W. Somerset Maugham
Der Menschen
Hörigkeit
Roman
Aus dem Englischen
von Mimi Zoff
und Susanne Feigl
Titel der 1915 bei
William Heinemann, London,
erschienenen Originalausgabe:
›Of Human Bondage‹
Copyright © by The Royal Literary Fund
Die erste vollständige deutsche
Fassung erschien 1972 im Diogenes Verlag
Für die vorliegende Ausgabe wurde 2010
die Übersetzung von Marion Hertle überarbeitet
Umschlagillustration (Ausschnitt):
A.M.Cassandre, ›S.S. Côte d‘Azur,
Service Calais-Douvres‹, 1931
Alle deutschen Rechte vorbehalten
Copyright © 2012
Diogenes Verlag AG Zürich
www.diogenes.ch
ISBN Buchausgabe 978 3 257 24207 2 (1. Auflage)
ISBN E-Book 978 3 257 60201 2
Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.
[5] Vorwort
Dies ist ein sehr umfangreicher Roman, und ich bin beschämt, ihn durch ein Vorwort noch zu verlängern. Ein Schriftsteller ist wahrscheinlich die letzte Person, die fähig ist, über das eigene Werk zu schreiben. In diesem Zusammenhang wurde von Roger Martin du Gard, einem ausgezeichneten französischen Romancier, eine lehrreiche Geschichte über Marcel Proust erzählt. Proust wollte, dass eine bestimmte französische Zeitschrift einen bedeutsamen Artikel über seinen großen Roman veröffentlichte, und da er meinte, niemand könnte diesen besser schreiben als er, setzte er sich hin und schrieb ihn selbst. Dann bat er einen jungen Freund von ihm, einen Literaten, seinen Namen darunterzusetzen und den Artikel dem Herausgeber zu bringen. Der junge Mann war einverstanden. Aber ein paar Tage später ließ ihn der Herausgeber rufen. »Ich kann Ihren Artikel nicht nehmen«, sagte er zu ihm. »Marcel Proust würde mir niemals verzeihen, wenn ich eine so oberflächliche und teilnahmslose Besprechung seines Werkes druckte.« Obwohl Autoren empfindlich sind, was ihre Schöpfungen betrifft, und dazu neigen, ungünstige Rezensionen übel aufzunehmen, sind sie selten mit sich selbst zufrieden. Sie wissen, wie weit das Werk, für das sie viel Zeit und Mühe aufgewendet haben, von der ursprünglichen Idee abweicht. Und wenn sie es betrachten, dann ärgern sie sich weit mehr über das Misslingen, diese im Gesamten wiederzugeben, als sie sich über die paar gelungenen Stellen hier und dort [6] freuen. Ihr Ziel ist Perfektion, und sie sind unglücklich darüber, sie nicht erreicht zu haben.
Deshalb werde ich nichts über mein Buch selbst sagen, sondern werde mich darauf beschränken, dem Leser dieser Zeilen zu erzählen, wie ein Roman, der nun im Verhältnis ein ziemlich langes Leben gehabt hat, geschrieben wird; und wenn es ihn nicht interessiert, bitte ich ihn, mir zu vergeben. Zum ersten Mal habe ich daran geschrieben, als ich im Alter von dreiundzwanzig Jahren nach Beendigung meines Medizinstudiums im St. Thomas Hospital nach Sevilla ging, entschlossen, meinen Lebensunterhalt als Schriftsteller zu verdienen. Das Manuskript des Buches, das ich damals geschrieben habe, existiert noch, aber ich habe es nicht mehr gelesen, seit ich es abschließend korrigiert habe, und ich zweifle nicht daran, dass es sehr unreif ist. Ich sandte es an Fisher Unwin, der mein erstes Buch veröffentlicht hatte (noch als Medizinstudent hatte ich einen Roman mit dem Titel Liza von Lambeth geschrieben, der sogar etwas Erfolg hatte). Aber er lehnte es ab, mir die hundert Pfund zu geben, die ich dafür haben wollte, und die anderen Verleger, denen ich es danach vorlegte, wollten es überhaupt nicht haben. Dies peinigte mich damals, aber jetzt weiß ich, dass es ein Glück für mich war; denn hätte einer von ihnen mein Buch genommen (es hieß The Artistic Temperament of Stephen Carey), so hätte ich einen Stoff verloren, den richtig zu behandeln ich zu jung war. Ich hatte nicht den nötigen Abstand zu den Erlebnissen, die ich beschrieb, um sie richtig zu verwerten, und mir fehlte eine Reihe von Erfahrungen, die dann die endgültige Fassung des Buches bereichern sollten. Auch wusste ich damals noch nicht, dass es leichter ist, über etwas zu schreiben, das man kennt, als über etwas, das man nicht kennt. So sandte ich zum Beispiel meinen Helden nach [7] Rouen (das ich nur flüchtig kannte), um Französisch zu lernen, anstatt nach Heidelberg (wo ich selbst gewesen war), um Deutsch zu lernen.
Solcherart abgewiesen, legte ich das Manuskript beiseite. Ich schrieb andere Romane, die veröffentlicht wurden, und ich schrieb Theaterstücke. Zu gegebener Zeit wurde ich ein erfolgreicher Dramatiker und beschloss, den Rest meines Lebens dem Schauspiel zu widmen. Aber ich rechnete nicht mit dem inneren Zwang, der meine Vorsätze zunichtemachte. Ich war glücklich, ich war erfolgreich, ich arbeitete fleißig. Mein Kopf war voll von den Stücken, die ich noch schreiben wollte. Ich weiß nicht, ob es daran lag, dass mir der Erfolg nicht all das brachte, was ich erwartet hatte, oder ob es eine natürliche Reaktion darauf war, aber kaum wurde ich als der populärste Dramatiker der Gegenwart eingestuft, suchten mich noch einmal die Erinnerungen an mein vergangenes Leben heim. Sie überfielen mich im Schlaf, auf Spaziergängen, bei Proben, auf Festen; sie wurden solch eine Belastung für mich, dass ich zu dem Schluss kam, es gebe nur einen einzigen Weg, mich von ihnen zu befreien, und der war, sie alle zu Papier zu bringen. Nachdem ich mich einige Jahre hindurch den strengen Anforderungen des Dramas unterworfen hatte, sehnte ich mich nach der größeren Freiheit des Romans. Ich wusste, das Buch, das ich schreiben wollte, würde umfangreich werden, und ich wollte ungestört sein. So lehnte ich die Verträge ab, die Manager mir eifrig anboten, und zog mich für einige Zeit von der Bühne zurück. Damals war ich siebenunddreißig.
