Jonas Tesarz, Günter H. Seidler, Wolfgang Eich

Schmerzen behandeln mit EMDR

Das Praxishandbuch

Impressum

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Printausgabe: ISBN 978-3-608-94881-3

E-Book: ISBN 978-3-608-10828-6

PDF-E-Book: ISBN 978-3-608-20279-3

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

Vorwort

Chronischer Schmerz ist eine mit großem Leiden für den Patienten und sein Umfeld verbundene Erkrankung. Ich erlebe immer wieder, wie massiv der chronisch Schmerzkranke in seiner Teilhabe im beruflichen und privaten Leben eingeschränkt ist. Gleichzeitig stellt der chronische Schmerz eine therapeutische Herausforderung dar und führt mich selbst immer wieder an die Grenzen meines Handelns. Von Beginn an habe ich die Versuche der EMDR-Therapeuten in der Arbeit mit Phantomschmerz mit großem Interesse und auch Respekt verfolgt. Mein Lehrer in der Ausbildung zum EMDR-Facilitator, Bob Tinker, ermutigte mich dazu, EMDR bei Schmerzpatienten anzuwenden. Bei allen eigenen Erfahrungen und ermutigenden Berichten von Kollegen blieben die Versuche bisher eher fragmentarisch und skizzenhaft. Veröffentlichungen waren im Wesentlichen dem englischen Sprachraum vorbehalten und fanden kaum ihren Weg nach Deutschland.

Mit dem jetzt vorliegenden anwendungsorientierten Manual Schmerzen behandeln mit EMDR erscheint ein lange erwartetes Buch. Das Warten hat sich allerdings gelohnt. Denn es gelingt den Autoren, die Brücke von der Forschung in die Praxis zu schlagen. Dabei bereichern sie durch den Verweis auf eigene wichtige Forschungsergebnisse das Verständnis für chronische Schmerzerkrankungen. Der Bezug auf das Krankheitsmodell der EMDR-Methode, dem AIP-Modell, und der Rückgriff auf Begrifflichkeiten der Psychotraumatologie öffnet in nachvollziehbarer Weise den Weg zur Anwendung der EMDR-Methode. Gleichzeitig bietet das Manual dem EMDR-Novizen eine gute komprimierte Darstellung der EMDR-Methode und dem Fortgeschrittenen die Information im Detail. Den Autoren gelingt es dabei in hervorragender Art und Weise, die Struktur und Inhalte des Vorgehens durch Verweise auf die Forschungslage zu untermauern. Der Wissenstransfer in die Praxis wird durch zahlreiche illustrative Fallbeispiele erleichtert. Die klare Gliederung des Manuals vereinfacht die Orientierung ungemein.

Die Autoren sind in der Einführung neuer Begriffe angenehm zurückhaltend. Dort, wo sie es tun, ist es bereichernd und nicht, wie sonst oft, unnötig und verwirrend. Die sehr guten Grafiken präzisieren und fokussieren das breit dargebotene Wissen um EMDR und Schmerz. Es wird deutlich, dass die Autoren in beiden Gebieten gleichermaßen engagierte Forscher und erfahrene Praktiker sind. Diese Kombination zeichnet das Manual aus. Es wird das umfassende Wissen um den Schmerz immer mit Fokus auf die EMDR-Behandlung vermittelt. Mit dem vorliegenden Manual schließen die Autoren nicht nur eine seit langem bestehende Lücke in der deutschsprachigen Literatur, sondern setzen auch einen Maßstab für kommende Manuale. Bei der regen Forschungstätigkeit bezogen auf die EMDR-Behandlung verschiedener psychischer und psychosomatischer Störungsbilder sind weitere Publikationen zu erwarten. Sie werden sich an diesem Manual messen müssen.

