Inhaltsverzeichnis:

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Die Autorin

Dank

Werbung

 

 

 

 

Heide-Marie Lauterer

 

Mörderisches
Schicksal
 

Ein Reiterkrimi

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

spiritbooks

Das Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und der Autorin unzulässig. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

 

© 2015 spiritbooks, 70173 Stuttgart

Verlag: spiritbooks, www.spiritbooks.de

Autorin: Heide-Marie Lauterer

Herausgeberin: Ulrike Dietmann

Cover: Corina Witte-Pflanz, www.ooografik.de

Coverfoto: wild stallion in dust mariait – shutterstock.com

Autorenporträt: Gülay Keskin

Lektorat/Buchsatz/Drucklayout: PCS Schmid, www.pcs-schmid.de

Duck und Verlagsdienstleister: tredition

Printed in Germany

ISBN: 978-3-944587-99-8

 

 

Personen und Handlung sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind rein zufällig.

 

Die Autorin:

Heide-Marie Lauterer, passionierte Reiterin und Pferdebesitzerin kennt sich aus in den Höhen und Tiefen des Reiterlebens. Sie schreibt Romane, Reiterkrimis und Kurzgeschichten und ist Mitglied der Autorenvereinigungen "Mörderische Schwestern", des „Heidelberger Literatursalons im Don“ und der „Literaturoffensive“ Heidelberg.

 

 

 

 

 

 

Für Hans-Jürgen

 

 

 

 

 

 

I loose my head

From time to time

I make a fool of myself

In matters of the heart.

 

Tracy Chapman, Matters of the Heart

 

 

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1

An diesem Morgen weckte mich das wütende Kläffen eines Hundes. Ein Streuner, dachte ich im Halbschlaf. In unserer Nachbarschaft gab es schon lange keine zähnefletschenden Wachhunde mehr. Ich räkelte mich genüsslich und schob die Bettdecke weg. Der Lambrusco, den Gerson gestern Abend aufgemacht hatte, musste gut gewesen sein, denn ich spürte nur einen Hauch von Kopfschmerzen, kaum wahrzunehmen. Ich hatte vergessen, den Wecker zu stellen und jetzt zeigte mir ein Blick auf die Uhr, dass es schon halb neun war! Dann klingelte das Telefon. Ich sprang auf und erwischte das Gespräch gerade noch im letzten Augenblick. Es war mein Chef Massimo.

„Wo bleibst du, Vera! Komm sofort ins Büro, ich brauche deine Hilfe.“

„Alles klar“, murmelte ich verschlafen, aber ich verstand überhaupt nichts.

Kurze Zeit später hielt ich schon meinen Kopf unter das kalte Wasser, quetschte den letzten Rest Zahnpasta aus der Tube und zog husch, husch mein Büro-Outfit an. Saubere, auf Kante gehängte Jeans, ein leicht tailliertes hellgraues Jackett und darunter ein taubenblaues T-Shirt. Schnell zog ich mir noch einen doppelten Espresso und tunkte ein Stück trockene Apfelzimtschnecke hinein. Jetzt erst achtete ich auf den pochenden Schmerz in meinem Kopf. Nein, es war nicht der Lambrusco, den Gerson vom Italiener mitgebracht hatte. Es hatte irgendetwas mit dieser Tissa zu tun, der neuen Pferdebesitzerin auf dem Leierhof, von der mir Gerson ausgiebig vorgeschwärmt hatte; ihr Name lauerte hinter meinen Schläfen wie eine aufkommende Migräne. Warum nur, dachte ich, ich kannte die Frau doch gar nicht und eigentlich gab es von ihr nichts Schlechtes zu berichten!

Bevor ich die Wohnung verließ, schaute ich noch einmal zu Gerson ins Schlafzimmer. Er atmete ruhig und regelmäßig, ein Knie schaute unter der Decke hervor, er schien zu träumen, denn er lächelte im Schlaf.

 

Massimo stand vor seinem Laden und hielt nach mir Ausschau, er sah blass und übernächtigt aus. Mein Chef war ziemlich durcheinander, er fasste mich am Arm und zog mich durch die offenstehende Tür.

„Ist irgendwas passiert?“, fragte ich.

„Da, siehst du es nicht?“ Er zeigte auf das Schaufenster. Auf dem Boden lagen Scherben herum, und das Loch war groß genug, um einen Menschen hindurch zu lassen. Ein Einbruch, das war klar. Jemand hatte das Fenster eingeworfen, oder mit einem Glasschneider aufgesägt, denn die Ränder waren so glatt, wie es nur ein Profi fertigbrachte; im Laden war es empfindlich kalt. „Es muss heute Nacht passiert sein, als ich um neun Uhr das Reisebüro öffnete, habe ich es entdeckt.“

„Hast du schon die Polizei verständigt?“

„Nein, noch nicht, ich war geschockt. Ich wollte erst mal mit dir sprechen.“ Massimo machte einen so verwirrten Eindruck, den ich mir nicht erklären konnte.

„Ist etwas Wichtiges gestohlen worden? Geld, die Computer, wichtige Unterlagen?“

„Das ist es ja, was ich nicht verstehe. Alles was ich gefunden habe, ist ein Stein, der mit einem kohlrabenschwarzem Papier umwickelt ist.“

„Steht was drauf?“

„Das Papier ist schwarz, Vera, rappenschwarz!“

„Kein Bekennerbrief oder irgendeine Botschaft? Vermisst du irgendetwas?“, fragte ich, weil ich hinter den Sinn dieses merkwürdigen Einbruchs kommen wollte. „Es muss doch einen Grund geben, warum einer so etwas tut?“

Massimo schüttelte den Kopf. „Ich verstehe es wirklich nicht. Aber warte mal, es fehlt tatsächlich etwas.“

„Was denn?“, hakte ich nach, denn er stierte und schien in eine andere Welt abgetaucht zu sein.