Noch lange nachdem das Schreiben zu meinem Beruf geworden war, verwendete ich viel Zeit darauf, schreiben zu lernen, und unterzog mich einem sehr ermüdenden Training, in dem Bemühen, meinen Stil zu verbessern. Aber diese [8] Anstrengungen gab ich auf, als meine Stücke aufgeführt wurden, und als ich wieder zu schreiben begann, hatte ich ein anderes Ziel. Ich trachtete nicht länger danach, brillante Prosa und einen ereignisreichen Text zu schreiben; mit diesen unnützen Unternehmungen hatte ich zuvor viel Zeit vergeudet. Im Gegenteil, jetzt suchte ich nach Klarheit und Einfachheit. Da ich innerhalb vernünftiger Grenzen so viel ausdrücken wollte, fühlte ich, dass ich keine Worte verschwenden durfte; daher wollte ich mich nur auf das beschränken, was notwendig war, um den Sinn verständlich zu machen. Ich hatte keinen Raum für Ausschmückungen. Meine Erfahrung mit dem Theater hatte mich den Wert der Kürze gelehrt. Ich arbeitete zwei Jahre lang unablässig. Ich wusste nicht, wie ich mein Buch nennen sollte, und nachdem ich mich lange umgesehen hatte, stieß ich zufällig auf Beauty from Ashes, ein Zitat aus Jesaja, das mir treffend erschien; aber als ich erfuhr, dass dieser Titel eben erst verwendet worden war, war ich gezwungen, nach einem anderen zu suchen. Schließlich wählte ich den Namen eines der Bücher von Spinozas Ethik und nannte meinen Roman Of Human Bondage. Wiederum empfinde ich es als glücklichen Zufall, dass ich den ersten Titel, den ich zunächst im Sinn hatte, nicht hatte verwenden können.
Der Menschen Hörigkeit ist keine Autobiographie, sondern ein autobiographischer Roman; Wirklichkeit und Fiktion sind untrennbar verbunden; die Gefühle sind meine eigenen, aber nicht alle Vorfälle werden so erzählt, wie sie sich ereignet haben; anderes, das ich nicht selbst erlebte, sondern Menschen, mit denen ich eng befreundet war, wurde auf den Helden projiziert. Das Buch hat für mich seinen Zweck erfüllt. Als es erschien (in einer Welt, die in den Wehen eines schrecklichen Krieges lag und die zu sehr mit ihren eigenen Schmerzen und [9] Ängsten beschäftigt war, als dass sie sich um die Abenteuer einer erfundenen Figur gekümmert hätte), war ich frei von den Schmerzen und den traurigen Erinnerungen, die mich gemartert hatten. Es wurde sehr gut rezensiert; Theodore Dreiser schrieb für The New Republic eine ausführliche Besprechung, in der er sich mit dem Verständnis und Wohlwollen, das all seine Werke auszeichnet, damit befasste. Aber es sah ganz so aus, als würde dieser Roman denselben Weg nehmen wie die überwiegende Mehrzahl der Romane und einige Monate nach seinem Erscheinen für immer in Vergessenheit geraten. Ich weiß nicht aufgrund welchen Zufalls, aber nach einigen Jahren zog er die Aufmerksamkeit einer Reihe bekannter Autoren in den Vereinigten Staaten auf sich. Ihre wiederholten Empfehlungen in der Presse lenkten nach und nach die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf ihn. Diesen Schriftstellern verdanke ich die Wiederbelebung des Romans und den Erfolg, den er im Lauf der Jahre in zunehmendem Maße hatte.
[11] 1
Grau und trübe brach der Tag an. Die Wolken hingen schwer, und es lag eine Rauheit in der Luft, die Schnee ankündigte. Eine Hausangestellte trat in ein Zimmer, in dem ein Kind schlief, und zog die Vorhänge zurück. Sie warf einen mechanischen Blick auf das gegenüberliegende Haus, ein Stuckhaus mit einem Säulenportal, und trat an das Bett des Kindes.
»Wach auf, Philip«, sagte sie.
Sie schlug die Decke zurück, nahm ihn auf den Arm und trug ihn hinunter. Er war noch im Halbschlaf.
»Deine Mutter lässt dich holen«, sagte sie.
Sie öffnete die Tür eines im unteren Stockwerk gelegenen Zimmers und trug das Kind zu einem Bett, in dem eine Frau lag. Es war seine Mutter. Sie streckte die Arme aus, und der Knabe schmiegte sich zärtlich an sie. Er fragte nicht, warum man ihn geweckt hatte. Die Frau küsste seine Augen und befühlte mit ihren mageren kleinen Händen seinen warmen Körper unter dem weißen Flanellnachthemd. Sie drückte ihn fester an sich.
»Bist du schläfrig, Liebling?«, fragte sie.
Ihre Stimme war so schwach, als käme sie bereits aus großer Ferne. Das Kind antwortete nicht, aber lächelte wohlig. Er fühlte sich sehr glücklich in dem großen, warmen Bett, in der sanften Umarmung. Er versuchte, sich so klein wie möglich zu machen, während er sich an seine Mutter kuschelte und sie [12] schlaftrunken küsste. Dann schloss er die Augen und war im nächsten Augenblick fest eingeschlafen. Der Arzt trat näher und blieb neben dem Bett stehen.
»Ach, nehmen Sie ihn mir noch nicht weg«, stöhnte sie.
Ohne zu antworten, sah sie der Arzt ernst an. Sie wusste, dass sie das Kind nun nicht mehr lange würde behalten dürfen, und küsste es abermals. Dann fuhr sie mit der Hand über seinen Körper, bis sie zu den Füßen kam; sie nahm den rechten Fuß in die Hand und befühlte die fünf kleinen Zehen; dann ließ sie die Hand langsam über den linken gleiten. Sie schluchzte auf.
»Was haben Sie denn?«, fragte der Arzt. »Sind Sie müde?«
Sie schüttelte den Kopf, unfähig zu sprechen, und Tränen rollten über ihre Wangen. Der Arzt beugte sich zu ihr nieder.
»Lassen Sie mich ihn nehmen.«
Sie war zu schwach, um Widerstand zu leisten, und überließ ihm das Kind. Der Arzt übergab es dem Kindermädchen.
»Legen Sie ihn wieder in sein Bett zurück.«
»Gut, Herr Doktor.«
Der kleine Junge wurde, immer noch schlafend, davongetragen. Seine Mutter schluchzte nun verzweifelt.
»Was wird mit dem armen Kind geschehen?«
Die Pflegerin bemühte sich, sie zu beruhigen, und die Kranke hörte nach einer Weile vor Erschöpfung auf zu weinen. Der Arzt ging zu einem Tisch auf der anderen Seite des Zimmers, auf dem unter einem Tuch der Körper eines totgeborenen Kindes lag. Er hob das Tuch auf und betrachtete es. Ein Wandschirm verbarg ihn, aber die Frau erriet, womit er beschäftigt war. »War es ein Mädchen oder ein Junge?«, flüsterte sie der Pflegerin zu.
»Wieder ein Junge.«
[13] Die Frau antwortete nicht. Im nächsten Augenblick kam das Kindermädchen zurück und ging auf das Bett zu.
»Master Philip ist nicht einmal aufgewacht«, sagte sie.
Eine Pause folgte. Dann fühlte der Arzt noch einmal den Puls der Patientin. »Ich kann jetzt nichts weiter tun«, meinte er. »Nach dem Frühstück komme ich wieder.«
»Ich bringe Sie zur Tür, Sir«, sagte das Kindermädchen.