Dr. Michael Hase

EMDR Senior Trainer

1. Vorsitzender EMDRIA Deutschland

Einführung

EMDR steht für Eye Movement Desensitization and Reprocessing und ist eine evidenzbasierte psychotherapeutische Methode, die ursprünglich für die Verarbeitung von emotionalem Stress nach psychischer Traumatisierung entwickelt worden ist. Über EMDR können dysfunktional gespeicherte und belastende Erinnerungen neu prozessiert, desensibilisiert sowie im Gehirn neu assoziiert und heilsam integriert werden. Inzwischen ist EMDR international anerkannt als eine der effektivsten Methoden zur Behandlung von Traumafolgestörungen und den damit einhergehenden emotionalen Belastungen.

Die Anwendung von EMDR beschränkt sich bereits seit vielen Jahren nicht mehr nur auf die Traumatherapie, sondern erfasst inzwischen eine Vielzahl unterschiedlichster Störungsbilder, welche mit emotionalen Belastungen einhergehen. Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass der Einsatz von EMDR in der Behandlung chronischer Schmerzsyndrome bereits seit den Anfängen von EMDR immer wieder intensiv diskutiert worden ist. Die Gründe hierfür sind vielfältig und wohl auch im Phänomen ›Schmerz‹ selbst begründet. Denn chronischer Schmerz wird von den Betroffenen – ganz ähnlich einem Trauma – häufig als eine Art Diskrepanzerlebnis zwischen bedrohlichen Situationsfaktoren einerseits und den individuell zur Verfügung stehenden Bewältigungsmöglichkeiten andererseits erlebt. Das dadurch ausgelöste Gefühl von Kontrollverlust, Hilflosigkeit und schutzloser Preisgabe kann unter Umständen – ganz ähnlich einer Traumafolgestörung – zu einer dauerhaften Erschütterung von Selbst- und Weltverständnis führen. Ein chronisches Schmerzsyndrom als ein belastendes Ereignis, welches genuin als Bedrohung der körperlichen Unversehrtheit empfunden wird und stark mit Gefühlen von Angst und Hilflosigkeit assoziiert ist, erfüllt damit in der Regel die klassischen Kriterien eines psychischen Traumas. Es liegt in dieser Hinsicht nahe, EMDR als eine effektive und etablierte Technik zur Bearbeitung von posttraumatischen Belastungsstörungen auch auf das subjektive »Schmerztrauma« anzuwenden, das ein chronischer und damit »außer Kontrolle« geratener Schmerz hervorrufen kann.

Inzwischen weiß man durch die neueren Erkenntnisse aus der Hirnforschung, dass psychische Traumata und körperliche Schmerzen auch auf neurobiologischer Ebene viele Gemeinsamkeiten besitzen. Durch funktionell-hirnbildgebende Untersuchungen konnte gezeigt werden, dass das menschliche Gehirn den durch Ausgrenzung und Demütigung hervorgerufenen seelischen Schmerz genauso wahrnimmt wie absichtlich zugefügten körperlichen Schmerz (Eisenberger 2012). Körperliche und seelische Schmerzen werden z. T. in den gleichen Regionen des Gehirns verarbeitet. Körperlicher Schmerz besitzt neben der rein sensorischen Erfahrung des Schmerzes in der Regel auch eine ausgeprägte emotionale Dimension, die bestimmt, wie schlimm oder quälend das Gehirn den Schmerz wahrnimmt. Diese emotionale Ebene ist die gleiche wie die beim sozialen Schmerz. Andererseits konnten manche Untersuchungen zeigen, dass sehr schwerwiegende bedrohliche Erlebnisse auch in solchen Teilen des Gehirns prozessiert werden, welche für die sensorische Komponente des Schmerzes zuständig sind.

