SEMNOS LEHRBUCH
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www.semnos.de
Baer, Udo
Frick-Baer, Gabriele
Wie Traumata in die nächste Generation wirken
Neukirchen-Vluyn:
Semnos Verlag 2012
epub-ISBN 978-3-934933-44-6
© 2012 Semnos Verlag, Neukirchen-Vluyn
Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Andrea Hahn
Satz: TRITUM GmbH, Jena
Umschlaggestaltung: Christin Ursprung, Berlin
Titelfoto: Simbär / photocase.com
eBook-Herstellung und Auslieferung:
Brockhaus Commission, Kornwestheim
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SEMNOS LEHRBUCH
Udo Baer, Gabriele Frick-Baer
Wie Traumata in die nächste
Generation wirken
Untersuchungen, Erfahrungen,
therapeutische Hilfen
SEMNOS
Udo Baer (Neukirchen-Vluyn – Jg. 1949)
Dr. phil., Dipl. Pädagoge, Kreativer Leibtherapeut, Heilpraktiker für Psychotherapie, Mitbegründer, Geschäftsführer und Gesamt-Ausbildungsleiter der Zukunftswerkstatt therapie kreativ, Vorsitzender der Stiftung Würde, wissenschaftlicher Leiter des Institut für Gerontopsychiatrie (IGP) und des Kompetenzzentrums für Kinder und Jugendliche (KKJ), Autor.
Gabriele Frick-Baer (Neukirchen-Vluyn – Jg. 1952)
Diplom Pädagogin, Kreative Leibtherapeutin, Heilpraktikerin für Psychotherapie, Kreative Traumatherapeutin, Autorin, therapeutische Leiterin der Zukunftswerkstatt therapie kreativ.
Inhalt
1 Von der Erschütterung und Neugier zum Forschungsprojekt
2 Was Therapeut/innen über Traumata wissen müssen
3 Die erste und die zweite Generation: Gemeinsamkeiten
3.1 Das Leiden und das Posttraumatische Stresssyndrom
3.2 Flashbacks
3.3 Erregung
3.4 Vermeidungsverhalten
3.5 Emotionale Abflachung, Ängste und Ängstlichkeit
3.6 Wie erklären sich Gemeinsamkeiten?: Spiegelneuronen und Resonanz
4 Leiden, ohne wissen zu können, warum: die vier Leeren der zweiten Generation
4.1 Schrecken ohne Worte – das große Schweigen
4.2 Verluste ohne Trauer
4.3 Schmerz ohne Trost
4.4 Die psychische Leere und das schwarze Loch
5 Zweite Generation: Leerstellen in Identität und Bindung
5.1 Risse in der Selbstverständlichkeit
5.2 Unstimmigkeiten: Von den zwei Heimaten bis zum „Was stimmt?“
5.3 Die transtraumatogene Bindungsstörung
6 … und viele andere Folgen
6.1 Geringes Selbstwertgefühl – trotz Erfolg
6.2 Leistung, Leistung, Leistung
6.3 „Unten bleiben“ oder „drüber weg“
6.4 Relativierung der eigenen Probleme
6.5 Riesenlast
6.6 Fokussieren und Vermeiden
6.7 Konfliktscheu
6.8 Aggressivität und Gewalttätigkeit
6.9 Abwertung
6.10 Scham- und Schuldgefühle
6.11 Parenting, Überforderung und „Retten wollen“
6.12 Kontrolle und Zwangsnormalität
6.13 Sich ausgeschlossen fühlen
6.14 Desorganisiert oder überorganisiert
6.15 Extreme Identifikationsfähigkeit
6.16 Zeitkollaps
6.17 Abgrund
6.18 Fürsorge und Solidarität
7 Anhaltspunkte in der Therapie: Was die Atmosphäre erzählt …
8 Wie helfen?
8.1 Essentials therapeutischer Arbeit mit transgenerativen Traumata
8.2 Praxisbeispiele
8.2.1 Der Todesstreifen
8.2.2 Schattenbewegung
8.2.3 Der volle Rucksack
8.2.4 „The next generation” und „The last generation”