Auf einmal gab er sich einen Ruck. „Mein Schreibtisch“, sagte er, „fällt dir nichts auf?“

Sein Schreibtisch sah ordentlich und aufgeräumt aus, doch irgendetwas war anders als sonst, aber was?

„Mensch Vera, da, neben dem Telefon stand doch das Bild von Magalo und dir, weißt du nicht mehr? Ich habe es vor zwei Jahren auf dem Leierhof aufgenommen und du hast mir den blauen Rahmen geschenkt. Jetzt ist es weg. Das Bild hat nur für mich einen Wert, für keinen sonst. Du weißt, was Magalo für mich bedeutete!“

Natürlich wusste ich es. Magalo war sein erstes Pferd gewesen. Es stand auf dem Leierhof und teilte sich mit meiner Stute Nine einen Koppelplatz, bis sich Massimo von ihm trennen musste. Massimo und ich hatten uns über unsere Pferde kennengelernt und ich hatte Massimo angeboten, den freundlichen Russenwallach zu reiten, wenn er auf Geschäftsreisen ging,

„Er war dein Freund, nicht?“

Massimo nickte. „Kannst du mir erklären, warum jemand in mein Reisebüro einbricht, um das Foto von meinem Pferd zu klauen?“

„Okay“, sagte ich gedehnt, „ich war ja auch mit drauf!“

Massimo rang sich ein kleines Grinsen ab. „Vera, alles, was recht ist“, sagte er. „Ich glaube, ich sollte statt der Polizei lieber meine Versicherung verständigen. Ich will mich ja nicht lächerlich machen!“

Ich half Massimo, die Scherben zusammenzukehren. Während er die Nummer der Versicherung heraussuchte, machte ich mich auf, um im Schreibwarengeschäft an der Ecke eine Rolle Packpapier zu organisieren. Bis der Glaser kam, würde es bestimmt noch eine Weile dauern. Als ich in die Ladenburger-Straße einbog, wäre ich beinah mit zwei Polizisten zusammengestoßen, die sich gerade an der Kreuzung aufstellen, um Radfahrer zu kontrollieren, die ohne Helm dahinsausten. Ich überlegte kurz, ob ich die beiden ansprechen sollte, aber dann hielt ich mich zurück. Es war Massimos Sache, die Polizei zu benachrichtigen, und er hatte sich dagegen entschieden. Aber so richtig verstand ich ihn nicht. Der Glasbruch war doch nicht durch einen Sturm, sondern eindeutig durch einen Einbruch zustande gekommen?

 

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2

Abends hatte ich Gerson versprochen, für das Essen zu sorgen. Der Tisch war gedeckt und ich entkorkte eine Flasche Lambrusco, von dem wir einen unendlichen Vorrat zu haben schienen; ich hatte meinen berühmten bunten Salat gezaubert, mit allem, was unsere Speisekammer zu bieten hatte. Doch Gerson ließ sich von dem verlockenden „Plopp“ nicht stören. Die Balkontür stand offen, er beugte sich über das Geländer und starrte in den Blätterdschungel, der den Gartenzaun überwucherte. Er trug immer noch seine spitzen braunledernen Cowboystiefel und Bluejeans, die so lang waren, dass sie auf dem Boden schleiften. Das einzige, was ihn von einem echten Cowboy unterschied, war der verwaschen blaue Baumwollschal in seiner Augenfarbe; das Western-Bandanna sei für seinen Hals zu klein, behauptete er. Ich nahm an, dass er die grünen Sittiche beobachtete, die über die Buche im Nachbargarten hergefallen waren und mit ihren schrillen Pfiffen und Kreischen das abendliche Konzert der Amseln übertönten. Gerson hatte schon lange auf so eine Gelegenheit gewartet, um ein Foto für seine Zeitung zu schießen, aber der Zeitpunkt war wirklich schlecht gewählt.

„Komm endlich rein, die schrägen Vögel sind morgen auch wieder da, mein Salat wird kalt!“

Doch Gerson überhörte meinen Witz, streckte seine flache Hand übers Balkongeländer und inspizierte den grauen Himmel. „Er friert so leicht! Ich fahr noch schnell in den Stall und leg ihm die Decke auf“, sagte er zusammenhangslos.

„Gerson, ich muss dir erzählen, was heute bei uns im Büro passiert ist. Es ist wichtig!“ Doch er hauchte mir nur ein Küsschen auf die Backe und griff nach seiner Jacke: „Alles klar? Erzähl es später, ja?“

Ich goss mir ein Glas Lambrusco ein. Wir haben die Rollen getauscht, dachte ich. Früher, als Nine noch auf dem Leierhof stand, war ich es, die sich bei den unpassendsten Gelegenheiten verabschiedete, um nach meinem Pferd zu sehen. Einmal hatte Nine Kolik, das andere Mal ein geschwollenes Auge oder sie war im Koppelzaun hängengeblieben und blutete aus einer Fleischwunde. Und so etwas passierte immer dann, wenn die Steaks fertig gegrillt waren, Gerson seine berühmte Steinpilzsauce gekocht hatte oder die Gäste an der Haustür klingelten.

