Paulo Coelho
Der Alchimist
Roman
Aus dem Brasilianischen von
Cordula Swoboda Herzog
Titel der 1988 bei Editora Rocco Ltda.,
Rio de Janeiro, erschienenen Originalausgabe:
›O Alquimista‹
Copyright © 1988 by Paulo Coelho
Mit freundlicher Genehmigung von
Sant Jordi Asociados, Barcelona, Spanien
Alle Rechte vorbehalten
Paulo Coelho: www.paulocoelho.com
Die deutsche Erstausgabe erschien 1993;
diese Übersetzung wurde für die
1996 im Diogenes Verlag erschienene
Ausgabe durchgesehen und ergänzt
Umschlagfoto von Pascal Maître
Copyright © Pascal Maître/Cosmos
Für J., der die Geheimnisse des Großen Werks kennt
und von ihnen Gebrauch macht
Alle deutschen Rechte vorbehalten
Copyright © 2013
Diogenes Verlag AG Zürich
www.diogenes.ch
ISBN Buchausgabe 978 3 257 23727 6 (8. Auflage)
ISBN E-Book 978 3 257 60252 4
Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.
[5] Als sie aber weiterzogen, kam er in ein Dorf. Da war eine Frau mit Namen Marta, die nahm ihn auf.
Und sie hatte eine Schwester, die hieß Maria; die setzte sich dem Herrn zu Füßen und hörte seiner Rede zu.
Marta aber machte sich viel zu schaffen, ihm zu dienen. Und sie trat hinzu und sprach: Herr, fragst du nicht danach, daß mich meine Schwester läßt allein dienen? Sage ihr doch, daß sie mir helfen soll!
Der Herr aber antwortete und sprach zu ihr: Marta, Marta, du hast viel Sorge und Mühe.
Eins aber ist not. Maria hat das gute Teil erwählt; das soll nicht von ihr genommen werden.
Lukas, 10: 38 – 42
[7] Prolog
Der Alchimist nahm ein Buch zur Hand, das jemand, der mit der Karawane gekommen war, mitgebracht hatte. Das Buch hatte keinen Einband, dennoch konnte er den Autor ausmachen: Oscar Wilde. Beim Durchblättern fand er eine Geschichte über Narziß. Natürlich war dem Alchimisten die Sage des schönen Jünglings Narziß bekannt, der jeden Tag seine Schönheit im Spiegelbild eines Teiches bewunderte. Er war so von sich fasziniert, daß er eines Tages das Gleichgewicht verlor und ertrank. An jener Stelle wuchs am Ufer eine Blume, die den Namen Narzisse erhielt. Doch Oscar Wilde beendete seine Geschichte anders. Er erzählt, daß nach dem Tod des Jünglings Oreaden erschienen, Waldfeen, die statt eines Teichs mit süßem Wasser einen Tümpel voll salziger Tränen vorfanden.
»Warum weinst du?« fragten die Feen.
»Ich trauere um Narziß«, antwortete der Teich.
»Oh, das überrascht uns nicht, denn obwohl wir alle hinter ihm herliefen, warst du doch der einzige, der seine betörende Schönheit aus nächster Nähe betrachten konnte.«
»War Narziß denn so schön?« verwunderte sich der See.
»Wer könnte das besser wissen als du?« antworteten die Waldfeen überrascht. »Schließlich hat er sich täglich über dein Ufer gebeugt, um sich zu spiegeln.«
Daraufhin schwieg der See eine Weile. Dann sagte er: »Zwar weine ich um Narziß, aber daß er so schön war, [8] hatte ich nie bemerkt. Ich weine um ihn, weil sich jedesmal, wenn er sich über meine Wasser beugte, meine eigene Schönheit in seinen Augen widerspiegelte.«
»Was für eine schöne Geschichte«, sagte der Alchimist.
