Yael Hedaya
Liebe pur
Erzählung
Aus dem Hebräischen von
Ruth Melcer
Die vorliegende Erzählung wurde
unter dem Originaltitel ›Chajot machmad‹
erstmals 1997 im Band ›Schloscha sippurej ahawa‹
beim Am Oved Publishers Ltd., Tel Aviv, veröffentlicht
Copyright © 1997 by Yael Hedaya
Die deutsche Erstausgabe erschien 2000
im Diogenes Verlag
Umschlagillustration: Geoff McFetridge,
›Girl Lifting Skirt 2‹
Copyright © Geoff McFetridge
Foto: Champion Graphics, Los Angeles
Für meinen Vater
Alle deutschen Rechte vorbehalten
Copyright © 2013
Diogenes Verlag AG Zürich
www.diogenes.ch
ISBN Buchausgabe 978 3 257 23307 0 (2. Auflage)
ISBN E-Book 978 3 257 60303 3
Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.
[5] 1
Er galt als schüchterner Hund, und als er sich eines Morgens von seiner Matte erhob und die alte Frau anfiel, die mit ihren Einkaufskörben die Treppe heraufstieg, und ihr das Ohr abriß, waren die Hausbewohner fassungslos.
Er war ein unauffälliges Tier, ein richtiger Geisterhund mit dem Körperbau einer Hyäne und der Grazie eines Vogels. Immer ging er wie auf Zehenspitzen, den Schwanz zwischen die Hinterbeine geklemmt. Er hatte kurzes und dichtes braunes Fell, Hängeohren und lange, zartgliedrige Beine, denen ein edler Charme hätte anhaften können, hätten sie nicht ständig gezittert.
Er war eineinhalb Jahre alt, sah jedoch älter aus. Die Krümmung seiner Wirbelsäule, der zwischen die Beine geklemmte Schwanz, das abgeknickte Becken und die Rippen, die wie Flügelansätze aus seinen beiden Flanken hervorstachen, verliehen ihm ein minderwertiges Aussehen, was aber hauptsächlich daran lag, wie er sich fortbewegte: halb sitzend, sich zusammenkauernd, sich entschuldigend, vor einem imaginären Fußtritt flüchtend. Die alte Frau hatte ihn gern, und manchmal verweilte sie bei ihm, wenn sie vom Markt zurückkam, und wählte aus dem Korb etwas für ihn aus – einen Hühnerhals, eine [6] Scheibe Käse oder Wurst oder einen Sesamkeks. Das warf sie ihm dann auf seine Matte, ehe sie ihren langsamen Aufstieg zum obersten Stockwerk fortsetzte. Erst, wenn er hörte, wie die Tür zufiel und der Schlüssel sich zweimal im Schloß umdrehte, erhob sich der Hund, beschnupperte das Almosen, packte es sachte mit den Zähnen, ließ es wieder auf die Matte fallen, umkreiste es einige Male, hob es erneut auf, überlegte es sich noch einmal anders und ließ es ein weiteres Mal fallen. Dann blickte er nach rechts und links, schnappte sich den Brocken und schlang ihn hinunter.
Bis zu jenem Tag hatten die Hausbewohner ihn ignoriert. Sie hatten sich daran gewöhnt, ihn die meiste Zeit des Tages und der Nacht auf seiner Matte dösen zu sehen. Sie lag vor der Tür mit dem Aufkleber, auf dem in runder Handschrift zwei Namen standen: der Name einer Frau und der Name eines Mannes und darunter eine kindliche Zeichnung von einem Hund.
Nun lagen die Lebensmittel der alten Frau über den Boden des zweiten Stockwerks verstreut: ein ganzes Huhn, Kartoffeln, Zwiebeln, Äpfel, eine Grapefruit, eine Melone, die in die Ecke gerollt war, grüne Bananen, ein in weißes Papier gepackter Stapel geräucherter Truthahnbrustscheiben, eine Tafel bittere Schokolade, eine Knoblauchknolle, und in einer kleinen Blutlache – ein Bund Petersilie.
An jenem Morgen hatte die alte Frau für den Hund eine Scheibe Truthahnbrust vorgesehen, doch ehe sie vor seiner Matte zum Stehen kommen, sich bücken und in ihren Körben wühlen konnte, hatte er sie angesprungen und zu [7] Boden geworfen. Sie hatte einen überraschten Schrei ausgestoßen. Auch der Hund war verdutzt gewesen. Er war zurückgewichen und hatte sie einige Male umkreist, darauf bedacht, nicht auf sie zu treten. Sie hatte versucht hochzukommen, war jedoch wieder auf den Rücken gefallen. Er hatte sich schwanzwedelnd genähert und ihr tief in die Augen geblickt. Sie hatte sich auf die Seite gedreht, mit beiden Händen das Geländer ergriffen und versucht, sich hochzuziehen. Dann hatte der Hund sich daran gemacht, ihr das Gesicht zu lecken, und die alte Frau, schwer und kurzatmig, hatte aufgegeben, sich wieder auf den Rücken gerollt und ihre Arme seufzend neben sich herabsinken lassen. Da hatte der Hund ihr linkes Ohr gepackt und es ihr mit einem Ruck abgerissen.