8.2.5 Wie klingt Leere?
8.2.6 Wer aufgibt, versinkt!
8.2.7 Die schwarzen Kissen und das schwarze Loch
8.2.8 Der Stoff, aus dem die Trauer ist
8.2.9 Zwischen strotzender Kraft und maßloser Schwäche
8.2.10 Der Dreh
8.3 Nachklänge
Literatur
Ella D. – ihr Name ist wie alle anderen in diesem Buch verändert – zeigte alle Symptome eines Posttraumatischen Stresssyndroms. Sie wurde von Bildern sexueller Gewalt heimgesucht, sie begegnete sich und ihrer Welt mit hoher Anspannung und dauerhaft erhöhter Erregung, sie war ängstlich und wagte kaum, ihren eigenen Gefühlen zu lauschen, geschweige denn, sie zu zeigen, und vermied Situationen, vor und in denen sie Angst hatte oder das Aufkommen von Angst befürchtete. Während einer Verhaltenstherapie probierte sie zahlreiche Verhaltensänderungen aus, meisterte manche Alltagssituationen besser, scheiterte aber in der Bewältigung ihrer als existenziell erlebten inneren Ängste. Diese Ängste und die Anspannung blieben oder kehrten nach kurzer Zeit wieder zurück und hatten bedeutsame Auswirkungen auf ihr Leben. Innerhalb einer leiborientierten tiefenpsychologisch fundierten Therapie fand sie den für sie geeigneten Rahmen und Boden, ihr Selbstbewusstsein und ihre Selbstsicherheit zu entwickeln und zu erhöhen und ihre Grundspannung zu vermindern. Aber auch wenn es ihr besser ging: Die alten Bilder kamen immer wieder und die Ängste lauerten weiterhin zumindest unter der Oberfläche. Sie und ihre Therapeutin gingen gemeinsam auf die Suche, ob eine Erfahrung sexueller Gewalt vorlag, so offensichtlich waren die Symptome einer Posttraumatischen Belastungsstörung, also einer chronifizierten Folge einer traumatischen Erfahrung. Doch sie gingen mit ihrer Suche ins Leere, es fanden sich keine Hinweise auf eine biografische Quelle der Phänomene, unter denen Ella D. litt. Die Therapie stockte.
Die Klientin war Mitte der 1950er Jahre geboren worden. Dass der Vater als Jugendlicher am Ende des Zweiten Weltkriegs eingezogen wurde und als Flakhelfer aktiv war, hatte die Klientin erzählt, von der Biografie der Mutter allerdings kaum etwas. Die Therapeutin bat Ella D., ihre Mutter zu fragen, was sie im Krieg und in der Zeit danach erlebt hätte. In die nächste Therapiestunde kam Ella D. sehr aufgeregt und erzählte: „Meine Mutter war im Krieg ja ein junges Mädchen und hat sich vor allem auf dem Land bei Verwandten aufgehalten, so dass sie von den Bomben und so nichts mitbekommen hat. Dass ist das, was ich bisher als offizielle Version aus dem Leben meiner Mutter wusste, das ist das, was bei uns zu Hause erzählt wurde. Doch als ich jetzt meine Mutter fragte und sie ganz dringlich gebeten habe, mir von sich zu erzählen, wurde sie kreidebleich und erzählte mir irgendwann, nachdem ich noch ein paar Mal nachgefragt habe, dass sie 1946 vergewaltigt worden ist. Damals war sie 14 und ich glaube, das hat sie nie überwunden. Mit 19 ist sie dann noch einmal in eine Situation gekommen, wo sie kurz vor einer Vergewaltigung stand oder zumindest glaubte, dass es so wäre. Ich glaube, das steckt ihr noch in den Gliedern, und ich kann jetzt besser verstehen, warum sie immer so zurückhaltend war und so ängstlich.“
In der weiteren Therapie wurde deutlich, dass Ella D. den traumatischen Schrecken ihrer Mutter übernommen hatte, ihn sich „einverleibt“ hatte – obwohl oder gerade weil darüber nie gesprochen worden war. Sie hatte und lebte alle Symptome einer traumatischen Erfahrung, ohne diese Erfahrung zu haben, ihr Trauma war nicht ihr eigenes, selbst erlebtes, sondern ein transgeneratives, eines, das über die Generationen hinweg weitergegeben worden war.
