Yael Hedaya
Alles bestens
Roman
Aus dem Hebräischen von
Ruth Melcer
Das Original erschien 1997 unter dem Titel
›Mis’chak ha’oscher‹ im Band ›Schloscha sippurej ahawa‹
bei Am Oved Publishers Ltd., Tel Aviv
Copyright © 1997 by Yael Hedaya
Die deutsche Erstausgabe erschien 2013 im Diogenes Verlag
Covermotiv: Graphik von Geoff McFetridge, ›Put on‹, 2008
Copyright © Geoff McFetridge
Foto: Champion Graphics, Los Angeles
Für meinen Vater
Alle deutschen Rechte vorbehalten
Copyright © 2017
Diogenes Verlag AG Zürich
www.diogenes.ch
ISBN Buchausgabe 978 3 257 24257 7
ISBN E-Book 978 3 257 60302 6
Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.
[5] 1
Kurz nachdem er gegangen war, geschah etwas Merkwürdiges: Hunderte schwarzer Vögel flogen aus dem Nirgendwo herbei, stürzten sich auf die alte Palme vor meinem Haus und vertilgten die Datteln, die in Büscheln herabhingen – die Datteln, von denen er gesagt hatte, man müsse sie herunterholen, weil das dem Baum nicht guttue, sie würden ihn belasten, ihn erdrücken und langsam, aber sicher umbringen.
Wir standen, an die steinerne Brüstung gelehnt, auf dem Balkon und beobachteten die Passanten. Wir beobachteten die Autos, die in die Straße einbogen und dann hinter der Kurve verschwanden, wir betrachteten das gegenüberliegende Gebäude mit den offenen Fenstern und den Balkonen, und wir betrachteten die Palme. Wir sahen uns alles an, was es anzusehen gab, um nur ja nicht einander anzusehen.
Wir hatten soeben aufgehört zu streiten. Unser erster Streit. Ich hatte ihn begonnen und ihn vorwiegend allein ausgefochten. Nathan hatte geschwiegen und nur etwas gemurmelt, wenn ich etwas sagte, was seiner Ansicht nach nicht ganz stimmte oder besonders beleidigend war. Aber es war mehr ein Vor-sich-hin-Brummeln als ein Murmeln, etwas Undeutliches, das er zum [6] Fußboden hin sagte, den Mund voller Speichelbläschen und stiller Tatsachen.
Ich hätte nie gedacht, dass so etwas in mir steckte, eine anklagende und hysterische Frau, die die Hände in die Hüften stemmt, wenn sie sich in Vorwürfen ergeht, aber als ich vor Nathan gestanden hatte, der auf dem Sofa hockte und die Steinplatten anbrummelte, waren meine Hände plötzlich auf meinen Hüften gelandet und wie Saugnäpfe haften geblieben. Es war, als wären mir kleine Flügel gewachsen, die es mir ermöglichten, abzuheben und mit dem Streit an einen anderen, einen höheren und kultivierteren Ort zu gelangen. Zumindest hatte es sich so angefühlt, als ich, die Hände in die Hüften gestemmt, mitten im Raum gestanden und versucht hatte, unsere Beziehung zu retten.
Jetzt standen wir auf dem Balkon und schauten hinunter auf die Straße. Ich fragte, ob ich eine Wassermelone aufschneiden solle, und Nathan nickte. Also ging ich in die Küche und holte die Wassermelone aus dem Kühlschrank. Ich halbierte sie, schnitt eine der Hälften in große Würfel, richtete diese auf einem Teller an und steckte in die obersten beiden Würfel je eine Gabel. Diesmal hatte ich eine süße Wassermelone erwischt, was ich als gutes Zeichen wertete. Ich wusste nicht so recht, wie man sich nach einem Streit fühlen sollte; für uns war es der erste gewesen und zugleich auch der letzte. Ich stellte den Teller zwischen uns auf die Brüstung, und wir aßen schweigend, den Blick auf die Straße gerichtet, bis Nathan meine Aufmerksamkeit auf die überfrachtete Palme lenkte.
[7] Mit der Gabel auf den Baum deutend, sagte er, den Mund voller Saft: »Wird langsam Zeit, diese Datteln runterzuholen.«
Ich fragte, weshalb, und er erklärte, sie würden den Baum belasten.
Ich wollte nicht über den Baum reden. Ich wollte über unsere Beziehung reden. Aber alles, was ich zu sagen hatte, hatte ich bereits gesagt, und da stand ich nun auf dem Balkon, aß Wassermelone, führte eine höfliche Unterhaltung über den armen Baum und wusste, es war aussichtslos.