[9] Erster Teil
1
Der Jüngling hieß Santiago. Es fing bereits an zu dämmern, als er mit seiner Schafherde zu einer alten, verlassenen Kirche kam. Das Dach war schon vor geraumer Zeit eingestürzt, und ein riesiger Feigenbaum wuchs an jener Stelle, an der sich einst die Sakristei befand.
Er entschloß sich, die Nacht hier zu verbringen. Er trieb alle Schafe durch die zerfallene Tür und legte einige Bretter so davor, daß ihm die Tiere während der Nacht nicht entwischen konnten. Zwar gab es keine Wölfe in jener Gegend, aber einmal war ihm eines der Tiere während der Nacht entkommen, und er hatte den ganzen folgenden Tag mit der Suche nach dem verirrten Schaf verbracht.
Dann breitete er seinen Mantel auf dem Fußboden aus, legte sich nieder und nahm das Buch, in dem er gerade gelesen hatte, als Kopfkissen. Vor dem Einschlafen überlegte er sich, daß er in Zukunft dickere Bücher lesen sollte, weil man länger etwas davon hatte und weil sie eine bequemere Kopfstütze abgaben.
Es war noch finster, als er erwachte. Als er nach oben schaute, sah er die Sterne zwischen den Dachbalken durchscheinen.
›Eigentlich wollte ich noch weiterschlafen‹, dachte er bei sich. Wieder hatte er den gleichen Traum gehabt wie [10] vor einer Woche, und wieder war er vor dessen Ende aufgewacht.
Er erhob sich und trank einen Schluck Wein. Dann nahm er seinen Hirtenstab und begann, die Schafe zu wecken, die alle noch schliefen. Ihm war aufgefallen, daß die meisten Tiere, wenn er aufwachte, ebenfalls wach wurden, als ob ein geheimnisvoller Gleichklang sein Leben mit dem der Schafe verband, die seit nunmehr zwei Jahren mit ihm auf der Suche nach Wasser und Nahrung übers Land gezogen waren.
›Sie haben sich schon so an mich gewöhnt, daß sie meinen Rhythmus kennen‹, dachte er. Aber nach kurzer Überlegung kam er zu dem Schluß, daß es auch umgekehrt sein könnte: Er selber hatte sich dem Rhythmus seiner Schafe angepaßt!
Einige unter den Tieren brauchten etwas länger zum Aufstehen. Der Jüngling weckte sie mit seinem Stab und rief dabei ein jedes bei seinem Namen. Er hatte immer schon geglaubt, daß die Schafe verstanden, was er sagte. Darum las er ihnen auch gelegentlich Abschnitte aus Büchern vor, die ihn besonders beeindruckten, oder er philosophierte über die Einsamkeit und die Freuden eines Schafhirten, oder er kommentierte die letzten Neuigkeiten, die er in den Orten erfahren hatte, durch die er zu ziehen pflegte.
Seit zwei Tagen jedoch sprach er beinahe nur noch über eines: die Kaufmannstochter, die in jener Kleinstadt lebte, welche sie in vier Tagen erreichen würden. Im letzten Jahr war er zum ersten Mal dort gewesen. Der Kaufmann war Tuchhändler und hatte darauf bestanden, daß die Schafe vor seinem Geschäft geschoren würden, um jeden Betrug zu [11] vermeiden. Ein Bekannter hatte den Laden empfohlen, und so brachte der Hirte seine Schafe jetzt dorthin.
2
»Ich muß Wolle verkaufen«, hatte er damals zum Kaufmann gesagt. Der Laden des Mannes war voll Kundschaft, so daß der Händler den Schäfer bat, sich bis zum späten Nachmittag zu gedulden. Dieser setzte sich auf den Gehsteig vor das Geschäft und nahm ein Buch aus seinem Rucksack.
»Ich wußte ja gar nicht, daß Hirten lesen können«, bemerkte eine weibliche Stimme an seiner Seite.
Sie war mit ihren langen schwarzen Haaren und den Augen, die vage an die maurischen Eroberer erinnerten, ein typisches Mädchen Andalusiens.