Thomas S. kam wegen massiven Angststörungen in die Therapie. Er fand einige Quellen dieser Ängste in seiner Biografie. Dadurch veränderte sich seine Gefühlslandschaft, die nun weniger durch Angstgefühle geprägt war, und dadurch veränderten sich auch einige eingespielte Verhaltensmuster. Vieles wurde bearbeitet, Thomas S. malte sichere Orte und einen sicheren Rahmen und er malte seine Ängste: Eingesperrtsein, Dunkelheit, Enge. Er empfand es als hilfreich, die Botschaften des bildnerischen Ausdrucks zu verstehen. Die Ängste tauchten dennoch in seinen Träumen auf und verfolgten ihn tagsüber. In einem immer wiederkehrenden Albtraum war er eingesperrt, wollte schreien, konnte aber nicht.
Als der Therapeut ihn in einer Therapiestunde bat, seine zurückgehaltenen Schreie mit einem Musikinstrument auszudrücken, konnte er dies nicht. Das machte ihm zu viel Angst. Als der Therapeut ihn dann aber bat, für das Eingesperrtsein und die Enge einen musikalischen Ausdruck zu finden, wählte er eine große Pauke und schlug viele Minuten lang immer wieder auf diese Pauke. Der Klient hatte auf die Frage, was er gehört hätte, welche inneren Bilder in ihm entstanden seien, welche Erinnerungen in ihm ausgelöst worden seien, nur die Antwort:
„Ich weiß nicht. Ich versteh’s nicht. Ich bin vollkommen ratlos.“ Im Therapeuten waren beim Zuhören über die Klänge Bilder von Bombeneinschlägen entstanden und er fragte unvermittelt, sich auf seine Resonanz verlassend: „Wie alt waren Sie bei Kriegsende? Was machten Sie und Ihre Eltern damals?“
Thomas S. antwortete: „Oh, da war ich noch klein. Ich bin 41 geboren, da muss ich 45 gerade vier gewesen sein. Ich erinnere mich an nichts. Da muss ich mal fragen.“
Seine Eltern waren zum Zeitpunkt der Therapie bereits verstorben, aber er fragte eine Tante, die damals in der gleichen Wohnung mit seiner Familie zusammengelebt hatte. Sie erzählte ihm, dass die Familie, die damals im Ruhrgebiet gelebt hatte, oft nachts wegen Bombenalarm aus dem Bett gerissen worden war, um die Luftschutzkeller aufzusuchen. Er habe dann immer geschrien, was die anderen im Keller nicht aushalten konnten, so dass sie ihm den Mund zugehalten hätten. Er musste stillhalten, schweigen, die Angst und der Schrei blieben in ihm.
Dieses Erleben hatte sich in ihm festgesetzt und tauchte viele Jahrzehnte danach noch als Angst oder Schrecken auf, wurde und blieb lebendig. Er war eingesperrt im Bunker seiner Angst.
Der in den letzten Therapiestunden ein wenig stagnierend wirkende therapeutische Prozess von Thomas S. konnte sich nach dieser Phase des Erlebens und Erkennens seinem Ende zuneigen. Der verborgene Schrecken hatte aus dem Verborgenen heraustreten können. Er verlor so viel von seiner Kraft und Thomas S. konnte neue Wege der Bewältigung seiner Ängste finden. Als er und der Therapeut über die Beendigung der Therapie sprachen, sagte er: „Ich habe eine große Bitte: Kann mein Sohn zu Ihnen kommen? Er leidet unter Angststörungen. Mir hat man als Kind den Mund zugehalten, er ist Zahnarzt und sagt den Leuten immer: ‚Mund auf!‘ Auch wenn sich das fast witzig anhört: Ich habe große Sorgen um ihn, weil er ähnliche Ängste hat wie ich.“ Im therapeutischen Gespräch mit dem Sohn stellte sich heraus, dass auch hier die Ängste des Thomas S. über die Generationen hinweg weitergegeben worden waren. Thomas S. konnte nicht über die Quellen seiner Ängste reden, weil er diese verdrängt hatte und weil er sich an sie nicht mehr erinnerte. Nur noch die Ängste waren da, nicht mehr das, was sie ausgelöst hatte. Der Sohn wurde mit diesen Ängsten groß und übernahm sie unwillentlich und unbewusst, selbstverständlich. Als der Vater dem Sohn von seinen Kindheitserfahrungen erzählte, fand dieser nicht nur Erklärungen für seine Ängste, sondern auch dafür, warum er trotz einer pazifistischen Grundeinstellung jahrelang Bücher über den Zweiten Weltkrieg verschlungen und eine Zeitlang sogar Militaria gesammelt hatte. Als das Schweigen durchbrochen war, waren die Ängste nicht weg, verloren aber einen Teil ihrer Kraft. Anteile ungelebten Lebens bekamen so eine Chance, gelebt zu werden.
