Carson McCullers
Frankie
Roman
Aus dem Amerikanischen von
Richard Moering
Mit einem Nachwort von
Marguerite Young
Titel der 1946 bei Houghton Mifflin, Boston,
erschienenen Originalausgabe:
›The Member of the Wedding‹
Die vorliegende Übersetzung wurde
1951 unter dem Titel ›Das Mädchen Frankie‹
im Parnaß Verlag, Scherz und Goverts,
Stuttgart, veröffentlicht und erschien
1965 unter dem Titel ›Frankie‹ erstmals im Diogenes Verlag
Die Übersetzung wurde für diese Ausgabe überarbeitet
Das Nachwort von Marguerite Young erschien
1947 unter dem Titel ›Metaphysical Fiction‹
in The Kenyon Review
Die vorliegende Übersetzung von Elizabeth Gilbert
erschien 1974 erstmals auf Deutsch im Band
›Über Carson McCullers‹, detebe 20147
Copyright © by Chalmers Memorial Library,
Kenyon College, Gambier, Ohio
Umschlagillustration: Edward Hopper,
›Room in Brooklyn‹, 1932 (Ausschnitt)
Alle deutschen Rechte vorbehalten
Copyright © 2013
Diogenes Verlag AG Zürich
www.diogenes.ch
ISBN Buchausgabe 978 3 257 24225 6 (1. Auflage)
ISBN E-Book 978 3 257 60212 8
Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.
[5] Für Elizabeth Ames
[7] Erster Teil
Es geschah in jenem grünen und verrückten Sommer, als Frankie zwölf Jahre alt war. Es war der Sommer, als sie ganz allein war. Sie gehörte zu keinem Klub noch zu sonst was auf der Welt. Frankie gehörte zu niemandem, trieb sich in der Stadt herum und fürchtete sich. Im Juni waren die Bäume so strahlend grün, dass es einem schwindelte. Später wurden die Blätter dunkel, und die Stadt lag schwarz und wie geschrumpft in der grellen Sonne. Anfangs ging Frankie ziellos umher und tat, was ihr gerade einfiel. Frühmorgens und nachts waren die Trottoirs in der Stadt ganz grau, aber in der Mittagssonne glitzerte der erhitzte Zement wie Glas. Schließlich wurde das Trottoir zu heiß für Frankies Füße, und außerdem brachte sie sich selbst in Schwierigkeiten. Also beschloss sie, dass es besser war, zu Hause zu bleiben – und zu Hause gab es niemanden außer Berenice Sadie Brown und John Henry West. Die drei saßen um den Küchentisch und sagten wieder und wieder dasselbe, und [8] als der August kam, begannen die Wörter sich zu reimen und seltsam zu klingen. Jeden Nachmittag schien die Welt zu sterben, nichts bewegte sich mehr. Zuletzt glich der Sommer einem kranken grünen Traum, einem verrückten Dschungel unter einer großen Glasglocke, die jedes Geräusch erstickte. Und dann, am letzten Freitag im August, wurde alles anders – und zwar so plötzlich, dass Frankie den ganzen langen Nachmittag daran herumrätselte und am Ende doch nichts begriff.
»Es ist so seltsam«, sagte sie, »wie das alles passiert ist.«
»Passiert? Was ist passiert?«, sagte Berenice.
John Henry hörte zu und beobachtete die beiden stumm.
»Noch nie hab ich mich so gewundert.«
»Gewundert? Worüber denn?«
»Über alles«, sagte Frankie.
»Ich glaube, die Sonne hat dein Gehirn verbrannt«, sagte Berenice.
»Ich auch«, flüsterte John Henry.
Selbst Frankie glaubte es fast. Es war vier Uhr nachmittags, und die Küche war grau und still. Frankie saß am Tisch mit halb geschlossenen Augen, und malte sich eine Hochzeit aus. Sie sah eine schweigende Kirche und seltsame Schneeflocken, die schräg gegen die bunten Fenster fielen. [9] Der Bräutigam war ihr Bruder. Wo sein Gesicht hätte sein sollen, war helles Licht. Die Braut trug eine lange weiße Schleppe, und auch sie hatte kein Gesicht. Es war da etwas an dieser Hochzeit, was Frankie zwar fühlte, aber nicht beschreiben konnte.
»Sieh mich mal an«, sagte Berenice. »Eifersüchtig?«
»Eifersüchtig? Wieso?«
»Weil dein Bruder jetzt heiraten will?«
»Nein«, sagte Frankie. »Ich hab nur noch nie zwei Leute wie die beiden gesehen. Und wie sie heute ins Haus kamen, das war so merkwürdig.«
»Du bist doch eifersüchtig«, sagte Berenice. »Schau mal in den Spiegel. Ich seh’s an der Farbe deiner Augen.«
Über dem Spülbecken hing ein angelaufener Küchenspiegel. Frankie schaute hinein, aber ihre Augen waren grau wie immer. Sie war diesen Sommer so hoch aufgeschossen, dass sie fast aussah wie eine Witzfigur – mit den schmalen Schultern und den viel zu langen Beinen. Sie trug kurze blaue Hosen, ein Unterhemd und war barfuß. Die Haare trug sie wie ein Junge, aber sie waren schon lange nicht mehr geschnitten worden und nicht einmal gescheitelt. Ihr Spiegelbild war ganz verzerrt, aber Frankie wusste genau, wie sie aussah. Sie zog die linke Schulter hoch und sah weg.