»Wenn man die Datteln nicht runterholt, geht der Baum ein«, sagte Nathan.
»Und was jetzt?«, fragte ich, und er antwortete: »Nichts. Es ist aussichtslos.«
Der Teller war inzwischen leergegessen, und ich brachte ihn in die Küche. Ich stellte ihn in die Spüle und drehte den Wasserhahn auf; während das Wasser lief, versuchte ich fieberhaft, mir etwas auszudenken, vielleicht fiel mir ja doch noch etwas ein. Als ich wieder auf den Balkon hinaustrat, hatte Nathan der Straße bereits den Rücken zugekehrt. Er zerbröselte vertrocknete Geranienblätter, die er aus einem der Blumenkästen abgezupft hatte.
Ich fragte, ob ich noch mehr Wassermelone aufschneiden solle. Er lehnte ab. Ich wusste, dass dies unsere letzten gemeinsamen Minuten waren, und wollte Zeit gewinnen. Das sei ein Problem, sagte ich, es sei noch recht viel übrig, noch eine ganze Hälfte, doch er gab zurück, er habe sowieso schon zu viel gegessen, er denke, er [8] werde jetzt gehen. Ich fragte, ob es das gewesen sei. Er sagte: »Ja.« Und einen Moment später: »Also, ich geh’ dann mal.« Und ich: »Ja.« Daraufhin warf er eine Handvoll zerbröselter Geranienblätter auf die Straße, rieb die Handflächen aneinander und verkündete: »Ich gehe.« Ich dachte: Das Letzte, was wir zusammen gemacht haben, war, Wassermelone zu essen.
An der Tür sagte er, es tue ihm leid.
»Tut mir leid, dass es so sein muss«, meinte er, und ich erklärte, er lasse mir keine andere Wahl. Er legte mir eine Hand auf die Schulter und sagte, er verstehe nicht, weshalb, und ich sagte: »Es geht nicht anders.« Er wiederholte noch einmal, dass er es bedaure, nahm die Hand von meiner Schulter, fuhr mit den Fingern über meinen Arm und sah mich traurig an. Ich schloss die Tür hinter ihm, und als ich den Schlüssel im Schloss umdrehte, hörte ich seine schweren Schritte auf der Treppe und kurz darauf die Eingangstür, die ins Schloss fiel. Als ich in die Küche ging, lag da noch immer die halbe Wassermelone auf der Arbeitsplatte. Ich wickelte sie in eine Plastiktüte und legte sie in den Kühlschrank, und ich wusste: In ein paar Tagen würde ich sie herausnehmen und mitsamt der Tüte in den Mülleimer werfen.
Dann trat ich wieder hinaus auf den Balkon. Ich lehnte mich an die Brüstung und schaute hinunter auf die Straße, die völlig anders aussah als vor ein paar Minuten, obwohl sich nichts geändert hatte. Ich beobachtete die Autos, die in die Straße einbogen und hinter der Kurve verschwanden, dann betrachtete ich das [9] gegenüberliegende Gebäude mit den offenen Fenstern und Balkonen und anschließend noch einmal die Palme – und da kamen die Vögel. Sie verdunkelten den Himmel, ließen sich aufgeregt kreischend auf Antennen und Baumwipfeln nieder und sandten einander Befehle, und dann scharten sie sich in schwarzen Massen auf der Palme und hackten und hieben auf die Datteln ein, bis sie sie vertilgt hatten.
Urplötzlich verschwanden sie wieder, aber man konnte unmöglich wissen, ob die Palme nun erleichtert war. Die trockenen gelben Wedel hoben sich nicht vor Dankbarkeit über die Befreiung, und der gebogene Stamm wurde nicht wieder gerade, nachdem die Vögel den Baum, hysterisch mit den Flügel schlagend, massenvergewaltigt hatten. Ich dachte: Schade, dass Nathan das nicht miterlebt hat. Zu schade, dass er das Ganze hier so knapp verpasst hat. Ich ging wieder hinein, schloss die Balkontür, die Fenster und die Rollläden und sagte mir: Es ist vorbei. Ich habe einen Schnitt gemacht. Jetzt fängt das Leben von vorn an. Dann warf ich mich aufs Sofa und schluchzte los. Das Telefon klingelte, aber ich nahm nicht ab. Ich zählte vier Klingeltöne, dann sprang der Anrufbeantworter an. Meine Eltern luden mich für Samstag zum Mittagessen ein.
