F. Scott Fitzgerald
Der große Gatsby
Roman
Aus dem Amerikanischen von
Bettina Abarbanell
Mit einem Nachwort von
Paul Ingendaay
Titel der 1925 bei Charles Scribner’s Sons, New York
erschienenen Originalausgabe ›The Great Gatsby‹
Copyright © 1925 by Charles Scribner’s Sons
Copyright renewed © 1953
by Frances Scott Fitzgerald Lanahan
Die deutsche Erstausgabe erschien 1953 bei Blanvalet, Berlin
Die vorliegende Neuübersetzung erschien erstmals 2006
im Diogenes Verlag; sie folgt der autorisierten Ausgabe
›The Great Gatsby‹, edited by Matthew J. Bruccoli
Copyright © 1991 by Eleanor Lanahan,
Matthew J. Bruccoli and Samuel J. Lanahan as Trustees
under Agreement dated July 3, 1975
Created by Frances Scott Fitzgerald Smith
Die Übersetzung wurde vom Deutschen Übersetzerfonds gefördert
Die Übersetzerin dankt Gertraude Krueger
für die großartige Zusammenarbeit
Umschlagillustration: Filmplakat der
Neuverfilmung von ›The Great Gatsby‹
Copyright © Motion Picture Artwork
© 2013 Warner Bros. Entertainment Inc.
All Rights Reserved.
Alle Rechte an dieser Ausgabe vorbehalten
Copyright © 2013
Diogenes Verlag AG Zürich
www.diogenes.ch
ISBN Buchausgabe 978 3 257 24089 4 (1. Auflage)
ISBN E-Book 978 3 257 60199 2
Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.
[5] Und wieder für Zelda
[7] Dann trage den goldenen Hut, wenn das
sie zu rühren vermag;
und wenn du hoch springen kannst,
spring auch für sie,
auf dass sie dir zuruft: »Geliebter, gold-
hütiger, hochspringender Geliebter,
dich muss ich haben!«
Thomas Parke D’Invilliers
[9] Inhalt
Der große Gatsby [11]
Der große Gatsby –
F. Scott Fitzgeralds Meisterwerk
von Paul Ingendaay [225]
[11] 1
Als ich noch jünger und verwundbarer war, gab mein Vater mir einmal einen Rat, der mir bis heute im Kopf herumgeht.
»Wann immer du jemanden kritisieren willst«, sagte er, »denk daran, dass nicht alle Menschen auf der Welt es so gut hatten wie du.«
Mehr sagte er nicht, doch da wir uns auf eine diskrete Weise stets hervorragend verstanden haben, wusste ich, dass er wesentlich mehr damit meinte. Folglich neige ich dazu, mich mit allem Urteil zurückzuhalten, eine Angewohnheit, dank deren sich mir über die Jahre viele merkwürdige Gestalten anvertraut haben und ich manchem notorischen Langweiler ins Netz gegangen bin. Der Sonderling wittert diese Eigenschaft bei einem normalen Sterblichen rasch und macht sie sich gern zunutze, und so kam es, dass ich im College fälschlich für einen Intriganten gehalten wurde, weil ich in die geheimen Nöte seltsamer und wildfremder Männer eingeweiht war. Die meisten Geständnisse wurden mir aufgedrängt; oft habe ich mich schlafend gestellt, so getan, als sei ich beschäftigt, oder eine feindselige Leichtfertigkeit vorgetäuscht, sobald ich aus untrüglichen Zeichen schloss, dass ein intimes Bekenntnis am Horizont heraufzog. Denn die intimen Bekenntnisse junger Männer oder doch die [12] Worte, in die sie sie kleiden, stammen in aller Regel aus zweiter Hand und sind von offenkundigen Auslassungen entstellt. Sich im Urteil zurückzuhalten ist eine Sache grenzenloser Hoffnung. Ich fürchte noch heute manchmal, mir könnte etwas entgehen, wenn ich vergesse, was mein Vater hochmütig andeutete und was ich ebenso hochmütig wiederhole: Nicht jedem von uns wird gleich viel Gespür für die Grundregeln des Anstands in die Wiege gelegt.
Nachdem ich derart mit meiner Langmut geprahlt habe, muss ich gestehen, dass sie ihre Grenzen hat. Menschliches Verhalten kann auf festen Fels oder feuchtes Marschland gegründet sein, doch ab einem gewissen Punkt ist es mir einerlei, worauf es sich gründet. Als ich vorigen Herbst von der Ostküste zurückkehrte, wünschte ich mir nur, die Welt möge für alle Zeit in Uniform und einer Art moralischer Hab-Acht-Stellung verharren; mein Bedarf an wilden Ausschweifungen mit privilegierten Einblicken in das menschliche Herz war gedeckt. Nur Gatsby, der Mann, der diesem Buch seinen Namen leiht, blieb davon ausgenommen – Gatsby, der für alles stand, was ich aufrichtig verachte. Wenn Persönlichkeit ein Zusammenspiel geglückter Gesten ist, dann hatte er etwas Zauberhaftes an sich, eine erhöhte Empfindsamkeit für die Verheißungen des Lebens, so als wäre er mit einem raffinierten Gerät verbunden, das ein Erdbeben aus zehntausend Meilen Entfernung registriert. Seine Sensibilität hatte nichts mit jener beliebigen Eindrucksfähigkeit gemein, die sich so hochtrabend »schöpferische Veranlagung« nennt – sie verdankte sich vielmehr einer außergewöhnlichen Gabe der Hoffnung, einer romantischen Sinnesart, wie ich sie bei niemandem sonst gefunden habe [13] und wohl auch nie wieder finden werde. Nein – Gatsby war letztlich kein schlechter Kerl; doch was ihn verfolgte, welch faulen Dunst seine Träume hinterließen – das war es, was meinem Interesse an den unnützen Sorgen und kurzatmigen Freuden der Menschen vorerst ein Ende bereitete.