[10] »Ach«, seufzte sie. »Noch nie habe ich zwei so hübsche Menschen gesehen. Ich kann gar nicht begreifen, wie das alles gekommen ist.«
»Was denn, du Dummchen?«, sagte Berenice. »Dein Bruder ist zu Besuch gekommen mit dem Mädchen, das er heiraten will; und die beiden haben heut mit dir und deinem Daddy zu Mittag gegessen. Und nächsten Sonntag wollen sie in ihrem Haus in Winter Hill heiraten, und du wirst mit deinem Daddy zur Hochzeit fahren. Das ist alles, die ganze Geschichte von A bis Z. Also sag schon, was ist los mit dir?«
»Ich weiß es nicht«, sagte Frankie. »Ich wette, die beiden haben viel Spaß miteinander.«
»Dann lass uns doch auch Spaß haben«, sagte John Henry.
»Wir?«, fragte Frankie. »Wieso wir?«
Dann saßen alle drei wieder am Tisch, und Berenice gab die Karten für ein ›Bridge zu dritt‹. So weit Frankie zurückdenken konnte, war Berenice ihre Köchin gewesen. Sie war sehr schwarz, breitschultrig und klein. Sie sagte immer, sie wäre fünfunddreißig, aber das sagte sie schon seit über drei Jahren. Ihr gescheiteltes und geflochtenes Haar klebte ölig am Kopf, und sie hatte ein breites, ruhiges Gesicht. Nur eines stimmte nicht bei Berenice: Ihr linkes Auge war aus leuchtend blauem Glas. Es [11] blickte starr und wild aus ihrem ruhigen, dunklen Gesicht, und kein Mensch hatte je begriffen, warum sie sich gerade ein blaues Auge gewünscht hatte. Das rechte Auge war braun und traurig. Berenice beeilte sich nicht beim Geben, und immer, wenn die schwitzigen Karten aneinanderklebten, leckte sie ihren Daumen. John Henry betrachtete jede einzelne Karte aufmerksam. Seine nackte Brust war weiß und feucht, und um den Hals trug er einen winzigen Esel aus Blei an einer Schnur. Er war Frankies Cousin. Den ganzen Sommer lang aß er mit ihr zu Mittag und blieb den Tag über da, oder er aß mit ihr zu Abend und blieb über Nacht. Sie brachte ihn einfach nicht dazu, nach Hause zu gehen. Für seine sechs Jahre war er sehr klein, aber er hatte die dicksten Knie, die Frankie je gesehen hatte; und eines hatte immer eine Schramme oder einen Verband, weil er ständig hinfiel. John Henry hatte ein ernstes weißes Gesichtchen und trug eine winzige goldgeränderte Brille. Er studierte die Karten so genau, weil er Spielschulden hatte; er schuldete Berenice über fünf Millionen Dollar.
»Ich sage Herz«, sagte Berenice.
»Pik«, sagte Frankie.
»Ich wollte auch gerade Pik sagen«, meinte John Henry.
»Pech gehabt. Ich hab’s zuerst gesagt.«
[12] »Blöde Kuh!«, rief er. »Das gilt nicht!«
»Psst, keinen Streit!«, sagte Berenice. »Um die Wahrheit zu sagen, ich glaube, ihr könnt beide nicht an gegen mich mit euren Karten. Ich sage zwei Herz.«
»Mach doch«, sagte Frankie. »Mir ist das alles ganz egal.«
Und genauso war es; denn an diesem Nachmittag spielte sie genauso schlecht wie John Henry und warf wahllos irgendwelche Karten hin. So saßen sie beisammen in der Küche, und die Küche war traurig und hässlich. John Henry hatte die Wände mit kindischen Krakeleien bedeckt, so hoch er mit seinem Arm reichen konnte. Deshalb sah es in der Küche aus wie in einem Irrenhaus. Und nun machte die alte Küche Frankie ganz krank. Sie fand keine Worte für das, was ihr geschehen war; sie fühlte nur, wie ihr eingezwängtes Herz gegen die Tischkante schlug. »Die Welt ist sicher sehr klein«, sagte sie.
»Wie meinst du das?«
»Ich meine – schnell«, sagte Frankie. »Die Welt ist sicher sehr schnell.«
»Das weiß ich nicht«, sagte Berenice. »Manchmal schnell und manchmal langsam.«
Frankies Augen waren halb geschlossen, und sie hörte ihre eigene Stimme wie von fern.