2
Nathan hatte ich im Jahr zuvor auf einer Purim-Party kennengelernt. Seine Kopfbedeckung wies ihn als [10] Narren aus. Kein bunter Kartonkegel aus dem Spielzeugladen, sondern eine richtige Narrenkappe aus buntem Stoff, mit Hörnern und silbernen Glöckchen daran. Irgendwie rührend und kindisch zugleich.
Purim hin oder her, ich hatte mich nicht verkleidet, weil mir nichts einfiel, was ich an dem Abend wirklich hätte sein wollen – außer glücklicher. Ich war dreißig und wollte verliebt sein, ich wollte Selbstvertrauen besitzen und innere Ruhe. Für mich bestand die perfekte Kostümierung für eine Frau, die all diese Dinge in sich vereinigte, darin, so zu gehen, wie sie war. In gewisser Weise hatte ich mich also durchaus verkleidet.
Mein letztes Kostüm war ein Fiasko gewesen. Damals war ich fünf Jahre alt und als Königin Esther verkleidet. Es gab Gestalten, die mir besser gefielen als die Königin Esther; sie kam mir immer ein wenig zu biblisch und zu langweilig vor. Gleichzeitig wollte ich aber auch wie all die anderen Mädchen sein.
Das Kleid war nicht schlecht – Schichten aus raschelndem weißem Taft über einer weißen Wollstrumpfhose –, aber ich hatte ein Problem mit den königlichen Schuhen. Ich wollte gläserne Pantoffeln, doch meine Mutter, die es wie ein erfahrener Verkehrspolizist verstand, meine Phantasie auf Spuren umzuleiten, die an jenem Morgen frei waren, erklärte mir, dass ich wohl etwas verwechselt hätte. Die gläsernen Pantoffeln stammten aus dem Märchen von Aschenputtel, sagte sie. Die Königin Esther habe ganz gewöhnliche Königinnenschuhe getragen. Ich fragte: »Wieso können wir nicht eine [11] Limoflasche in zwei Hälften schneiden, und dann gehe ich damit zum Kindergarten?« Sie antwortete: »Weil es gefährlich wäre und außerdem unmöglich.« Ich sagte: »Aber ich wäre dann bestimmt die Einzige mit solchen Schuhen.« Sie erklärte: »Wenn du die Einzige wärest, brauchst du das erst recht nicht. Du brauchst etwas, das alle haben.« Ich schmollte: »Aber dann bin ich nicht die Schönste.« Daraufhin sie: »Die Königin Esther war nicht schön. Aschenputtel war schön.« Und auf mein schlechtes Gedächtnis bauend, versprach sie: »Nächstes Jahr darfst du dich als Aschenputtel verkleiden.«
Was sie gesagt hatte, klang einleuchtend, und weil ich auf gar keinen Fall meine Märchen durcheinanderbringen wollte, zog ich voller Stolz die Sandalen an, deren Riemchen meine Mutter mit Alufolie umwickelt hatte. An jenem Morgen regnete es in Strömen – eine der üblichen Katastrophen, die Kinder an Purim heimsuchen. Meine Mutter führte mich an der Hand zum Kindergarten, und als sie mir gerade gut zuredete – es würde bestimmt ganz toll werden, ich sei doch noch viel zu jung, um so tieftraurig zu sein, sagte sie ungehalten wie mein Vater –, trat ich in eine Pfütze, und das Silber löste sich von meiner linken Sandale. In meinem Fotoalbum habe ich eine Schwarzweißaufnahme, auf der ich mit gelüpftem Saum posiere; die eine Sandale ist königlich und die andere nicht, und entsprechend steht nur ein halbes Lächeln in meinem Gesicht.
[12] Letztes Purim hatte es nicht geregnet. Es war eine kalte und helle Nacht gewesen, und ich war mit dem Auto zur Party gefahren. Ich trug einen schwarzen Pullover, Jeans und Stiefel. Mir gefiel das selbstsichere Aufschlagen der Absätze.