Mittlerweile ist ebenfalls belegt, dass traumatische Erlebnisse einen direkten und nachhaltigen Einfluss auf das Schmerzempfinden von Betroffenen haben können, unabhängig davon, ob eine klassische Traumafolgestörung vorliegt oder nicht. So konnte in psychophysiologischen Untersuchungen an chronischen Rückenschmerzpatienten nachgewiesen werden, dass Rückenschmerzpatienten mit traumatischen Erlebnissen in der Vorgeschichte sensibler für Druckschmerzreize sind und eine generalisierte Hyperalgesie1 für tiefe Schmerzqualitäten (z. B. Muskeln, Faszien) aufweisen, während Rückenschmerzpatienten ohne traumatische Erlebnisse nur eine lokalisierte, auf das schmerzhafte Areal des Rückens begrenzte Veränderung zeigen. Die Schwere des Traumas korrelierte dabei mit der Ausprägung der Hyperalgesie. Außerdem konnte bei den Rückenschmerzpatienten mit traumatischen Erlebnissen eine gesteigerte Schmerzausdehnung und eine vermehrte Ängstlichkeit nachgewiesen werden (Tesarz et al. 2015). Interessanterweise gelang es, bei diesen Patienten durch eine therapeutische Bearbeitung der traumatischen Erlebnisse mittels EMDR die nachgewiesenen pathologischen Veränderungen spezifisch zu modulieren. Inzwischen wurde jedoch auch gezeigt, dass EMDR einen direkten Einfluss auf die Schmerzwahrnehmung von Patienten hat, unabhängig davon, ob von einem traumatischen Ereignis berichtet wird oder nicht.

Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass es nur wenige Jahre brauchte von der erstmaligen Beschreibung des entlastenden Effekts durch Augenbewegungen durch Francine Shapiro im Jahre 1987 mit der sich daran anschließenden Entwicklung der heutigen »Eye-Movement-Desensitization-Reprocessing«-Methode (schriftlich festgehalten in Shapiro 1989) bis zur erstmaligen Anwendung von EMDR in der Behandlung von chronischen Schmerzen Anfang der 1990er Jahre. Bereits wenige Jahre, nachdem Francine Shapiro unter Einbeziehung einer strukturierenden kognitiven Komponente die heutige Form von Eye Movement Desensitization and Reprocessing ausgearbeitet und veröffentlicht hatte, berichtete das amerikanische Therapeutenehepaar Ray und Carol Blanford (1991) erstmals öffentlich über den erfolgreichen Einsatz von EMDR in der Behandlung von Patienten mit chronischen Schmerzen. Im Jahr darauf veröffentlichte der amerikanische Psychiater David McCann (1992) eine eindrucksvolle Fallstudie über die erfolgreiche Heilung einer schweren Schmerzsymptomatik bei einem Patienten mit ausgeprägten Verbrennungen schon nach einer einmaligen EMDR-Sitzung. Und Bruce Eimer, einem Schmerztherapeuten mit bereits langjähriger Erfahrung in der Behandlung chronischer Schmerzen, der sich ergänzend in EMDR weitergebildet hatte, ist es schließlich zu verdanken, dass Mitte der 1990er Jahre erstmals ein eigenes Schmerzprotokoll veröffentlicht wurde (Eimer 1993 a). Dieses erste Chronic Pain Protocol, welches u. a. auf Arbeiten zu spezifischen Copingtechniken aus den 1960er Jahren aufbaute (Cheek & LeCron 1968) und sich im Wesentlichen am klassischen EMDR-Protokoll nach F. Shapiro orientierte (1989), integrierte nun zum ersten Mal schmerzrelevante Aspekte in den klassischen EMDR-Ablauf – damals ein Novum in der EMDR-Szene. Während die erste Version zunächst noch 13 Schritte enthielt, wurden in der überarbeiteten Version kurze Zeit später bereits schon mehr als 20 Schritte spezifiziert (Eimer 1993 b). Die besondere Leistung von Bruce Eimer liegt auch darin, dass er erstmals den Schmerz selbst fokussierte. Zudem führte er erstmals die sogenannte »Antidot-Imagination«, auf welche im praktischen Teil noch näher eingegangen werden wird, als eine schmerzspezifische Imaginationstechnik in die EMDR-basierte Schmerztherapie ein. Die Antidot-Imagination ist eine spezielle Imaginationstechnik, welche später insbesondere durch die Arbeiten von Mark Grant, einem klinischen Psychologen und erfahrenen EMDR-Therapeuten aus Australien, einen festen Stellenwert in der EMDR-Therapie bekommen hat.