[13] »Ich finde sie schnell.«
Bis gestern hatte Frankie sich noch keine Gedanken über die Hochzeit gemacht. Sie wusste nur, dass Jarvis, ihr einziger Bruder, heiraten würde. Er hatte sich vor seiner Reise nach Alaska mit einem Mädchen in Winter Hill verlobt. Jarvis diente als Unteroffizier in der Armee und war fast zwei Jahre in Alaska geblieben. Frankie hatte ihren Bruder lange nicht gesehen. In ihrer Erinnerung verschwammen und verzerrten sich seine Züge wie unter Wasser. Aber Alaska! Dauernd träumte Frankie davon und sah es klar und deutlich vor sich, vor allem in diesem Sommer. Sie sah den Schnee, die Eisbänke und Gletscher, Eskimoiglus, Eisbären und das herrliche Nordlicht. Als Jarvis nach Alaska ging, hatte sie ihm eine Schachtel mit selbstgemachtem Nougat geschickt und vorher jeden einzelnen Bonbon sorgfältig in Wachspapier eingewickelt. Sie fand den Gedanken aufregend, dass man ihr Nougat in Alaska essen würde; und sie stellte sich vor, wie ihr Bruder es unter den pelzbekleideten Eskimos herumreichte. Drei Monate später kam ein Dankesbrief von Jarvis mit einer Fünfdollarnote. Eine Zeitlang schickte sie ihm fast jede Woche Bonbons, manchmal Drops statt Nougat; aber Jarvis schickte ihr nie wieder einen Dollarschein, außer zu Weihnachten. Manchmal [14] beunruhigten seine kurzen Briefe an ihren Vater sie ein wenig. Zum Beispiel hatte er diesen Sommer einmal erwähnt, er sei schwimmen gegangen und die Mücken hätten ihn fürchterlich gestochen. Der Brief hatte ihr Traumbild erschüttert; aber nach ein paar Tagen der Verwirrung hatte sie zu ihren Schneefeldern und Eisbänken zurückgefunden.
Als Jarvis aus Alaska zurückkam, ging er gleich nach Winter Hill. Seine Braut hieß Janice Williams, und die Hochzeit war folgendermaßen geplant: Ihr Bruder hatte telegraphiert, dass er mit seiner Braut am Freitag ankommen und einen Tag bleiben würde; die Hochzeit sollte am Sonntag drauf in Winter Hill gefeiert werden. Frankie und ihr Vater sollten auch kommen. Es waren fast 150 Kilometer bis Winter Hill, und Frankie hatte schon ihren Koffer für die Reise gepackt. Sie freute sich auf ihren Bruder und auf die Braut, konnte sich aber nicht recht vorstellen, wie sie aussahen, und dachte auch nie an die Hochzeit. So sagte sie dann am Tag vor dem Besuch zu Berenice:
»Ist das kein komischer Zufall, dass Jarvis nach Alaska fahren musste und dass seine Braut aus einem Ort stammt, der Winter Hill heißt? Winter Hill«, wiederholte sie langsam mit geschlossenen Augen, und der Name verschmolz mit dem [15] Alaska und dem kalten Schnee ihrer Träume. »Ich wünschte, morgen wär Sonntag statt Freitag, und ich wär schon fort von hier.«
»Der Sonntag kommt schon noch«, sagte Berenice.
»Ich weiß nicht«, sagte Frankie. »Ich möchte schon so lang weg aus dieser Stadt. Hoffentlich muss ich nach der Hochzeit nicht wieder zurück. Ich möchte woanders hingehen, für immer. Ich wünsche mir hundert Dollar, dann könnte ich einfach abhauen und müsste diese Stadt nie wiederzusehen.«
»Ich finde, du hast eine Menge Wünsche«, sagte Berenice.
»Ich wünsche mir, jemand anderes zu sein.«
So war denn der Nachmittag, bevor es passierte, genauso wie all die anderen Nachmittage in diesem August. Frankie hatte in der Küche herumgelungert; und als es dunkel wurde, ging sie langsam in den Hof. Die kleine Laube hinter dem Haus sah in der Dämmerung purpurrot aus. Auf einem Korbstuhl saß dort John Henry West, mit übergeschlagenen Beinen, die Hände in den Taschen.
»Was machst du da?«, fragte sie.
»Ich denke nach.«
»Worüber?«
[16] Er gab keine Antwort.
Frankie war in diesem Sommer so groß geworden, dass sie nicht mehr wie früher in der Laube stehen konnte. Andere Kinder von zwölf Jahren konnten aufrecht drinnen herumgehen und sich amüsieren – sogar erwachsene Damen von kleiner Statur. Aber Frankie war zu groß; sie musste draußen bleiben und konnte nur hineinspähen, genau wie die Erwachsenen. Sie starrte auf das dunkle Gewirr der Weinblätter und atmete den Geruch von Staub und zerdrückten Beeren ein. Und wie sie so vor der Laube stand und es dunkel werden fühlte, fürchtete sie sich. Sie wusste nicht, warum; sie spürte nur, dass sie Angst hatte.
