stunden pro Woche online ist. Astronomische Zahlen. Ein Schwarzes Loch, das menschliche Aufmerksamkeit verschlingt. Ist Renata jetzt auch in diesen Strudel hineingezogen worden? Doch dann sieht er genauer hin. Es ist Donnys alter Account, in den sie sich eingeloggt hat. Jim sitzt vor dem Bildschirm [35] und studiert die Seite; er sieht ein übermütiges Foto seines toten Sohnes, sieht, dass Renata sein Profil gerade aktualisiert hat, ein paar neue (alte) Fotos hochgeladen und Meldungen über das Familienleben unter diesem Dach gepostet hat.

DONALD DELPE: Wir kriegen ein neues Haus in den Cotswolds

DONALD DELPE: Hoffe nur, es wird schön da auf dem Land

DONALD DELPE: Jeff muss seine A-Levels noch mal machen und büffelt ganz schön

DONALD DELPE: Es gibt Vieles, wofür wir dankbar sein sollten

DONALD DELPE: Gute Nacht, ihr da draußen!

Seit Donalds Tod hat niemand sonst, keiner seiner »Freunde«, eine einzige Zeile gepostet. Renata veröffentlicht ihre Kommentare in Donalds Namen in einem leeren Raum.

»So leicht geht das nicht, Schatz!«, hört er von oben. »Wenn du nichts zu verbergen hättest, würdest du mir alles sagen. Das weißt du auch.« Darauf die Antwort: »Ich sage kein Wort mehr. Wenn du mich noch mal fragst, ziehe ich aus.« – »Jeff –« – »Ich ziehe aus. Die Entscheidung liegt bei dir. Und noch was – schönen Dank, dass du meine Post aufmachst!«

Die Tür wird wieder zugeschlagen.

Mit einer winzigen Fingerbewegung versetzt Jim den Computer in den Ruhezustand.

Um zehn Uhr herrscht Ruhe. Jim geht davon aus, dass die beiden anderen schlafen, und greift zum Telefon, um Elsbeth anzurufen, seine Schwester, die früher am Tag eine Nachricht hinterlassen hat. Zu seiner Überraschung hört er Jeffreys Stimme in der Leitung.

[36] Er hört nur ein paar Sekunden lang mit – so kurz, dass man es nicht als Verletzung der Privatsphäre werten kann –, aber doch lang genug, dass er einen entscheidenden Satz aufschnappt:

»Wir treffen uns auf Level eins. TerraNova. Mein Avatar heißt Merchant of Menace. Ja, genau. Merchant of Menace. M-E-N-A-C-E

Eine ältere Männerstimme antwortet, aber Jim legt auf, denn er hat ein schlechtes Gewissen. Er geht in die Küche. Macht Tee. Sein Verstand rast. Wir treffen uns auf Level eins. Sein Sohn telefoniert also mit anderen Spielern, trifft Verabredungen. Mein Avatar heißt Merchant of Menace. Das muss der Name sein, unter dem sein Sohn in Life of Lore unterwegs ist. Kein schlechter Scherz für einen Jungen, der Shakespeare hasst und mit Sicherheit nie den Merchant of Venice, den Kaufmann von Venedig, gelesen hat, höchstens das Interpretationsheftchen dazu.

Renata fährt aus dem Schlaf hoch. Wie spät ist es? Irgendwas bewegt sich in ihrem dunklen Schlafzimmer. Ein Mann kriecht zu ihr ins Bett.

Gänsehaut überzieht ihren Arm, als er ihr die Hand auf die Schulter legt und sie dann abwärts über ihre Taille zu den weichen Pölsterchen oberhalb der Hüftknochen gleiten lässt, wo sie ihre Alkoholkalorien lagert.