Ich betrat die laute Wohnung und suchte meine Freundin, die mit den Gastgebern bekannt war; wir hatten vereinbart, uns dort zu treffen. Sie hatte angekündigt, sie wolle sich als Fee verkleiden. Feen sah ich einige, aber meine Freundin war nicht dabei. Ich begab mich in die Küche und warf einen Blick auf die Bierflaschen, die schwitzend in Reih und Glied auf der Arbeitsplatte standen. Trotz der Musik, die im Wohnzimmer spielte, drang hin und wieder sanftes Glockengebimmel an mein Ohr. Ich nahm mir eine Flasche und sah mich nach einem Öffner um. Der baumelte, an einem rosa Geschenkband und mit phosphoreszierenden Sternen und Mondsicheln beklebt, vom Griff der Kühlschranktür. Irgendjemand hatte auch ihm ein Kostüm verpasst.
In der Küche drängten sich zwei Feen, ein Superman, eine Königin Esther und ein großer Glatzkopf mit Katzenmaske. Ich beschloss, nach Hause zu gehen, falls meine Feenfreundin nicht in einer Viertelstunde da wäre. Ich verabscheute Partys. Sie verstärkten in mir all die Gefühle, die Partys angeblich vertreiben sollen. Ich wollte gerade das restliche Bier in die Spüle kippen, da hörte ich den Klang der Glöckchen. Der Narr kam in die Küche und suchte einen Flaschenöffner.
Er war sehr groß und unbeholfen und hatte blaue [13] Augen, und bei jeder Kopfbewegung ertönte ein sanftes Bimmeln. Er öffnete sein Bier, lehnte sich neben mich an die Arbeitsplatte und trank, gelangweilt in das dunkle Wohnzimmer starrend, in großen Schlucken. Ich musterte die Narrenkappe mit den leise klingenden Glöckchen und den Hörnern, die sich über die Stirn bis zu den Augen hinab bogen. Die Kappe wirkte wie angewachsen, als hätte der Narr sie vor Jahren aufgesetzt und dann vergessen, sie wieder abzunehmen.
Plötzlich wurde die laute Musik von einem Kinderlied abgelöst. Die Gastgeber hatten Der süße kleine Clown ist lustig anzuschau’n aufgelegt, und die Tänzer sprangen auf die schlichte Melodie an, hüpften und gestikulierten entsprechend dem simplen Liedtext und legten jedes Mal fragend den Kopf schief, wenn das ›Vielleicht‹ aus dem Refrain ertönte: »Vielleicht – vielleicht – vielleicht tanzt du mit mir?«
»Tanzt du mit mir?«, fragte der Narr.
Ich nickte, stellte mein Bier auf die Arbeitsplatte und folgte ihm ins Wohnzimmer, zu einer kleinen Lichtung, die er in der Menge fand. Es fiel mir schwer, die kindlichen Bewegungen vor einem Fremden auszuführen, aber der Narr hüpfte und hampelte mit einer Natürlichkeit vor mir herum, die beinahe satirisch war. Er drehte seine Handflächen in Schraubbewegungen hin und her, legte den Kopf von einer Seite zur anderen und zuckte mit jedem ›Vielleicht‹ trotzig mit den Schultern. Die anderen Tänzer beobachteten uns – den hüpfenden, schulterzuckenden und klingelnden Narren und mich, die ich mit einem halben Lächeln im Gesicht mehr oder weniger [14] auf der Stelle trat. Dass er tanzte wie ein kleiner Junge, war nicht etwa Show. So tanzte er einfach.
Ich fühlte mich sofort zu ihm hingezogen, vom ersten Moment an. Sogar noch bevor ich ihn gesehen hatte: erst vom Gebimmel der Glöckchen und dann von dem Lied und dem Tanz, das mich um fünfundzwanzig Jahre zurückversetzte, zu dem verregneten Purim meiner Kindheit, der Geruchsmischung aus Schlamm, feuchten Hammantaschen und Pipi in einem großen Raum voller Kinder, begleitet von den Klängen desselben Lieds und vom Nachhall einer großen Enttäuschung.
»Sie hat den ganzen Tag geweint«, hatte die Kindergärtnerin damals meiner Mutter erzählt, als sie mich am Mittag abholen kam. »Ich war völlig ratlos, Frau Lieberman. Sie hat die Sandalen ausgezogen und sich in die Ecke gehockt. Ich habe sie gebeten, mehrfach, sie wieder anzuziehen und mitzutanzen, aber sie hat immer nur mit den Schultern gezuckt. Auf Strümpfen habe ich sie natürlich nicht herumlaufen lassen. Es ist kalt heute, Frau Lieberman, was hätte ich tun sollen?«
Jetzt war das Lied zu Ende, und wir standen uns einen Moment lang unschlüssig gegenüber. Der Narr wirkte verraten und verkauft, und auch die Kappe sah plötzlich aus wie verblüht. Ohne ein Wort zu sagen, kehrte er mir den Rücken und stapfte mit schweren Schritten zurück in die Küche. Ich hinterdrein.