»Weißt du was? Bleib doch hier zum Abendessen und übernachte bei mir.«
John Henry zog seine Kinderuhr aus der Tasche, als ob es von der Uhrzeit abhinge, ob er bleiben wolle oder nicht. Es war aber schon so dunkel, dass er die Ziffern nicht erkennen konnte.
»Geh schnell nach Hause und sag Tante Pet Bescheid. Dann treffen wir uns in der Küche.«
»In Ordnung.«
Sie hatte Angst. Der Abendhimmel war fahl und leer, und das erleuchtete Küchenfenster schnitt ein gelbes Viereck in den dunklen Hof. Ihr fiel ein, dass sie als kleines Kind geglaubt hatte, es wohnten [17] drei Geister in dem Kohlenkeller und einer von ihnen trüge einen silbernen Ring.
Rasch lief sie die Treppe hinauf und rief: »Ich habe John Henry eingeladen. Er soll mit mir essen und die Nacht über hierbleiben.«
Berenice, die gerade einen Kuchenteig knetete, ließ ihn auf die mehlige Tischplatte fallen. »Ich dachte, du hast schon längst genug von ihm.«
»Das hab ich auch«, sagte Frankie, »aber ich glaube, er hat Angst.«
»Angst wovor?«
Frankie schüttelte den Kopf. »Vielleicht meine ich eigentlich, dass er einsam ist.«
»Gut, dann werde ich etwas Kuchenteig für ihn aufheben.«
Nach dem dunklen Hof war es in der Küche warm und hell und irgendwie seltsam. Die kindischen Zeichnungen von Weihnachtsbäumen, Flugzeugen, windschiefen Soldaten und Blumen beunruhigten sie. John Henry hatte im Juni damit angefangen, an einem endlos langen Nachmittag. Und als die eine Wand vollgeschmiert war, hatte er seine Kritzeleien überall angebracht, wo’s ihm gerade passte. Manchmal hatte Frankie mitgemacht. Zuerst hatte ihr Vater sich über die verschmierten Wände geärgert; aber dann sagte er, sie dürften alles zeichnen, was ihnen einfiele; im Herbst würde [18] er die Küche streichen lassen. Aber der Sommer nahm kein Ende, und die Kritzeleien fingen an, Frankie zu beunruhigen. An diesem Abend kam ihr die Küche fremd vor, und sie fürchtete sich.
Sie stand in der Tür und sagte: »Ich dachte, ich sollte ihn mal wieder einladen.«
So kam John Henry denn angezottelt mit seinem kleinen Handköfferchen. Er hatte seinen weißen Sonntagsanzug an und Socken und Schuhe. An seinem Gürtel hing ein Dolch.
John Henry hatte schon mal Schnee gesehen. Denn obwohl er erst sechs Jahre alt war, war er im letzten Winter in Birmingham gewesen. Und dort hatte er Schnee gesehen. Frankie hatte noch nie Schnee gesehen.
»Gib mir den Koffer«, sagte Frankie, »du kannst gleich anfangen, einen Kuchenmann zu machen.«
»O. K.«
John Henry spielte nicht mit dem Teig, sondern bearbeitete ihn mit großer Ernsthaftigkeit. Hin und wieder hielt er inne, schob die Brille mit seiner kleinen Hand zurecht und prüfte sein Werk wie ein Uhrmacher. Er kniete auf seinem Stuhl, um besser arbeiten zu können. Als Berenice ihm eine Handvoll Rosinen gab, steckte er sie nicht alle irgendwie in den Teig, wie es jedes andere Kind getan hätte, sondern nahm nur zwei heraus für die Augen. Er merkte [19] sofort, dass sie zu groß waren, teilte eine Rosine vorsichtig in zwei Hälften und setzte sie als Augen ein. Zwei weitere Stückchen nahm er für die Nase und den winzigen grinsenden Mund. Dann wischte er seine Hände am Hosenboden ab, und der kleine Kuchenmann mit zehn einzelnen Fingern, Hut und Stock war fertig. John Henry hatte so heftig geknetet, dass der Teig grau und feucht geworden war. Aber der Kuchenmann sah perfekt aus, und Frankie fand, er habe Ähnlichkeit mit John Henry.
»So, jetzt kümmere ich mich um dich«, sagte sie.
Sie aßen mit Berenice in der Küche zu Abend, da ihr Vater am Telefon gesagt hatte, er müsse heute länger arbeiten. Als Berenice den Kuchenmann aus dem Ofen holte, sah er genauso aus wie die Kuchenmänner aller anderen Kinder: Er war stark aufgegangen, die Finger waren verklumpt, und der Stock sah aus wie ein Schwanz. Aber John Henry gönnte dem Männchen nur einen kurzen Blick durch die Brille, wischte es mit der Serviette ab und bestrich den linken Fuß mit Butter.