Wenn sie ihn aufhalten will, ist das jetzt der Zeitpunkt. Und sie hat gute Gründe, ihn aufzuhalten, denn es ist eine Ewigkeit her, seit sie zuletzt beim Sex die Initiative ergriffen hat. Aber wie sie im Laufe vieler Monate – vielleicht [37] sogar Jahre, sie kann sich nur schwer erinnern – gelernt hat, ist es möglich, einfach gar nichts zu sagen und seine Zärtlichkeiten über sich ergehen zu lassen. Vielleicht kann sie es diesmal ja sogar genießen, denkt sie, als er ihr T-Shirt hochschiebt, Männergröße XL mit dem Aufdruck Warnung: Schokolade bedroht ihre Ehe.

Seine Hand schließt sich um ihre linke Brust, ortet eine Brustwarze, um die ein einzelner Finger langsam Kreise zeichnet, bis die Haut sich automatisch zusammenzieht wie ein festgezurrter Knoten. Ein kaum spürbares Schaudern. Ein sehnsüchtiges Ziehen in ihrem Schoß. Reflexhaft. Sie zeigt eine erste Reaktion, eine kleine Hüftbewegung. Dann ein Seufzer, den sie lieber unterdrückt hätte, der ihm jedoch eine geflüsterte Antwort entlockt, sein Atem heiß auf ihrem Hals: »Entspann dich. Lass mich einfach machen.«

»Was soll das werden?«

»Was meinst du, was das ist? Ich benutze dich. Tu einfach so, als ob du mich nicht kennst.«

»Das ist leichter…«, sagt sie, »…als du denkst.«

Sie hört auf zu reden. Dreht sich auf den Rücken, als ein Mund an die Stelle des kreisenden Fingers tritt, sich fest um ihre Brustwarze schließt. Das ist also Sex.

Sie krümmt den Rücken. Sie ist abgetaucht, schwebt in einer Welt von Dingen, die mit ihr geschehen und die sie geschehen lässt; die aufgestaute Energie der einsamen Wochen wird jetzt freigesetzt. Dieser Mann dreht sie auf den Bauch, er will sie von hinten nehmen. Das Gesicht plötzlich ins Kissen gedrückt, spürt sie, wie sein Schwanz in sie eindringt. »Halt, warte, ich habe mein Schwämmchen nicht drin«, sagt sie. »Keine Sorge, wir sind alt«, antwortet er.

[38] Der Moment, in dem sie »Danach ist mir aber jetzt gar nicht zumute« sagen könnte, ist längst vorbei.

Er ist schnell fertig. Stöhnt. Atmet heftig. Seine Säfte sickern aus ihr heraus.

»Jetzt sorge ich dafür, dass du kommst«, sagt er.

»Bitte verlass mein Schlafzimmer.«

»Red keinen Unsinn. Du bist doch immer noch meine Frau. Jetzt bist du dran.«

»Bitte. Geh jetzt.«

Er gehorcht. Steht im Dunkeln auf, geht ein paar Schritte, bückt sich, hebt etwas vom Fußboden auf, steht eine Sekunde lang nackt in der Tür, dann schließt sich die Tür.

Der Eindringling ist fort.

Am nächsten Tag nach der Arbeit Abendessen mit den Partnern der Kanzlei, samt Gattinnen.

Sie kommen erst spät wieder nach Hause.

Kein Licht unten, nur eins im Obergeschoss, wieder Musik, die aus Jeffs Zimmer dröhnt wie eine Kriegserklärung. Als Renata den Lichtschalter gefunden hat, brüllt sie nach oben: »Jeff! Mach das leiser, sonst –«

Das Telefon klingelt. Jim hebt ab. »Hallo?«

»Hallo. Polizei Watford. Wohnt hier Jeffrey Delpe?«

Renata brüllt am Fuß der Treppe weiter: »Jeff! Jeff!«

»Ja. Ich bin sein Vater. Was gibt es?«

»Sir, wir versuchen den Aufenthaltsort von Jeffrey Delpe zu ermitteln.«

Jim stockt das Herz. Renata hat genug mitbekommen, dass sie die Ohren spitzt. Sie stellt sich hinter ihn. »Was ist?«

[39] »Wir hätten gern Gewissheit darüber, wo Jeff sich derzeit aufhält, Sir.«

»Er – er ist in seinem Zimmer. Ist etwas passiert, Officer?«

»Wir müssen Ihnen leider mitteilen, dass es einen Autounfall gegeben hat, auf der A40 bei Chalford.«

»Autounfall«, flüstert Jim zu Renata, deren Wangen bereits vor Furcht gerötet sind.