Sie gingen schweigend die Treppen hinab. In der Eingangshalle blieb der Doktor stehen.
»Sie haben doch Mrs. Careys Schwager verständigt, nicht wahr?«
»Jawohl, Sir.«
»Wissen Sie, wann er hier sein wird?«
»Nein, Sir. Ich erwarte ein Telegramm.«
»Und was machen wir mit dem Kleinen? Er sollte für eine Weile aus dem Haus.«
»Miss Watkin hat gesagt, sie nimmt ihn zu sich, Herr Doktor.«
»Wer ist Miss Watkin?«
»Seine Patin, Sir. Glauben Sie, dass Mrs. Carey davonkommen wird?«
Der Arzt schüttelte den Kopf.
2
Eine Woche später. Philip saß auf dem Fußboden im Salon von Miss Watkins Haus in Onslow Garden. Als Einzelkind war er gewohnt, sich allein zu beschäftigen. Das Zimmer stand voll mit massiven Möbelstücken, und auf jedem der Sofas lagen drei große Kissen. Auch auf jedem Sessel lag ein [14] Kissen. Er hatte sich alle genommen und sich mit Hilfe der vergoldeten Salonstühle, die leicht von ihrem Platz zu rücken waren, eine kunstvolle Höhle gebaut, in der er sich vor den hinter den Vorhängen lauernden Indianern verstecken konnte. Er legte sein Ohr auf den Boden und horchte auf die Büffelherden, die über die Prärie jagten. Mit einem Male hörte er, dass die Tür geöffnet wurde. Er hielt den Atem an, um nicht entdeckt zu werden. Aber eine starke Hand zog einen der Stühle weg, und die Kissen fielen herab.
»Du unartiges Kind, Miss Watkin wird böse auf dich sein.«
»Guten Tag, Emma«, sagte er.
Das Kindermädchen beugte sich zu ihm nieder, küsste ihn und fing dann an, die Kissen aufzuschütteln und sie an ihren Platz zurückzulegen.
»Darf ich wieder nach Hause?«, fragte er.
»Ja, ich bin gekommen, um dich zu holen.«
»Du hast ein neues Kleid an.«
Man schrieb das Jahr 1885, und sie trug eine Turnüre. Ihr Kleid war aus schwarzem Samt, mit engen Ärmeln und abfallenden Schultern, und der Rock war mit drei breiten Volants verziert. Auf dem Kopf trug sie eine schwarze Haube mit Samtbändern. Sie zögerte. Die Frage, die sie erwartet hatte, kam nicht, und sie konnte ihm nicht die Antwort geben, die sie sich zurechtgelegt hatte.
»Fragst du nicht, wie es deiner Mama geht?«, brachte sie endlich hervor.
»Ach, das habe ich ganz vergessen. Wie geht es ihr?«
Nun war sie bereit. »Deiner Mama geht es sehr gut.«
»Ach, wie schön.«
»Deine Mama ist weggegangen. Du wirst sie nie mehr sehen.«
[15] Philip wusste nicht, was das bedeuten sollte.
»Warum denn nicht?«
»Deine Mama ist im Himmel.«
Sie fing an zu weinen, und obwohl Philip nicht genau begriff, was geschehen war, weinte auch er. Emma war eine große grobknochige Frau mit hellem Haar und breiten Zügen. Sie kam aus Devonshire und hatte trotz vieler Dienstjahre in London ihren heimatlichen Akzent nie ganz abgelegt. Ihre Ergriffenheit wuchs mit ihren Tränen, und sie presste den Knaben an ihr Herz. Dunkel empfand sie, wie bemitleidenswert dieses Kind war, dem das Schicksal die einzige wirklich selbstlose Liebe, die es auf dieser Welt gibt, entzogen hatte. Es erschien ihr schrecklich, dass der Kleine nun fremden Menschen überlassen werden sollte. Aber nach einer Weile fasste sie sich.
»Dein Onkel William wartet auf dich«, sagte sie. »Verabschiede dich von Miss Watkin, und dann gehen wir nach Hause.«
»Ich will mich nicht verabschieden«, antwortete der Junge, eifrig bemüht, seine Tränen zu verbergen.
»Schön, dann lauf hinauf und hol dir deinen Hut.«
Er holte ihn, und als er herunterkam, wartete Emma in der Eingangshalle auf ihn. Er hörte Stimmen in der Bibliothek hinter dem Speisezimmer. Er hielt inne. Er wusste, dass Miss Watkin und ihre Schwester sich mit Bekannten unterhielten, und er vermutete – er war neun Jahre alt –, sie würden ihn bemitleiden, wenn er jetzt hineinginge.
»Ich werde hineingehen und Miss Watkin auf Wiedersehen sagen.«
»Das ist recht«, sagte Emma.
»Sag ihnen, dass ich komme«, sagte er.
[16] Er wollte die Situation auskosten. Emma klopfte an die Tür und trat ein. Er hörte sie sprechen.
»Master Philip möchte sich von Ihnen verabschieden, gnädiges Fräulein.«
Das Gespräch verstummte jäh, und Philip hinkte hinein.
Henrietta Watkin war eine korpulente Dame mit rotem Gesicht und gefärbtem Haar. Sich in jenen Tagen das Haar zu färben gab Anlass zu Bemerkungen. Philip hatte zu Hause so manches Gerede mit angehört, als seine Patin ihre Haarfarbe geändert hatte. Sie lebte mit einer älteren Schwester zusammen, die sich längst damit abgefunden hatte, zu den Alten zu gehören. Zwei Damen, die Philip nicht kannte, waren zu Besuch da und schauten ihn neugierig an.
»Mein armes Kind«, sagte Miss Watkin und öffnete die Arme.
Sie fing zu weinen an. Philip begriff nun, warum sie nicht zum Mittagessen erschienen war und warum sie ein schwarzes Kleid trug. Sie konnte nicht sprechen.
»Ich muss nach Hause gehen«, sagte Philip endlich.
Er löste sich aus Miss Watkins Armen, und sie küsste ihn noch einmal. Dann ging er zu ihrer Schwester und verabschiedete sich auch von ihr. Eine der fremden Damen fragte, ob sie ihm einen Kuss geben dürfe, und er erteilte ihr ernst die Erlaubnis. Obwohl er weinte, genoss er lebhaft das Aufsehen, das er erregte; er wäre gern noch länger geblieben, um es noch etwas auszukosten, aber er fühlte, dass es an der Zeit war zu gehen, und sagte deshalb, dass Emma auf ihn warte. Er verließ das Zimmer. Emma hatte sich hinunterbegeben, um sich mit einer Freundin in der Küche zu unterhalten, und er wartete im Treppenflur auf sie. Er hörte Henrietta Watkins Stimme.
[17] »Seine Mutter war meine beste Freundin. Der Gedanke, dass sie tot ist, ist mir unerträglich.«
»Du hättest nicht zur Beerdigung gehen sollen, Henrietta«, sagte ihre Schwester. »Ich wusste, es würde dich aufregen.«
Dann sprach eine von den Fremden.