Aber meine Einbruchsgeschichte hätte er sich wenigstens anhören können, dachte ich schmollend, so was kommt nicht alle Tage vor! Wer weiß, wann er nach Hause käme, vielleicht lief ihm ja diese Neue über den Weg und sie hielten noch einen gemütlichen Plausch auf der Stallgasse? Bis dahin wäre ich hungers gestorben und dann wäre es zu spät zum Reden.

Ich häufte mir Salat auf den Teller und bestrich ein Stück Brot mit Butter. Doch schon nach den ersten Bissen konnte ich nicht mehr ruhig sitzen bleiben, weil ich an meine Stute Nine dachte. Sie war jetzt schon drei Jahre in Montmirail in der Schweiz, wo sie ihr Fohlen Alles Paletti zur Welt gebracht hatte und allmählich war es an der Zeit, dass sie wieder zurück auf den Leierhof kam. Gerson würde noch eine Weile wegbleiben, die ich nutzen konnte, um in aller Ruhe mit Iris, meiner Reitlehrerin in Montmirail, über Nine zu reden. Glücklicherweise gab es Skype auf meinem Laptop, das ich auch für meine Arbeit im Reisebüro benutzte.

Iris meldete sich schon nach dem ersten Klingeln.

„Grüß dich, Vera! Gerade habe ich mein Portable wieder angestellt.“ Iris lebte seit einigen Jahren in der Schweiz und sagte Portable statt Handy und Tschau bei der Begrüßung statt beim Abschied, daran hatte ich mich noch immer nicht gewöhnt!

„Gedankenübertragung – so was soll es geben! Wie geht es Nine?“

„Sie ist den ganzen Tag auf der Weide. Ihr Winterfell ist immer noch dick wie ein Bärenpelz.“

Ich seufzte. „Also keine Decke abends?“

„Vera, die Menschen brauchen Decken, nicht die Pferde!“

Das war das Stichwort, das sämtliche Schleusen bei mir öffnete. Gerson und seine Begeisterung für Fango, den wir seit Luis Verschwinden übernommen hatten. Fango und ich, meine Sehnsucht nach Nine, es sprudelte aus mir heraus, wie aus einer durchgeschüttelten Limo-Flasche. Iris hörte sich alles geduldig an, ohne mich ein einziges Mal zu unterbrechen.

„Und du? Du vermisst Nine?“, sagte sie.

„Ach Iris, ich habe solche Sehnsucht nach ihr! Und wenn ich sehe, wie liebevoll Gerson Fango umsorgt – zwischen ihm und mir stimmt die Chemie einfach nicht mehr.“

„Zwischen wem? Gerson und dir?“

Ich musste erst einmal Luft holen und mir noch einen Schluck Lambrusco eingießen. Dann sagte ich: „Wie kommst du denn auf sowas? Ich habe natürlich Fango gemeint!“

„Ach so, natürlich!“ Iris überging meine Richtigstellung kommentarlos. „Hör mal, jemand aus eurem Stall hat bei mir angefragt, ob ich einen Bodenarbeit-Kurs abhalten will – dein Gerson hat bestimmt Werbung für mich gemacht! Ich könnte beides miteinander verbinden und dir Nine nächste Woche bringen. Am besten zusammen mit Alles Paletti; die beiden vertragen sich gut und zu zweit stehen sie im Hänger ruhiger. Du solltest Alles Paletti ausbilden lassen, er ist beinah drei Jahre alt.“

Im ersten Augenblick blieb mir die Luft weg, ich hatte nicht damit gerechnet, dass Iris den Jungspund so schnell abgeben würde. „Wolltest du ihn nicht selbst anreiten?“

„Eigentlich schon. Aber der Kleine ist so rittig und gelehrig, dass du es genauso gut machen kannst, das traue ich dir zu, Vera.“

Was Iris mir da sagte, machte mich unglaublich stolz. „Meinst du wirklich, ich soll es versuchen!“ Ich freute mich unbändig und meine Sorgen mit Fango waren auf einmal wie weggeblasen.

Aber Iris ließ mich meine Freude nicht lange auskosten. „Da ist doch noch etwas?“, sagte sie.

„Wieso? Was denn?“

„Gerson, Fango und du – irgendwie habe ich das Gefühl, als ob in eurer Dreierbeziehung etwas mitschwingt, vor dem du die Augen verschließt.“

Was sollte diese Anspielung? Für einen Moment war ich wie vor den Kopf gestoßen, ich hatte nicht die leiseste Ahnung, was sie mir sagen wollte, und dabei war ich von Iris gewohnt, dass sie kein Blatt vor den Mund nahm und klar und unmissverständlich ihre Meinung sagte. Ich stocherte in meinem Salat herum und spießte ein einsames Scampi auf eine Bananenscheibe. Seit wir Fango übernommen hatten und Gerson einen Bodenarbeitskurs bei Iris gemacht hatte, hatte sich seine Beziehung zu Pferden vollkommen verändert. Wie es Iris geschafft hatte, den Pferdevirus in ihn zu versenken, wusste ich nicht. Jedenfalls war er von ihrem Pat-Parelli-Kurs hochinfiziert zurückgekommen. Ob mich Iris darauf ansprechen wollte? Keine Ahnung – aber nachfragen hätte keinen Zweck gehabt und nur zu Missverständnissen geführt, da war ich mir sicher. Schnell ging ich zu einem anderen Thema über. „Wie geht es eigentlich dieser alten Dame, der Heilerin aus Montmirail, die Nine das Leben gerettet hat?“

„Du meinst Claire, die weise Frau aus dem Bauernmuseum?“

Genau die meinte ich. „Ich habe sie damals in Montmirail kennengelernt, den Marsch mit ihr durch den verschneiten Tannenwald werde ich nie vergessen.“