»Das Fahrzeug kam von der Straße ab. Leider hat keiner der Insassen überlebt. Wir versuchen, die Sache aufzuklären. Und wir haben einen Insassen, jung, männlich, weiß, den wir nicht identifizieren können. Ich muss Ihnen sagen, dass die Eltern des Unfallfahrers, Rudy Whittaker –«

»Rudy? Lieber Himmel.«

»Rudy?«, fragt Renata. Jim horcht weiter, bestätigt ihr noch nichts.

»– dessen Identität zweifelsfrei feststeht, uns gesagt haben, dass der Fahrer nach allem, was wir wissen, am heutigen Abend in Begleitung Ihres Sohnes war.«

»Meines Sohnes?« Jim starrt seine Frau an, in deren weitaufgerissenen Augen er lesen kann, wie ihm selbst zumute ist.

»Was ist?«, flüstert sie.

»Und da…«, würgt Jim hervor, »…wollten Sie… ja, verstehe… Sie möchten mit ihm – Nein, er ist in seinem Zimmer. Ja, mache ich. Ja. Einen Augenblick. Natürlich. Ich werde – bleiben Sie dran.«

Renata hat jetzt die Hand vor den Mund geschlagen.

»Ein Unfall. Die Polizei möchte sich vergewissern, dass Jeff hier bei uns ist. Rena, ich muss nach oben und –«

[40] »Jeff ist in seinem –«

»Ich weiß, ich weiß. Das habe ich der Polizei schon gesagt. Aber ich muss nachsehen.«

»Jeff!«, brüllt Renata so laut, dass sie sogar die Musik übertönt, doch Jim ist bereits auf der Treppe, geht anfangs mit ruhigen Schritten, überzeugt davon, dass dieser Verkehrsunfall, dem der arme Rudy Whittaker zum Opfer gefallen ist, zwar schrecklich ist, aber nichts mit dem Leben in diesem Haus zu tun hat. Doch jetzt, wo er sich der wummernden Musik nähert (eine von diesen Lärmbands, die Jim nicht ausstehen kann, Def Zombie oder die Violent Biscuits), steigen doch Bilder in ihm auf, die er ganz und gar nicht sehen will – ein umgestürzter Wagen, junge Menschen, tot, die Gesichter unkenntlich, blutüberströmt –, und als er am Treppenabsatz anlangt, da rennt er schon fast, hin zu der verschlossenen Tür.

Hey, you, no mistake

You’re a phony, a facsimile

You’re a fake, fake, fake…

Er stößt die Tür auf.

Hey, you, since you ask

You make me sick

I see through your mask

I see through your mask

Das Bett unberührt. Das Zimmer leer. Das Fenster verschlossen. Ein Licht brennt.

You’re a fake, fake, fake…

Die Musik ist entsetzlich laut.

Und Jeff ist nicht da.

[41] Jim legt den Telefonhörer auf; sein Verstand muss erst noch verarbeiten, was gerade geschehen ist. Seine Hände zittern, sein Herz zieht sich zusammen. Sein Blutdruck ist ohnehin zu hoch (150 zu 90), und seit einem Jahr kann er ihn regelrecht fühlen. Und was ist mit Renata? Er dreht sich um und sieht sofort, dass sie ihm beim Ausmalen des Allerschlimmsten um Längen voraus ist. Tapfer, wie sie ist, fürchtet Renata sich nie, bei allem, was ihnen widerfahren könnte, stets das Schlimmste anzunehmen.