Meine Familie genießt in dieser Stadt im Mittelwesten seit drei Generationen Ansehen und Wohlstand. Die Carraways sind so etwas wie ein Klan; nach einer alten Überlieferung entstammen wir dem Geschlecht der Dukes of Bucchleuch, doch der eigentliche Begründer meiner Linie war der Bruder meines Großvaters, der einundfünfzig hierherkam, einen Ersatzmann in den Bürgerkrieg schickte und den Eisenwarengroßhandel aus der Taufe hob, den mein Vater noch heute betreibt.
Ich habe diesen Großonkel nie kennengelernt, aber es wird behauptet, ich sähe ihm ähnlich – unter besonderem Verweis auf das ziemlich grob gemalte Porträt, das in Vaters Büro hängt. Ich legte 1915, nur ein Vierteljahrhundert nach meinem Vater, in New Haven mein Examen ab und nahm kurz darauf an jener verspäteten germanischen Völkerwanderung teil, die als der Erste Weltkrieg in die Geschichte eingegangen ist. Der Gegenangriff hatte mich mit solcher Begeisterung erfüllt, dass ich nach meiner Rückkehr keine Ruhe fand. Der Mittelwesten, früher der warme Mittelpunkt der Welt, kam mir nun wie der äußerste, zerklüftete Rand des Universums vor, und so beschloss ich, an die Ostküste zu ziehen und das Börsengeschäft zu erlernen. So gut wie alle, die ich kannte, waren im Börsengeschäft tätig, deswegen nahm ich an, dass es leicht noch einen weiteren [14] Mann ernähren konnte. Meine Tanten und Onkel beratschlagten darüber, als gälte es, eine Privatschule für mich auszuwählen, und sagten am Ende mit sehr ernster und zweifelnder Miene: »Also gu-ut.« Vater versprach, ein Jahr lang für mich aufzukommen, und nach manchen Verzögerungen brach ich im Frühling zweiundzwanzig auf und ließ mich – auf Dauer, wie ich glaubte – an der Ostküste nieder.
Am praktischsten wäre es gewesen, eine Bleibe in der Stadt zu suchen, aber draußen war es warm, und ich hatte gerade ein Land weiter Wiesen und freundlicher Bäume hinter mir gelassen; als mir daher ein junger Mann im Büro vorschlug, mit ihm gemeinsam ein Haus außerhalb der Stadt zu mieten, schien mir das eine großartige Idee zu sein. Er fand auch das Haus, einen verwitterten, baufälligen Bungalow für achtzig im Monat, doch im letzten Moment schickte die Firma ihn nach Washington, und so zog ich allein aufs Land. Ich hatte einen Hund – jedenfalls ein paar Tage, bis er mir weglief –, einen alten Dodge und eine Finnin, die mir das Bett machte, das Frühstück bereitete und am Elektroherd finnische Lebensweisheiten vor sich hin murmelte.
Zuerst war es einsam dort, doch eines Morgens sprach mich auf der Straße ein Mann an, der vor noch kürzerer Zeit hergekommen war als ich.
»Wo geht es nach West Egg Village?«, fragte er ratlos.
Ich sagte es ihm. Und als ich meinen Weg fortsetzte, war ich nicht mehr einsam. Ich war einer, der sich auskannte, ein Pfadfinder, ein Pionier. Er hatte mich beiläufig mit dem Bürgerrecht der Gegend ausgezeichnet.
[15] Die Sonne schien, ich sah die Blätter an den Bäumen wie im Zeitraffer sprießen, und da regte sich in mir die vertraute Gewissheit, dass das Leben mit dem Sommer neu beginnt.
Es gab zum Beispiel so viel zu lesen und so viel Gesundheit aus der jungen, atemspendenden Luft zu schöpfen. Ich kaufte mir ein Dutzend Bücher über Bank- und Kreditwesen und sichere Kapitalanlagen, und sie standen in meinem Regal, rot und golden glänzend wie frischgeprägte Münzen, und versprachen, die schillernden Geheimnisse preiszugeben, die nur Midas und Morgan und Maecenas kannten. Überdies hegte ich die hehre Absicht, noch viele andere Bücher zu lesen. Im College hatte ich gewisse literarische Neigungen gehabt – ein Jahr lang schrieb ich sehr ernste, treuherzige Kolumnen für die Yale News –, und nun wollte ich all diesen Dingen wieder einen Platz in meinem Leben einräumen und aufs Neue zu jenem beschränktesten aller Spezialisten werden: dem »umfassend gebildeten Mann«. Das ist nicht bloß ein Aphorismus – man sieht in der Tat viel mehr vom Leben, wenn man nur aus einem Fenster hinausschaut.