»Weil Schafe mehr lehren können als Bücher«, erwiderte der Jüngling.
Sie unterhielten sich über zwei Stunden lang angeregt. Das Mädchen sagte, sie sei die Tochter des Händlers, und erzählte vom Leben in ihrem Ort, wo ein Tag dem anderen glich. Der Schäfer seinerseits berichtete über die Landschaft Andalusiens und die Neuigkeiten aus den Ortschaften, die er besucht hatte. Er war glücklich, mit jemand anderem als mit den Schafen reden zu können.
»Wie hast du denn lesen gelernt?« wollte das Mädchen wissen.
[12] »In der Schule, wie alle anderen auch«, erwiderte der junge Mann.
»Aber wenn du doch lesen kannst, weshalb bist du dann nur ein einfacher Schafhirte geworden?«
Nun wurde der Jüngling verlegen, er wich der Frage aus, weil er überzeugt war, daß sie ihn nicht verstehen würde. Statt dessen berichtete er weiter von seinen Reisen, und die maurischen Augen wurden vor Staunen und Verblüffung bald groß und bald ganz schmal. Und während die Zeit dahinfloß, begann er im stillen zu hoffen, daß dieser Tag niemals enden möge, oder daß der Vater des Mädchens ihn noch weitere drei Tage warten ließe. Er verspürte zudem einen ihm bisher unbekannten Wunsch – den Wunsch, seßhaft zu werden. Mit dem Mädchen an seiner Seite würden die Tage gewiß nie langweilig werden.
Doch dann erschien der Kaufmann, hieß ihn vier Schafe scheren, gab ihm seinen Lohn und bat ihn, im kommenden Jahr wieder vorbeizuschauen.
3
Jetzt waren es nur noch vier Tagesreisen bis zu jener Ortschaft. Er war aufgeregt und zugleich verunsichert: Vielleicht hatte ihn das Mädchen ja längst vergessen, denn schließlich kamen viele Hirten hier vorbei, um Wolle zu verkaufen.
»Das wäre auch egal«, sagte der Jüngling laut zu seinen [13] Schafen, »schließlich kenne ich ja noch andere Mädchen in anderen Städten.«
Aber im Grunde seines Herzens wußte er sehr wohl, daß es ihm doch nicht egal war. Und daß sowohl Hirten als auch Matrosen oder Handlungsreisende immer irgendeinen Ort kannten, wo es jemanden gab, bei dem sie die Freude vergaßen, frei durch die Welt zu reisen.
4
Der Tag brach an, und der Hirte trieb seine Schafe in Richtung Sonnenaufgang.
›Die brauchen nie selber eine Entscheidung zu fällen‹, dachte er. ›Deshalb bleiben sie bei mir.‹
Das einzige Bedürfnis, das die Schafe hatten, war fressen und trinken. Solange er sie auf die sattesten Wiesen von Andalusien führte, würden sie seine Freunde sein. Selbst wenn ein Tag dem anderen glich, mit eintönigen Stunden, die sich zwischen Sonnenaufgang und -untergang dahinschleppten, selbst wenn sie in ihrem kurzen Leben nie ein Buch lesen und die Sprache der Menschen nie verstehen würden, die sich die Neuigkeiten aus den Ortschaften erzählten. Sie wären zufrieden mit Wasser und Nahrung, und das würde genügen. Als Gegenleistung würden sie großzügig ihre Gesellschaft bieten, ihre Wolle und manchmal sogar ihr Fleisch.