»Der arme kleine Junge. Wie schrecklich, so ganz allein in der Welt zu sein! Ich sehe, dass er hinkt.«
»Ja, er hat einen Klumpfuß. Das war ein großer Kummer für seine Mutter.«
Dann kam Emma zurück. Sie winkte eine Droschke heran und sagte dem Kutscher, wohin er fahren sollte.
3
Als sie das Haus erreichten, in dem Mrs. Carey gestorben war – es lag in einer tristen, ehrbaren Straße zwischen Notting Hill Gate und High Street, Kensington –, führte Emma Philip ins Empfangszimmer. Sein Onkel schrieb Dankesbriefe für die Blumenspenden. Ein verspätet eingetroffener Kranz lag in seinem Pappkarton auf dem Vorzimmertisch.
»Da ist Master Philip«, sagte Emma.
Mr. Carey stand schwerfällig auf und reichte dem kleinen Jungen die Hand. Dann besann er sich, beugte sich zu ihm nieder und küsste ihn auf die Stirn. Er war ein zu Korpulenz neigender Mann von unterdurchschnittlicher Größe. Sein Haar war lang und mit Sorgfalt über den Schädel gekämmt, um dessen Kahlheit zu verbergen. Er war glattrasiert. Seine Gesichtszüge waren regelmäßig, und in seiner Jugend mochte er gut ausgesehen haben. An seiner Uhrkette trug er ein goldenes Kreuz.
[18] »Du wirst jetzt bei mir leben, Philip. Wird dir das gefallen?«
Vor zwei Jahren war Philip, nachdem er Windpocken gehabt hatte, zur Erholung in das Pfarrhaus geschickt worden, aber von diesem Besuch war ihm eher ein Dachboden und ein großer Garten in Erinnerung geblieben als sein Onkel und seine Tante.
»Ja.«
»Du musst mich und Tante Louisa von nun an als deine Eltern betrachten.«
Um den Mund des Kindes zuckte es, er errötete, antwortete aber nicht.
»Deine liebe Mutter hat dich meiner Obhut anvertraut.«
Mr. Carey fiel es nicht besonders leicht, sich auszudrücken. Als ihn die Nachricht erreichte, dass seine Schwägerin im Sterben liege, reiste er unverzüglich nach London, aber unterwegs dachte er bloß an die Umwälzungen, die seinem Leben drohten. Wenn seine Schwägerin nun starb, wäre er gezwungen, ihren kleinen Sohn zu sich zu nehmen. Er war weit über fünfzig, und seine Frau, mit der er seit dreißig Jahren verheiratet war, hatte keine Kinder. Die Aussicht, einen kleinen Jungen ins Haus zu bekommen, der vielleicht laut und wild war, schien ihm wenig verlockend. Er hatte nie viel für seine Schwägerin übriggehabt.
»Morgen nehme ich dich mit nach Blackstable«, sagte er.
»Emma auch?«
Das Kind schob seine Hand in die ihre, und sie drückte sie.
»Emma wird leider nicht bei dir bleiben können«, sagte Mr. Carey.
»Aber ich möchte, dass Emma mitkommt.«
Philip brach in Tränen aus, und auch das Mädchen musste weinen. Mr. Carey blickte die beiden hilflos an.
[19] »Vielleicht lassen Sie mich einen Augenblick mit Master Philip allein.«
»Bitte, Sir.«
Philip klammerte sich an ihre Röcke, aber sanft machte sie sich los. Mr. Carey hob den Jungen auf seine Knie und legte den Arm um ihn.
»Du darfst nicht weinen«, sagte er. »Du bist schon zu groß für ein Kindermädchen. Wir werden uns nach einer Schule für dich umsehen müssen.«
»Ich möchte aber, dass Emma mitkommt«, wiederholte das Kind.
»Das kostet zu viel Geld, Philip. Dein Vater hat nur wenig hinterlassen, und ich weiß nicht, was daraus geworden ist. Du musst auf jeden Penny achten, den du ausgibst.«
Mr. Carey hatte tags zuvor den Rechtsanwalt der Familie besucht. Philips Vater war ein Chirurg mit einer gutgehenden Praxis gewesen, die auf gesicherte Vermögensverhältnisse schließen ließ; es war daher eine Überraschung gewesen, als sich nach seinem plötzlichen Tod – er starb an einer Blutvergiftung – herausstellte, dass er seiner Witwe wenig mehr als seine Lebensversicherung hinterlassen hatte und die Miete, die das Haus in der Burton Street abwarf. Das war vor sechs Monaten gewesen; und Mrs. Carey, deren Gesundheit angeschlagen war, erwartete ein Kind und hatte den Kopf verloren und das Haus an den Erstbesten vermietet. Sie stellte ihre Möbel bei einem Spediteur ein und mietete zu einem Preis, den der Pastor übertrieben hoch fand, für ein Jahr ein möbliertes Haus, um bis zur Geburt des Kindes allen Unannehmlichkeiten auszuweichen. Aber sie war es nicht gewohnt, mit Geld umzugehen, und mühte sich vergebens, ihre Ausgaben den veränderten Umständen anzupassen. Das wenige, was sie [20] besaß, zerrann ihr zwischen den Fingern, und was nun, nachdem alles bezahlt war, an Vermögen übrigblieb, war nicht viel mehr als zweitausend Pfund, die ausreichen mussten, um den Jungen zu unterstützen, bis er imstande war, für sich selbst zu sorgen. Es war unmöglich, Philip dies alles zu erklären, und er schluchzte noch immer.
»Geh jetzt zu Emma«, sagte Mr. Carey, der fühlte, dass sie am ehesten imstande sein würde, ihn zu trösten.
Wortlos glitt Philip von den Knien seines Onkels, aber Mr. Carey hielt ihn noch einen Augenblick fest.
»Wir müssen morgen reisen, weil ich am Samstag meine Predigt vorbereiten muss. Sag Emma, dass sie heute noch deine Sachen packen soll. Du darfst alle deine Spielsachen mitnehmen. Und wenn du etwas als Andenken an deine Eltern haben willst, darfst du dir zwei Gegenstände aussuchen: einen für deinen Vater und einen für deine Mutter. Alles andere wird verkauft.«
Der Junge schlüpfte aus dem Zimmer. Mr. Carey war nicht an Arbeit gewöhnt und kehrte nur widerstrebend zu seiner Korrespondenz zurück. Auf der einen Seite des Schreibtisches lag ein Bündel Rechnungen, und diese erregten seinen Unwillen. Eine erschien ihm besonders unsinnig. Gleich nachdem Mrs. Carey gestorben war, hatte Emma für das Zimmer, in dem die Tote lag, Unmengen von weißen Blumen kommen lassen. Das war hinausgeworfenes Geld, nichts weiter. Emma war ihm viel zu eigenmächtig. Selbst unter günstigeren finanziellen Umständen hätte er sie entlassen.