Im Rahmen dieser ersten Erfahrungen mit EMDR in der Behandlung chronischer Schmerzsyndrome zeigte sich, dass selbst schwerste Schmerzsyndrome, welche bereits seit vielen Jahren persistierten und sich trotz intensiver Behandlungsversuche resistent gegen alle bisherigen Therapieversuche gezeigt hatten, nach nur wenigen EMDR-Sitzungen deutlich gelindert oder sogar vollständig geheilt werden konnten.

Diese ersten Anwendungen von EMDR in der Schmerztherapie konzentrierten sich meist noch auf »posttraumatische« Schmerzsyndrome, d. h. auf chronische Schmerzsyndrome nach traumatischen Unfällen, welche sowohl zu einer körperlichen als auch seelischen Verletzung geführt hatten. So wurde – und wird natürlich auch heute noch – EMDR sehr erfolgreich bei der Behandlung von Patienten mit Phantomschmerzen (PLP: phantom limb pain) eingesetzt, bei Patienten also, die ein chronisches Schmerzsyndrom entwickelten, nachdem sie ein Körperglied als Folge eines traumatischen Ereignisses (z. B. einem schweren Motorradunfall) verloren hatten. Es ist gerade diesen damaligen und z. T. sehr eindrucksvollen Erfolgen zu verdanken, dass die EMDR-Therapeuten zunehmend mutiger wurden und das Einsatzgebiet von EMDR immer mehr ausweiteten. Denn diese überwiegend positiven, z. T. enthusiastischen Berichte führten schließlich dazu, dass sich der Fokus weg vom initial »traumatischen Schmerzauslöser« über schmerzassoziierte belastende Erinnerungen und mögliche Trigger hin zum Schmerz selbst als einem traumatischen Erlebnis bewegte. Vor diesem Hintergrund entstanden nach und nach verschiedene spezifische Schmerzprotokolle, welche zunehmend den Schmerz selbst in den Fokus des Desensibilisierungs- und Reprozessierungsprozesses stellten und die Bedeutung des Traumas zunehmend in den Hintergrund rücken ließen.

Es ist vor allem den Arbeiten des bereits genannten Psychologen Mark Grant zu verdanken, dass in der Folge die spezifischen Effekte von EMDR auf den Schmerz selbst detailliert aufgearbeitet und mit klassischen Elementen aus der Schmerzpsychotherapie kombiniert wurden. Als Folge dieser Entwicklung, und insbesondere durch die Arbeiten von Mark Grant, bestand nun die Möglichkeit, Schmerz auch unabhängig vom Vorliegen psychischer Traumatisierungen oder belastender Lebensereignisse mittels spezifizierter EMDR-Techniken zu behandeln.

Neben den bereits genannten Erfolgen in der Behandlung von Phantomschmerz und traumaassoziierten somatoformen Schmerzstörungen gibt es inzwischen sehr gute Ergebnisse für die Anwendung von EMDR in der Behandlung von chronischen Kopfschmerzsyndromen, Fibromyalgie, chronischen Rückenschmerzen sowie weiteren muskuloskelettalen Schmerzsyndromen (Tesarz et al. 2013).