›Wenn ich mich plötzlich in eine Bestie verwandelte [14] und eines nach dem anderen abschlachtete, so würden sie es wohl erst bemerken, wenn ihre Herde schon so gut wie ausgerottet war‹, dachte der Jüngling. ›Denn sie vertrauen mir und vertrauen nicht länger auf ihren eigenen Instinkt. Nur, weil ich sie zu Nahrung und Wasser leite.‹
Der junge Mann wunderte sich über seine eigenen Gedanken. Vielleicht war diese alte Kirche mit dem Feigenbaum irgendwie verhext gewesen. Immerhin war sie daran schuld, daß er einen Traum zum zweiten Mal träumte, und mit einem Mal Wut gegenüber seinen so treuen Gefährten empfand. Er trank einen Schluck Wein, der noch vom Abendbrot übriggeblieben war, und zog den Mantel enger um sich. Es war ihm klar, daß es in einigen Stunden, wenn die Sonne senkrecht stand, zu heiß sein würde, um seine Schafe über die Felder zu führen. Es war die Tageszeit, in der im Sommer ganz Spanien Siesta machte. Die Hitze hielt bis in die Abendstunden an, und die ganze Zeit über mußte er seinen Mantel mitschleppen. Aber jedesmal, wenn er sich über die Last beklagen wollte, fiel ihm wieder ein, daß er es diesem verdankte, wenn er morgens nicht zu frieren brauchte.
›Auf die Launen des Wetters müssen wir immer vorbereitet sein‹, dachte er und freute sich über das Gewicht des Mantels.
So hatte sein Mantel einen Sinn, wie sein Leben auch einen hatte. Nach zwei Jahren kannte er nun schon alle Städte Andalusiens auswendig, und der große Sinn seines Lebens war: zu reisen. Er nahm sich vor, diesmal dem Mädchen zu erklären, warum ein einfacher Hirte lesen konnte: Bis zu seinem sechzehnten Lebensjahr hatte er eine [15] Klosterschule besucht. Seine Eltern wollten, daß er Priester würde, worauf eine einfache Bauernfamilie Grund hatte, stolz zu sein. Denn auch sie hatten bisher nur für Nahrung und Wasser gelebt, wie seine Schafe. So erhielt er Unterricht in Latein, Spanisch und Theologie. Aber seit seiner Kindheit träumte er davon, die weite Welt kennenzulernen, und das war ihm viel wichtiger, als Gott und die Sünden der Menschen kennenzulernen. Eines Nachmittags, als er seine Eltern besuchte, faßte er sich ein Herz und verkündete seinem Vater, daß er kein Priester werden, sondern reisen wolle.
5
»Menschen aus der ganzen Welt sind schon durch diesen Ort gekommen, mein Sohn«, sagte damals sein Vater. »Sie kommen auf der Suche nach neuen Dingen, aber sie bleiben dabei dieselben. Sie gehen auf den Hügel, um die Burg zu besichtigen, und glauben, daß die Vergangenheit besser war als die Gegenwart. Sie haben blonde Haare oder dunkle Haut, aber im Grunde sind sie alle so wie die Leute in unserem Ort.«
»Aber ich kenne nicht die Burgen in ihren Ländern«, entgegnete der Jüngling.
»Wenn sie unsere Gegend und unsere Frauen kennenlernen, dann sagen diese Männer, daß sie für immer hierbleiben möchten«, fuhr sein Vater fort.
[16] »Auch ich würde gerne die Frauen und die Länder kennenlernen, aus denen sie kommen«, bekannte der Jüngling. »Denn hierbleiben tun sie doch nie.«
»Diese Männer haben die Taschen voll Geld«, sagte wieder der Vater. »Bei uns reisen nur die Hirten.«
»Dann werde ich Hirte.«
Darauf entgegnete der Vater nichts mehr. Am folgenden Tag gab er ihm eine Geldbörse mit drei alten spanischen Goldmünzen.
»Ich habe sie vor längerer Zeit auf dem Feld gefunden. Es sollte eigentlich für deine Aufnahme in die Kirche dienen. Kaufe dir eine Herde davon und ziehe durch die Welt, bis du gelernt hast, daß unsere Burg das wichtigste ist und unsere Frauen die schönsten sind.« Und er gab ihm seinen Segen. In den Augen des Vaters konnte er auch den Wunsch lesen, in die weite Welt hinauszuziehen. Eine Sehnsucht, die in ihm fortlebte, trotz der Jahrzehnte, in denen er versucht hatte, sie über Wasser und Nahrung und einem festen Platz zum Schlafen zu vergessen.