Abermals lehnten wir uns an die Arbeitsplatte. Er stellte sich vor: »Nathan.« Ich sagte: »Maja.« Er fand, das sei ein schöner Name.
»Nathan auch«, meinte ich.
[15] »Ja?«, gab er zurück. »Ich mag meinen Namen überhaupt nicht.«
Als ich nachfragte, wieso, zuckte er nur mit den Schultern. Ich hielt noch immer Ausschau nach meiner Feenfreundin, aber es war mir inzwischen egal, dass sie nicht gekommen war. Dafür gesellten sich eine weitere Königin Esther und eine Tigerin mit langem, wippendem Schwanz und rotem Haar zu uns, das wunderbar zur Farbe ihres Streifenkostüms passte. Die beiden umarmten Nathan, er machte mit dem verkleideten Öffner zwei Bierflaschen für sie auf und ging dann mit ihnen tanzen. Zu mir sagte er weder »Entschuldige mich« noch »Bin gleich wieder da« noch »Bis dann«.
Ich beobachtete ihn beim Tanzen mit der Tigerin und der Königin Esther und fand, es sei Zeit zu gehen. Ich dachte an mein Bett und die darüber verstreuten Wochenendzeitungen. Ich dachte an meine Wohnung, an das Bad mit den feuchten Handtüchern und an den Geruch von Moder, der sich im Winter ausbreitete, wenn das Fenster geschlossen blieb. Ich dachte an meine Zahnbürste, die langsam mal wieder ersetzt werden sollte, und an den Spiegel über dem Waschbecken, der schon ganz trüb war von Zahnpasta und Seifenspritzern. Ich dachte an den Weg vom Bad ins Schlafzimmer, daran, wie ich mich strumpfsockig an der Wand entlangtastete und die Lichter löschte – das Licht auf der Toilette, das Licht im Bad, das Neonlicht in der Küche und schließlich das Licht im Flur, bis nur noch ein einziges Licht anblieb: die Leselampe neben dem Bett, die ihren gelben Lichtkegel auf mein Kissen warf.
[16] Ich verließ die Party, ging hinunter zur Straße und stieg in meinen Wagen. Während der Motor warm lief, schaltete ich die Lüftung ein, um die beschlagene Windschutzscheibe zu trocknen. Beim Ausparken warf ich einen Blick in den Rückspiegel und sah Nathan aus dem Gebäude kommen. Ich wartete ab, ob die schwerfällige Gestalt im Parka in einen Wagen einsteigen würde, doch der Narr ging an meinem und auch an den anderen parkenden Fahrzeugen vorbei und stapfte mit großen Schritten weiter in Richtung Hauptstraße. Dort blieb er, die Kappe auf dem Kopf und die Hände in den Taschen, einen Moment lang stehen – direkt im Lichtkegel meiner Scheinwerfer. Ich hupte kurz, ein krächzender Ton, und er wandte sich überrascht um. Und dann hörte ich – durch die geschlossenen Fenster und das Motorenbrummen hindurch und trotz meines Herzens, das erwartungsfroh und zugleich tadelnd pochte – die Glöckchen näher kommen.
Nathan trat an meinen Wagen, beugte sich vor und spähte ins Innere, um nachzusehen, wer ihn angehupt hatte. Ich kurbelte das Fenster herunter und fragte, ob er kein Auto habe.
»Nein«, antwortete er.
»Wo willst du hier ein Taxi herkriegen?«
»Weiß nicht«, erwiderte er.
»Soll ich dich mitnehmen?«, fragte ich.
Es war das erste Mal in meinem Leben, dass ich einem fremden Mann eine Mitfahrgelegenheit anbot, aber ich dachte, einer, der als Narr verkleidet war, konnte nicht gefährlich sein. Er stapfte wortlos hinüber zur [17] Beifahrertür, öffnete sie und zwängte sich auf den Sitz. Seine Kappe drückte gegen den Wagenhimmel, er nahm sie ab und hielt sie zusammengeknüllt in den Händen. Ich sah, dass sein Haar sich lichtete, und als hätte auch er dies zum ersten Mal bemerkt, strich er sich entschuldigend über den Kopf.