Die alte Frau drückte ihre Hand auf das Loch, aus dem ein Blutstrahl schoß, und schrie. Die Hausbewohner kamen aus ihren Wohnungen und standen im Treppenhaus herum. Ein Mann in Gummihandschuhen kam auf die alte Frau zu und löste ihre Hand von der Stelle, an der das Ohr gewesen war.
»Er hat ihr ein Ohr abgebissen!« kreischte eine der Nachbarinnen, die in ihrem Türeingang stand, und deutete mit ihrer Zigarette auf den Hund, der sich, den Schwanz zwischen den Beinen und das heraushängende Ohr im Maul, zitternd an die Wand schmiegte. Einige Hausbewohner erschraken, machten die Türen hinter sich zu und sicherten die Schlösser. Der Mann in Gummihandschuhen meinte, man solle den Hund besser wegschaffen, ehe er der alten Frau noch das andere Ohr abbisse.
Doch der Hund hatte sich auf sein Hinterteil gesetzt [8] und beäugte erst die alte Frau, deren Schreien in rhythmisches, wehleidiges Wimmern umschlug, und dann die Nachbarn, die sich um sie geschart hatten. Dann erhob er sich, ließ das Ohr fallen und trabte zu seiner Matte zurück, wo er ruhig auf den Krankenwagen und die städtischen Hundefänger wartete. Er sah zu, wie die alte Frau auf eine Trage gelegt wurde und wie eine Hand in einem Plastikhandschuh das Ohr auflas und in eine Tüte fallen ließ. Dann lauschte er den Hausbewohnern, die Angaben über das Opfer machten, und beobachtete, wie die beiden Sanitäter die Bahre die Treppe hinuntertrugen.
Die Hundefänger sagten, sie müßten ihn einschläfern, doch zuerst gehöre er in Quarantäne, um sicherzustellen, daß er keine Tollwut habe. Einer der beiden forderte alle auf, zurückzutreten, während der andere zur Straße hinunterging und mit einem langen, mit einer Schlinge versehenen Eisenstab in der Hand wieder heraufkam.
»Nein!« rief der ältere der beiden Hundefänger. »Hol die Betäubungspistole. Der ist gefährlich. Den kann man so nicht fangen.«
»Doch, kann man«, entgegnete der jüngere Hundefänger ruhig, »sorg du nur dafür, daß die Leute sich verziehen.«
»Ab nach Hause!« befahl der Ältere und klatschte in die Hände. »Alle zurück in die Wohnungen!« Diejenigen, die noch im Treppenhaus verblieben waren, zogen sich gehorsam in ihre Wohnungen zurück, ließen ihre Türen jedoch einen Spaltbreit offen, um die Gefangennahme zu verfolgen. Der Hund lag zusammengerollt auf seiner Matte, verlegen und geschmeichelt von soviel Aufmerksamkeit. [9] Seine Augen waren geschlossen, seine Schnauze berührte das Ende seines Schwanzes, und ein Ohr war gespitzt.
»Sieh dir den an«, meinte der ältere Hundefänger. »Er versucht, uns einzuwickeln, dieser Schlingel. Hol die Pistole.«
»Laß mich mal machen«, entgegnete der Jüngere. »Er sieht mir nicht gefährlich aus.«
»Im Gegenteil!« sagte der Ältere. »Die Sorte kenn ich. Er heckt etwas aus. Sieh ihn dir an. Er ist verschlagen. Schau, wie sein Ohr zuckt. Der stellt sich doch nur schlafend.«
»So ist er immer«, flüsterte eine Hausbewohnerin, die in einem schmuddeligen rosa Morgenmantel aus ihrer Wohnung lugte. »So schläft er. Er ist es nicht anders gewohnt.«
»Gute Frau, gehen Sie wieder rein! Ich bitte Sie!« Der ältere Hundefänger schob die Frau unsanft in ihre Wohnung zurück und wischte sich mit der Hand den Schweiß von der Stirn.