„Claire hat übernatürliche Fähigkeiten“, sagte Iris. „Sie stellt ja auch Horoskope!“

„Sie guckt in die Sterne?“ Mir sträubten sich sämtliche Nackenhaare, ich hielt nichts von Wahrsagerei und Gerson noch weniger, darin waren wir uns einig. Aber Iris schien meine Skepsis nicht zu bemerken. „Die Leute im Dorf sagen, ihre Horoskope treffen immer ins Schwarze.“

Überzeugend fand ich das nicht. „Diese Sternguckerei ist doch nur ein Spiel, aber damit verdient sie sich bestimmt ein schönes Taschengeld.“

„Sie kann es brauchen“, sagte Iris kurz angebunden; sie schien keine Lust zu haben, das Thema zu vertiefen. „Entschuldige Vera, ich muss noch mal in den Stall“, sagte sie.

„Grüß Nine von mir“, konnte ich gerade noch rufen, dann hörte ich nichts mehr und drückte schnell auf das Feld mit dem roten Telefonhörer.

Es war inzwischen schon kurz nach 21 Uhr, meinen Salat musste ich wohl alleine essen. Während ich kaute, klickte ich mechanisch mein E-Mail-Programm an, um nachzuschauen, ob mir mein Chef eine Nachricht geschickt hatte. Keine Ahnung warum, aber irgendwie gelangte mein Cursor auf die Horoskope in der Startseite und blieb direkt bei meinem Sternzeichen stehen. Ich klickte darauf und musste schmunzeln. Was ich da unter „Stier“ las, gefiel mir: Sie können sich auf ein schönes Jahr freuen: Die Sterne stehen auf finanziellen Zuwachs und romantische Stunden in der Liebe.

Süßer Honig, dachte ich, nichts als süßer Honig, aber heute konnte ich sowas brauchen. Romantische Stunden in der Liebe und mehr Geld! Wenn Iris nächste Woche mit meinen beiden Pferden anrückte, wäre mein Monats-Budget bald aufgebraucht. Schon jetzt verschlang Fangos Stallmiete, die ich mit Gerson teilte, einen Großteil meines Geldes, von den Tierarztkosten und meinen regelmäßigen Ausflügen zu Reitsport-Vordermann ganz zu schweigen. Glücklicherweise arbeitete ich halbtags in Massimo Auditis „Reisebüro der anderen Art“ und verdiente nicht schlecht. Doch wer weiß, wie lange sich mein Chef noch eine zweite Kraft würde leisten können – Massimo klagte immer öfter über die mangelnde Reiselust seiner Kunden und dass sie ihr Geld lieber in dicke Autos steckten, als ein Flugticket für einen Ranchurlaub in Texas oder einen Wanderritt durch Andalusien zu buchen.

Vielleicht lag es an der Flasche Lambrusco, die schon zur Hälfte leer war und mich in eine angenehm lockere Stimmung versetzt hatte. Jedenfalls rief ich Iris schnell noch einmal an und bat sie um Claires Telefonnummer. Iris war kein bisschen überrascht, was mich irgendwie wunderte.

„Wenn du mir dein Geburtsdatum gibst und deine Geburtsstunde, dann gebe ich deinen Auftrag gerne weiter“, sagte sie.

„Wenn du meinst? Aber Gerson darf nichts davon erfahren!“

„Wovor hast du Angst? Es ist doch nur ein Spiel?“

„Bitte, Iris, kein Sterbenswörtchen, versprich es mir.“

Kaum hatte ich aufgelegt, fiel mir ein, dass ich überhaupt nicht gefragt hatte, was mich der Spaß kosten würde. Fast bereute ich, dass ich dieses Horoskop bei Claire in Auftrag gegeben hatte. Aber jetzt gab es kein Zurück. Wenn ich noch einmal bei Iris angerufen hätte, hätte ich mich vollkommen lächerlich gemacht. Ich schenkte mir ein letztes Glas vom prickelnden Lambrusco ein. Es ist, wie es ist, dachte ich, sei’s drum.

Als Gerson nach Hause kam, lag ich schon im Bett. Von der Turmuhr hatte es gerade elf geschlagen.

„Hast du die ganze Flasche Lambrusco ausgetrunken?“, fragte er. Hatte ich das? Gut möglich, denn ich fühlte mich so angenehm entspannt wie schon lange nicht mehr.

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3

Ich wollte gerade Fango aus seiner Box ziehen, da tauchte im Gegenlicht eine Gestalt schwarz wie ein Schatten auf. Ich zuckte zusammen und rüttelte an der Schiebetür, die wieder einmal klemmte. Die Fremde stand mitten in Fangos Box.

„Haben Sie mich erschreckt!“, blaffte sie mich an.

Warum kam ich mir vor wie eine Einbrecherin? „Was haben Sie mit meinem Pferd vor?“, sagte ich, forscher als mir zu Mute war.

„Ihr Pferd? Fango gehört Gerson! Ich soll ihm die warme Decke abnehmen!“

„Wer hat Ihnen das gesagt?“

„Gerson, wer sonst?“, sagte sie. „Wer sind Sie?“

Sie legte ihren Unterarm auf Fangos Rücken und blickte mich herausfordernd an. Sie war größer als ich und schlanker; mein Blick glitt hinunter zu ihren schwarz-glänzenden Reitstiefeln, die kein Stäubchen verunzierten.

Ich zögerte einen Augenblick, dann sagte ich: „Ich bin Vera Roth, Gersons Reitbeteiligung!“ Eine ziemlich blöde Bemerkung, keine Ahnung, was ich damit bezwecken wollte. Schließlich war ich Fangos Besitzerin, zu 50 Prozent zumindest.