Solche und ähnliche Erfahrungen weckten unser Interesse. Wir lernten von unseren Klientinnen und Klienten, dass traumatische Erfahrungen offenbar an die nächste Generation weitergegeben wurden. Die Weitergabe erfolgte offenbar umso intensiver und umso nachhaltiger, je mehr darüber geschwiegen wurde. Oft wurde gar nicht darüber geredet, manchmal wurde über traumatische Ereignisse erzählt, aber emotional geschwiegen. Die Botschaften des Schweigens entfalteten über Atmosphären, Tabus und viele andere Aspekte, die wir in diesem Buch vorstellen, ihre Kraft in der nächsten Generation.
Das machte uns neugierig und wir gingen auf Entdeckungsreise – auch bei uns selbst, in unseren eigenen Biografien.
Wir begannen, Fachliteratur zu studieren, und sichteten Berichte und Analysen von transgenerativer Traumaweitergabe bei Kindern und Enkeln von Holocaust-Überlebenden. In Deutschland war die Literatur sehr spärlich (siehe Literaturverzeichnis), das Thema der Folgen des Zweiten Weltkrieges für die erste und auch für die nächste Generation war jahrzehntelang in der Forschung und Publizistik ebenso verdrängt worden, wie traumatische Ereignisse von den Betroffenen dissoziiert werden. In den letzten Jahren hat erfreulicherweise das Thema auch in anderen Publikationen seinen Platz gefunden, vor allem, was die Folgen kriegstraumatischer Erfahrungen für die nächste Generation anbetrifft (Kriegskinder, Kriegsenkel …). Die lesenswerten Bücher wie die von Sabine Bode oder Anne-Ev Ustorf beschränken sich dabei auf die Weitergabe von Kriegstraumata, während wir die transgenerative Weitergabe jeglicher Traumata, auch der aus sexueller Gewalt resultierenden, in den Blick nehmen. Diese Bücher wurden von Journalistinnen verfasst, die dankenswerterweise die Öffentlichkeit auf ein kaum beachtetes Thema aufmerksam machen wollten und wollen. Uns fehlten Untersuchungen aus therapeutischer Sicht, die für die therapeutische Praxis zu nutzen wären.
Also begannen wir 2007 ein Forschungsprojekt. Wir werteten Therapieprozesse aus und führten 15 narrative Interviews mit Söhnen und Töchtern traumatisierter Menschen durch. Die interviewten Menschen wurden zufällig gefunden. Narrative Interviews sind Interviews, in denen Menschen aus dem Stehgreif, also ohne Struktur und ohne Vorbereitung, lediglich angeregt durch eine offene Fragestellung und konkretisierende Nachfrage über ihr Leben erzählen. Über Aushänge und Aufforderungen auf Veranstaltungen meldeten sich Personen, die mit uns Neugier und Interesse an dem Thema teilten und sich interviewen ließen.
Wir merkten, dass die in dieser Forschungsarbeit gewonnenen Erkenntnisse unsere therapeutische Arbeit bereicherten, und begannen, auf Kompetenztagen und in Fortbildungen Zwischenergebnisse zu veröffentlichen. Zahl und vor allem Intensität der Rückmeldungen erstaunten uns. Viele Menschen fanden sich in den beschriebenen Themen und Erfahrungen wieder, viele Therapeutinnen und Therapeuten interessierten sich dafür. Wir begegneten Menschen, die als „Generation zwischen den Generationen“, wie es ein Mann ausdrückte, erschüttert waren beim Blick auf ihre Kinder, denen sie alles Glück dieser Welt gewünscht hatten und wünschen – und die dennoch das Empfinden haben, an der Teilhabe am „lebendigen Leben“ gehindert zu sein. Diesen Menschen eröffnete sich durch die Beschäftigung mit ihren eigenen transgenerativen Traumata und die Kraft, die Botschaften des Schweigens innewohnt, auch eine Tür zum Verständnis ihrer Kinder („Die doch eigentlich keinen Grund haben, sich zu beklagen, so gut, wie sie es hatten“).