Aber Philip lief zu ihr hin, barg sein Gesicht an ihrer Brust und weinte, als wollte ihm das Herz brechen. Und sie, die ihn liebte wie ihr eigenes Kind – sie hatte ihn übernommen, als er einen Monat alt war –, tröstete ihn mit zärtlichen Worten. Sie [21] versprach, ihn manchmal zu besuchen und ihn niemals zu vergessen; und sie erzählte ihm von dem Haus auf dem Lande, in dem er nun wohnen würde, und von ihrer eigenen Heimat in Devonshire – ihr Vater hatte eine kleine Wirtschaft an der Straße nach Exeter, und in den Ställen waren Schweine, und eine Kuh war da, und die Kuh hatte gerade ein Kälbchen bekommen –, bis Philip seinen Kummer vergaß und ganz aufgeregt wurde bei dem Gedanken an die bevorstehende Reise. Nach einer Weile stellte sie ihn wieder auf den Boden, denn es gab viel zu tun, und er half ihr, seine Anzüge aufs Bett zu legen. Sie schickte ihn ins Kinderzimmer, damit er seine Spielsachen einsammelte, und es dauerte nicht lange, bis er tief ins Spiel versunken war.
Aber schließlich wurde er des Alleinseins müde und kehrte ins Schlafzimmer zurück, wo Emma seine Sachen in einen großen Koffer packte; ihm fiel ein, dass sein Onkel ihm erlaubt hatte, etwas zur Erinnerung an seine Eltern mitzunehmen. Er erzählte es Emma und fragte sie um Rat.
»Geh ins Wohnzimmer und such dir etwas aus.«
»Onkel William ist dort.«
»Das macht nichts. Die Sachen gehören jetzt alle dir.«
Philip stieg zögernd die Treppe hinab und fand die Tür offen. Mr. Carey hatte das Zimmer verlassen. Philip ging langsam darin umher. Sie hatten erst so kurze Zeit in dem Haus gewohnt, dass er nur an wenigen Dingen hing. Für ihn war es ein fremdes Zimmer, und Philip sah nichts, was seine Aufmerksamkeit erregte. Aber er wusste, welche Sachen seiner Mutter und welche dem Vermieter gehört hatten, und er entschloss sich nach einer Weile für eine kleine Uhr, die sie gern gehabt hatte. Mit dieser Uhr stieg er ziemlich verzagt wieder die Treppe hinauf. Vor der Tür, die zum Schlafzimmer seiner [22] Mutter führte, blieb er stehen und horchte. Obgleich ihm niemand verboten hatte hineinzugehen, hatte er doch das Gefühl, dass es falsch wäre; er hatte ein wenig Angst, und sein Herz klopfte laut, aber gleichzeitig zwang ihn irgendetwas, die Klinke niederzudrücken. Er tat es sehr leise, um von niemandem gehört zu werden, und stieß dann langsam die Tür auf. Einen Augenblick lang blieb er auf der Schwelle stehen, dann erst wagte er einzutreten. Er hatte nun keine Angst mehr, aber es war ihm seltsam zumute. Er schloss die Tür hinter sich. Die Jalousien waren herabgelassen, und das Zimmer lag dunkel in dem kalten Licht des Januarnachmittags. Auf dem Toilettentisch waren Mrs. Careys Bürsten und ihr Handspiegel. In einer kleinen Schale lagen ein paar Haarnadeln. Auf dem Kaminsims standen zwei Fotografien, von denen die eine ihn selbst, die andere seinen Vater darstellte. Er war früher häufig in Abwesenheit seiner Mutter in diesem Zimmer gewesen, aber nun schien es ihm verändert. Die Stühle sahen so sonderbar aus. Das Bett war gemacht, als ob diese Nacht jemand darin schlafen sollte, und in einem Futteral auf dem Kissen lag ein Nachthemd. Philip öffnete einen großen Schrank, der voller Kleider hing, stieg hinein, umfasste mit den Armen, so viele er halten konnte, und vergrub sein Gesicht darin. Sie rochen nach dem Parfüm, das seine Mutter getragen hatte. Dann öffnete er die Schubladen, die mit den Sachen seiner Mutter angefüllt waren, und betrachtete sie: Zwischen der Wäsche lagen Lavendelsäckchen, und ihr Duft war frisch und angenehm. Das Zimmer hatte nun nichts Fremdes mehr, und es schien ihm, als wäre seine Mutter nur ausgegangen. Bald würde sie wieder zurück sein und zu ihm heraufkommen, um im Kinderzimmer mit ihm Tee zu trinken. Und er meinte, ihren Kuss auf seinen Lippen zu spüren.
[23] Es war nicht wahr, dass er sie nie mehr wiedersehen würde. Es war nicht wahr, weil es einfach nicht sein konnte. Er stieg auf das Bett und legte seinen Kopf auf das Kissen. So lag er ganz still.
4
Philip schied unter Tränen von Emma, aber die Reise nach Blackstable machte ihm Spaß, und als er ankam, hatte er sich beruhigt und war heiter. Blackstable war sechzig Meilen von London entfernt. Mr. Carey übergab das Gepäck einem Träger und machte sich mit Philip zu Fuß auf den Weg zum Pfarrhaus.
Sie hatten kaum fünf Minuten zu gehen, und als sie es sahen, erinnerte sich Philip plötzlich an das Gartentor. Es war rot und hatte einen Schlagbaum mit fünf Barren; es saß lose in den Angeln und bewegte sich leicht nach beiden Seiten; und es war möglich, wenngleich verboten, auf diesem Gartentor hin und her zu schwingen. Durch den Garten gingen sie zur Haustür. Diese wurde nur von Gästen und an Sonntagen oder bei ganz besonderen Anlässen benützt, so zum Beispiel, wenn der Pastor nach London fuhr oder von dort zurückkehrte. Für gewöhnlich bediente man sich eines Seiteneinganges, und außerdem gab es noch eine Hintertür für den Gärtner und für Bettler und Vagabunden. Es war ein ziemlich großes gelbes Ziegelhaus mit rotem Dach, das vor ungefähr fünfundzwanzig Jahren in einem kirchlichen Stil erbaut worden war. Die Haustür sah aus wie ein Kirchenportal, und die Fenster des Salons waren gotisch.
Mrs. Carey, die wusste, mit welchem Zug sie kommen [24] würden, wartete im Salon und horchte auf das Geräusch des Gartentores. Als sie es hörte, ging sie zur Tür.
»Da ist Tante Louisa«, sagte Mr. Carey, als er sie erblickte. »Lauf hin und gib ihr einen Kuss.«
Philip fing ungeschickt zu laufen an, seinen Klumpfuß hinter sich herschleifend, und hielt dann inne. Mrs. Carey war eine kleine, verhutzelte Frau im gleichen Alter wie ihr Mann, mit einem Gesicht, das von einem wahren Netz von Runzeln überzogen war, und blassblauen Augen. Ihr graues Haar war nach der Mode ihrer Jugend in Locken frisiert. Sie trug ein schwarzes Kleid, und ihr einziger Schmuck war eine Goldkette, an der ein Kreuz hing. Sie hatte ein schüchternes Wesen und eine sanfte Stimme.
»Du bist zu Fuß gegangen, William?«, sagte sie beinahe vorwurfsvoll, während sie ihren Gatten küsste.