Doch auch wenn das Einsatzfeld inzwischen mannigfaltig und die Berichte vielfältig sind, so ist die Variabilität der heute existierenden Protokolle erstaunlich gering. Denn obwohl in den letzten Jahren unterschiedliche Autoren unabhängig voneinander »eigene« Schmerzprotokolle entwickelt und validiert haben, so hat sich trotz unterschiedlicher Erfahrungen stets ein ähnliches Vorgehen entwickelt! Es lässt sich somit ein Grundtypus eines EMDR-Schmerzprotokolls identifizieren, dessen Kernelemente sich in allen Schmerzprotokollen wiederfinden lassen und dessen Wesen sich ganz am klassischen EMDR-Protokoll nach Shapiro orientiert. Es sind offenbar die Besonderheiten und Eigenheiten chronischer Schmerzpatienten, die der EMDR-basierten Schmerzbehandlung ihren spezifischen Charakter geben, so dass sich selbst bei unabhängig voneinander arbeitenden Therapeuten ein ähnliches Vorgehen entwickelt hat. Dieser Grundtypus, der sich stark am klassischen EMDR-Protokoll nach Shapiro orientiert und spezifische Elemente der Wahrnehmung und Interozeption integriert, zeichnet sich durch die Möglichkeit aus, den Schmerz selbst spezifisch in den Fokus zu nehmen und die kognitiven, emotionalen und behavioralen Aspekte schmerzspezifisch zu reprozessieren.

Das hier von uns im Folgenden vorgestellte Protokoll ist im Rahmen des BMBF-geförderten Forschungsverbundes LOGIN (Förderkennzeichen: 01EC1010A) entwickelt und validiert worden. Es basiert zum einen auf einer systematischen und wissenschaftlichen Auswertung aller bisher im Bereich zu EMDR und Schmerz durchgeführten Studien sowie eigener Untersuchungen zur Wirkung von EMDR auf chronische Schmerzen. Darüber hinaus stützt es sich auch auf die wertvollen Erfahrungen aus unserer täglichen Arbeit mit chronischen Schmerzpatienten sowie dem regen Austausch mit zahlreichen praktisch tätigen Kollegen und deren Erfahrungen in der Behandlung chronischer Schmerzsyndrome mit EMDR. Besonders hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang der Einfluss durch die exzellenten und intensiven Vorarbeiten von Claudia Erdmann (2009), Michael Hase & Ute Mirian Balmaceda (2014) und Mark Grant (2009), denen ein wesentlicher Beitrag zur Etablierung und Standardisierung von EMDR in der Behandlung von chronischen Schmerzpatienten zu verdanken ist. Des Weiteren seien an dieser Stelle auch Sabine Leisner, Andreas Gerhardt und Susanne Janke namentlich genannt. Sie haben ganz wesentlich dazu beigetragen, dass dieses Behandlungsmanual im Rahmen einer randomisierten kontrollierten klinischen Studie (ClinicalTrials.gov: NCT01216696) wissenschaftlich validiert werden konnte.