Die Hundefänger standen da und beobachteten den Hund. Seine Augen waren geschlossen, das aufgestellte Ohr klappte hin und wieder ab, die Rippen hoben und senkten sich unter langsamen Atemzügen. Für einen angriffswütigen Hund sah er viel zu friedlich aus. Den Stab wie ein Bajonett in beiden Händen pirschte sich der Jüngere der beiden an den Hund heran. Er vermied jede abrupte Bewegung, um ihn nicht aus seinem vorgeblichen Schlummer zu wecken, doch der Hund schlug plötzlich die Augen auf, und der Hundefänger wich zurück und sah, daß der Hund mit dem Schwanz wedelte.
»Er wedelt mit dem Schwanz«, stellte er fest, ohne den Blick von dem Hund abzuwenden.
[10] »Trau ihm ja nicht!« raunte sein Kollege. »Der will uns aufs Kreuz legen!«
»Wedelst du mit dem Schwanz?« fragte der jüngere Hundefänger. »Bist du ein lieber Hund?«
Der Hund erhob sich, setzte sich auf sein Hinterteil und senkte schüchtern den Blick.
»Was ist mit ihm?« erkundigte sich der ältere Hundefänger flüsternd. »Was macht er denn jetzt?«
»Schschschsch… Gar nichts macht er«, flüsterte der Jüngere. »Schschschschsch… Feiner Hund!« sagte er und richtete die Schlinge auf den Kopf des Hundes.
»Paß auf!« warnte der Ältere. »Ich sag’s dir: Paß bloß auf!«
Der jüngere Hundefänger lehnte sich vor und ließ sich auf ein Knie nieder. Er klammerte seine Hände fester um den Stab und richtete ihn nach rechts und nach links aus, bis die Schlinge über dem Kopf des Hundes schwebte. Der Hund hob den Kopf und beäugte erst die Schlinge, dann den Hundefänger, der neben ihm kniend den Stab hielt und konzentriert an seiner Unterlippe kaute, und dann abermals die Schlinge, die aussah wie eine Kombination aus Falle und Heiligenschein.
»Schnell!« zischte der Ältere, der stark schwitzte.
Der jüngere Hundefänger senkte die Schlinge, bis sie die emporgereckte Schnauze des Hundes berührte, der, den Blick nach oben gerichtet, still dasaß und sich auch nicht rührte, als die Schlinge sich langsam über seinen Kopf herabsenkte. Der Hundefänger zog den Stab nach hinten, und die Schlinge legte sich enger um den Hals des Hundes. Der Hund erhob sich, klemmte den Schwanz zwischen die [11] Beine, schlich an der Wand entlang und führte den Hundefänger zur Treppe. Dann ging er bedächtig, Stufe um Stufe, mit klimpernden Hundemarken hinunter. Als er den Hauseingang erreichte, stand der ältere Hundefänger bereits dort und hielt die Tür auf. Den Rücken an die Tür gedrückt verfolgte er, wie der Hund den jüngeren Hundefänger zu dem gelben Transporter führte. Der Hund wartete, bis der Hundefänger die Hecktüren geöffnet hatte, sprang hinein und neigte den Kopf, damit man ihm die Schlinge mühelos abnehmen konnte. Dann trabte er in einen der leeren Käfige, den der Hundefänger mit einem Fußtritt hinter ihm schloß, obwohl er wußte, daß das überflüssig war. Dem jüngeren Hundefänger – und auch dem älteren, der am Steuer saß und sich den Schweiß von der Stirn wischte, ebenso wie den Hausbewohnern, die auf die Straße hinausgeeilt waren, um sich das Finale des Unternehmens Gefangennahme anzusehen – war eines klar: Dieser Hund wollte weg.
2
Der Mann saß auf dem Fußboden im Badezimmer. Er schaute seinem Freund beim Baden der kleinen Tochter zu. Konzentriert verfolgte er jeden Handgriff und war beeindruckt, wie der Freund mit der einen Hand dem Baby den Rücken stützte und mit der anderen das Köpfchen über Wasser hielt, wie er den kleinen Körper vor und zurück durch das Wasser gleiten ließ und dabei Schiffslaute von sich gab: das Getute, Geplätschere und Gegurgel eines verliebten Vaters.
[12] Der Mann beobachtete den Vater und sagte sich, daß er sich alles gut einprägen sollte, daß dies zu den Techniken gehörte, die einem niemand beibringen konnte und die man dennoch beherrschen mußte. Er wollte sichergehen, daß er seinem eigenen Baby, wenn er einmal eines hätte, ein ebenso perfektes Bad bereiten könnte wie dieses. Er wollte nichts falsch machen.