Es war eine dunkle, heiße Augustnacht. Das Radio im Esszimmer spielte mehrere Sender auf einmal: Kriegsberichte kreuzten sich mit Reklame, und im Hintergrund dudelte billige Tanzmusik. Da das Radio den ganzen Sommer lang angestellt war, hatten sie sich schließlich daran gewöhnt. Nur [20] wenn das Geräusch so laut wurde, dass sie einander nicht mehr hören konnten, stellte Frankie es etwas leiser. Meist aber sangen, spielten und redeten die Instrumente und Stimmen hemmungslos durcheinander; und als der August da war, hörten sie überhaupt nicht mehr hin.
»Was willst du machen?«, fragte Frankie. »Soll ich dir aus ›Hans Brinker‹ vorlesen, oder willst du lieber was anderes machen?«
»Lieber was anderes.«
»Und was?«
»Draußen spielen.«
»Dazu hab ich keine Lust«, sagte Frankie.
»Die anderen sind alle draußen.«
»Du hast mich schon verstanden«, sagte Frankie. »Du hast doch Ohren.«
John Henry stand da, drückte seine dicken Knie aneinander und sagte schließlich: »Ich möchte lieber nach Hause gehn.«
»Aber du bist zum Übernachten hergekommen? Du kannst nicht einfach hier essen und dann wieder weglaufen!«
»Ich weiß«, sagte er ruhig. Trotz des Radios hörten sie die Stimmen der Kinder, die draußen in der Nacht spielten.
»Komm, Frankie, lass uns rausgehen. Die haben so viel Spaß.«
[21] »Haben sie gar nicht!«, sagte Frankie. »Die sind bloß doof und hässlich. Sie können nur rennen und schreien, und schreien und rennen. Todlangweilig. Lass uns raufgehen und deinen Koffer auspacken.«
Frankies Zimmer war eine Art Schlafveranda, die auf das Haus gebaut war, eine Treppe führte von der Küche hinauf. Ein eisernes Bett, eine Kommode und ein Schreibtisch waren die einzigen Möbel. Es gab auch einen Motor, den man an- und abstellen konnte. Man konnte damit Messer schleifen und auch Fingernägel, wenn sie lang genug waren. An der Wand stand der fertiggepackte Koffer für die Fahrt nach Winter Hill. Auf dem Tisch stand eine uralte Schreibmaschine. Frankie setzte sich davor und überlegte, wem sie wohl einen Brief schreiben könnte; aber ihr fiel niemand ein, da sie längst alle Briefe beantwortet hatte – einige sogar mehrmals. Frankie deckte die Maschine mit ihrem Regenmantel zu und schob sie beiseite.
»Sag mal ehrlich«, meinte John Henry, »soll ich nicht lieber nach Hause gehen?«
»Nein«, sagte sie, ohne sich nach ihm umzusehen. »Setz dich da in die Ecke und spiel mit dem Motor.«
Vor Frankie lagen jetzt zwei Dinge: eine bläuliche Seemuschel und eine gläserne Schneekugel. Wenn man sie schüttelte, wirbelten die Flocken [22] in ihrem Inneren durcheinander. Und wenn sich Frankie die Muschel ans Ohr hielt, konnte sie das warme Rauschen des Golfs von Mexiko hören und dachte an eine ferne grüne Palmeninsel. Sie konnte aber auch die Kugel ganz dicht vor die Augen halten und so lange in den Schneesturm starren, bis sie ganz geblendet war. Sie träumte von Alaska. Sie stieg einen kalten weißen Hügel hinauf und sah tief unten eine große Schneewüste. Sie sah, wie das Eis bunt in der Sonne glitzerte, hörte Traumstimmen und sah Traumdinge – überall lag kalter, weißer, weicher Schnee.
»Schau doch mal«, sagte John Henry, der aus dem Fenster sah. »Ich glaube, die großen Mädchen feiern eine Party im Klubhaus.«
»Halt den Mund!«, rief Frankie heftig. »Von diesen Gänsen will ich nichts hören.«
Es gab in der Tat ein Klubhaus in der Nachbarschaft, aber Frankie gehörte nicht zu den Mitgliedern. Die Mitglieder waren Mädchen von dreizehn und vierzehn Jahren, einige waren sogar schon fünfzehn. Jeden Samstagabend gab es dort eine Party, zu der auch Jungen eingeladen wurden. Frankie kannte alle Mädchen und war bis zum Sommer oft mit ihnen zusammen gewesen. Jetzt aber hatten sie diesen Klub, und Frankie war nicht aufgenommen worden. Man hatte ihr gesagt, sie sei [23] zu klein und zu langweilig. Jeden Samstagabend konnte sie die grässliche Musik hören und von weitem die hellen Fenster sehen. Manchmal ging sie bis zum Weg hinter dem Klubhaus und blieb an einer Geißblatthecke stehen. Die Partys dauerten immer sehr lange.
»Vielleicht überlegen sie es sich ja noch anders und laden dich ein«, sagte John Henry.
»Die dummen Biester!«
Frankie schniefte und wischte sich die Nase an ihrem Arm ab. Sie setzte sich auf die Bettkante, die Schultern gebeugt und die Ellbogen auf den Knien.