Ziel dieses Manuals ist es, dem Leser sowohl einen wissenschaftlich fundierten als auch praxis- und lösungsorientierten Leitfaden an die Hand zu geben. Es ermöglicht dem Leser, sich einen fachkundigen und umfassenden Einblick in die Anwendung von EMDR in der Behandlung chronischer Schmerzpatienten anzueignen und dabei die Besonderheiten und Schwierigkeiten bei der Anwendung von EMDR in der Behandlung chronischer Schmerzpatienten kennenzulernen und zu berücksichtigen. Wir möchten an dieser Stelle bereits hervorheben, dass es nicht ›ein‹ richtiges Schmerzprotokoll für alle Arten von chronischem Schmerz gibt. Entsprechend gibt es auch nicht ›ein‹ richtiges Vorgehen, das sich im Sinne des »One-Size-Fits-All«-Prinzips jedem Patienten überstülpen lässt. Vielmehr ist es unserer Erfahrung nach immer wieder notwendig und sinnvoll, das klassische Vorgehen zu modifizieren, um den individuellen Anforderungen und Bedürfnissen des einzelnen Patienten ausreichend gerecht werden zu können. Vor diesem Hintergrund war es uns ein besonderes Anliegen, ein Manual zu entwickeln, das dem Anwender genug Raum und Gelegenheit lässt für einen möglichst offenen und flexiblen Gebrauch. Um die praktische Anwendbarkeit und Handhabbarkeit dieses Manuals zu erleichtern, ist es in mehrere Abschnitte untergliedert. Der erste Abschnitt enthält neben einigen theoretischen Informationen zur Wirkungsweise von EMDR in erster Linie Informationen zum theoretischen Hintergrund zu EMDR bei Schmerz und soll dem Leser einen möglichst fundierten und umfassenden Einblick in die Anwendung von EMDR in der Behandlung chronischer Schmerzpatienten geben. In Hinblick auf mögliche therapeutische Konsequenzen werden unterschiedliche Effekte von EMDR bei chronischen Schmerzpatienten dargestellt und mögliche therapeutische Konsequenzen diskutiert. Der zweite Abschnitt umfasst den praktischen Teil dieses Manuals und gibt Informationen zur Anwendung und konkreten Umsetzung von EMDR bei Schmerzpatienten. Anhand von konkreten Instruktionen und Fallbeispielen soll dem Leser so ein möglichst praxisnahes und alltagsbezogenes Protokoll an die Hand gegeben werden. Abschließend werden zur Erleichterung der täglichen Anwendung ergänzend praktische Arbeitshilfen (Protokollvorlagen, Patientenedukationsmaterial sowie weitere spezifische Arbeitsblätter) zur Verfügung gestellt. Die verschiedenen Abschnitte sind – soweit möglich – so aufgebaut, dass sie auch selektiv und unabhängig voneinander gelesen werden können, so dass jederzeit ein schnelles Nachschlagen und lösungsorientiertes Vorgehen möglich ist. Wir hoffen, den Lesern auf diese Weise einen möglichst ermutigenden Einblick in diese neu entwickelte Behandlungsmöglichkeit einer EMDR-basierten Schmerztherapie zu geben und gleichzeitig einen pragmatischen, wissenschaftlich fundierten und praxisorientierten Leitfaden für die tägliche Anwendung von EMDR in der Behandlung chronischer Schmerzpatienten an die Hand zu geben.

Ergänzend sei angemerkt, dass wir aus Gründen der besseren Lesbarkeit für dieses Manual für die Patienten und Therapeuten stets die männliche Form gewählt haben. Natürlich sind hiermit auch alle Patientinnen und Therapeutinnen gemeint!

Was ist EMDR?

Woher kommt EMDR?

Eye Movement Desensitization and Reprocessing ist eine psychotherapeutische Methode, die ursprünglich für die Verarbeitung von emotionalem Stress durch erlebte traumatische Ereignisse entwickelt wurde. Über EMDR können die mit solchen Ereignissen einhergehenden belastenden und im Gedächtnis dysfunktional gespeicherten Erinnerungen neu prozessiert und heilsam integriert werden.

Die Entstehungsgeschichte von EMDR ist, wie bereits erwähnt, geprägt von der 1948 in New York geborenen amerikanischen Literaturwissenschaftlerin und Psychologin Francine Shapiro vom Mental Research Institute in Palo Alto (Kalifornien) und ihrer fast anekdotenhaft beschriebenen Entdeckung der therapeutischen Wirkung von Augenbewegungen Mitte der 1980er Jahre (Hofmann 2014). Ihrer besonderen Fähigkeit zur Selbstwahrnehmung und ihrer strukturierten Umsetzung in ein »anwendbares« Therapieprotokoll ist es zu verdanken, dass EMDR heute ein weltweit anerkanntes Verfahren zur Behandlung von Patienten mit psychischer Traumatisierung darstellt.