Diese Menschen, diese Eltern, berichteten, dass ihnen diese Sicht darüber hinaus geholfen habe, ein wenig Orientierung im Dschungel diffuser Schuldgefühle zu finden. Sie wollten sich in die Pflicht nehmen, mit ihren Kindern, v.a. ihren erwachsenen Kindern, zu sprechen, sich ihnen zu öffnen, und Verantwortung dafür übernehmen, das Schweigen zu brechen.
Wir beschäftigen uns hier in diesem Buch mit der transgenerativen Traumaweitergabe generell. Es bezieht sich auf traumatische Erfahrungen jeder Art, ob im Krieg oder durch den Krieg, ob in der Familie oder durch den Terror in sozialen Beziehungen und beruflichem Umfeld, ob durch sexuelle Gewalt oder andere Ereignisse.
Die Prozesse sowohl des Traumaerlebens als auch der transgenerativen Traumaweitergabe sind trotz unterschiedlicher Traumaereignisse sehr ähnlich, deswegen werden wir sie nicht gesondert behandeln oder unterscheiden und schon gar nicht gewichten. Die Differenzierungen je nach individueller Persönlichkeit und Verarbeitungsstrategien sind größer und weitaus bedeutsamer als mögliche Differenzierungen nach unterschiedlichen Traumaereignissen.
Hier stellen wir nun die Ergebnisse dieses Forschungsprojektes vor. Es begann mit unserer Erschütterung über das Ausmaß an Leiden, das das Schweigen, das Verschweigen des Erlebens traumatischer Ereignisse in der nächsten Generation schafft, so wie wir es in unserer therapeutischen Praxis – zunächst vereinzelt – erfuhren. Als sich die Hinweise häuften, dass der transgenerative Aspekt der Traumaweitergabe und des Traumaerlebens für viele Menschen, die in der Therapie Hilfe suchen, von Bedeutung sein könnte, folgten wir mit Interesse und beteiligter Neugier diesen Spuren.
Das Buch wendet sich vor allem an Therapeut/innen und andere Fachkräfte, die professionell mit Menschen arbeiten. Um für möglichst viele Fachleute einen größtmöglichen praktischen Nutzen zu erzielen, haben wir auf die Darlegung der wissenschaftlichen Methodik ebenso verzichtet wie auf ausführliche Zitate und Veröffentlichungshinweise im Text (dafür verweisen wir auf unsere Literaturliste). Die Interviews haben wir nummeriert, sie werden im Text als I 1, I 2 usw. gekennzeichnet. In Absprache mit den Interviewten haben wir manche Passagen leicht der Schriftsprache angeglichen. Es ist uns ein Anliegen, die Ergebnisse dieses Forschungsprojektes in einer gut lesbaren und verständlichen Sprache zu präsentieren. Die Forschung soll der Praxis dienen und damit Therapeutinnen und Therapeuten Anregungen geben, die Hilfsmöglichkeiten für Klientinnen und Klienten zu erweitern.
Wenn dieses Buch auch außerhalb therapeutischer Fachkreise seine interessierte Leserschaft finden würde, wäre das eine besondere Freude für uns.
Wer sich mit der Weitergabe traumatischer Erfahrungen beschäftigt, kommt leicht in Versuchung, die traumatischen Erfahrungen der ersten Generation auszubreiten. Dies ist in gewissem Maße notwendig, um zu verstehen, welche traumatischen Ereignisse welches Traumaerleben zur Folge haben, wie dies nachwirkt und wie dies in die Erlebenswelten der nächsten Generation hinübergreifen kann. Und damit Therapeutinnen und Therapeuten die transgenerative Weitergabe traumatischen Geschehens überhaupt in Erwägung ziehen, müssen sie über einige Kenntnisse der Verbreitung und Qualität traumatischer Erfahrungen der ersten Generation verfügen. Wir wollen aber die Informationen über die Erfahrungen der ersten traumatisierten Generation, deren Erlebensfolgen an die zweite Generation weitergegeben werden, möglichst knapp halten, um ein Eintauchen der Leserinnen und Leser in allzu viele Erschütterungen zu vermeiden.
