Rohinton Mistry
Das Gleichgewicht der Welt
Roman
Aus dem Amerikanischen von Matthias Müller
Fischer e-books
Rohinton Mistry wurde 1952 in Bombay geboren und lebt nun in Toronto, Kanada. Für seine Romane erhielt er viele Auszeichnungen, u.a. den kanadischen Staatspreis, den Commonwealth-Preis und zuletzt, für »Die Quadratur des Glücks«, den Kiriyama-Preis.
Covergestaltung: Buchholz/Hinsch/Hensinger
Coverabbildung: Dario Mitidieri
Die kanadische Originalausgabe erschien 1995 unter dem Titel
›A Fine Balance‹ im Verlag McClelland & Stewart, Toronto
© by Rohinton Mistry 1995
Für die deutschsprachige Ausgabe:
© S.Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-402892-7
Für Freny
»Wenn Sie dieses Buch in der Hand halten und in Ihren weichen Sessel zurücksinken, werden Sie sich sagen: Vielleicht wird es mich unterhalten. Und nachdem Sie diese Geschichte großer Mißgeschicke gelesen haben, werden Sie zweifellos gut speisen, dem Autor die Schuld für Ihre Gefühllosigkeit geben, ihm wilde Übertreibung und blühende Phantasie vorwerfen. Aber seien Sie versichert: Diese Tragödie ist nichts Erfundenes. Alles ist wahr.«
Honoré de Balzac, Le Père Goriot
Der überfüllte Morgenexpreß verlangsamte seine Fahrt bis zu einem Kriechtempo und ruckte dann plötzlich vorwärts, als wollte er wieder zur vollen Geschwindigkeit zurückkehren. Das überraschende Manöver schüttelte die Fahrgäste durcheinander. Die Menschentraube, die aus der Wagentür heraushing, dehnte sich bedrohlich aus, wie eine Seifenblase kurz vor dem Zerplatzen.
Im Innern des Abteils hielt sich Maneck Kohlah, in dem Gedrängel gut gestützt, an der Haltestange über seinem Kopf fest. Er spürte, wie ihm seine Schulbücher von einem Ellbogen aus der Hand gestoßen wurden. Auf den Sitzen nebenan wurde ein dünner junger Bursche in die Arme des Mannes geschleudert, der ihm gegenübersaß. Manecks Schulbücher fielen auf die beiden drauf.
»Autsch!« sagte der junge Bursche, als ihm Band eins in den Rücken krachte.
Lachend lösten er und sein Onkel sich voneinander. Ishvar Darji, der eine entstellte linke Wange hatte, half seinem Neffen aus seinem Schoß heraus und wieder auf den Sitz zurück. »Alles in Ordnung, Om?«
»Bis auf die Delle in meinem Rücken ist alles in Ordnung«, sagte Omprakash Darji, indem er die beiden in braunes Papier eingewickelten Bücher aufhob. Er wuchtete sie in seinen schmalen Händen hoch und sah sich suchend nach dem Eigentümer um.
Maneck gab sich als dieser zu erkennen. Ihn schauderte bei dem Gedanken, daß seine schweren Schulbücher auf diese zarte Wirbelsäule gefallen waren. Er erinnerte sich an den Spatz, den er mal vor Jahren mit einem Stein getötet hatte. Danach war ihm schlecht geworden.
Er entschuldigte sich überschwenglich. »Tut mir furchtbar leid, die Bücher sind gerutscht und …«
»Ist schon gut«, sagte Ishvar. »War nicht Ihre Schuld.« Zu seinem Neffen gewandt fügte er hinzu: »Gut, daß es nicht umgekehrt passiert ist, ha? Wenn ich dir auf den Schoß gefallen wäre, hätte ich dir mit meinem Gewicht bestimmt die Knochen gebrochen.« Sie lachten wieder, und Maneck fiel mit ein, um seiner Entschuldigung Nachdruck zu verleihen.
Ishvar Darji war kein stämmiger Mann. Es war der Kontrast zu Omprakashs dürren Gliedern, der zu ihren kleinen Scherzen über sein Gewicht Anlaß gab. Die Witzeleien kamen manchmal von dem einen und manchmal von dem andern. Wenn sie ihre Abendmahlzeit einnahmen, tat Ishvar regelmäßig eine größere Portion auf den Emailleteller seines Neffen. Wenn sie an einem Straßen-Dhaba aßen, wartete er, bis Omprakash kurz fortging, um Wasser zu holen oder Wasser zu lassen, und packte schnell etwas von seinem eigenen Essen auf das andere Blatt.