»Ich habe gar nicht daran gedacht«, entgegnete er mit einem Blick auf seinen Neffen.
»Hat dich das Gehen angestrengt, Philip?«, fragte sie das Kind.
»Nein, ich gehe immer.«
Philip wunderte sich ein wenig über dieses Gespräch. Tante Louisa forderte ihn auf hereinzukommen, und sie traten ins Haus. Die Diele war mit roten und gelben Kacheln gepflastert, die abwechselnd mit einem griechischen Kreuz und einem Gotteslamm verziert waren. Eine imposante Treppe führte ins obere Stockwerk. Sie war aus poliertem Eichenholz, das einen eigentümlichen Geruch ausströmte, und war eingebaut worden, als in der Kirche neue Bänke aufgestellt worden waren. Damals war glücklicherweise sehr viel Holz übriggeblieben. Die Balustrade war mit den Emblemen der vier Evangelisten geschmückt.
[25] »Ich habe einheizen lassen, weil ich dachte, dass ihr von der Reise durchfroren zurückkommen würdet«, sagte Mrs. Carey.
In der Eingangshalle stand ein großer schwarzer Ofen, der nur bei außergewöhnlich schlechtem Wetter geheizt wurde und wenn der Pastor erkältet war. Kohle war teuer. Überdies wollte das Mädchen, Mary Ann, nichts davon wissen, in allen Räumen zu heizen. Wenn sie es überall im Haus warm haben wollten, hätten sie ein zweites Mädchen gebraucht. Im Winter hielten sich Mr. und Mrs. Carey tagsüber im Speisezimmer auf, so dass ein Ofen ausreichte, und im Sommer blieben sie bei dieser Gewohnheit. Der Salon wurde nur von Mr. Carey an Sonntagen für sein Mittagsschläfchen benützt. Aber jeden Samstag ließ er in seinem Arbeitszimmer Feuer machen, um dort seine Predigt zu schreiben.
Tante Louisa ging mit Philip hinauf und führte ihn in ein winziges Schlafzimmer, das auf die Einfahrt hinausging. Unmittelbar vor dem Fenster war ein großer Baum, an den Philip sich nun erinnerte, weil seine Zweige so tief herabreichten, dass man daran hoch in die Krone hinaufklettern konnte.
»Ein kleines Zimmer für einen kleinen Jungen«, sagte Mrs. Carey. »Du wirst dich doch nicht fürchten, allein zu schlafen?«
»O nein.«
Als er zum ersten Mal zu Besuch ins Pfarrhaus gekommen war, war das Kindermädchen dabei gewesen, und Mrs. Carey hatte nur wenig mit ihm zu tun gehabt. Sie blickte ihn nun unsicher an.
»Kannst du dir allein die Hände waschen, oder soll ich dir helfen?«
»Ich kann sie mir selbst waschen«, antwortete er bestimmt.
»Nun, dann werde ich sie ansehen, wenn du zum Tee [26] hinunterkommst«, sagte Mrs. Carey. Sie wusste nichts von Kindern. Nachdem entschieden wurde, dass Philip nach Blackstable kommen sollte, hatte Mrs. Carey viel darüber nachgedacht, wie sie mit ihm umgehen sollte; sie war darauf bedacht, ihre Pflicht zu tun, aber als sie den Jungen nun vor sich hatte, war sie genauso befangen wie er. Sie hoffte, dass er nicht laut und wild sein würde, weil ihr Mann laute und wilde Kinder nicht leiden mochte. Mit einer Entschuldigung ließ sie Philip allein, kehrte aber einen Augenblick später wieder um und klopfte an die Tür; ohne hereinzukommen, fragte sie, ob er allein Wasser ins Waschbecken gießen könne. Dann ging sie hinunter und läutete die Teeglocke.
Das große schön geschnittene Speisezimmer hatte an zwei Seiten Fenster mit schweren roten Ripsvorhängen; in der Mitte stand ein großer Tisch und an einem Ende ein imposantes Mahagonibüffet mit einem Spiegel. In einer Ecke stand ein Harmonium. Der Kamin war rechts und links von Stühlen flankiert, die mit gepresstem Leder bezogen waren und in Hussen gehüllt. Der eine hatte Armlehnen und hieß ›der Mann‹, der andere hatte keine und hieß ›die Frau‹. Mrs. Carey saß niemals in dem mit den Lehnen: Sie erklärte, dass sie für allzu bequeme Stühle nichts übrighabe; es gebe stets eine Menge zu tun, und säße sie in einem Lehnstuhl, könnte sie sich nicht so leicht entschließen, wieder aufzustehen.
Mr. Carey schürte das Feuer, als Philip hereinkam, und machte seinen Neffen darauf aufmerksam, dass zwei Schüreisen vorhanden wären. Das eine war groß, blank, glänzend und unbenützt und wurde ›der Vikar‹ genannt; das andere, kleine, das, man konnte es ihm ansehen, durch viele Feuer hindurchgegangen war, hieß ›der Kurat‹.
»Worauf warten wir noch?«, fragte Mr. Carey.
[27] »Ich habe Mary Ann aufgetragen, dir ein Ei zu kochen. Ich dachte, du würdest hungrig sein nach der Reise.«
Mrs. Carey betrachtete die Fahrt von London nach Blackstable als etwas sehr Ermüdendes. Sie selbst reiste nur selten, denn die Pfarre brachte nur dreihundert Pfund im Jahr ein, und wenn der Vikar eine Erholung nötig hatte, fuhr er, da das Geld für zwei nicht reichte, allein. Er hatte eine große Vorliebe für Kirchenkongresse und gestattete sich einmal jährlich eine Reise nach London; einmal hatte er die Weltausstellung in Paris besucht und zwei- oder dreimal die Schweiz. Mary Ann brachte das Ei, und sie setzten sich zu Tisch. Der Stuhl war viel zu niedrig für Philip, und einen Augenblick wussten Mr. Carey und seine Frau nicht, was sie tun sollten.
»Ich werde ein paar Bücher darauf legen«, sagte Mary Ann.
Sie nahm vom Harmonium die große Bibel und das Gebetbuch, aus dem der Vikar vorzulesen pflegte, und legte beide auf Philips Stuhl.
»Ach, William, er kann doch nicht auf der Bibel sitzen«, rief Mrs. Carey entsetzt. »Willst du ihm nicht ein paar Bücher aus deinem Arbeitszimmer holen?«
Mr. Carey überlegte einen Augenblick.
»Lassen wir es, dies eine Mal«, sagte er. »Aber Sie müssen das Gebetbuch obenauf legen, Mary Ann. Das Gebetbuch ist Menschenwerk, es hat keinen Anspruch auf göttliche Herkunft.«
»Das habe ich nicht bedacht, William«, sagte Tante Louisa.
Philip setzte sich auf die Bücher, und der Vikar köpfte, nachdem er das Tischgebet gesprochen hatte, sein Ei.
»Da«, sagte er und reichte Philip die Spitze, »das darfst du essen, wenn du willst.«
[28] Philip hätte gern ein ganzes Ei gehabt, aber man bot ihm keines an, und so nahm er, was er bekommen konnte.