6
Der Horizont färbte sich rot, und die Sonne ging auf. Der Jüngling erinnerte sich jetzt an diese Unterhaltung mit seinem Vater und fühlte sich glücklich; er hatte inzwischen schon viele Burgen und viele Frauen kennengelernt – aber keine wie jene, die ihn in einigen Tagen erwartete. Er besaß [17] einen Mantel, ein Buch, das er gegen ein anderes eintauschen konnte, und eine Schafherde. Das wichtigste aber war, daß er jeden Tag den Traum seines Lebens verwirklichen konnte: zu reisen. Wenn er die Weiten von Andalusien satt hätte, könnte er seine Schafe verkaufen und Seemann werden. Wenn er vom Meer genug hätte, könnte er all die Städte, die Frauen und all die Möglichkeiten zum Glücklichsein kennenlernen.
›Ich kann nicht verstehen, wie man Gott in einem Priesterseminar finden soll‹, dachte er, während er die aufgehende Sonne beobachtete. Wenn möglich, suchte er sich immer neue Wege. Nie zuvor war er in jener verlassenen Kirche gewesen, obwohl er schon öfter hier vorbeigezogen war.
Die Welt war groß und unerschöpflich, und wenn er seinen Schafen erlauben würde, ihn ein wenig zu führen, so würde er sicherlich noch mehr Interessantes entdecken.
›Allerdings bemerken sie nicht, daß sie täglich neue Wege beschreiten. Sie werden sich nicht bewußt, daß die Wiesen wechseln und auch die Jahreszeiten, weil sie einzig mit Wasser und Nahrung beschäftigt sind. Aber vielleicht geht es uns genauso‹, dachte der Hirte. ›Sogar ich denke an keine andere Frau mehr, seit ich die Tochter des Händlers kennengelernt habe.‹
Er sah zum Himmel und schätzte, daß er noch vor dem Mittag in Tarifa eintreffen würde. Dort konnte er sein Buch gegen ein dickeres eintauschen, seine Weinflasche nachfüllen, sich rasieren und sich die Haare schneiden lassen; er wollte schließlich vorbereitet sein für die Begegnung mit dem Mädchen und mochte gar nicht daran denken, daß wo[18] möglich ein anderer Schäfer mit einer größeren Herde vor ihm dagewesen war und um ihre Hand angehalten hatte.
›Erst die Möglichkeit, einen Traum zu verwirklichen, macht unser Leben lebenswert‹, überlegte er, während er nochmals zum Himmel aufschaute und seine Schritte beschleunigte. Ihm war nämlich gerade eingefallen, daß es in Tarifa eine Alte gab, die Träume deuten konnte. Und vergangene Nacht hatte er erneut denselben Traum gehabt.
7
Die Alte führte den Besucher zu einem Raum im hinteren Teil des Hauses, der vom Wohnzimmer durch einen Vorhang aus bunten Plastikstreifen abgetrennt war. Dort gab es einen Tisch, zwei Stühle und ein Bildnis von Jesus von Nazareth.
Die Alte nahm Platz und forderte ihn auf, es ihr nachzutun. Dann ergriff sie beide Hände des Jünglings und betete leise. Es klang nach einem Zigeunergebet. Er war schon etlichen Zigeunern auf seinem Weg begegnet; sie reisten, auch ohne Schafe zu hüten. Die Leute behaupteten, daß das Leben eines Zigeuners darauf ausgerichtet sei, andere zu betrügen. Man sagte auch, daß sie im Bündnis mit den Dämonen wären und daß sie Kinder raubten, um sie als Sklaven in ihren düsteren Lagern zu halten. Als kleiner Junge hatte er immer schreckliche Angst gehabt, von den [19] Zigeunern verschleppt zu werden, und diese alte Erinnerung kam nun wieder hoch, während die Alte seine Hände festhielt.