Wenn Omprakash protestierte, sagte er: »Was wird man im Dorf denken, wenn wir zurückkehren? Daß ich in der Stadt meinen Neffen hab verhungern lassen und das ganze Essen selbst verdrückt hab? Iß, iß! Ich kann meine Ehre nur retten, indem ich dich mäste!«
»Keine Sorge«, neckte Omprakash zurück. »Wenn deine Ehre nur halb soviel wiegt wie du, dann ist das schon reichlich.«
Omprakashs Gestalt widersetzte sich jedoch den Bemühungen seines Onkels und blieb dünn wie ein Streichholz. Ihre Schicksale bewahrten sich ebenfalls hartnäckig ein mageres und hungriges Aussehen, und eine triumphale Rückkehr ins Dorf war immer noch ein ferner Traum.
Der nach Süden fahrende Expreß wurde wieder langsamer. Die Räder kamen mit einem pneumatischen Zischen klirrend zum Stillstand. Der Zug befand sich auf offener Strecke. Seine Luftbremsen atmeten noch einige Momente lang pfeifend aus und erstarben dann.
Omprakash sah aus dem Fenster, um festzustellen, wo sie hielten. Jenseits des Eisenbahnzauns standen roh zusammengezimmerte Hütten neben einem offenen Abwassergraben. Kinder spielten ein Spiel mit Zweigen und Steinen. Ein aufgeregter junger Hund tanzte um sie herum und versuchte mitzuspielen. In der Nähe melkte ein Mann mit nacktem Oberkörper eine Kuh. Sie könnten überall sein.
Der scharfe Geruch eines Dungfeuers trieb zum Zug. Ein Stück weiter vorne hatte sich eine Menschenmenge bei einem Bahnübergang versammelt. Ein paar Männer sprangen vom Zug ab und gingen die Gleise hinunter.
»Hoffentlich kommen wir rechtzeitig an«, sagte Omprakash. »Wenn uns jemand zuvorkommt, sind wir erledigt, das steht fest.«
Maneck Kohlah fragte, ob sie es noch weit hätten. Ishvar nannte den Bahnhof.
»Oh, da will ich auch hin«, sagte Maneck, indem er seinen spärlichen Schnurrbart befingerte.
In der Hoffnung, ein Uhrenzifferblatt zu entdecken, blickte Maneck in ein Dickicht von deckenwärts gereckten Handgelenken. »Wie spät, bitte?« fragte er jemanden hinter sich. Der Mann schnickte modisch seine Manschette zurück, so daß seine Uhr zum Vorschein kam: Viertel vor neun.
»Na los, yaar, beweg dich!« sagte Omprakash und schlug auf den Sitz zwischen seinen Schenkeln.
»Nicht so gehorsam wie die Ochsen in unserm Dorf, nicht?« meinte sein Onkel, und Maneck lachte. Ishvar fügte hinzu, daß es wahr sei – seit seiner Kindheit hatte sein Dorf bei den Festtagen, an denen Wettbewerbe veranstaltet wurden, noch nie ein Ochsenkarrenrennen verloren.
»Gib dem Zug eine Dosis Opium, und er läuft wie die Ochsen«, sagte Omprakash.
Ein Kammverkäufer zwängte sich durch das überfüllte Abteil, wobei er die Plastikzähne eines großen Kammes schnalzen ließ. Seine Anwesenheit wurde als lästig empfunden, und man murrte und fauchte ihn an.
»Oi!« sagte Omprakash, um seine Aufmerksamkeit zu erregen.
»Plastik-Haarreifen, unzerbrechlich, Plastik-Haarklemmen, in Blumenform, in Schmetterlingsform, bunter Kamm, unzerbrechlich.« Der Kammverkäufer intonierte einen halbherzigen monotonen Gesang, unsicher, ob dies ein richtiger Kunde war oder nur ein Witzbold, der sich die Zeit vertreiben wollte. »Großer Kamm und kleiner Kamm, rosa, orange, braun, grün, blau, gelber Kamm – unzerbrechlich.«
Omprakash machte mit verschiedenen Kämmen einen Probelauf durch seine Haare, bevor er sich für ein rotes Exemplar entschied, Taschengröße. Er kramte in seiner Hosentasche und zog eine Münze hervor. Der Kammverkäufer mußte feindselige Knuffe von Ellbogen und Schultern einstecken, während er das Wechselgeld zusammensuchte. Mit seinem Hemdsärmel wischte er das Haaröl von den zurückgewiesenen Kämmen ab und verstaute sie dann wieder in seiner Tasche, wobei er den großen Zweizahnigen in der Hand behielt, um mit leisem Schnalzen seinen Verkaufsgang durchs Abteil fortzusetzen.