»Wie haben die Hühner gelegt während meiner Abwesenheit?«, fragte der Vikar.
»Ach, sie waren so schrecklich faul. Nur ein, zwei am Tag.«
»Wie hat dir die Spitze geschmeckt, Philip?«, fragte der Onkel.
»Sehr gut, danke.«
»Sonntagnachmittag sollst du wieder eine haben.«
Mr. Carey bekam jeden Sonntagnachmittag ein gekochtes Ei zum Tee, zur Stärkung für den bevorstehenden Abendgottesdienst.
5
Philip lernte allmählich die Menschen kennen, in deren Umgebung er nun lebte, und erfuhr durch Gesprächsfragmente, von denen einige keineswegs für seine Ohren bestimmt waren, mancherlei über sich selbst und seine toten Eltern. Philips Vater war viel jünger gewesen als der Vikar von Blackstable. Nach einer glänzenden Studienzeit im St. Luke’s Hospital wurde er unter die Anstaltsärzte aufgenommen und verdiente sehr bald viel Geld. Er gab es mit vollen Händen aus. Als der Vikar die Restaurierung seiner Kirche in Angriff nahm und seinen Bruder um einen Beitrag ersuchte, wurde ihm zu seiner Überraschung eine Spende von einigen hundert Pfund angewiesen: Mr. Carey, knauserig aus Veranlagung und sparsam aus Notwendigkeit, nahm das Geld mit gemischten Gefühlen an; er beneidete seinen Bruder, weil er imstande war, eine so [29] beträchtliche Summe zu verschenken, freute sich im Interesse seiner Kirche und lehnte sich gleichzeitig im Inneren gegen eine solche Art von Großzügigkeit auf, die ihm unvornehm und protzig schien. Dann heiratete Henry Carey eine Patientin, ein schönes, aber gänzlich vermögensloses Mädchen, eine Waise aus guter Familie, aber ohne nähere Verwandtschaft; zur Hochzeit fand sich eine ganze Schar von vornehmen Freunden ein. Der Pastor trat seiner Schwägerin bei seinen Besuchen in London mit großer Zurückhaltung entgegen. Er fühlte sich ihr gegenüber befangen und nahm ihr in seinem Herzen ihre große Schönheit übel: Sie kleidete sich eleganter, als es der Frau eines geplagten Chirurgen zustand; und die entzückende Einrichtung ihres Hauses, die Blumen, mit denen sie sich selbst im Winter umgab, verrieten eine Verschwendungssucht, die er missbilligte. Er hörte sie von Gesellschaften sprechen, zu denen sie eingeladen war; und Gastfreundschaft anzunehmen, ohne sie zu erwidern, erklärte er seiner Gattin, als er heimkehrte, sei ein Ding der Unmöglichkeit. Er hatte Weintrauben im Esszimmer gesehen, die mindestens acht Shilling das Pfund gekostet hatten, und zum Lunch hatte man ihm Spargel vorgesetzt, zwei Monate ehe es im Pfarrgarten welchen gab. Nun war alles gekommen, wie er es vorausgesagt hatte; der Vikar empfand die Genugtuung eines Propheten, der zusah, wie Feuer und Schwefel die Stadt verzehrten, die seine Warnungen in den Wind geschlagen hatte. Der arme Philip stand beinahe mittellos da, was hatte er nun von den vornehmen Freunden seiner Mutter? Er hörte, dass der Leichtsinn seines Vaters geradezu verbrecherisch gewesen sei und es als Gnade angesehen werden musste, dass Gott seine liebe Mutter zu sich geholt hatte; sie hatte weniger Ahnung von Geld gehabt als ein Kind.
[30] Etwa eine Woche nach Philips Ankunft in Blackstable ereignete sich ein Vorfall, der seinem Onkel großen Ärger zu bereiten schien. Eines Morgens fand er auf dem Frühstückstisch ein kleines Paket vor, das ihm von der Wohnung der verstorbenen Mrs. Carey nachgeschickt worden war. Es war an sie adressiert gewesen. Als der Pastor es öffnete, fand er ein Dutzend Fotografien von Mrs. Carey. Sie zeigten nur den Kopf und die Schultern, das Haar war einfacher frisiert als gewöhnlich, tief in die Stirn gekämmt, was ihr ein ungewohntes Aussehen verlieh; das Gesicht sah mager und abgezehrt aus, aber keine Krankheit war imstande gewesen, die Schönheit dieser Züge zu verwischen. Aus den großen dunklen Augen sprach eine Traurigkeit, an die sich Philip nicht erinnern konnte. Der erste Anblick der Verstorbenen jagte Mr. Carey einen Schreck ein, dem jedoch rasch Verblüffung folgte. Die Fotografien waren ziemlich neu, und er konnte sich nicht vorstellen, wer sie bestellt hatte.
»Weißt du etwas von diesen Bildern, Philip?«, fragte er.
»Ich erinnere mich, dass Mama erzählt hat, sie hätte sich fotografieren lassen«, antwortete er. »Miss Watkin schalt sie… Sie sagte: Ich möchte, dass der Junge etwas zur Erinnerung an mich hat, wenn er groß ist.«
Mr. Carey blickte Philip einen Augenblick lang an. Das Kind sprach mit heller Stimme. Er erinnerte sich an die Worte, aber sie bedeuteten ihm nichts.
»Du darfst dir eine von den Fotografien mit in dein Zimmer nehmen«, sagte Mr. Carey. »Die anderen werde ich wegräumen.«
Ein Bild schickte er an Miss Watkin, und sie erklärte in einem Brief, wie es zu den Aufnahmen gekommen war.