Der Zufall wollte es, dass ich an einem der sonderbarsten Orte ganz Nordamerikas gelandet war. Er befand sich auf jener schmalen, turbulenten Insel, die sich genau östlich von New York erstreckt und neben anderen Launen der Natur zwei Merkwürdigkeiten hervorgebracht hat: Zwanzig Meilen vor der Stadt ragen zwei gewaltige Eier, die identische Umrisse haben und nur durch eine gefällige Bucht voneinander getrennt sind, in das gezähmteste salzige Gewässer der westlichen Hemisphäre hinein: den großen, nassen Scheunenhof des Long-Island-Sunds. Sie sind nicht [16] vollkommen oval, sondern auf ihrer Landseite – wie das Ei des Kolumbus – flachgedrückt, doch ihre physische Ähnlichkeit muss für die Möwen, die über sie hinwegfliegen, eine Quelle fortwährender Verwunderung sein. Den Flügellosen dagegen dürfte ihre Unähnlichkeit in allen Details außer Größe und Gestalt weitaus interessanter erscheinen.
Ich wohnte in West Egg, dem – nun ja, dem weniger eleganten der Inselteile, wenngleich das ein äußerst oberflächliches Attribut ist, um den seltsamen und durchaus beklemmenden Unterschied zwischen beiden zu beschreiben. Mein Haus lag oben, nur fünfzig Meter vom Sund entfernt, an der Spitze des Eis zwischen zwei riesigen Villen eingepfercht, die für zwölf- beziehungsweise fünfzehntausend Dollar den Sommer vermietet wurden. Die zu meiner Rechten, eine geradezu kolossale Angelegenheit, war die exakte Kopie eines Hôtel de Ville in der Normandie mit einem Turm an der Seite – funkelnagelneu unter einem dünnen Efeubart –, einem Marmor-Swimmingpool und mehr als 16 Hektar Park- und Rasenfläche. Das war Gatsbys Anwesen. Oder besser gesagt, da ich Mr. Gatsby noch nicht kannte: das Anwesen, das von einem Herrn dieses Namens bewohnt wurde. Mein eigenes Haus war ein Schandfleck, aber es war ein kleiner Schandfleck, an dem sich niemand störte, und so genoss ich einen freien Blick auf das Wasser, einen eingeschränkten Blick auf den nachbarlichen Garten und das tröstliche Gefühl, in unmittelbarer Nähe von Millionären zu wohnen – und das alles für achtzig Dollar im Monat.
Jenseits der Bucht glitzerten die weißen Paläste des eleganten East Egg am Ufer, und eigentlich beginnt die Geschichte dieses Sommers an jenem Abend, als ich dort hin[17] überfuhr, um bei den Buchanans zu Abend zu essen. Daisy war die Tochter einer Cousine zweiten Grades von mir, während ich Tom vom College kannte. Gleich nach dem Krieg hatte ich zwei Tage bei ihnen in Chicago verbracht.
Daisys Ehemann konnte sich verschiedenster sportlicher Leistungen rühmen und war unter anderem einer der stärksten Verteidiger gewesen, die je für New Haven Football gespielt hatten – ein Nationalheld gewissermaßen, einer jener Männer, die es mit einundzwanzig auf begrenztem Gebiet zu solcher Meisterschaft bringen, dass alles, was danach kommt, den Beigeschmack des Abstiegs hat. Er stammte aus einer unglaublich reichen Familie. Sein verschwenderischer Umgang mit Geld hatte schon im College Anstoß erregt, doch der Stil, in dem er Chicago verließ und an die Ostküste zog, raubte einem schier den Atem – zum Beispiel brachte er eine ganze Koppel Polo-Ponys aus Lake Forest mit. Es schien kaum zu fassen, dass ein Mann in meinem Alter derart reich sein konnte.
Was sie bewogen hatte herzukommen, weiß ich nicht. Sie hatten ohne besonderen Grund ein Jahr in Frankreich verbracht und sich dann rastlos treiben lassen, mal hier, mal dort verweilend – wo immer Menschen gemeinsam Polo spielten und gemeinsam reich waren. Dieser Umzug sei endgültig, hatte Daisy am Telefon gesagt, aber das glaubte ich nicht; zwar schaute ich Daisy nicht ins Herz, doch mein Gefühl sagte mir, dass Tom sein Leben lang weiter umherdriften würde, stets ein wenig wehmütig auf der Suche nach der erregenden Turbulenz eines unwiederbringlichen Football-Spiels.
Und so kam es, dass ich eines warmen, windigen Abends [18] nach East Egg hinüberfuhr, um zwei alte Freunde zu besuchen, die ich eigentlich kaum kannte. Ihr Haus, eine freundliche, rot-weiße Villa im Kolonialstil Georgias mit Blick auf die Bucht, war noch um einiges eleganter, als ich erwartet hatte. Der Rasen begann am Strand, lief ein paar hundert Meter auf das Hauptportal zu, übersprang Sonnenuhren und Steinmäuerchen und lodernde Blumenbeete – und strebte schließlich, beim Haus angekommen, in leuchtenden Reben an der Seitenwand empor, als könnte er seinen Schwung nicht bremsen. Die Fassade war durch eine Reihe von Flügeltüren aufgelockert, die im goldenen Widerschein glühten und, weit geöffnet, die warme Brise des späten Nachmittags hereinließen. Tom Buchanan stand in Reitkleidung breitbeinig draußen auf der Veranda.