»Was ist mit dem gelben Kamm passiert, den du gehabt hast?« fragte Ishvar.
»In zwei Stücke zerbrochen.«
»Wie?«
»Er war in meiner Hintertasche. Ich hab mich draufgesetzt.«
»Das ist der falsche Platz für einen Kamm. Der ist für deinen Kopf gedacht, Om, nicht für deinen Hintern.« Er nannte seinen Neffen immer Om und benutzte Omprakash nur, wenn er sich über ihn aufregte.
»Wenn es dein Hintern gewesen wäre, wäre der Kamm in hundert Stücke zerbrochen«, erwiderte sein Neffe, und Ishvar lachte. Seine entstellte linke Wange war kein Hindernis, sie blieb standfest wie eine Muring, um die herum sein Lächeln sich ungestört kräuseln konnte.
Er versetzte Omprakash einen Kinnstüber. Die meiste Zeit war ihr Altersunterschied – sechsundvierzig und siebzehn – ein irreführender Hinweis auf ihr tatsächliches Verhältnis. »Lächeln, Om. Dein zorniger Mund paßt nicht zu deiner Heldenfrisur.« Er zwinkerte Maneck zu, um ihn in den Spaß miteinzubeziehen. »Mit so einer Tolle werden viele Mädchen hinter dir her sein. Aber keine Sorge, Om, ich werde eine nette Frau für dich aussuchen. Eine, die groß und stark ist, mit Fleisch genug für zwei.«
Omprakash grinste und kämmte sich mit seinem neuen Kamm einen kleinen Schlenker ins Haar. Der Zug machte immer noch keine Anstalten, sich wieder in Bewegung zu setzen. Die Männer, die auf die Gleise gegangen waren, kamen mit der Nachricht zurück, daß schon wieder eine Leiche am Gleis in der Nähe des Bahnübergangs gefunden worden sei. Maneck schob sich zur Tür, um zuzuhören. Eine schöne, schnelle Art, sich zu verabschieden, dachte er, sofern der Zug den Betreffenden frontal erwischt hatte.
»Vielleicht hat es mit dem Ausnahmezustand zu tun«, sagte jemand.
»Was für ein Ausnahmezustand?«
»Die Ministerpräsidentin hat heute früh im Radio eine Rede gehalten. Irgendwas von wegen, daß das Land von innen bedroht wäre.«
»Hört sich wieder nach so einem Regierungs-Tamasha an.«
»Wieso müssen sich alle immer ausgerechnet die Bahngleise zum Sterben aussuchen?« beschwerte sich ein anderer. »Keine Rücksicht auf Leute wie uns. Mord, Selbstmord, Massaker durch die Naxaliten-Terroristen, Tod durch Polizeigewahrsam – immer werden die Züge durch so was aufgehalten. Was ist denn gegen Gift oder hohe Gebäude oder Messer einzuwenden?«
Endlich wanderte das langerwartete Rumpeln durch die Abteile, und ein Zittern lief das lange stählerne Rückgrat des Zuges entlang. Die Gesichter der Fahrgäste hellten sich erleichtert auf. Während die Abteile an dem Bahnübergang vorbeiratterten, reckten alle die Hälse, um zu sehen, was die Verzögerung verursacht hatte. Drei uniformierte Polizisten standen neben der hastig zugedeckten Leiche, die auf ihre Reise ins Leichenschauhaus wartete. Einige Passagiere berührten ihre Stirn oder legten die Hände zusammen und murmelten: »Ram, Ram.«
Maneck Kohlah stieg hinter Onkel und Neffe aus, und gemeinsam verließen sie den Bahnsteig. »Entschuldigen Sie«, sagte er, einen Brief aus seiner Tasche ziehend. »Ich bin neu in der Stadt, können Sie mir sagen, wie ich zu dieser Adresse komme?«
»Da fragen Sie die Falschen«, sagte Ishvar, ohne sie zu lesen. »Wir sind hier auch neu.«
Aber Omprakash warf einen Blick auf den Brief und sagte: »Guck mal, das ist ja derselbe Name!«
Ishvar zog ein Stück zerkrumpelten Papiers aus seiner Tasche und verglich die beiden Adressen. Sein Neffe hatte recht, da stand es: Dina Dalal, gefolgt von der Adresse.