„Ha, ha!“, lachte sie, „alles klar!“

Mir war überhaupt nicht zum Lachen zumute, aber jetzt dämmerte mir, wen ich vor mir hatte. Es war die Neue, mit der Gerson manchmal auf der Stallgasse plauderte.

„Ich bin Tissa Krell, oder einfach Tissa. Wir können du sagen!“

„Okay, ich bin Vera.“ Ich wollte es nicht gleich am Anfang mit ihr verderben, schließlich hatte sie Gerson helfen wollen, doch von mir aus hätten wir ruhig beim Sie bleiben können!

Ihr Händedruck war fest, beinah schmerzhaft, aber ich widerstand tapfer dem Bedürfnis, meine gequetschte Hand auszuschütteln. Fango, der die ganze Zeit mit stoischer Ruhe dagestanden hatte, stieß mich mit der Nase an.

„Hast du schon meinen Bio-Dyn-Flyer?“, fragte Tissa. „Wird dich bestimmt interessieren!“

Sie steckte mir unaufgefordert einen bunten Prospekt zu; ich warf schnell einen Blick darauf, dann faltete ich ihn so klein wie möglich zusammen und stopfte ihn in die Minitasche meiner Reithose. „Und hier ist noch etwas ganz besonderes für dich!“, sagte Tissa.

Es war ein Papierröllchen, mit einer roten Kordel zusammengebunden.

„Dein persönliches Tageshoroskop“, sagte sie.

Wir kannten uns doch gar nicht, woher wollte sie denn mein Sternzeichen wissen? Ich stopfte das Blatt schnell in meine Westentasche, mit diesem Eso-Kitsch konnte ich jetzt wirklich nichts anfangen.

„Los geht’s, an die Arbeit!“, rief Tissa und klatschte Fango aufmunternd aufs Hinterteil.

Ich streifte Fango das Stallhalfter über und zog ihn aus der Box. Vor der Sattelkammer fing ich an ihn zu striegeln. Nach kurzer Zeit stand ich knöcheltief in dicken Pelzflocken; als ich mich bückte, um den Striegel auszuklopfen, fiel ein Schatten auf mich. Tissa, ich stieß fast an ihre überkreuzten Beine, so dicht stand sie vor mir.

“Willst du?“ Sie hielt mir einen Coffee-to-go-Becher vor die Nase, aber ich schüttelte den Kopf.

„Nicht vor dem Reiten, danke!“ Der Becher trug ein knallrotes Logo, irgendein unheimliches Insekt – ein Skorpion vielleicht?

Tissa deutete auf die braunen Flocken, mit denen man ein ganzes Kopfkissen hätte füllen können. „Einer von euch scheint kein großer Putzfreund zu sein!“

Meinte sie Gerson oder etwa mich? Statt zu antworten, verschwand ich lieber in der Sattelkammer; als ich mit Sattel und Trense zurückkam, wurde sie von drei jungen Frauen umringt, die alle einen Bio-Dyn-Flyer in der Hand hielten, den sie studierten, als enthielte er die frohe Botschaft. Ich hatte die drei auf dem Leierhof noch nie gesehen.

„25 Euro der einfache Sack, wenn du zwei nimmst, gibt es Rabatt“, hörte ich Tissa sagen.

Gerade da tuckerte ein Dieselmotor. Doktor Abnemers blauer Kombi bog in die Hofeinfahrt ein. Sofort drehte Tissa eine Pirouette auf ihrem Absatz und stürzte, kaum war er ausgestiegen, auf den Tierarzt zu; sie drückte ihm einen Flyer in die Hand und sagte: „Gern auch ein Pröbchen, oder gleich einen ganzen Sack, wenn Sie wollen!“ Dann drehte sie sich zu Tom um, der auf den Tierarzt gewartet hatte und begann auf ihn einzureden.

Im Vorbeigehen bekam ich einiges mit. „Wir bauen einen neuen Offenstall!“, sagte Tissa.

„Und wie soll ich das Ganze finanzieren?“, fragte Tom.

„Hansi Helm vermittelt dir einen Kredit mit einzigartigen Konditionen“, stellte Tissa in Aussicht.

Sie will den ganzen Leierhof umkrempeln, sagte ich mir. Aber in Tom hatte sie sich garantiert getäuscht! Unser Hofpächter hatte seine eigenen Ideen, da brauchte er weder Hansi noch Tissa.

T-I-SS-A – die Zungenspitze stieß beim Aussprechen des ersten, steil aufragenden Buchstabens an die Zähne, die Lippen verzogen sich breit zum I, dann kam ein gefährliches und schlangenartiges Zischen und schließlich entlud sich alles in einem seufzenden A. Diese Tissa wird mich noch länger beschäftigen, dachte ich.

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4

Sogar im Reisebüro wurde ich mit ihr konfrontiert, allerdings auf eine völlig andere Art und Weise.

„Massimo, trägst du heute einen besonderen Duft?“, fragte ich meinen Chef am Nachmittag.

Er warf mir einen überraschten Blick zu: „Das merkst du? Es riecht prickelnd und belebend, findest du nicht? Hansi Helm, mein Banker, hat mir das Parfüm geschenkt, der Gute will mich bei Laune halten! Seine Frau Tissa vertreibt es. Vielleicht kennst du sie? Sie hat drei Pferde, sie sind vor ein paar Tagen zu euch in den Stall gekommen.“

Ich lächelte matt und verkniff mir weitere Fragen. Durch das notdürftig mit Pappe geflickte Fenster zog es, und ich fröstelte trotz meiner Daunenweste, die ich mir vom Stall mitgebracht hatte.