Er hatte sich seit den Jahren in New Haven verändert. Jetzt war er ein untersetzter Mann um die dreißig mit strohigem Haar, einem etwas harten Zug um den Mund und überheblichem Auftreten. Zwei funkelnde, arrogante Augen hatten in seinem Gesicht die Herrschaft übernommen und gaben ihm den Anschein, als beugte er sich unentwegt kampflustig vor. Auch der feminine Schick seines Reitdresses vermochte nicht die ungeheure Kraft dieses Körpers zu verbergen – seine Waden drohten die oberste Schnürung der blankpolierten Stiefel zu sprengen, und wenn er unter der dünnen Jacke die Schultern bewegte, sah man ein gewaltiges Muskelpaket spielen. Es war ein Körper, der ungeheure Wucht entfalten konnte – ein unbarmherziger Körper.
Seine Stimme, ein rauher, heiserer Tenor, verstärkte den Eindruck von Streitbarkeit, den er vermittelte. Es schwang eine gewisse gönnerhafte Herablassung darin mit, selbst [19] gegenüber Menschen, die er mochte – und in New Haven hatte manch einer ihn regelrecht gehasst.
»Ihr müsst nicht denken, dass meine Meinung hierzu unumstößlich ist«, schien er zu sagen, »nur weil ich stärker und männlicher bin als ihr.« Im College hatten wir derselben Senior Society angehört, und obwohl wir nie sonderlich eng befreundet gewesen waren, hatte ich doch immer den Eindruck gehabt, als zollte er mir Anerkennung und hoffte seinerseits mit einer gewissen schroffen, herausfordernden Art, von mir gemocht zu werden.
Wir unterhielten uns ein paar Minuten auf der sonnigen Veranda.
»Ein nettes Plätzchen habe ich hier«, sagte er, und seine Augen zuckten unruhig umher.
Er fasste mich am Arm, drehte mich herum und zeigte mir mit einer schwungvollen Geste seiner breiten flachen Hand den Blick von der Vorderseite des Hauses, der einen tiefliegenden italienischen Garten, einen halben Morgen satter, stark duftender Rosen und ein vor der Küste auf den Wellen hüpfendes, stumpfnasiges Motorboot einschloss.
»Es gehörte mal dem Ölunternehmer Demaine.« Abermals drehte er mich höflich und abrupt herum. »Gehen wir hinein.«
Durch einen hohen Gang gelangten wir in einen lichten, rosenfarbenen Raum, der von Flügeltüren an beiden Enden lose ins Haus gefügt war. Die Fenster standen offen und hoben sich leuchtend weiß gegen das frische Gras draußen ab, das beinahe ein kleines Stück ins Haus hineinzuwachsen schien. Eine Brise blies durch den Raum, blies Vorhänge wie blasse Fahnen auf der einen Seite herein und zur anderen [20] hinaus, verzwirbelte sie bis hoch an den Hochzeitstortenguss der Zimmerdecke, kräuselte den weinfarbenen Teppich und warf einen Schatten darauf wie Wind auf dem Meer.
Der einzige vollkommen unbewegliche Gegenstand im Raum war eine riesige Couch, auf der zwei junge Frauen schwebten wie in einem verankerten Fesselballon. Sie waren beide ganz in Weiß gekleidet, und ihre Röcke schwangen und flatterten, als wären sie nach einem kurzen Flug ums Haus eben erst wieder hereingeweht worden. Ich muss wohl einige Augenblicke nur so dagestanden und dem Peitschen und Knattern der Vorhänge und dem Ächzen eines Bildes an der Wand gelauscht haben. Dann ertönte ein Knall – Tom Buchanan hatte die hinteren Türen geschlossen –, der im Zimmer gefangene Wind erstarb, und die Vorhänge und die Teppiche und die zwei jungen Frauen sanken langsam zur Erde.
Die Jüngere der beiden kannte ich nicht. Sie lag ganz und gar regungslos der Länge nach ausgestreckt auf ihrer Seite des Diwans und reckte das Kinn ein wenig vor, als balancierte sie etwas darauf, das jeden Moment hinunterzurutschen drohte. Falls sie mich aus dem Augenwinkel wahrgenommen hatte, gab sie es nicht zu erkennen – fast hätte ich unwillkürlich eine Entschuldigung gemurmelt, dass ich sie durch mein Hereinkommen gestört hatte.
Das andere Mädchen, Daisy, machte Anstalten, sich zu erheben – sie beugte sich mit gewissenhafter Miene ein wenig vor –, dann lachte sie, ein absurdes, reizendes kleines Lachen, und ich lachte auch und trat ein paar Schritte weiter ins Zimmer hinein.
»Ich freue mich w-wahnsinnig.«
[21] Sie lachte abermals, als hätte sie etwas besonders Geistreiches gesagt, hielt meine Hand und schaute zu mir hoch, und ihr Blick versprach, dass es auf der ganzen Welt niemanden gab, den sie in diesem Moment lieber gesehen hätte als mich. Das war so ihre Art. Sie flüsterte mir zu, das balancierende Mädchen heiße mit Nachnamen Baker. (Bisweilen wurde behauptet, Daisy flüstere so, damit die Leute sich zu ihr hinüberbeugten; ein haltloser Vorwurf, der ihrem Flüstern nichts von seinem Zauber nahm.)