»Ich glaube, sie erzählen in der ganzen Stadt herum, dass ich schlecht rieche«, sagte sie. »Als ich diese Furunkel hatte und sie mit der schwarzen Salbe behandeln musste, die so bitter roch, da fragte mich Helen Fletcher, was das für ein komischer Geruch sei. Am liebsten würde ich sie alle mit der Pistole erschießen!«
Sie hörte, wie John Henry an ihr Bett kam. Dann fühlte sie, wie seine kleine Hand ihr den Hals tätschelte. »Ich finde nicht, dass du schlecht riechst«, sagte er. »Du riechst sogar sehr gut.«
»Die dummen Biester!«, sagte sie noch einmal. »Und außerdem erzählen sie gemeine Lügen über verheiratete Leute. Wenn ich an Tante Pet und Onkel Ustace denke! Oder an meinen eigenen Vater! [24] Ganz gemeinen Lügen! Ich würde zu gern wissen, was sie eigentlich von mir halten.«
»Ich merk sofort, wenn du ins Haus kommst, und brauch gar nicht hinsehen, ob du’s wirklich bist. Du riechst wie hundert Blumen.«
»Ist mir gleich«, sagte sie, »völlig gleich.«
»Wie tausend Blumen.« John Henry tätschelte immer noch ihren Nacken mit seiner klebrigen Hand.
Frankie richtete sich auf, leckte sich die Tränen vom Mund und wischte sich das Gesicht mit dem Hemdzipfel ab. Sie saß ganz still und prüfte mit weiten Nasenlöchern ihren eigenen Geruch. Dann ging sie an ihren Koffer und nahm eine Flasche Maiglöckchenparfüm heraus. Sie rieb sich ein paar Tropfen ins Haar und träufelte sich ein paar weitere Tropfen in den Nacken.
»Willst du auch was?«
John Henry hockte neben dem offenen Koffer; er schauerte leicht, als sie das Parfüm über ihn goss. Er wollte in ihrem Koffer herumstöbern und sich alles sorgfältig ansehen. Aber Frankie wollte nicht, dass er genau wusste, was sie besaß und was nicht. Er sollte nur einen allgemeinen Eindruck davon bekommen. Also verschloss sie den Koffer wieder und stellte ihn an die Wand.
»Junge, Junge!«, sagte sie. »Wetten, dass ich mehr Parfüm brauche als sonst wer in der Stadt?«
[25] Im Haus war es still, nur das Radio unten im Esszimmer spielte leise vor sich hin. Ihr Vater war längst nach Hause gekommen, und Berenice hatte die Hintertür zugeschlossen und war fortgegangen. Die Stimmen der Kinder in der Sommernacht waren verstummt.
»Lass uns was Lustiges machen«, sagte Frankie.
Es gab aber nichts zu machen. John Henry stand mit zusammengedrückten Knien, die Hände hinterm Rücken, mitten im Zimmer. Ein paar Nachtfalter, blassgrün und gelb, flatterten draußen vor dem Fenster, und stießen immer wieder mit ihren Flügeln gegen die Scheibe.
»Die schönen Schmetterlinge«, sagte er. »Sie möchten gern reinkommen.«
Frankie beobachtete, wie die Falter sich schwirrend an das Fenster drückten. Sie kamen jeden Abend, wenn sie die Lampe auf dem Schreibpult andrehte. Sie tauchten aus der Augustnacht auf, flatterten hin und her und schmiegten sich an das Glas.
»Ironie des Schicksals, dass sie gerade hierherkommen«, sagte sie. »Sie können überall hinfliegen, aber sie kommen nicht von diesem Fenster weg.«
John Henry fasste an den Goldrand seiner Brille, um sie auf der Nase zurechtzurücken; und [26] Frankie betrachtete sein kleines sommersprossiges Gesicht.
»Nimm die Brille ab«, sagte sie plötzlich.
John Henry nahm sie ab und pustete auf die Gläser. Frankie sah durch sie hindurch, und das Zimmer schwankte und verschwamm vor ihren Augen. Dann schob sie ihren Stuhl zurück und starrte John Henry an. Zwei feuchte blasse Ringe lagen um seine Augen.
»Wetten, dass du die Brille gar nicht brauchst?«, sagte sie. Sie legte die Hand auf die Schreibmaschine. »Was ist das?«
»Die Schreibmaschine«, sagte er.
Frankie hob die Muschel hoch. »Und das?«
»Die Muschel aus der Bucht.«
»Und was ist das kleine Ding da, das auf dem Boden herumkrabbelt?«
»Wo?«, fragte er und sah sich suchend um.
»Das kleine krabbelnde Ding da neben deinem Fuß.«
»Oh«, sagte er und hockte sich hin. »Das ist ja eine Ameise. Wie ist die denn reingekommen?«
Frankie kippte ihren Stuhl nach hinten und legte die nackten Füße überkreuz auf die Tischplatte. »Wenn ich du wäre, würde ich die Brille einfach wegwerfen«, sagte sie. »Du siehst genauso gut wie alle andern.«
[27] John Henry antwortete nicht.