Wenn wir in diesem Werk von „zweiter Generation“ sprechen, so sind damit die Menschen gemeint, die an den Folgen nicht unmittelbar selbst erlebter Traumata leiden. Wir meinen die Menschen, die die verschwiegenen, emotional verdrängten oder dissoziierten Traumata der vorherigen Generation übernommen haben. Die Zuordnung zur zweiten Generation sagt also nichts über das Alter der Betroffenen und Betreffenden aus (sie können ebenso 12 wie 60 Jahre alt sein oder jedes andere Alter haben). Die Kategorien „erste“ und „zweite“ Generation haben keine historische, sondern eine subjektive Dimension. Die Angehörigen der zweiten Generation sind diejenigen, aus deren Sicht und individueller Lebensgeschichte heraus wir die Generation definieren. Sie sind in diesem Forschungszusammenhang im Rahmen dieses Forschungsprojekts die Klientinnen und Klienten, mit denen wir therapeutisch arbeiten und die wir interviewt haben.
Auch wenn wir in diesem Buch die Begriffe „erste“ und „zweite“ Generation unhistorisch benutzen, hat die transgenerative Traumaweitergabe doch eine historische und gesellschaftliche Dimension. Die Beschäftigung mit diesem Thema ist nicht nur für Klient/innen und Patient/innen sinnvoll, sondern hat auch gesellschaftliche Bedeutung. Deutschland und Österreich waren nach 1945 traumatisierte Gesellschaften. Zwei von drei Menschen der Kriegsgenerationen erlebten in diesen Jahren traumatisierende Erfahrungen, die Hälfte von ihnen mehrmals. Dies auch als Kinder, ja Kleinkinder, dies sowohl als unmittelbar Betroffene als auch als Zeugen, was genauso traumatisieren kann, wie wenn man unmittelbar Opfer wurde. Und 1945 waren die traumatischen Ereignisse nicht vorbei. Vertreibungen, Vergewaltigungen und Flucht gingen weiter bis 1947/48. Viele Kriegsgefangene kamen erst Anfang der 1950er Jahre zurück.
Der Hungerwinter 1946/47 wirkte auf viele Kinder und Erwachsene ebenfalls traumatisch. Hinzu kamen in den Folgejahren die Flüchtlinge aus der ehemaligen DDR, die auch oft traumatische Erfahrungen hinter sich bringen mussten. Zählt man die zahlreichen zusätzlichen Erfahrungen sexueller und anderer Gewalt hinzu, kann man für die folgenden Jahrzehnte von einer großen Mehrheit der Bevölkerung ausgehen, die traumatische Erfahrungen durchlebt hat.
Wir möchten an dieser Stelle auf das Buch „Wo geht’s denn hier nach Königsberg?“ verweisen, das die Traumata und Leiden der Kriegsgeneration und deren Folgen beschreibt.
Wenn mehrere Generationen in einem Haushalt zusammenlebten, was in den 1950er und 1960er Jahren noch häufig der Fall war, ballte sich das Schweigen der Väter und Mütter, Omas und Opas, Onkel und Tanten manchmal in einer Konzentration zusammen, die heute nur noch schwer vorstellbar sein mag.
Diese Atmosphäre und die Verbreitung traumatischer Erfahrungen hatten individuelle Auswirkungen ebenso wie gesellschaftliche. Das gesellschaftliche Schweigen unterstützte das individuelle und umgekehrt: Das individuelle Schweigen über die traumatischen Erfahrungen und die damit verbundenen Gefühle wurde zu einem gesellschaftlichen.
Wir wissen, dass die meisten Opfer traumatischer Erfahrungen schweigen. Also können wir annehmen, dass die Mehrheit der heutigen Bevölkerung aufgrund dieser historischen Konstellation des Zusammentreffens „alltäglicher“ Traumata und Kriegstraumata von einer transgenerativen Traumaweitergabe betroffen ist. Somit auch die Mehrheit der Klient/innen. Das macht die Beschäftigung mit diesem Thema therapeutisch wie gesellschaftlich bedeutsam.
Wir werden uns am Anfang dieses Buches mit einigen „Basics“ beschäftigen. Wer über die transgenerative Weitergabe etwas lernen möchte, muss wissen, was ein Trauma ist, muss zwischen Traumaereignis und Traumaerleben unterscheiden können und einiges mehr. Dies ist das Thema des zweiten Kapitels. Im dritten Kapitel werden wir uns dann damit auseinandersetzen, wie und warum viele Angehörige der zweiten Generation ähnliche Symptome wie traumatisierte Menschen der ersten Generation haben.