Miss Bakers Lippen jedenfalls zitterten ein wenig, sie nickte mir kaum merklich zu und legte dann rasch wieder den Kopf in den Nacken – offenbar war der Gegenstand, den sie balancierte, ein wenig ins Kippeln geraten, und sie hatte sich erschreckt. Abermals fehlte nicht viel, und ich hätte mich entschuldigt. Menschen, die sich selbst vollkommen zu genügen scheinen, versetzen mich fast unweigerlich in ehrfürchtiges Staunen.
Ich schaute wieder zu meiner Cousine, die mir nun mit ihrer leisen, betörenden Stimme Fragen stellte. Es war eine Stimme, deren Auf und Ab das Ohr folgt, als wäre jede ihrer Äußerungen eine kleine Komposition, die niemals wieder so gespielt werden würde. Daisy hatte ein trauriges, hübsches Gesicht, in dem es leuchtete – leuchtende Augen und einen leuchtenden, sinnlichen Mund; in ihrer Stimme aber schwang eine Erregung mit, die jeder Mann, dem sie einmal etwas bedeutet hatte, schwer zu vergessen fand: ein singendes Drängen, ein gehauchtes »Hör doch«, ein Raunen, dass sie gerade erst schöne, aufregende Dinge erlebt hatte und bald schon noch mehr schöne, aufregende Dinge auf sie warteten.
[22] Ich erzählte ihr, auf meinem Weg an die Ostküste hätte ich einen Tag in Chicago verbracht und ein Dutzend Leute ließen ihr die liebsten Grüße ausrichten.
»Vermissen sie mich?«, rief sie entzückt.
»Die ganze Stadt ist untröstlich. Bei allen Autos ist zum Zeichen der Trauer das linke Hinterrad schwarz bemalt, und am Nordufer erhebt sich Nacht für Nacht anhaltendes Wehklagen.«
»Wie herrlich! Lass uns zurückgehen, Tom. Gleich morgen!« Dann fügte sie zusammenhanglos hinzu: »Du solltest die Kleine mal sehen.«
»Das würde ich gern.«
»Im Augenblick schläft sie. Sie ist jetzt zwei Jahre alt. Hast du sie noch nie gesehen?«
»Nein, nie.«
»Also, du musst sie sehen. Sie ist –«
Tom Buchanan, der die ganze Zeit rastlos hin- und hergewandert war, blieb stehen und legte mir eine Hand auf die Schulter. »Und was treibst du so, Nick?«
»Ich bin an der Börse.«
»Für wen?«
Ich nannte den Namen.
»Nie gehört«, sagte er entschieden.
Das ärgerte mich.
»Wart’s ab«, antwortete ich. »Du kriegst ihn schon noch zu hören, wenn du hier im Osten bleibst.«
»Oh, ich bleibe hier im Osten, keine Sorge«, sagte er. Er blickte zu Daisy und dann wieder zu mir, als machte er sich auf etwas gefasst. »Ich müsste ja ein verdammter Idiot sein, wenn ich irgendwo anders leben wollte.«
[23] »Absolut!«, sagte Miss Baker da so plötzlich, dass ich erschrak – es war das erste Wort, das sie äußerte, seit ich ins Zimmer gekommen war. Offenbar überraschte es sie ebensosehr wie mich, denn sie gähnte und stand mit einer Reihe flinker, geschickter Bewegungen auf.
»Ich bin ganz steif«, klagte sie. »Ich habe eine halbe Ewigkeit auf diesem Sofa gelegen.«
»Schau mich nicht so an«, sagte Daisy. »Ich wollte dich den ganzen Nachmittag zu einer Fahrt nach New York überreden.«
»Nein, danke«, sagte Miss Baker angesichts der vier Cocktails, die eben aus dem Anrichteraum hereingebracht wurden. »Ich bin absolut strikt im Training.«
Ihr Gastgeber schaute sie ungläubig an.
»Tatsächlich!« Er stürzte sein Getränk hinunter, als wäre es ein Tropfen auf dem Boden eines Glases. »Wie du je irgendetwas schaffst, ist mir ein Rätsel.«
Ich schaute Miss Baker an und fragte mich, was es war, das sie »schaffte«. Sie war hübsch anzuschauen, ein schlankes, flachbrüstiges Mädchen mit einer sehr aufrechten Haltung, die sie noch betonte, indem sie die Schultern zurückwarf wie ein junger Kadett. Ihre grauen, sonnenstrapazierten Augen in dem blassen, aparten, unzufriedenen Gesicht blickten mich ihrerseits mit höflicher Neugier an. Jetzt fiel mir ein, dass ich sie oder ein Bild von ihr irgendwo schon einmal gesehen hatte.
»Sie wohnen also in West Egg«, bemerkte sie verächtlich. »Da kenne ich jemanden.«
»Ich kenne dort keine Menschensee–«
»Sie müssen doch Gatsby kennen.«
[24] »Gatsby?«, fragte Daisy. »Welchen Gatsby?«
Bevor ich antworten konnte, er sei mein Nachbar, wurden wir zum Essen gerufen. Tom Buchanan klemmte gebieterisch seinen straffen Arm unter meinen und schob mich aus dem Zimmer, als bewegte er eine Schachfigur auf ein anderes Feld.