Den Arm auf den Badewannenrand gestützt, tauchte er seine Finger ins Wasser, fühlte die Temperatur, den warmen Seifenschaum, die kleinen Wellen, die das Gestrampel der Kleinen auslöste. Er griff nach der Flasche mit dem Babyshampoo und las eingehend den aufgedruckten Text. Er wollte herausfinden, welche Inhaltsstoffe gewöhnliche Flüssigseife zu Badeshampoo für Babys machten. Sein Freund sah ihn lächelnd an, und der Mann war plötzlich verlegen, als wäre er bei der Lektüre von etwas Verbotenem ertappt worden, von etwas Unschuldigem, das ausschließlich Babys und Vätern vorbehalten war und sich in den Händen kinderloser Männer in Pornographie verwandelte.
Der Mann stand auf, wischte sich die Hand an seiner Jeans ab und reichte dem Mann den weißen, mit einer Kapuze versehenen Frotteebademantel der Kleinen. Das nun folgende Ritual kannte er auswendig. Der Vater hob das Baby aus dem Wasser und hüllte es in den Bademantel. Er drückte es an seine Brust, preßte die Lippen an das Köpfchen und kämmte mit seinen Fingern den blonden Haarflaum. Dann trug er die Kleine ins Kinderzimmer, und der Mann trabte ihm hinterher wie ein Waffenträger und hielt zwischen Daumen und Zeigefinger das kleine Händchen [13] fest, das sich ihm aus dem Bademantel entgegenstreckte. Der Vater legte seine Tochter auf die Wickelkommode und bat den Mann, kurz auf sie aufzupassen. Dann ging er aus dem Raum und ließ den Mann allein; der baute sich vor der Wickelkommode auf, gespannt wie ein Flitzebogen und jederzeit bereit, das Baby zu retten, falls es herunterzufallen drohte. Aber es lag ruhig auf dem Rücken und versuchte, mit dem Mund den Saum des Frotteeärmels einzufangen.
Der Vater kehrte mit einem Paket Windeln zurück und stellte es auf den Fußboden. Der Mann erkundigte sich, ob er Hilfe benötige. Der Vater lächelte, rieb seine Nase am Bauch der Kleinen und fragte sie, was sie dazu meine, ob sie finde, daß sie beide Hilfe brauchten, und das Baby gluckste und strampelte mit den Beinen. Der Mann nahm eine flache, runde Cremedose in die Hand und ertappte sich dabei, daß er auch hier eingehend den aufgedruckten Text las. Dann legte er die Dose wieder zurück, nahm sich den Puderbehälter mit den Elefanten und Giraffenbildchen und schnupperte daran. Nachdem er den Puder wieder zurückgestellt hatte, griff er nach einem Ring mit bunten Plastikschlüsseln und schüttelte ihn vor den Augen der Kleinen, die sich davon ablenken ließ. Der Mann war begeistert und verbuchte ihre Reaktion als Erfolg für sich, doch die Kleine widmete sich mit einem Lächeln sogleich wieder dem Gesicht des Vaters, der sich über sie beugte und ihr die Windel anlegte. Sie streckte das Händchen nach seinem Gesicht aus, und der Vater küßte ihr die Fingerchen.
Der Mann legte die Plastikschlüssel neben den Puder [14] und die Creme auf die Wickelkommode, verließ das Kinderzimmer, durchquerte das Wohnzimmer, wo er auf ein Gummihündchen trat, das ein spitzes Quieksen von sich gab und ihn erschreckte, flüchtete sich auf den Balkon und zündete sich eine Zigarette an.
3
Die Frau stand in der Küche und bereitete Spaghetti zu. Sie steckte eine Handvoll Stäbchen in einen Aluminiumtopf und beobachtete den Fächer, dessen untere Hälfte im Wasser stak, während die obere am Topfrand lehnte. Sie wußte genau, wie lange es dauern würde, bis der Fächer in sich zusammensackte. Es würde mit kleinen, kaum wahrnehmbaren Regungen vereinzelter Stäbchen beginnen, die ins Innere abtauchen und die anderen mit sich ziehen würden. Binnen zwei Minuten würden alle in einem müden, resignierten Rutsch die Topfwand hinabgleiten und im Wasser versinken, doch zwei, drei besonders widerspenstige blieben immer hängen, die würde man mit einer Gabel gewaltsam untertauchen müssen.
Sie nahm eine Dose Tomatenpüree aus dem Schrank und öffnete sie. Dann holte sie das Sieb vom Haken über dem Herd, stellte es in die Spüle und wartete. In der Zwischenzeit nahm sie noch einmal die Spaghettipackung zur Hand, um die Hinweise zur Zubereitung zu lesen, obwohl sie sie schon auswendig kannte: neun Minuten. So lange mußten die Nudeln kochen. Merkwürdige Zeitangabe, dachte sie, ungewöhnlich.