„Ach so?“, sagte ich und wartete darauf, dass Massimo weitersprach. Massimo brauchte immer etwas länger, um die richtigen Worte zu finden.

„Ich muss schauen, dass ich aus den roten Zahlen komme. Hansi Helm will mir in der augenblicklichen Situation keinen Kredit mehr geben. Ich brauche Geld und das heißt: Sparen. Sobald ich Land sehe, kriegst du deinen Job wieder, das verspreche ich dir!“

Ich saß unbeweglich auf meinem Drehstuhl und vor meinen Augen tanzten Schlieren. Was hatte mir Massimo gerade gesagt? Dass er sparen müsse? Und was genau bedeutete das für mich? Nein! Nein! Nein!

Massimo hatte mir die Kündigung ausgesprochen! „Massimo, bitte! Du kannst mir doch nicht so einfach kündigen! Ich brauche das Geld – nächste Woche kommt Nine zurück und Alles Paletti …“

„Vera!“ Mein Chef saß vor mir mit einem roten Kopf und zusammengepressten Lippen. Er rang um seine Fassung, dann sagte er: „Es geht nicht anders, wenn ich es dir doch sage. Und ich verspreche dir …“

„Wann muss ich meinen Arbeitsplatz räumen?“, unterbrach ich ihn. Massimo würde sich von mir nicht umstimmen lassen, nicht einmal wenn ich mich auf den Kopf stellen würde.

„In drei, vier Wochen?“, sagte er. „Lass dir Zeit, Vera.“ Er stand auf, ging zu seinem Schreibtisch und suchte ein paar Papiere zusammen. „Ich hab noch einen Außentermin.“ Er schaute mich so liebevoll an, als ob er mir etwas Tröstendes hätte sagen wollen. „Wenn jemand nach mir fragt, dann sage einfach, ich hätte heute meinen freien Tag.“ Dann war er weg.

Nur drei Wochen? Und Iris wollte mir schon nächste Woche Nine und Alles Paletti bringen! Wenn ich demnächst arbeitslos wäre, wie sollte ich dann die Pension für zwei Pferde stemmen? Für zweieinhalb Pferde, verbesserte ich mich, denn für Fango war ich mit der halben Boxenmiete in der Pflicht.

Ich weiß nicht, wie lange ich gedankenverloren auf dem Stuhl gesessen hatte, jedenfalls wurde ich von einem dunklen Brummen aufgeschreckt. Es kam von der Straße, doch ich spürte die Schwingungen tief in meinen Eingeweiden. Ich stand auf und schaute durch das intakte Fenster hinaus. Jemand hatte ein schweres Motorrad genau vor unserem Reisebüro geparkt und versperrte die Hälfte des Gehwegs. Das Bike sah wie ein Insekt aus, die Rückspiegel stachen wie Fühler in die Luft, die abstehenden Schutzbleche ähnelten Flügeln und der offen liegende Motor kam mir wie Gedärm vor. Den schwarzen Tank zierte ein Aufkleber. Mir blieb keine Zeit, den Schriftzug zu entziffern, denn in diesem Augenblick ging die Tür auf und der Kunde stand vor mir. Ich trat einen Schritt zurück. „Guten Tag“, sagte ich schnell, „Was kann ich für Sie tun?“

Der Mann schaute sich im Laden um, als suche er etwas und deutete auf Massimos Schreibtisch. „Ich suche Herrn Auditi, ist er heute nicht im Büro?“

Ich hatte wieder hinter meinem Schreitisch Platz genommen, und während ich antwortete, stieg mir eine Duftwolke in die Nase, die mich umgeworfen hätte, wäre ich nicht auf meinem Drehstuhl gesessen. Der Duft verwirrte mich, außer Massimo kannte ich keine Männer, die sich parfümierten. Gerson benutzte ab und zu ein neutrales Deo, aber nur an wirklich heißen Sommertagen.

„Haben Sie eine Verabredung?“, fragte ich und überlegte angestrengt, wo ich den Mann schon einmal gesehen hatte. Der Duft, den er verströmte, war wirklich penetrant.

„Um elf Uhr, hier im Büro“, sagte er. Er schielte immer noch auf Massimos Schreibtisch, als ob er dort etwas suchte. Da fiel es mir ein: Hatte nicht Massimo das gleiche Parfüm an sich gehabt? Natürlich, es kam von dieser Tissa – ob der Typ vielleicht Hansi Helm war? Er war mir neulich auf dem Leierhof über den Weg gelaufen, als er seine Frau mit seiner schweren BMW abgeholt hatte.

Heute sah er wie ein Geschäftsmann aus, die schweren Bikerboots, die er im Stall trug, hatte er durch schwarze Straßenschuhe vertauscht, das dunkelblaue Sakko hatte er damals unter einer wattierten Karojacke getragen. Aus dem offenen Hemdkragen schaute ein roter Seidenschal hervor.

Massimo hatte mir nichts von diesem Termin verraten, aber das wollte ich ihm nicht auf die Nase binden. „Mein Chef ist gerade in einer wichtigen Besprechung“, log ich. „Ich kann ihn leider nicht stören.“

„Ein Missverständnis vielleicht“, sagte der Mann. „Aber wenn ich schon einmal hier bin – vielleicht können Sie doch etwas für mich tun?“

Hansi Helm buchte eine Bahnfahrt in die Schweiz. Nachdem ich mich einmal an sein penetrantes Parfüm gewöhnt hatte, kam er mir beinahe sympathisch vor. Er war einer von diesen gepflegten Typen, die sich jeden Morgen die Augenbrauen zupften und die Nägel mit einem durchsichtigen Lack bemalten. Ich überlegte kurz, wie viel Zeit er wohl aufbrachte, um seine Hände in einen solchen Luxuszustand zu bringen – unter meinen Nägeln schimmerte immer ein schwarzer Rand, so sehr ich sie auch mit der Bürste bearbeitete.