Im daran anschließenden Kapitel stellen wir das wichtigste Ergebnis unserer Untersuchungen vor: die vier Leeren – Leiden, ohne zu wissen, warum. In den Abschnitten danach folgen Darstellungen der Auswirkungen transgenerativer Traumaweitergabe auf die Entwicklung der Identität und der Bindungsfähigkeit, schließlich Beschreibungen vielfältiger weiterer Erscheinungsformen, wie traumatische Erfahrungen an die nächste Generation weitergegeben werden und wie sie sich bei Angehörigen der zweiten Generation zeigen.
Schließlich erzählen wir davon, welche Hinweise und Indikationen es in der Therapie nach unseren Erfahrungen geben kann, die darauf hindeuten, dass eine transgenerative Traumaweitergabe die Symptome, unter denen Patient/innen und Klient/innen leiden, beeinflussen. Und dann, last not least, folgt das Kapitel: Was hilft?
Auf keinen Fall wollen wir hier den Eindruck erwecken, als sei die transgenerative Weitergabe von Traumata die einzig zentrale Quelle von Leiden generell. Sie ist ein, allerdings oft entscheidender Aspekt von tiefem Leid, der sich häufig den traumatischen Erfahrungen unserer Klienten und Klientinnen, den Erfahrungen von Ohnmacht und Gewalt in all ihren Ausprägungen, hinzugesellt. Wir wollen auch nicht den Eindruck erwecken, dass es nicht auch das Gegenteil des Schweigens gibt, z.B. das Überschütten kleiner Kinder mit grausamen Kriegserinnerungen und Erfahrungen sexueller Gewalt, die dadurch überfordert und belastet werden. Doch um diesen Aspekt geht es in diesem Buch nicht, wir stellen ihn beiseite, um uns ganz dem Schweigen und seinen Auswirkungen zu widmen.
Und noch ein Hinweis: Wir beschäftigen uns in diesem Buch ausschließlich mit der transgenerativen Weitergabe von Opfer-Erfahrungen. Auch Täter und Täterinnen schweigen und auch dies hat Auswirkungen auf die nächste Generation. Wir beschränken uns in diesem Buch darauf, wie Opfer traumatischer Erfahrungen diese unbewusst weitergeben, welche Auswirkungen dies hat und was dagegen hilft. Den Täteraspekt zu untersuchen und darzustellen, hätte den Rahmen unseres Forschungsprojektes, unserer Kraft und dieses Buches gesprengt.
Wir hoffen, Sie mit diesem Buch neugierig auf das Thema zu machen, neugierig darauf, gemeinsam mit Ihren Klient/innen und Patient/innen auf die Suche zu gehen.
Trauma heißt Wunde. Das Wort stammt aus dem Altgriechischen und wurde ursprünglich in der Medizin als Begriff für schwere körperliche Verletzungen mit schockartigen Folgen eingeführt. In der Psychologie und Psychotherapie wurde die Bezeichnung schließlich auf schwere seelische Verletzungen erweitert.
Um zu verstehen, wie Traumata in die nächste Generation weitergegeben werden, müssen wir wissen, was ein Trauma ist und welche Folgen es haben kann.
Wir wollen die Grundlagen, die für ein Traumaverständnis notwendig sind, hier vorstellen und verweisen auf ausführliche Darstellungen in der Literatur, z.B. Herman 1994/2007, Fischer/Riedesser 2004, Frick-Baer 2009. Dabei ist uns wichtig, unser Traumaverständnis möglichst klar zu definieren. Es gibt gelegentlich Tendenzen, den Traumabegriff inflationär zu benutzen und auf jedes belastende Ereignis anzuwenden. Daran wollen wir uns nicht beteiligen, weil damit der Traumabegriff seinen Wert in Diagnostik und Therapie verliert bzw. zumindest verlieren kann. In diesem Buch geht es nicht darum, was Eltern oder Elternteile allgemein an Belastungen, Kränkungen oder Störungen an ihre Kinder weitergeben, sondern um einen Teil davon, einen bestimmten Aspekt, nämlich das Trauma und dessen transgenerative Weitergabe.
Begrifflich hat es sich dabei für uns als sinnvoll herausgestellt, verschiedene Aspekte zu unterscheiden, die in der Sammelbezeichnung „Trauma“ enthalten sind. Diese sind:
» das Traumaereignis,
» das Traumaerleben, also die Art und Weise, wie ein Mensch sich und seine Welt vor, während und unmittelbar nach dem Traumaereignis erlebt,
» die Traumabewältigung, also die Art und Weise, wie der Mensch kurz- und langfristig sein Traumaerleben bewältigt,
» die Traumafolgen, also die Folgen des Traumaerlebens und der Traumabewältigung.