[15] Sie nahm den Topf vom Herd und schüttete den Inhalt in das Sieb. Dann stellte sie den Topf zurück aufs Feuer, goß Öl hinein, schüttelte die Spaghetti in dem Sieb und gab sie zurück in den Topf. Sie fügte das Tomatenpüree und dann Salz, Pfeffer und Paprikapulver hinzu und rührte mit einer Gabel um. Es knackte und zischte, als die Spaghetti, das Tomatenpüree und das Öl mit dem Topfboden in Berührung kamen, und in der Küche breitete sich ein Geruch von Aluminium, Stärke und der Süße von billigen Gewürzen aus. Sie nahm den Topf vom Herd und stellte ihn auf ein Holzbrettchen auf dem Tisch. Dann setzte sie sich, breitete das Küchentuch über ihren Schoß und begann zu essen. Das war ihr Mittagessen. Es war eine Art Strafe.
4
Der Mann und die Frau saßen im Auto und redeten. Es war ein lauer Abend Anfang Oktober, und die Fensterscheiben waren heruntergekurbelt. Sie rauchten Zigaretten und ließen die Asche auf den Gehsteig fallen. Er lag unter einem Busch und beobachtete mit vor Müdigkeit zufallenden Augen das Aufglimmen der Zigaretten, die wie zwei Glühwürmchen aussahen, die ihn zum Mitspielen in der Dunkelheit einluden. Aber er glaubte ihnen nicht. In seinen Augen waren diese Glühwürmchen nur ein weiteres Trugbild der Hoffnung, vor dem man auf der Hut sein mußte. Dies war der achte Tag, an dem er herumstreunte, und er war hungrig, durstig und müde. Er war fünf Wochen alt, und zum ersten Mal in seinem Leben [16] begann er Ansätze dessen zu spüren, was binnen Jahresfrist heranreifen und in echte Verzweiflung umschlagen würde.
Seine Mutter war eine Kanaan-Hündin, die von den Feldern stadteinwärts gewandert war und unter den Betonpfeilern eines ruhigen Wohnhauses ihren Wurf zur Welt gebracht hatte. Einen Monat lang säugte sie ihn und seine drei Geschwister. Sie verließ das Versteck immer nur frühmorgens, noch vor Tagesanbruch, und durchstöberte die Mülltonnen, die in einer Reihe auf dem Gehsteig standen. Ihre Vorderpfote war gebrochen. In der Nacht, in der sie, vor den Menschen auf der Hut, dabei jedoch die Autos übersehend, von den Feldern stadteinwärts gezogen war, war sie von einem Taxi angefahren worden. Das Taxi war weitergefahren, die Hündin weitergelaufen. Einige Stunden lang war sie, das angeschlagene Bein angewinkelt und beleidigt hochgezogen, mit ihrem schwer herabhängenden, fast den Asphalt streifenden Bauch durch die Straßen gestreunt, vorbei an Geschäften, Restaurants und Cafés, bis sie die kleine Straße erreicht hatte, wo sie unter das auf Betonpfeilern stehende Haus geschlüpft war, sich auf einem großen Stück Karton niedergelassen und vier Welpen geworfen hatte.
Jedesmal, wenn sie vom Streunen zwischen den Mülltonnen, wo sie ihr Futter schnell, beinahe ohne zu kauen, verschlang, zurückkehrte und sich auf dem Karton niederließ, verschob sich der Bruch in der Pfote, und die Hündin stieß ein Schmerzgeheul aus, das eines Morgens den Argwohn der Hausbewohner weckte.
Ein alter Mann ging, einen Besenstiel in der Hand, nach [17] unten, um nachzusehen. Zuerst sahen die Hunde nur seine Füße, die in Gummilatschen steckten, dann seine Knie und Oberschenkel und die Säume seiner Shorts, bis plötzlich auch sein Gesicht erschien: das Gesicht eines Störenfrieds. Die Hündin sprang auf, fletschte die Zähne und knurrte ihn an. Der Mann stieß einen Fluch aus, trollte sich und kam am selben Tag nicht mehr wieder. Tags darauf erwachte die Mutter, stellte sich langsam auf ihre Beine und leckte jedes der Welpen ausgiebig und traurig ab; beim Kopf des erstgeborenen Welpen hielt sie sich besonders lange auf, als wollte sie ihm mit der Zunge eine Botschaft vermitteln. Dann humpelte sie in Richtung der Mülltonnen davon, ließ sie links liegen und kam nicht wieder.