Eines Tages hatte Mrs. Carey im Bett gelegen, aber sie hatte [31] sich etwas kräftiger gefühlt als gewöhnlich, und der Arzt hatte sich am Morgen zuversichtlich gezeigt; Emma war mit dem Kind spazieren gegangen, und die Mädchen hielten sich unten in der Küche auf. Plötzlich war eine große Angst über Mrs. Carey gekommen. Würde sie die Entbindung, die in vierzehn Tagen bevorstand, überleben? Ihr Sohn war neun Jahre alt. Wie konnte sie hoffen, dass er die Erinnerung an sie bewahrte? Sie konnte den Gedanken nicht ertragen, dass er aufwachsen und sie vergessen sollte, gänzlich vergessen; sie hatte ihn so leidenschaftlich geliebt, weil er schwächlich und verkrüppelt war und weil er ihr Kind war. Seit ihrer Heirat hatte sie sich nicht mehr fotografieren lassen, und das war nun zehn Jahre her. Ihr Sohn sollte wissen, wie sie zuletzt ausgesehen hatte. Dann konnte er sie nicht vergessen, nicht gänzlich vergessen. Sie wusste, wenn sie das Mädchen kommen ließe und ihr erklärte, dass sie aufstehen wollte, würde sie das Mädchen zurückhalten und schickte vielleicht sogar nach dem Arzt, und sie hatte nun nicht die Kraft, zu kämpfen oder zu bitten. Sie stand auf und begann sich anzuziehen. Sie hatte so lange auf dem Rücken gelegen, dass ihre Knie einknickten, und ihre Fußsohlen brannten so sehr, dass sie sie nur unter Schmerzen auf den Boden setzen konnte. Aber sie gab nicht nach. Sie war nicht gewohnt, sich allein zu frisieren, und als sie die Arme hob und ihr Haar zu bürsten begann, wurde ihr übel. Die Frisur wollte nicht gelingen. Ihr Haar war wunderschön, sehr fein und von einem tiefen, leuchtenden Goldblond. Ihre Augenbrauen waren gerade und dunkel. Sie zog einen schwarzen Rock an und dazu das Mieder des Abendkleides, das sie am liebsten hatte: Es war aus weißem Damast, der in jenen Tagen modern war. Sie betrachtete sich im Spiegel. Ihr Gesicht war sehr blass, aber die Haut leuchtete klar: Sie hatte nie viel Farbe [32] gehabt, was die Röte ihres schönen Mundes stets besonders hervorhob. Sie konnte ein Schluchzen nicht unterdrücken. Aber sie durfte es sich nicht gestatten, sich selbst zu bemitleiden; schon jetzt fühlte sie sich müde; sie legte den Pelz um, den Henry ihr im vergangenen Jahr zu Weihnachten geschenkt hatte – sie war damals so stolz und glücklich gewesen –, und schlüpfte klopfenden Herzens die Treppen hinunter. Unbemerkt gelangte sie aus dem Haus und fuhr zu einem Fotografen. Sie bezahlte ein Dutzend Bilder. Sie musste inmitten der Sitzung um ein Glas Wasser bitten; der Assistent bemerkte, dass sie krank war, und schlug ihr vor, an einem anderen Tag wiederzukommen, aber davon wollte sie nichts hören. Endlich war die Aufnahme vorbei, und sie fuhr wieder in das schäbige kleine Haus in Kensington zurück, das sie von ganzem Herzen hasste. Es war schrecklich, in einem solchen Haus sterben zu müssen.
Die Haustür stand offen, und als sie vorfuhr, rannten Emma und das Mädchen die Treppe herab, um ihr zu helfen. Sie waren erschrocken, als sie das leere Zimmer entdeckt hatten. Zuerst hatten sie gedacht, sie wäre zu Miss Watkin gegangen, und hatten die Köchin hinübergeschickt. Miss Watkin war mit dieser zurückgekommen und wartete ängstlich im Salon. Nun erschien sie besorgt und vorwurfsvoll auf der Treppe; aber die Anstrengung war zu groß für Mrs. Carey gewesen; als sie nicht länger Stärke zeigen musste, brach sie zusammen. Sie fiel in Emmas Arme und wurde ins Schlafzimmer hinaufgetragen. Lange blieb sie bewusstlos, allzu lange für die, die sich um sie bemühten, und der Arzt, nach dem sofort gesandt worden war, kam nicht. Erst am nächsten Tag, als sie sich ein wenig besser fühlte, gelang es Miss Watkin, sie zu einer Erklärung zu bewegen. Philip spielte auf dem Fußboden im Schlafzimmer [33] seiner Mutter, und keine der Damen schenkte ihm Beachtung. Er verstand nur dunkel, worüber sie sich unterhielten, und hätte nicht sagen können, warum jene Worte in seinem Gedächtnis haftengeblieben waren.
»Ich möchte, dass der Junge etwas hat, das ihn an mich erinnert, wenn er groß ist.«
»Ich begreife bloß nicht, warum sie ein Dutzend bestellt hat«, sagte Mr. Carey. »Zwei Stück hätten genügt.«
6
Ein Tag war dem anderen sehr ähnlich im Pfarrhaus.
Bald nach dem Frühstück brachte Mary Ann die Times herein. Mr. Carey hatte sie gemeinsam mit zwei Nachbarn abonniert. Er bekam sie von zehn bis eins, dann trug sie der Gärtner hinüber zu Mr. Elis, bei dem sie bis sieben Uhr blieb; schließlich wurde sie ins Gutshaus zu Miss Brooks gebracht, die zwar als Letzte an die Reihe kam, aber dafür den Vorteil genoss, das Blatt behalten zu dürfen. Im Sommer, wenn Mrs. Carey Marmelade einkochte, erbat sie sich manchmal eine Ausgabe zum Zudecken ihrer Töpfe. Sobald der Vikar sich mit seiner Zeitung zurückgezogen hatte, setzte seine Frau eine Haube auf und ging einkaufen. Philip begleitete sie. Blackstable war ein Fischerdorf. Es bestand aus einer Hauptstraße mit Läden, der Bank, dem Haus des Arztes und den Häusern von zwei oder drei Kohleschiffbesitzern: Rings um den Hafen lagen ein paar schäbige Straßen, in denen Fischer und arme Leute wohnten; aber da sie nicht zur anglikanischen Hochkirche gehörten, zählten sie nicht. Wenn Mrs. Carey auf der Straße einen von den dissidentischen Geistlichen erblickte, [34] wechselte sie die Straßenseite, um eine Begegnung zu vermeiden, oder hielt, wenn dazu keine Zeit mehr war, ihre Blicke starr auf das Pflaster gerichtet. Dass in der Hauptstraße nicht weniger als drei Kapellen standen, war ein Skandal, mit dem sich der Vikar niemals abgefunden hatte: Er war der Ansicht, dass es Pflicht der Obrigkeit gewesen wäre, ihren Bau zu verhindern. Das Einkaufen war in Blackstable keine einfache Sache, denn das Sektenwesen, noch gefördert durch den Umstand, dass die Pfarrkirche zwei Meilen außerhalb der Stadt lag, erfreute sich großer Verbreitung. Und es war unumstößliches Gebot, ausschließlich bei Kirchenbesuchern zu kaufen. Mrs. Carey wusste genau, dass es für den Glauben eines Geschäftsmannes entscheidend sein konnte, ob der Pastor zu seinen Kunden zählte oder nicht. Es gab zwei Metzger, die beide der Kirche angehörten und nicht begreifen wollten, dass der Pfarrer nicht gleichzeitig bei beiden einkaufen konnte; ebenso wenig Verständnis zeigten sie für sein einfaches System, seinen Bedarf sechs Monate bei dem einen und sechs Monate bei dem anderen zu decken.
Der Metzger, der nicht fortwährend Fleisch ins Pfarrhaus lieferte, drohte, nicht mehr in die Kirche zu gehen, und der Vikar war daher manchmal genötigt, auch seinerseits eine Drohung auszusprechen: Es sei ganz und gar unrecht von ihm, nicht in die Kirche zu gehen, aber wenn er weiter sündigen wollte und tatsächlich in eine der Kapellen ginge, wäre Mr. Carey natürlich gezwungen, ihn für immer zu verlassen, obgleich er vorzügliches Fleisch habe.
Mrs. Carey machte unterwegs häufig bei der Bank halt, um Josiah Graves, dem Direktor, der gleichzeitig Chormeister, Kirchenvorstand und Schatzmeister war, irgendeine Nachricht zu überbringen. Er war ein großer, hagerer Mann mit bleichem [35]