Langgliedrig, träge, die Hände leicht auf die Hüften gelegt, gingen die beiden jungen Frauen uns voran und traten auf eine rosenfarbene Veranda hinaus, die dem Sonnenuntergang zugewandt war. Auf einem Tisch flackerten vier Kerzen im schwächer gewordenen Wind.
»Wozu Kerzen?«, fragte Daisy stirnrunzelnd. Sie schnippte sie mit den Fingern aus. »In zwei Wochen ist der längste Tag im Jahr.« Sie schaute uns alle strahlend an. »Wartet ihr auch immer auf den längsten Tag des Jahres und verpasst ihn dann? Ich warte jedes Mal wieder auf den längsten Tag im Jahr, und dann verpasse ich ihn.«
»Wir sollten irgendwas unternehmen«, gähnte Miss Baker und setzte sich an den Tisch, als ginge sie zu Bett.
»Gut«, sagte Daisy. »Aber was?« Sie wandte sich hilfesuchend an mich. »Was unternimmt man denn so?«
Bevor ich antworten konnte, heftete sich ihr Blick verwundert auf ihren kleinen Finger.
»Schaut mal!«, klagte sie. »Ich habe mich verletzt.«
Wir schauten – der Knöchel war grün und blau.
»Das warst du, Tom«, sagte sie vorwurfsvoll. »Ich weiß, dass du’s nicht wolltest, aber du warst es trotzdem. Das habe ich nun davon, dass ich einen solchen Koloss von einem Mann geheiratet habe, ein riesengroßes, klobiges Exemplar von einem –«
[25] »Ich hasse das Wort Koloss«, sagte Tom gereizt. »Auch im Scherz.«
»Ein Koloss«, wiederholte Daisy.
Manchmal redeten sie und Miss Baker gleichzeitig, unaufdringlich und mit einer frivolen Oberflächlichkeit, die nie ganz Geplapper war, so kühl wie ihre weißen Kleider und ihre ungerührten, aller Sehnsucht baren Blicke. Sie waren hier – und sie duldeten Tom und mich, machten höchstens den netten, höflichen Versuch, uns zu unterhalten oder sich ihrerseits unterhalten zu lassen. Sie wussten, dass das Abendessen bald vorbei war und wenig später auch der Abend vorbei und erledigt wäre. Das war ein krasser Gegensatz zum Mittelwesten, wo ein Abend bis zu seinem Ende von einer Phase zur nächsten gejagt wurde, in unablässig enttäuschter Erwartung oder blanker Angst vor dem Augenblick selbst.
»Neben dir fühle ich mich so unzivilisiert, Daisy«, gestand ich beim zweiten Glas korkigem, aber ziemlich beeindruckendem Bordeaux. »Kannst du nicht mal über die Ernte oder so etwas reden?« Ich hatte nichts Besonderes damit sagen wollen, aber es zeigte eine überraschende Wirkung.
»Die Zivilisation geht vor die Hunde«, brach es leidenschaftlich aus Tom hervor. »Ich bin in letzter Zeit ein furchtbarer Pessimist geworden. Habt ihr Der Aufstieg der farbigen Völker von diesem Goddard gelesen?«
»Nein«, antwortete ich, etwas erstaunt über seinen Ton.
»Nun, das ist ein gutes Buch, und jeder sollte es lesen. Wenn wir nicht aufpassen, lautet die These, wird – wird die weiße Rasse vollständig unterjocht werden. Das ist alles wissenschaftlich; alles erwiesen.«
[26] »Tom wird neuerdings immer tiefsinniger«, sagte Daisy mit einem Ausdruck gedankenleerer Traurigkeit. »Er liest schlaue Bücher mit langen Wörtern darin. Was war das noch für ein Wort, das wir –«
»Nun, es sind alles wissenschaftliche Bücher«, wiederholte Tom und sah sie unwirsch an. »Der Bursche hat das Ganze gründlich erforscht. Wir, die herrschende Rasse, müssen aufpassen, dass die anderen Rassen nicht eines Tages die Macht übernehmen.«
»Wir müssen sie niederschlagen«, flüsterte Daisy und blinzelte wild in die glühende Sonne.
»Ihr solltet in Kalifornien leben –«, begann Miss Baker, doch Tom unterbrach sie, indem er unruhig auf seinem Stuhl herumrutschte.
»Er sagt, wir gehören zur nordischen Rasse. Ich und du und du und –«, er zögerte einen winzigen Augenblick, ehe er mit einem leichten Nicken auch Daisy einschloss, und sie zwinkerte mir erneut zu, »– und wir hätten all die Dinge hervorgebracht, die die Zivilisation ausmachen, die Wissenschaft und die Kunst und all das. Versteht ihr?«
Seine Konzentration hatte etwas Peinliches, als ob seine Selbstzufriedenheit, die ärger war denn je, ihm nicht mehr genügte. Als fast in derselben Sekunde das Telefon klingelte und der Butler ins Haus ging, ergriff Daisy die Gelegenheit beim Schopf und neigte sich zu mir herüber.