»Außerdem steht sie dir gar nicht.«
Sie gab ihm die zusammengelegte Brille zurück. Er putzte sie mit seinem Brillenlappen aus rosa Flanell ab und setzte sie wortlos wieder auf.
»O. K.«, sagte sie, »ganz wie du willst. Ich mein’s ja nur gut mit dir.«
Dann gingen sie zu Bett. Sie zogen sich aus, die Rücken einander zugekehrt. Frankie stellte den Motor ab und drehte das Licht aus. John Henry kniete nieder, um sein Gebet zu sagen. Er betete lange und flüsternd. Dann legte er sich neben sie.
»Gute Nacht«, sagte sie.
»Gute Nacht.«
Frankie starrte ins Dunkel. »Weißt du, ich kann mir immer noch nicht recht vorstellen, dass sich die Erde mit ungefähr fünfzehnhundert Kilometern die Stunde um die Sonne dreht.«
»Ich weiß«, sagte er.
»Und wenn man in die Luft springt, warum man dann nicht in Fairview wieder runterkommt oder in Selma oder sonst wo fünfzig Kilometer entfernt von hier.«
John Henry drehte sich auf die andere Seite und gähnte schläfrig.
»Oder in Winter Hill«, sagte sie. »Ich würde so gern jetzt gleich nach Winter Hill fahren.«
[28] John Henry schlief bereits. Sie hörte seinen Atem in der Dunkelheit. Den ganzen Sommer über hatte sie sich gewünscht, jemand schliefe neben ihr in ihrem Bett. Sie lag im Dunkeln und lauschte seinem Atem; nach einer Weile stützte sie sich mit den Ellbogen auf. Er lag klein und sommersprossig im Mondlicht, mit nackter weißer Brust, ein Fuß hing aus dem Bett. Vorsichtig legte sie ihm ihre Hand auf den Bauch und rückte näher an ihn heran. Es fühlte sich an, als ob eine kleine Uhr in ihm tickte, und er roch nach Schweiß und Parfüm – wie eine kleine säuerliche Rose. Frankie beugte sich über ihn und leckte ihn hinterm Ohr. Dann atmete sie tief ein, legte ihr Kinn auf seine magere feuchte Schulter und schloss die Augen: Jetzt, wo jemand neben ihr im Dunkeln schlief, hatte sie weniger Angst.
Am nächsten Morgen weckte die weiße Augustsonne sie in aller Frühe. Frankie konnte John Henry nicht dazu bringen, nach Hause zu gehen. Er sah, dass Berenice einen Schinken kochte und ein besonders gutes Mittagessen vorbereitete. Frankies Vater las die Zeitung im Wohnzimmer und ging dann in die Stadt, um die Uhren in seinem Juwelierladen aufzuziehen.
»Wenn mein Bruder mir kein Geschenk mitbringt aus Alaska, werd ich wirklich wütend«, sagte Frankie.
[29] »Ich auch«, erklärte John Henry.
Und was taten die beiden an jenem Augustmorgen, als ihr Bruder und die Braut nach Hause kamen? Sie saßen in der Laube und sprachen von Weihnachten. Die Sonne schien heiß und grell, und die lichttrunkenen Blauhäher schrien und flogen hintereinander her. Sie sagten immer wieder dasselbe; und ihre Stimmen klangen müde und leise. Sie dösten im dunklen Schatten der Laube; und Frankie vergaß, dass sie je über die Hochzeit nachgedacht hatte. So stand es um die beiden an diesem Augustmorgen, als ihr Bruder mit seiner Braut das Haus betrat. –
»Du lieber Gott!«, sagte Frankie. Die fettigen Spielkarten lagen auf dem Tisch, es war Nachmittag geworden, und die Sonne schien schräg in den Hof. »Die Welt ist sicher sehr schnell.«
»Nun hör schon auf damit«, sagte Berenice. »Du bist gar nicht bei der Sache.«
Frankie passte aber doch auf. Sie spielte die Pik-Dame, und John Henry warf die Karo-Zwei ab. Sie sah ihn an. Er starrte auf ihren Handrücken, als könnte er um die Ecke sehen und ihre Karten entziffern.
»Du hast doch Pik«, sagte Frankie.
John Henry nahm seine Kette mit dem kleinen Bleiesel in den Mund und sah weg.
[30] »Schummler«, sagte sie.
»Los! Spiel dein Pik«, sagte Berenice.
Er verteidigte sich: »Es war hinter die andere Karte gerutscht.«
»Schummler!«
Aber er wollte nicht spielen, sondern saß traurig da und hielt die andern auf.
»Los, mach schon!«, sagte Berenice.
»Ich kann nicht«, sagte er schließlich. »Es ist ein Bube. Mein einziges Pik ist ein Bube. Ich will nicht, dass Frankie ihn mit der Dame nimmt, ich werde ihn nicht spielen.«
Frankie warf ihre Karten auf den Tisch. »Da hast du’s«, sagte sie zu Berenice, »nicht mal die einfachste Regel begreift er. Er ist halt ein Kind, ein hoffnungsloser Fall, einfach hoffnungslos!«
»Schon möglich«, sagte Berenice.