Ich öffnete ihm die Tür. Bevor er sein Motorrad startklar machte und seinen Helm aufsetzte, sagte er: „Schöne Grüße an Ihren Chef, er wird bald wieder von mir hören!“

Als er den Zündschlüssel umdrehte und sich das Dröhnen des Motors in meinen Brustkorb fortsetzte, schaute ich auf den Aufkleber auf seinem Tank. Er zeigte einen Skorpion; jetzt konnte ich auch den Schriftzug entziffern. „Final Sting“, las ich und dachte: Der Mann ist schuld an meiner Kündigung! Obwohl ich mir sagen musste, dass dieser Vorwurf jeglicher Grundlage entbehrte, hätte nicht viel gefehlt und ich wäre vor unserem Büro in Zornestränen ausgebrochen.

 

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5

Seit dem Einbruch war mein Chef, den ich bei den Pferden als lebhaften, freundlichen Mann kennengelernt hatte, vollkommen verändert. Auch am nächsten Morgen saß Massimo hinter seinem Schreibtisch und starrte mit leeren Augen vor sich hin.

„Ich soll dich von deinem Banker Hansi Helm grüßen“, sagte ich. „Er war gestern mit dir verabredet, aber du warst wegen dieses dringenden Außentermins unterwegs.“

Massimo strich sich die verklebten Haare aus der Stirn. „Hast du eigentlich seine Frau schon kennengelernt?“, fragte er.

„Tissa?“, fragte ich, doch er murmelte nur etwas vor sich hin, was ich nicht verstand und sagte, mehr zu sich selbst als zu mir: „Tissa Krellic – ach du meine Güte!“

Dann fasste er sich, sah mich an und fragte: „Hat sie noch diesen schwarzen Hengst?“

Jetzt verstand ich überhaupt nichts mehr, es war mir nicht einmal klar, ob wir dieselbe Tissa meinten. Ihr Nachname, so wie er ihn aussprach, klang slawisch. Doch die Tissa, die unseren Leierhof umkrempeln wollte, hieß einfach nur Krell; sie hatte einen ganz normalen deutschen Familiennamen, der gut zu ihr passte, weil er mit einem harten Konsonanten anfing. Massimo nahm die Fragezeichen in meinen Augen wahr und sagte: „Ach, was rede ich da – das ist doch bestimmt 15 Jahre her, das kannst du gar nicht wissen, Vera.“

Er fuhr sich mit der Hand durch die Haare, es war, als ob er aus einem tiefen Schlaf erwachte. Dann sagte er: „Ich habe mich ablenken lassen. Dabei muss ich dir etwas ganz anderes sagen.“

Ich schaute ihn gespannt an.

„Es tut mir leid, aber aus den vier Wochen wird nichts. Ich kann dich noch genau eine Woche halten, dann ist Schluss!“

Hatte ich mich verhört? Oh bitte, liebe Göttin, mach, dass ich mich verhört habe! Was hatte er gesagt? Ich sollte schon in einer Woche meine Sachen packen? Aber die Göttin schwieg und ich flehte: „Warum Massimo? Was soll ich denn tun? In ein paar Tagen kommen Nine und Alles Paletti – wie soll ich ohne Job zweieinhalb Pferde finanzieren?“

„Das weiß ich! Es tut mir leid, Vera, wirklich!“

Die Verzweiflung war ihm ins Gesicht geschrieben, so zerknirscht hatte ich meinen Chef noch nie gesehen, irgendetwas musste tonnenschwer auf seiner Seele lasten.

„Ich verspreche dir, wenn …“ Massimo stockte.

Ich war den Tränen nahe und schwieg. Was hätte ich denn sagen sollen?

„Vera, ich habe das dumpfe Gefühl, dass ich verfolgt werde.“

„Von wem?“, fragte ich, aber mir war klar, dass ich darauf keine Antwort erhalten würde. Massimo fuhr sich mit der Hand über die Augen. „Vom Schicksal“, sagte er. „Ich werde vom Schicksal verfolgt!“

Ich sah ihn ratlos an. Er braucht Urlaub, sollte sich mal ein paar schöne Wellnesstage gönnen, dachte ich. Die Sorgen um das Geschäft bringen ihn noch um. Wenn es so weitergeht, dreht er vollkommen durch.

„Entschuldige bitte, wenn ich Unsinn rede.“ Massimo goss sich ein Glas Wasser ein, jetzt hatte er sich wieder im Griff.

Um ihn abzulenken, fragte ich, ohne mir viel dabei zu denken, nach dem auffälligen Logo auf dem Motorrad des Bankers, dessen Bedeutung ich nicht verstand. „Final sting, was soll das?“ Massimo lachte nervös. „Da sieht man wieder, wie jung du bist, Vera! Die Scorpions waren eine Rockband, ihre letzte Tournee lief unter dem Motto Final Sting.“

„Das klingt ziemlich makaber!“, sagte ich. Massimo nickte. Er war ganz blass geworden, auf angenehmere Gedanken hatte ich ihn mit meiner gutgemeinten Ablenkung nicht gebracht.