Am Mittag erschien der Hausbewohner in Begleitung zweier Männer. Der eine trug einen langen Stab mit einer Schlinge am einen Ende, der andere verteilte rote Fleischstücke auf dem Rasen. Seine jüngeren Geschwister liefen mit wedelndem Schwanz, taumelnd und winselnd vor Aufregung und Dankbarkeit, aus dem Versteck, er aber zog es vor, sich tief zwischen die Gebäudepfeiler zurückzuziehen und sich hinter einem Haufen zerbrochener Ziegel zu verstecken, die nach Staub und Spinnen rochen. Die Hundefänger hofften darauf, daß auch die Mutter zum Vorschein käme; in der Zwischenzeit nahmen sie die Welpen auf den Arm und warteten. Sie wechselten einige Worte mit dem enttäuschten Hausbewohner, der ihnen immer wieder schwor, daß am Vortag eine toll gewordene Hündin dagewesen sei, die versucht habe, ihn anzugreifen.
Die Hundefänger und der alte Mann standen auf dem Rasen und warteten, doch die Hündin blieb [18] verschwunden. Der eine Hundefänger sammelte die Fleischstücke wieder ein und hob den Stab vom Rasen auf, der andere nahm die drei Welpen an sich. Der Hausbewohner fühlte sich von der Hündin betrogen. Er versuchte, die Hundefänger zum Bleiben zu bewegen, sie sollten sich noch ein Weilchen gedulden, »um der Sicherheit der Hausbewohner willen, unter denen es«, wie er flüsternd erklärte, damit die Welpen es nicht hören könnten, »auch Familien mit Kindern gibt«. Die Hundefänger waren einverstanden, und der Mann ging hinauf in seine Wohnung und kam mit einem mit Saftgläsern und Keksen beladenen Tablett wieder zu ihnen hinunter. Nachdem sie in aller Ruhe gegessen und getrunken hatten, bedankten sie sich bei dem Hausbewohner und zogen ab. Ihre Fangutensilien und die Welpen nahmen sie mit.
Selbst nach Einbruch der Dunkelheit traute sich der verbliebene Welpe nicht hinter dem Ziegelhaufen hervor und blieb die ganze Nacht über dort. Am Morgen ließ er sich wieder auf dem von Urin und Erinnerungen getränkten Karton nieder, und am Mittag trieb der Hunger ihn hinaus in das grelle Licht und auf den Rasen, der noch immer nach rohem Fleisch roch. Schnuppernd krabbelte er im Rasen umher und winselte leise vor sich hin; das Grauen vor dem Mann in Gummilatschen und den Männern, die seine Geschwister verschleppt hatten, war bereits vergessen. Eine Kolonne von Ameisen führte ihn zu einem feuchten Keks. Er packte die Beute mit den Zähnen und lief mit ihr zu seinem Karton. Nachdem er den Keks verschlungen hatte, legte er den Kopf auf die Vorderpfoten und schlief ein. In der Nacht weckte ihn erneuter Hunger, [19] schlimmer und schmerzhafter als der vorangegangene. Er lief hinaus auf den Rasen, um die netten Ameisen zu suchen, konnte sie aber nicht finden. Als er sich anschickte, zaghaft zu kläffen, öffnete sich über ihm ein Fenster, der Kopf eines Mannes schaute heraus, und Gerüche von brutzelndem Fleisch durchfluteten die Luft. Es war das allererste Mal gewesen, daß er gebellt hatte; er begriff sofort, daß er einen Fehler begangen hatte, und flüchtete auf die Straße.
Eine Woche lang streifte er umher und schlief unter Büschen und parkenden Autos. Hie und da wurden kleine Kinder auf ihn aufmerksam und versuchten, ihre Eltern zu ihm hinzuzerren, doch die Eltern hielten sie fest an der Hand und zogen sie weiter. Einmal kam er an einem Restaurant vorbei, und jemand warf ihm ein Hühnerbein hin. Er nagte das Beinchen ab und blieb unter dem freigebigen Tisch auf dem Gehsteig sitzen, doch dann kam eine riesige Frau heraus und versetzte ihm einen Tritt. Im Laufe dieser einen Woche lernte er, mit allen möglichen Tritten zu leben: heftige Tritte von Restaurant- und Cafébesitzern und von Verkäufern, in deren Geschäften er nach Schatten und Streicheleinheiten gesucht hatte, mittelgrobe Tritte von Leuten, mit denen er sich hatte anfreunden wollen, und sanftere Stöße von Füßen, zwischen die er auf den lauten Straßen geraten war, so leicht und beiläufig, daß sie ihm manchmal wie ein Streicheln vorgekommen waren.