Betrachten wir diese vier Aspekte genauer.
Jedes Trauma beginnt mit einem Traumaereignis. Traumaereignisse können sehr unterschiedlich sein. Menschen kämpfen als Soldaten im Krieg oder werden als Zivilisten bombardiert, andere werden überfallen, ausgeraubt oder vergewaltigt. Kinder und Jugendliche werden sexuell missbraucht, andere erleben einen Tsunami, ein Erdbeben oder einen Verkehrsunfall. Ein Lokführer überfährt einen Selbstmörder mit seinem Zug, ein anderer sieht zu, wie ein Mensch ertrinkt, ohne dass er helfen kann. So unterschiedlich die Ereignisse sein können, die ein Trauma hervorrufen, so ist ihnen doch gemeinsam, dass die beteiligten Menschen sich durch dieses Ereignis existenziell bedroht und erschüttert fühlen. Das Ereignis macht noch kein Trauma aus, sondern die Qualität des Erlebens eines Ereignisses. Traumaereignisse sind Ereignisse, die Menschen als existenziell bedrohlich erleben und durch die sie in ihren Grundfesten erschüttert werden.
Zum Traumaereignis gehört allerdings auch die Zeit unmittelbar danach – nach der Vergewaltigung, nach dem Unfall, nach dem Unglück. Wir haben in unseren Therapien immer wieder erfahren, dass die „Zeit danach“ zum Traumaereignis hinzuzuzählen ist. Zur Zeit laufende Studien haben dies bestätigt (Frick-Baer i.V.). Die Art und Weise, wie der Beteiligte an einem schweren Verkehrsunfall unmittelbar danach behandelt wird, kann das Erleben abmildern oder vertiefen. Ob ein Kind nach der Erfahrung eines sexuellen Missbrauchs beschämt, beschuldigt oder im Folgenden allein gelassen wird oder ob es Halt, Parteilichkeit und Trost erfährt, bestimmt das Erleben und die Bewältigungsmöglichkeit des Traumas im wesentlichen Maße. Uns ist deshalb wichtig, die Zeit „unmittelbar danach“ zum Traumaereignis zu zählen und entsprechend in Therapie und Begleitung zu würdigen.
Schon bei der Beschreibung des Traumaereignisses haben wir das Traumaerleben erwähnt. Die Art und Weise, wie ein Mensch sich und das traumatische Ereignis erlebt, muss mit einbezogen werden, um ein Ereignis als ein Traumaereignis zu identifizieren. Jede traumatische Erfahrung wird als Ohnmachtsgefühl erlebt. Die Betroffenen sind anderen Menschen, dem Krieg, der Gewalt, der Natur usw. ausgeliefert. Dies erschüttert bei vielen Menschen die Gewissheit, wirksam zu sein, und beeinträchtigt damit oft das Selbstwertgefühl. Dies erschüttert auch die Illusion unserer Unverletzlichkeit, der wir Menschen uns im Alltag so gerne hingeben. Bei den meisten traumatischen Erfahrungen werden die Schutzgrenzen, die die Intimität und Persönlichkeit bewahren, durchbrochen, insbesondere bei sexueller Gewalt. Zumeist ist zudem eine traumatische Erfahrung ein Beziehungserleben. Bei Überfällen, sexueller Gewalt etwa sind andere Menschen unmittelbar beteiligt, ebenso bei Kriegserfahrungen, Flucht, Vertreibung usw. Auch bei Verkehrsunfällen und Naturkatastrophen gibt es immer andere Opfer und sind andere Menschen „in der Zeit danach“ Teil der traumatischen Erfahrung, helfen und vermindern oder vergrößern die Not.
All diese Aspekte führen dazu, dass wir sagen: Ein Trauma ist in erster Linie ein Erlebensprozess und ein Beziehungsprozess.
Für den erlebenden Menschen hat die phänomenologische Philosophie den Begriff „Leib“ geprägt. Leib stammt aus dem indogermanischen „lib“ und bedeutet „lebendig“. Mit „Leib“ bezeichnen wir den sich und seine Welt erlebenden Menschen. (Deswegen bezeichnen wir auch unseren therapeutischen Ansatz als „Kreative Leibtherapie“ bzw. hier als „Leiborientierte Kreative Traumatherapie“. Doch dazu später.)