»Ich verrate dir jetzt ein Familiengeheimnis«, flüsterte sie begeistert. »Es hat mit der Nase des Butlers zu tun. Willst du die Geschichte von der Nase des Butlers hören?«
»Darum bin ich heute Abend hergekommen.«
»Also – er war nicht immer Butler; früher hat er als [27] Silberputzer bei Leuten in New York gearbeitet, die ein Silberservice für zweihundert Personen hatten. Das musste er von morgens bis abends putzen, bis das Silberputzmittel irgendwann seine Nase anzugreifen begann –«
»Es wurde immer schlimmer«, warf Miss Baker ein.
»Genau. Es wurde immer schlimmer, und schließlich musste er seine Stellung aufgeben.«
Einen Moment lang fielen die letzten Sonnenstrahlen mit romantischer Hingabe auf ihr glühendes Gesicht; ihre Stimme zwang mich beim Zuhören atemlos immer weiter nach vorn – dann erlosch das Glühen, und zögernd und betrübt wich alles Licht von ihr, wie Kinder in der Abenddämmerung eine belebte Straße verlassen.
Der Butler kam wieder und flüsterte Tom etwas ins Ohr, worauf dieser die Stirn runzelte, seinen Stuhl zurückschob und ohne ein Wort im Haus verschwand. Als erweckte seine Abwesenheit etwas in ihr zum Leben, beugte Daisy sich erneut vor, und ihre Stimme glühte und sang.
»Es ist so schön, dich hier an meinem Tisch sitzen zu sehen, Nick. Du erinnerst mich – an eine Rose, eine absolut vollkommene Rose. Nicht wahr?«, sagte sie, an Miss Baker gewandt. »Eine absolut vollkommene Rose?«
Das war Unsinn. Ich ähnele nicht einmal entfernt einer Rose. Sie improvisierte nur, aber sie verströmte dabei eine erregende Wärme, als versuchte ihr Herz, verhüllt in eines jener atemlosen, betörenden Wörter, zu mir herauszukommen. Dann warf sie plötzlich ihre Serviette auf den Tisch, entschuldigte sich und ging ins Haus.
Miss Baker und ich wechselten einen kurzen, bewusst ausdruckslosen Blick. Ich wollte etwas sagen, da setzte sie [28] sich kerzengerade auf und gab ein warnendes »Psst!« von sich. Im angrenzenden Zimmer war gedämpftes, leidenschaftliches Geflüster zu hören, und Miss Baker beugte sich ungeniert vor, um zu lauschen. Das Geflüster schwoll an, bis es beinahe zu verstehen war, wurde leiser, brandete stürmisch auf und verebbte dann ganz.
»Dieser Mr. Gatsby, von dem Sie vorhin sprachen – er ist mein Nachbar –«, sagte ich.
»Nicht reden. Ich möchte hören, was passiert.«
»Passiert denn etwas?«, fragte ich treuherzig.
»Heißt das etwa, Sie wüssten es nicht?«, sagte Miss Baker aufrichtig erstaunt. »Ich dachte, alle Welt wüsste es.«
»Ich nicht.«
»Na ja…«, sagte sie zögernd, »Tom hat eine Freundin in New York.«
»Eine Freundin?«, wiederholte ich dümmlich.
Miss Baker nickte.
»Sie könnte wenigstens so viel Anstand besitzen, ihn nicht zur Essenszeit anzurufen. Finden Sie nicht?«
Noch ehe ich ganz begriffen hatte, was sie meinte, hörte man ein Kleid rascheln und Stiefel knirschen, und Tom und Daisy waren wieder bei uns am Tisch.
»Entschuldigt bitte!«, rief Daisy angestrengt fröhlich.
Sie setzte sich, schaute forschend erst Miss Baker, dann mich an und fuhr fort: »Ich war eben kurz draußen – es ist so romantisch! Da sitzt ein Vogel auf dem Rasen, wahrscheinlich eine Nachtigall, die auf der ›Cunard‹ oder der ›White Star Line‹ herübergekommen ist. Sie singt und singt« – sang ihre Stimme – »Ist es nicht romantisch, Tom?«
»Sehr romantisch«, sagte er und fügte an mich gewandt [29] trübselig hinzu: »Wenn es nach dem Essen noch hell genug ist, würde ich dir gern die Pferdeställe zeigen.«
Drinnen klingelte schrill das Telefon, und während Daisy Tom anschaute und entschieden den Kopf schüttelte, löste sich das Thema Ställe, ja lösten sich alle Gesprächsthemen in Luft auf. Von den letzten fünf Minuten am Tisch habe ich nur Bruchstücke in Erinnerung behalten, etwa, wie die Kerzen sinnlos wieder angezündet wurden, und ich merkte, dass ich jedem der drei anderen offen ins Gesicht schauen und zugleich allen Blicken ausweichen wollte. Was in Daisys und Toms Kopf vor sich ging, konnte ich nicht einmal erahnen, aber ich glaube, selbst Miss Baker, die sich eine gewisse hartleibige Skepsis antrainiert zu haben schien, war kaum in der Lage, das gellende metallische Insistieren dieses fünften Gastes vollends zu ignorieren. Manchen Gemütern wäre die Situation womöglich faszinierend erschienen – ich aber hätte am liebsten auf der Stelle die Polizei gerufen.