Eine der Wagentüren öffnete sich, die Frau stieg aus, schlug die Tür zu und lehnte sich durch das offene Fenster wieder hinein, und der Mann gab ihr einen Kuß. Dann [20] kehrte sie dem Wagen den Rücken und blieb kurz stehen, um ihren Schlüssel aus der Tasche zu kramen. Er vernahm Geflüster und Lachen und schlug ein Auge auf. Die Frau beugte sich, das eine Bein an die Tür gelehnt, das andere in die Luft geschwungen, abermals ins Wageninnere, und der Mann küßte sie und versuchte, sie zu sich hineinzuziehen. Irgendwann richtete sie sich auf, die andere Tür öffnete sich, und der Mann stieg aus, schlug die Tür zu und ging hinüber zum Gehsteig.
Nun lehnte der Mann mit dem Rücken an der Tür, aus der die Frau ausgestiegen war. Die Frau stand vor ihm und spielte mit ihren Schlüsseln, die jedesmal klimperten, wenn sie sie hochwarf und mit einer Hand wieder auffing. Der Mann beugte sich zu ihr vor und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Die Frau wich ihm aus, schüttelte den Kopf und fuhr fort, die Schlüssel in ihrer Hand springen zu lassen. Der Hund öffnete das andere Auge und stellte das eine Ohr auf.
Der Mann fragte: »Aber wieso denn nicht?«, und die Frau lächelte, ohne zu antworten, und fuhr fort, mit den Schlüsseln zu klimpern. Der Welpe kroch unter dem Busch hervor und wedelte mit dem Schwanz.
Zuerst bemerkten sie ihn nicht. Sie umarmten und küßten sich, und der Schlüsselbund war zwischen ihnen eingeklemmt, so daß der Hund nur noch Geschmatze und Geflüster hörte und noch einmal: »Wieso denn nicht? Nur auf einen Kaffee.« Und dann klimperten abermals die Schlüssel, und der Welpe lief, den Schwanz zwischen die Beine geklemmt und den Kopf gesenkt und zur Seite geneigt, auf den Mann und die Frau zu.
[21] Als die Frau ihn entdeckte, bückte sie sich zu ihm hinab und legte den Schlüsselbund auf den Gehsteig, und der Mann meinte: »Schau dir diesen armen Welpen an.«
»Er ist so mager!« rief die Frau aus und kraulte dem Welpen den Nacken.
»Das ist ein ganz Lieber«, meinte der Mann.
»Schrecklich, das arme Tier«, fand die Frau.
»Schau, wie er sich freut«, sagte der Mann und ging in die Hocke. Mit der einen Hand streichelte er den Bauch des Welpen und mit der anderen den Nacken der Frau. Dann küßten sie sich erneut, kraulten und kitzelten jedoch zugleich den Bauch des Welpen, der sich sofort hingab.
»Was sollen wir nur mit ihm machen?« fragte die Frau und legte ihre Hand auf die Schulter des Mannes.
»Laß uns zu dir hochgehen«, erwiderte der Mann.
»Aber was wird aus ihm?« hakte die Frau nach und betrachtete den Welpen, der jetzt auf dem Bauch lag. Sein Kopf ruhte auf den Pfoten, und sein Schwanz schlug auf das Pflaster.
»Sieht mir nicht danach aus, als würde er jemandem gehören. Möchtest du einen Hund haben?«
»Ich weiß nicht. Möchtest du einen?«
»Ich kann nicht«, erklärte der Mann. »Ich bin fast nie zu Hause.«
»Wollen würde ich schon, aber ich weiß nicht, ob ich so eine Verpflichtung jetzt gebrauchen kann«, sagte die Frau.
»Ich brauche jetzt bestimmt keine Verpflichtung«, meinte der Mann und legte der Frau, die sich auf dem Pflaster niedergelassen hatte, seine Hände auf den Oberschenkel.
[22] »Laß das«, sagte sie. »Gleich holen die Nachbarn noch die Polizei.«
»Gehen wir jetzt zu dir rauf?« erkundigte sich der Mann.
»Ja«, antwortete die Frau und stand auf, »aber nur auf einen Kaffee.«
»Und was ist mit ihm?« fragte der Mann und sah den Hund an.
»Wir geben ihm etwas zu fressen, und wenn du nach Hause gehst, bringst du ihn wieder runter«, sagte die Frau.
»In Ordnung«, meinte der Mann und gab ihr noch einen Kuß, diesmal zärtlich auf die Wange. »Nach dem Kaffee bringe ich ihn runter.«
Doch der Mann und der Hund blieben zum Schlafen da.