»Ach«, sagte Frankie, »ich möchte sterben, so satt hab ich das alles.«
Sie stützte ihre nackten Füße auf die Querleiste ihres Stuhles, hielt die Augen geschlossen und lehnte sich mit der Brust gegen die Tischkante. Die schmierigen roten Karten lagen durcheinander auf dem Tisch; ihr bloßer Anblick machte Frankie krank. Jeden Nachmittag hatten sie nach Tisch Karten gespielt: Hätte jemand diese alten Karten essen wollen, so hätten sie nach sämtlichen [31] Mahlzeiten in diesem August geschmeckt, mit einem Nachgeschmack von schweißigen Händen. Frankie fegte die Karten vom Tisch. Die Hochzeit würde strahlend und herrlich wie Schnee sein, aber ihr Herz war müde und wie zerdrückt. Sie stand auf.
»Jeder weiß doch, dass Leute mit grauen Augen eifersüchtig sind.«
»Ich hab dir schon mal gesagt, dass ich nicht eifersüchtig bin«, sagte Frankie und lief in der Küche auf und ab. »Ich könnte auf keinen allein eifersüchtig sein, sondern nur auf beide; denn für mich gehören sie nun mal zusammen.«
»Ich war eifersüchtig, als mein Stiefbruder heiratete«, sagte Berenice. »Als John Clorina heiratete, ließ ich ihr sagen, ich würd ihr die Ohren abreißen, das geb ich zu, aber wie du siehst, hab ich’s nicht getan, und Clorina hat immer noch Ohren wie alle anderen. Und jetzt lieb ich sie sogar.«
»J-A«, sagte Frankie; »Janice und Jarvis. Ist das nicht seltsam?«
»Was denn?«
»J-A«, wiederholte sie. »Beide Namen beginnen mit J-A.«
»Na und?«
Frankie lief immer wieder um den Küchentisch herum. »Wenn ich doch nur Jane hieße«, sagte sie; »Jane oder Jasmine.«
[32] »Ich versteh kein Wort«, sagte Berenice.
»Jarvis und Janice und Jasmine. Verstehst du jetzt?«
»Nein«, sagte Berenice. »Übrigens habe ich heute Morgen im Radio gehört, dass die Franzosen die Deutschen aus Paris jagen.«
»Paris«, wiederholte Frankie nachdenklich. »Ich wüsste zu gern, ob es verboten ist, dass man seinen Namen ändert oder was hinzutut.«
»Natürlich ist es verboten.«
»Dann ist es mir eben egal«, sagte sie. »F. Jasmine Addams.«
Auf der Treppe zu ihrem Zimmer lag eine Puppe. John Henry nahm sie hoch und schaukelte sie in seinen Armen. »Hast du sie mir wirklich geschenkt?«, fragte er. Er hob den Rock der Puppe hoch und befühlte die Unterhosen und das Hemdchen. »Ich nenne sie Belle.«
Frankie starrte die Puppe eine Minute lang an.
»Ich weiß wirklich nicht, wie Jarvis darauf gekommen ist, mir diese Puppe mitzubringen. Stell dir vor: ich – und eine Puppe! Janice hat mir erklärt, sie dachte, ich sei noch ein kleines Mädchen. Ich war so sicher, dass Jarvis mir was aus Alaska mitbringt.«
»Dein Gesicht, als du das Paket aufgemacht hast… das war schon was«, sagte Berenice.
[33] Es war eine große rothaarige Puppe mit Porzellanaugen, die auf- und zugingen und gelbe Wimpern hatten. Sie lag mit geschlossenen Augen in John Henrys Armen, und er versuchte, die Augen zu öffnen, indem er an den Wimpern zog.
»Lass das! Es macht mich ganz nervös. Nimm die Puppe weg, ich kann sie nicht mehr sehen.«
John Henry setzte sie neben die Hintertür, um sie später mit nach Hause zu nehmen.
»Sie heißt Lily Belle«, sagte er.
Die Uhr tickte langsam auf dem Bord über dem Ofen; es war erst Viertel vor sechs. Draußen war das Licht immer noch grell und gelb, und der Schatten unter der Laube war schwarz und dicht. Nichts regte sich. Ganz in der Ferne pfiff jemand eine traurige Melodie, die kein Ende nahm. Die Minuten dehnten sich.
Frankie ging zum Küchenspiegel und betrachtete ihr Gesicht. »Zu dumm, die Haare so kurz schneiden zu lassen. Für die Hochzeit wäre langes blondes Haar viel besser gewesen. Findest du nicht auch?«
Sie stand vorm Spiegel und hatte Angst. Der ganze Sommer war voller Angst gewesen für Frankie; und eine bestimmte Angst konnte sie sogar in Ziffern aufs Papier schreiben. Sie war in diesem August zwölf Jahre und zehn Monate alt [34] geworden. Sie war 1,67 m groß und trug Schuhgröße 40. Im vergangenen Jahr war sie 10