Anders als viele weitere Therapieverfahren, die auf der Übertragung theoretischer Überlegungen und wissenschaftlicher Ergebnisse auf die Praxis beruhen, ist EMDR ein Verfahren, das sich primär aus der Beobachtung eines therapeutischen Effekts aus der Praxis heraus entwickelt hat. Im Mittelpunkt dieser Beobachtungen steht die heilende Wirkung von »bilateralen« Augenbewegungen (der Begriff »bilateral« von lat. bis = »zweimal« und latus = »Seite« bedeutet im medizinischen Kontext »zweiseitig«). Die Grundlage von EMDR stellt somit ein Phänomen dar, von dem man beobachtet hat, dass es den Patienten gut tut. So bemerkte F. Shapiro Mitte der 1980er Jahre bei einem Spaziergang durch den Park, dass die sie belastenden Gedanken (bei ihr war damals eine Krebserkrankung diagnostiziert worden) im Verlauf des Spaziergangs weniger bedrückend waren. Als sie darüber nachdachte, was an diesem Spaziergang anders war als sonst, bemerkte sie, dass sich ihre Augen, bedingt durch den Lichteinfall zwischen den Bäumen, ständig hin und her bewegt hatten. Und selbst als sie sich die zuvor belastenden Gedanken bewusst noch einmal heranholte, empfand sie diese nicht mehr weiter als bedrückend. Aus diesen damals eher zufälligen Augenbewegungen (sowie ihren Erfahrungen über schnelle Augenbewegungen aus der Zusammenarbeit mit Richard Bandler und John Grinder, den Gründervätern des Neurolinguistischen Programmierens, NLP) entwickelte F. Shapiro schließlich das Konzept der sogenannten »bilateralen« (beidhirnigen) Provokation durch gezielte sakkadische, also horizontale Rechts-Linksbewegungen der Augen.

Nachdem sie diesen neuen Ansatz zunächst an Freunden und Bekannten erprobt hatte, setzte sie die Technik zunehmend bei ihren Patienten ein – sie behandelte damals v. a. Kriegsveteranen aus Vietnam, Missbrauchsopfer und andere Personen mit emotional belastenden Lebensereignissen. Es folgten schließlich intensive Studien speziell an psychisch traumatisierten Patienten. Ihre Dissertation Efficacy of the eye movement desensitization procedure in the treatment of traumatic memories (Shapiro 1989) mit diesen Patienten ist der erste wissenschaftliche Beleg für die desensibilisierende Wirkung von Augenbewegungen. In den Folgejahren entwickelte F. Shapiro EMDR zu einem umfassenden therapeutischen Behandlungskonzept weiter, in dem die Patienten ihren ungelösten traumatischen Erinnerungen und Ängsten auf eine kontrollierte Art und Weise ausgesetzt werden konnten, ohne dass dabei das Gefühl einer physischen oder emotionalen Überwältigung entstand.

Die dort eingesetzte Methode nannte sie damals noch Multi-Saccadic Movement Desensitization (MSMD). Erst später führte sie den heute etablierten Begriff der Eye Movement Desensitization ein (Luber 2007). Bereits vier Jahre vor ihrer Disssertation hatte sie erstmals einen Beitrag über die Bedeutung von Augenbewegungen und den Einsatz des Verankerns positiver Ich-Zustände veröffentlicht (Shapiro 1985). Dort integrierte sie Hinweise und Einflüsse von Milton Erickson (Prinzip der Ratifizierung), Joseph Wolpe (Einführung der Belastungsskala), John Grinder (Augenbewegungen), Mark C. Russel (Konzept des Reprozessierens), von Stephen Levine (Prozessbegleitung) sowie auch einzelne Elemente aus dem Vipassana Yoga (z. B. die »Lichtstrahlmethode«) (Schubbe & Brink 2018). All diese Aspekte sind heute wichtige Bestandteile in der EMDR-basierten Behandlung von Schmerzpatienten.

Inzwischen ist diese Methodik intensiv beforscht und weiterentwickelt worden. So integriert EMDR heute zunehmend neuere Erkenntnisse aus den Bereichen der Neurobiologie und Therapieforschung. Im Juli 2006 wurde EMDR vom Wissenschaftlichen Beirat Psychotherapie (Deutschland) als wissenschaftlich begründete Methode zur Behandlung von posttraumatischen Belastungsstörungen bei Erwachsenen anerkannt. Der entsprechende Antrag war von EMDRIA Deutschland e. V. eingereicht und unter Leitung von Günter H. Seidler von einer Reihe von Kollegen ausgearbeitet worden (Seidler et al. 2005).

Seit 2013 ist EMDR auch von der WHO als eine von zwei Methoden zur Behandlung der posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS(World Health Organization 2013)