5
Jeder schlief an seinem Platz. Der Hund auf dem kleinen Teppich am Fußende des Betts und der Mann neben der Frau im Bett. Der Mann und die Frau gingen nicht sofort schlafen. Erst kümmerten sie sich um den Hund. Sie packten fast alles, was im Kühlschrank war, auf einen Plastikteller, den die Frau unter einem der Blumentöpfe auf dem Balkon herausgezogen hatte. Die Mahlzeit des Hundes bestand aus einem ganzen Becher Hüttenkäse, ein paar Scheiben Käse, mehreren Scheiben Truthahnwurst und einem Mokkajoghurt. Sie waren in Geberlaune. Die Frau stellte den vollen Teller auf die Arbeitsplatte und wollte von dem Mann wissen, ob er der Meinung sei, daß das [23] ausreiche, und der Mann umarmte sie von hinten und preßte seine Lippen an ihren Hals.
Der Hund saß auf dem Küchenboden neben dem Kühlschrank. Er begriff instinktiv, daß sein Glück heute nacht von dort kommen würde, und vielleicht ja nicht nur heute nacht, vielleicht ja sogar immer. Der Mann schubste ihn mit dem Fuß beiseite, öffnete die Kühlschranktür, warf einen Blick ins Innere und holte drei Eier heraus. Er schlug sie mit einer Hand in den Teller auf und warf die Schalen in den Kleinmüllbehälter bei der Spüle. Die Frau nahm den Teller und drehte sich zu dem Mann um, und sie küßten sich wieder. Der Welpe hüpfte erwartungsvoll an ihnen hoch.
Endlich erinnerte sich die Frau seiner wieder und meinte lachend: »Du armes Würstchen, hab ich dich hungern lassen.« Sie löste sich aus der Umarmung, bückte sich und stellte den Teller auf den Fußboden. Der Hund stürzte sich sogleich auf sein Fressen. Der Mann drückte die Frau sanft gegen den Kühlschrank und hob den Saum ihres Kleides hoch. Der Hund fraß und hörte auch während des Fressens nicht auf zu wimmern. Sein ganzer Körper bebte vor Erregung. Er fraß schnell, ohne etwas zu schmecken, doch als er die Hälfte des Tellers geschafft hatte und feststellte, daß am Tellerboden noch immer Futter war, drosselte er sein Tempo und gab sich mit geschlossenen Augen den vermischten Geschmacksrichtungen von Eier, Käse, Wurst und Mokka hin. Er verputzte alles und leckte dann den Tellerboden und den Rand restlos sauber. Anschließend dreht er den Teller um, zerrte ihn mit der Pfote über den Fußboden, schob seine Nase unter den Rand und drehte ihn noch einmal um, um mit der Zunge über den [24] Tellerboden zu fahren. Als er entdeckte, daß der Teller ihm nichts mehr zu bieten hatte, verspürte er Zufriedenheit und Bange zugleich und lief ins Schlafzimmer.
Der Mann und die Frau rollten nackt im Bett herum. Ihre Kleidungsstücke fand der Hund wie Wegweiser in der Küche und im Flur verstreut, bis hin zum Schlafzimmer, das dunkel war und voller Gestöhne. Jetzt, wo er satt war, wollte er spielen, und er begann um das Bett herumzutollen. Er hörte den Mann und die Frau kichern und flüstern, und als er den nackten Fuß des Mannes unter dem Leintuch hervorspitzen sah, stellte er sich auf die Hinterbeine und schnupperte an der Ferse, die warm und rauh war. Der Mann versetzte ihm einen Tritt, und der Hund wurde nach hinten weggestoßen, fiel auf den Rücken und rollte über den Fußboden. Er kam wieder auf die Beine und wedelte mit dem Schwanz. Er wußte genau, daß es sich diesmal um einen gutgemeinten Tritt handelte.
Jetzt, mit vollem Magen, empfand er eine seltsame Mischung aus Glücksgefühl und Unruhe. Das Glücksgefühl hatte er noch vage, von allem abgetrennt, als Viereck aus Karton in Erinnerung. Die Unruhe hingegen war noch frisch und schmerzhaft und bestand aus vielen Details: Blätter, glühend heißer Asphalt, Durst, Tausende tretender Füße und ein Hühnerbeinchen, von dem er nicht wußte, ob es dem Glücksgefühl oder der Unruhe zuzuordnen war. Er umkreiste das Bett, stellte sich abermals auf die Hinterbeine und legte seinen Kopf auf die Matratze. Er versuchte es abwechselnd auf der Seite des Mannes und auf der Seite der Frau, doch weder der Mann noch die Frau waren jetzt für irgendwelche Spiele zu haben.
[25]