Natürlich wurden die Pferde mit keiner Silbe mehr erwähnt. Tom und Miss Baker schlenderten, einige Handbreit Zwielicht zwischen sich, in die Bibliothek zurück, als wollten sie bei einem tatsächlich anwesenden Körper Wache halten, während ich freundlich interessiert und ein wenig taub tat und Daisy über eine Kette miteinander verbundener Veranden zur Vorderseite des Hauses folgte. Dort setzten wir uns in tiefer Dunkelheit Seite an Seite auf ein kleines Korbsofa.
Daisy legte das Gesicht in ihre Hände, wie um dessen hübsche Form zu fühlen, und ihr Blick wanderte langsam hinaus in die samtene Dämmerung. Ich sah, dass sie von [30] heftigen Gefühlen heimgesucht wurde, und so stellte ich ihr ein paar Fragen über ihre kleine Tochter, in der Hoffnung, das würde sie beruhigen.
»Wir kennen uns nicht sehr gut, Nick«, sagte sie plötzlich. »Obwohl wir verwandt sind. Du warst nicht auf meiner Hochzeit.«
»Ich war noch nicht aus dem Krieg zurück.«
»Stimmt.« Sie zögerte. »Tja, ich habe eine schwere Zeit hinter mir, und ich bin ziemlich zynisch geworden.«
Offenbar hatte sie Grund dazu. Ich wartete ab, doch sie sagte nichts weiter, und nach einer Weile kam ich etwas hilflos wieder auf ihre Tochter zurück.
»Ich nehme an, sie spricht und – isst und so weiter.«
»O ja.« Sie schaute mich gedankenverloren an. »Ach, Nick; ich weiß noch, was ich bei ihrer Geburt gesagt habe. Möchtest du’s hören?«
»Aber sicher.«
»Du kannst daran erkennen, wie ich inzwischen so – denke. Also, sie war noch nicht einmal eine Stunde alt, und Tom hatte sich Gott weiß wohin verdrückt. Ich wachte mit einem Gefühl völliger Verlassenheit aus der Narkose auf und fragte die Hebamme sofort, ob es ein Junge oder ein Mädchen sei. Als sie mir sagte, es sei ein Mädchen, wandte ich mich ab und weinte. ›Na schön‹, sagte ich, ›ich bin froh, dass es ein Mädchen ist. Und ich hoffe, sie wird eine dumme Gans – das ist das Beste, was einem Mädchen auf dieser Welt passieren kann: eine hübsche kleine dumme Gans zu sein.‹«
»Ich finde sowieso alles ganz schrecklich, verstehst du«, fuhr sie sehr überzeugt fort. »Alle finden das – selbst die [31] kultiviertesten Leute. Es ist so, ich weiß es. Ich bin überall gewesen, ich habe alles gesehen und alles gemacht.« Ihre Augen blitzten trotzig, ganz ähnlich wie Toms, und dazu lachte sie hell und höhnisch. »Weltgewandt – Gott, bin ich weltgewandt!«
Sobald ihre Stimme abbrach und nicht länger meine Aufmerksamkeit, meinen guten Glauben an sich band, spürte ich die Unaufrichtigkeit ihrer Worte. Mir war unbehaglich zumute, so als wäre der ganze Abend nur darauf angelegt gewesen, mir eine Gefühlsregung zu entlocken, die sie bestätigen sollte. Ich wartete, und in der Tat: Einen Augenblick später schaute sie mich mit einem ganz und gar affektierten Lächeln auf dem hübschen Gesicht an, als hätte sie gerade klargestellt, dass sie und Tom einem exklusiven Geheimbund angehörten.
Der karmesinrote Raum war hell erleuchtet. Tom und Miss Baker saßen an je einem Ende der langen Couch, und sie las ihm aus der Saturday Evening Post vor; die Wörter, ein gleichmäßiges Gemurmel, verflossen zu einer tröstlichen Melodie. Das Lampenlicht glänzte auf seinen Stiefeln, schimmerte matt auf ihrem herbstlaubgelben Haar und flackerte über die Zeitung, während Miss Bakers schlanker Arm mit leichtem Muskelspiel die Seite umblätterte.
Als wir hereinkamen, gebot sie uns mit erhobener Hand noch einen Augenblick Stille.
»Und die Fortsetzung«, sagte sie und warf die Zeitschrift auf den Tisch, »folgt in der nächsten Ausgabe.«
Mit einer nervösen Bewegung der Knie straffte sich ihr Körper, und sie stand auf.
[32] »Zehn Uhr«, bemerkte sie und schien die Zeit an der Zimmerdecke abzulesen. »Dieses brave Mädchen hier muss jetzt ins Bett.«
»Jordan spielt morgen ein Turnier«, erklärte Daisy. »Drüben in Westchester.«
»Ach – Sie sind Jordan Baker.«
Jetzt begriff ich, warum mir ihr Gesicht vertraut war – sein angenehm stolzer Ausdruck hatte mir aus zahlreichen Tiefdruck-Fotografien vom sportlichen Leben in Asheville, Hot Springs und Palm Beach entgegengeblickt. Ich meinte auch einmal etwas über sie gehört zu haben, irgendetwas Heikles, Unschönes, aber was es war, hatte ich längst vergessen.
»Gute Nacht«, sagte sie leise. »Weckt mich um acht, ja?«
»Wenn du auch aufstehst –«
»Natürlich steh ich auf. Gute Nacht, Mr. Carraway. Auf bald einmal.«