»Sie sagen, wir sollen –« Er bringt den Satz nicht heraus.

Die beiden sehen sich einfach nur an.

Nach einer Weile fällt ihr eine Frage ein. »Wer ist der Dritte? Außer Rudy. Du hast doch gesagt, es waren drei.«

»Das haben sie mir nicht gesagt.«

»Wo sind sie? Wo sind die Leichen?«

»Das haben sie mir auch nicht gesagt. Wir müssen einfach abwarten. Wir haben keinerlei Beweis, dass es Jeff ist. Da müssen wir – einfach ruhig bleiben. Und abwarten.«

Aber sie wissen beide, dass das unmöglich ist. »Wie?«, fragt sie. »Wie sollen wir das denn tun? Wie?«

Er geht zu ihr und nimmt sie in den Arm. Und sie wehrt sich nicht. Ihr Körper bebt, und sie murmelt dumpfe Worte, den Mund an seiner Brust. »Ich kann das nicht.« Er sagt: »Ich weiß, ich weiß.« Küsst sie auf die Stirn, riecht das Shampoo, was ihm immerhin beweist, dass er noch nicht sämtliche Sinne verloren hat. Vielleicht ist es ja nur natürlich, dass unser System Alarm schlägt, wenn unsere Kinder in Gefahr sind – ein Erbe aus Urzeiten. Und tatsächlich würde er jetzt einen Gegner anspringen, ihn angreifen, sein Leben riskieren, wenn die Situation es erforderte.

[42] Sie warten beide, dass das Telefon wieder klingelt, gefangen in einem Niemandsland zwischen zwei Möglichkeiten – die eine, dass sie ihr Leben wiederaufnehmen, wo sie gerade innegehalten haben, die andere, dass ihr Leben, so wie sie es gekannt haben, zu Ende ist. Und sie müssen feststellen, dass sie nichts haben, was sie einander zum Trost sagen können. Es ist zu entsetzlich. Allein die Möglichkeit, dass beide Söhne tot sind. Erst der eine. Und jetzt der andere.

»Ich sehe mich mal oben in seinem Zimmer um«, sagt er, denn die qualvollen Minuten vergehen nicht, sie summieren sich eher, lasten immer schwerer auf ihnen.

»Wonach?«

Das weiß er nicht. Er weiß nicht, wonach er suchen will.

Die Suche ergibt, dass Jeffs Laptop nicht mehr da ist. Auch ein paar Kleidungsstücke sind fort. Schuhe, Toilettentasche, Persönliches. Der Radiowecker. Das sieht sehr so aus, denkt Jim, als ob Jeff auf Dauer weg ist. In einem Auto mit Rudy und seinen Freunden? Jim wird schwindelig. Sein Blutdruck, sein Herz? Als er die Treppe hinuntergeht, fängt er an zu zittern, als sei ihm kalt. Er sieht, dass Renata immer noch auf der Couch neben dem Telefon sitzt. Sie hat ihre Knie so fest gepackt, dass die Fingerknöchel weiß sind.

Jim hat noch eine Idee – sie könnten Jeffs Handy anrufen. »Ich mache es.« Jim wählt. Doch Jeffs Handy liegt nur drei Meter entfernt und surrt und rasselt auf der Anrichte. »Er tut doch sonst keinen Schritt ohne sein Telefon. Da stimmt etwas nicht.« Er setzt sich neben seine Frau. »Ich verstehe das nicht. Du vielleicht?«

[43] Doch bevor sie etwas sagen kann, klingelt wieder das Festnetztelefon.

Mit einem Satz ist Jim dran. »Jim Delpe.« Er blickt auf seine Uhr. Eine Dreiviertelstunde, seit die Polizei zum ersten Mal angerufen hat. »Ja. Ja. Ja, verstehe. Weiter. Tatsächlich? Gut. Nein, geben Sie ihn mir jetzt gleich.«