„Noch etwas, Vera“, brachte er endlich heraus.

„Ja?“

„Ich möchte dich bitten, mich nächste Woche, in deiner letzten Arbeitswoche, zu vertreten. Natürlich nur, wenn es dir nichts ausmacht. Selbstverständlich überweise ich dir noch einen halben Monatslohn.“

Das Geld konnte ich dringend brauchen und ich wollte ihm seine Bitte nicht abschlagen, also willigte ich ein.

„Es kann sein, dass ich in den nächsten Tagen noch eine längere Geschäftsreise machen muss“, sagte er.

 

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Noch bevor ich am Abend meine Hiobsbotschaft loswerden konnte, wedelte mir Gerson mit einem Blatt Papier unter der Nase herum.

„Du bekommst merkwürdige Post“, sagte er. Alarmiert nahm ich ihm den Umschlag aus der Hand. Adresse und Absender waren mit der Hand geschrieben, die Marke kam aus der Schweiz, der Absender hatte den Brief nicht richtig zugeklebt, so dass das Schreiben beinah herausgefallen wäre.

„Hast du es etwa gelesen?“, fragte ich.

Gerson nickte. „Nichts Besonderes, jemand muss dich auf einen Esoterik-Verteiler gesetzt haben! Wie du da drauf kommst, ist mir ein Rätsel.“

Aufgeregt zog ich das Blatt aus dem Umschlag. Im Stehen überflog ich das sauber mit Schreibmaschine getippte Schreiben. Nein, Reklame war das nicht, unter der Überschrift „Saturnrevolution“, ging es rätselhaft weiter: „Saturn setzt Grenzen in deinem Leben. Sei wachsam und vorsichtig.“ Und darunter stand kleingeschrieben: „Das Horoskop ist für den ganzen Monat Mai gültig.“ Das war alles. Und eine Rechnung über 50 Euro lag auch dabei.

„Der Brief ist von Claire! Sie ist die Nachbarin von Iris in Montmirail im Schweizer Jura, sie hat mir ein Horoskop gestellt.“

Gerson sah mich ungläubig an. „Einfach so? Du hast es doch bestimmt bei ihr bestellt! Vera! Bist du vollkommen durchgedreht? 50 Euro für drei Zeilen!“

Ich ließ mich aufs Sofa fallen. „Saturnrevolution – was um Himmelswillen soll das denn bedeuten?“

Ich starrte auf den Brief und buchstabierte alles noch einmal von vorne, ohne hinter den Sinn zu kommen.

„Die Rechnung musst du bezahlen, das heißt es!“, sagte Gerson und setzte hinzu: „Für 50 Euro bekommst du locker zwei Säcke Bio-Dyn-Horse-Feed!“

„Was?“

„Tissa Krell hat ein biologisches Futtermittel entwickelt. Du musst sie unbedingt mal kennenlernen.“

„Tissa kenne ich schon! Wie heißt das Zeug, sagst du?“

„Bio-Dyn-Horse-Feed“, sagte Gerson und betonte jede einzelne Silbe. „Die Koliken im Stall – die liegen an Toms Futter, sagt Tissa. Gestern musste wieder ein Pferd in die Klinik gebracht werden. Jeden Tag drei Schippen voll Hafer und dann noch Pellets, das Heu nicht mit gerechnet. Auf dem Leierhof haben einige das Futter schon ganz umgestellt.“

Obwohl mir der Sinn nicht nach einer Diskussion über die Vor- und Nachteile von biodynamischen Pferdefutter stand, war ich froh, dass Gerson sich so leicht ablenken ließ. Mir wäre es peinlich gewesen, wenn er noch länger auf dem leidigen Thema „Horoskop und seine Kosten“ herumgeritten wäre.

„Gerson?“

„Was ist los mit dir Vera, du siehst vollkommen fertig aus!“

Er hat ziemlich lange gebraucht, bis er es gemerkt hat, dachte ich und schluckte den Kloß in meinem Hals hinunter.

„Massimo hat mir gekündigt“, sagte ich leise.

Gerson warf mir einen mitleidigen Blick zu. „Oh, das tut mir leid! Aber mach dir keine Sorgen, du findest bestimmt bald wieder einen Job! Vielleicht endlich einmal einen, der wirklich deinen Fähigkeiten entspricht.“

Ich schaute ihn ausdruckslos an und wusste nicht, was ich sagen sollte. War das alles, was Gerson zu meinem Unglück einfiel?

„Ach, bevor ich es vergesse“, fuhr Gerson fort, „morgen muss ich früh raus, auf Foto-Tour. Ich habe schon einen Sack Bio-Dyn gekauft. Wir füttern eine Schippe voll, ich habe Tom bereits informiert.“

„Wen meinst du eigentlich mit wir?“, fragte ich. In meinen Fingerspitzen kribbelte es so stark, dass ich immer wieder eine Faust ballen musste, ohne dass das Kribbeln aufhörte.

„Tissa und ich“, sagte er „und du natürlich auch“, setzte er gerade noch rechtzeitig hinzu.

Ich schluckte; irgendetwas stimmte nicht zwischen Gerson und mir, für ihn gab es auf einmal nur noch Fango und ich zählte überhaupt nicht mehr. Oder war es Tissa, die ihm den Kopf verdrehte? Seit sie sich in unser Leben einmischte, war ich ihm ziemlich gleichgültig geworden. Auf einmal wusste ich, warum ich meine Stute so sehr vermisste. Nine war meine Freundin, die einzige, die mir auf dieser Welt geblieben war. Und Nine und ich, wir würden bald wieder beisammen sein.

 

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