Mein Auto war zu klein für ihn. Mit angewinkelten, schräggestellten Beinen – ein Knie berührte die Tür, das andere drückte gegen das Handschuhfach – lehnte er sich in seinem Sitz, den er bis zum Anschlag nach hinten geschoben hatte, so weit wie möglich zurück und musste dennoch den Kopf einziehen. Er murmelte seine Adresse, und den ganzen Weg dorthin wechselten wir kein Wort. Er muffelte nach nassem Pelz und moderigen Blättern, und dieser Geruch erfüllte das Wageninnere, das normalerweise nach Kunstleder und Plastik roch, vermischt mit einem grässlichen Duft, der sich ›Dschungel‹ nannte und von einem Bäumchen abgegeben wurde, das am Rückspiegel baumelte. Ich hatte es an einer Tankstelle geschenkt bekommen, und obwohl ich den beißend synthetischen Geruch nicht ausstehen konnte, war ich zu faul, das Bäumchen abzunehmen, und wartete darauf, dass der Duft von allein nachlassen würde. Jetzt wurde der Wagen von einem anderen Geruch erfüllt – vielleicht war das der Duft, den der Luftverbesserer zu imitieren versuchte.
Ich beobachtete Nathan aus dem Augenwinkel. Er starrte durch das Seitenfenster nach draußen. Die großen Hände ruhten auf der zerknüllten Mütze, und ich sah, dass er Schmutz unter den Fingernägeln hatte, etwas [18] Rötlichbraunes, vielleicht Erde. Sein Anblick war irgendwie rührend, so unbeholfen und phlegmatisch und zugleich abweisend-gleichgültig, und dazu dieser Geruch und die Haarbüschel in seinem Nacken. Mit derselben kindlich-unbewussten Art, wie er getanzt hatte, starrte er nach draußen, musterte die leeren Straßen, die Häuser, die Bushaltestellen und die Reklamewände und knetete dabei geistesabwesend und schwer atmend seine Kappe. Ich fuhr bewusst langsam und vorsichtig, wie eine Försterin, die einen verirrten Bären zurück zu seiner Höhle bringt.
3
Einen Monat bevor ich Nathan kennenlernte, hatten meine Eltern sich scheiden lassen. Aufgrund ihres Alters – mein Vater war siebzig, meine Mutter siebenundsechzig – waren sie auf Hilfe angewiesen. Meine Schwester Talli, drei Jahre jünger als ich, war in Florida verheiratet und hatte ein sechs Monate altes Baby. Als ich ihr am Telefon erzählte, dass unsere Eltern sich scheiden lassen wollten, sagte sie: »Aber ich bin schwanger!« Bald darauf war sie tatsächlich schwanger, vielleicht um klarzustellen, dass sie uns mit der Scheidung nicht helfen konnte – ihre eigene Familie ging vor. Einige Monate später hatte sie dann einen Jungen und ein Mädchen, und ihre Fotos hingen bei jedem von uns an der Kühlschranktür – zwei strahlende amerikanische Kinder an insgesamt drei Kühlschränken.
[19] Meine Eltern waren nicht gesund, und ich fragte mich, woher sie den Mut hatten – oder die Naivität –, sich zu trennen, da das bevorstehende Jahrzehnt aller Voraussicht nach schwierig und mit Krankheiten gepflastert sein würde, und womöglich ihr letztes. Ob sie keine Angst vor dem Alleinsein habe, fragte ich meine Mutter, davor, dass niemand da wäre, der sie unterstützte, wenn sie etwas brauchte, ein Glas Tee mitten in der Nacht, oder wenn sie in der Badewanne ausrutschte, und sie antwortete: »Nein, absolut nicht.«
»Wieso sollte ich Angst haben? Ich bin doch selbständig«, erklärte sie. »Und ich habe dich!«
Ende des vergangenen Sommers hatten wir an einem brütend heißen Samstag in der Küche gesessen, und meine Mutter hatte mich nach einem Anwalt gefragt.
»Maja, kennst du zufällig einen guten Anwalt?«
Mein Vater stand gerade am Herd und briet sich ein Omelett. Seit sie sich zur Scheidung entschlossen hatte – das war nun einige Wochen her –, bekochte meine Mutter ihn nicht mehr. Eine uralte Protestaktion aus einem Film, den sie einmal im Fernsehen gesehen hatte. Jetzt musste jeder seine Eier selbst braten, und zwar immer schön der Reihe nach.