›Aber sie hat ja ein Bild von Jesus an der Wand‹, versuchte er sich zu beruhigen. Er wollte nicht, daß seine Hände zu zittern begannen und die Alte womöglich seine Ängste bemerkte. Im stillen sprach er ein Vaterunser.
»Wie interessant«, bemerkte die Alte, ohne ihre Augen von seinen Händen abzuwenden. Und schwieg wieder.
Der Jüngling wurde immer unruhiger. Seine Hände begannen unwillkürlich zu zittern, und die Alte bemerkte es. Schnell zog er sie zurück.
»Ich bin nicht hier, um mir die Hand lesen zu lassen«, sagte er und bereute schon, überhaupt gekommen zu sein. Für einen Augenblick dachte er, daß es besser sei, sofort zu zahlen und zu verschwinden, ohne etwas erfahren zu haben. Er hatte einem wiederkehrenden Traum einfach zuviel Bedeutung beigemessen.
»Du willst etwas über Träume erfahren«, antwortete die Alte. »Und Träume sind die Sprache Gottes. Wenn er die Sprache der Welt spricht, kann ich sie deuten. Aber wenn er die Sprache deiner Seele spricht, so kannst nur du selber sie verstehen. Dennoch werde ich die Beratung berechnen.«
›Wieder so ein Trick‹, dachte der Jüngling. Trotzdem wollte er es wagen. Schließlich ging ein Hirte auch das Wagnis ein, Wölfen oder der Trockenheit zu begegnen, und das machte seinen Beruf erst spannend.
»Ich hatte den gleichen Traum zweimal hintereinander«, sagte er. »Ich träumte, daß ich mit meiner Herde auf der [20] Weide war, als plötzlich ein Kind erschien, das mit den Schafen zu spielen begann. Eigentlich mag ich nicht, wenn man meine Schafe stört, sie haben nämlich Angst vor Fremden. Aber Kinder können immer mit ihnen herumtoben, ohne daß sie sich erschrecken. Ich weiß nicht, warum. Wie können die Schafe wohl das Alter eines Menschen erkennen?«
»Komm endlich zur Sache«, unterbrach ihn die Alte. »Ich habe einen Topf auf dem Feuer. Außerdem hast du wenig Geld und kannst meine Zeit nicht so lange beanspruchen.«
»Das Kind spielte ein Weilchen mit den Schafen«, fuhr der Jüngling etwas verlegen fort. »Und auf einmal nahm es mich bei der Hand und führte mich zu den Pyramiden von Ägypten.«
Er machte eine kleine Pause, um die Wirkung seiner Worte abzuwarten. Aber die Alte blieb stumm.
»Dann, bei den Pyramiden von Ägypten«, die letzten drei Worte sprach er besonders betont, damit die Alte sie auch ja verstand, »sagte mir das Kind: ›Wenn du dorthin gelangst, wirst du einen verborgenen Schatz finden.‹ Und als es mir den genauen Ort zeigen wollte, wachte ich auf. Beide Male.«
Die Alte blieb noch ein Weilchen stumm. Dann griff sie erneut nach seinen Händen und begann, sie genauestens zu studieren.
»Ich werde dir jetzt nichts abverlangen«, sagte die Alte. »Aber ich möchte ein Zehntel deines Schatzes, wenn du ihn findest.«
Der Jüngling lachte vor Freude. Er durfte um eines [21] erträumten Schatzes willen das bißchen Geld behalten, das er noch besaß. Sie mußte tatsächlich eine Zigeunerin sein – die sind ja so dumm.
»Also gut, dann deutet den Traum«, bat sie der Jüngling.
»Vorher mußt du mir noch schwören, daß du mir tatsächlich den zehnten Teil deines Schatzes abgibst als Lohn für das, was ich dir sagen werde.«
Der junge Mann schwor, und die Alte bat ihn, den Schwur vor dem Christusbild zu wiederholen.
»Hier handelt es sich um einen Traum in der Sprache der Welt«, sagte sie. »Ich kann ihn deuten, und es ist eine sehr schwierige Auslegung. Darum ist es nur gerecht, wenn mir ein Teil deines Fundes zusteht. Die Deutung ist folgende: Du sollst zu den Pyramiden von Ägypten gehen. Ich habe zwar noch nie etwas von ihnen gehört, aber wenn dir ein Kind den Weg gewiesen hat, dann gibt es sie wirklich. Dort wirst du dann einen Schatz finden, der dich sehr reich macht.«
Der Jüngling war erst überrascht, dann enttäuscht. Dafür hätte er nicht kommen müssen. Doch schließlich brauchte er auch noch nichts zu bezahlen.
»Für diese Auskunft hätte ich meine Zeit nun wirklich nicht zu verschwenden brauchen«, meinte er.
»Darum sagte ich bereits, daß es sich um einen schwierigen Traum handelt. Die einfachen Dinge sind die ungewöhnlichsten, die nur die Gelehrten verstehen können. Da ich aber keine Gelehrte bin, muß ich andere Künste anwenden, wie beispielsweise das Handlesen.«
»Und wie soll ich nun nach Ägypten kommen?«
»Ich kann Träume nur deuten. Ich kann sie nicht in [22] Wirklichkeit verwandeln. Darum muß ich auch von dem leben, was mir meine Töchter abgeben.«
»Und wenn ich niemals nach Ägypten komme?«
»Dann bleibe ich ohne Bezahlung. Das wäre nicht das erste Mal.«
Daraufhin sagte die Alte nichts mehr. Sie schickte den Jüngling fort, denn sie hatte schon genug Zeit mit ihm verloren.
8
Der Jüngling zog enttäuscht von dannen und nahm sich vor, nie mehr an Träume zu glauben. Ihm fiel wieder ein, daß er noch einiges zu erledigen hatte: Er besorgte sich Lebensmittel, tauschte sein Buch gegen ein dickeres ein, und dann setzte er sich auf eine Bank auf dem Marktplatz, um den Wein zu kosten, den er gekauft hatte.
Es war ein sehr heißer Tag, und der Wein vermochte ihn aus irgendeinem unerklärlichen Grund zu erquicken. Die Schafe waren am Ortseingang, im Stall eines seiner neuen Freunde, gut aufgehoben. Er kannte überhaupt eine Menge Leute in dieser Gegend, und darum reiste er auch so gerne. Man konnte immer wieder neue Freundschaften schließen und mußte nicht Tag für Tag mit denselben Leuten auskommen. Wenn man, wie im Seminar, immer dieselben Menschen um sich hat, dann lassen wir sie zu einem festen Teil unseres Lebens werden. Und wenn sie dann ein fester [23] Teil davon geworden sind, wollen sie unser Leben verändern. Und wenn wir dann nicht so werden, wie sie es erwarten, sind sie enttäuscht. Denn alle Menschen haben immer genaue Vorstellungen davon, wie wir unser Leben am besten zu leben haben. Doch nie wissen sie selber, wie sie ihr eigenes Leben am besten anpacken sollen. Wie jene Traumdeuterin, die nicht fähig war, die Träume Wirklichkeit werden zu lassen.
Er wollte noch warten, bis die Sonne tiefer stand, bis er mit seiner Herde weiterzog. In nur mehr drei Tagen würde er bei der Tochter des Händlers sein.
Nun begann er das Buch zu lesen, welches er vom Pfarrer von Tarifa bekommen hatte. Es war sehr dick und handelte gleich auf der ersten Seite von einer Beerdigung, und die Namen der Figuren waren sehr kompliziert. Wenn er eines Tages selber ein Buch schreiben würde, dachte er bei sich, so würde er immer nur jeweils eine Person nach der anderen in Erscheinung treten lassen, um den Leser nicht zu verwirren.