Omprakash betrachtete Maneck mit plötzlicher Feindseligkeit. »Warum gehen Sie zu Dina Dalal? Sind Sie Schneider?«
»Ich, ein Schneider? Nein, sie ist eine Freundin meiner Mutter.«
Ishvar klopfte seinem Neffen auf die Schulter. »Siehst du, du bist schon gleich in Panik geraten. Komm, suchen wir das Gebäude.«
Maneck verstand nicht, was sie meinten, bis Ishvar es ihm außerhalb des Bahnhofs erklärte. »Sehen Sie, Om und ich sind Schneider. Dina Dalal hat Arbeit für zwei Schneider. Wir wollen uns bewerben.«
»Und ihr habt gedacht, ich renn hin, um euch euren Job wegzuschnappen.« Maneck lächelte. »Keine Sorge. Ich bin bloß Student. Dina Dalal und meine Mutter sind zusammen zur Schule gegangen. Sie läßt mich nur für ein paar Monate bei sich wohnen.«
Sie fragten einen Paanwalla nach der Richtung und gingen die Straße hinunter, die er ihnen gezeigt hatte. Omprakash war immer noch etwas mißtrauisch. »Wenn Sie ein paar Monate lang bei ihr bleiben, wo sind dann Ihr Koffer, Ihre Habseligkeiten? Zwei Bücher sind alles, was Sie haben?«
»Heute werde ich sie nur kennenlernen. Ich ziehe erst nächsten Monat mit meinen Sachen aus dem Studentenheim um.«
Sie kamen an einem Bettler vorbei, der auf einer kleinen, mit Rollen versehenen Holzplattform lag, die ihn etwa zehn Zentimeter über den Boden erhob. Ihm fehlten die Finger, und seine Beine waren fast bis zum Gesäß amputiert. »O babu, ek paisa day-ray!« sang er, eine Blechbüchse zwischen seinen bandagierten Handflächen schüttelnd. »O babu! Hai babu! Aray babu, ek paisa day-ray!«
»So was Schlimmes hab ich noch nicht gesehen, seit wir hier in der Stadt sind«, sagte Ishvar, und die andern beiden stimmten ihm zu. Omprakash blieb stehen, um eine Münze in die Büchse zu werfen.
Sie überquerten die Straße und fragten wieder nach dem Weg. »Ich lebe schon seit zwei Monaten in dieser Stadt«, sagte Maneck, »aber sie ist so riesig und verwirrend. Ich erkenne nur ein paar große Straßen wieder. Die kleinen Gassen sehen alle gleich aus.«
»Wir sind schon seit sechs Monaten hier und haben das gleiche Problem. Am Anfang waren wir völlig verloren. Das erste Mal konnten wir nicht mal einen Zug besteigen – erst nachdem zwei oder drei abgefahren waren, haben wir gelernt zu drängeln.«
Maneck sagte, er hasse es hier und könne es nicht erwarten, wieder nach Hause in die Berge zu fahren, nächstes Jahr, wenn er mit dem College fertig wäre.
»Wir sind auch nur für kurze Zeit gekommen«, sagte Ishvar. »Um etwas Geld zu verdienen, dann wollen wir in unser Dorf zurück. Was nützt so eine große Stadt? Lärm und Menschenmengen, kein Platz zum Wohnen, Wassermangel, überall Müll. Schrecklich.«
»Unser Dorf ist weit von hier«, sagte Omprakash. »Mit dem Zug braucht man einen ganzen Tag – von morgens bis abends –, um hinzukommen.«
»Mein Zuhause ist im Norden«, sagte Maneck. »Dauert einen Tag und eine Nacht und noch einen Tag, um hinzukommen. Vom Fenster unseres Hauses kann man schneebedeckte Berggipfel sehen.«
»In der Nähe unseres Dorfes fließt ein Fluß«, sagte Ishvar. »Man kann ihn glänzen sehen und singen hören. Es ist ein schöner Ort.«
Sie gingen eine Weile schweigend weiter, in Gedanken an zu Hause. Omprakash brach das Schweigen, indem er auf einen Wassermelonenbrause-Stand deutete. »Wär das nicht schön, an so einem heißen Tag?«
Der Verkäufer rührte mit seiner Kelle in dem Bottich, wobei Eiswürfel, die in einem dunkelroten Meer schwammen, klirrend aneinanderstießen. »Kaufen wir welche«, meinte Maneck. »Es sieht köstlich aus.«
»Nicht für uns«, sagte Ishvar schnell. »Wir hatten heute morgen ein großes Frühstück«, und Omprakash löschte das Verlangen aus seiner Miene.
»Okay«, sagte Maneck zweifelnd und bestellte ein großes Glas. Er betrachtete die Schneider, die mit abgewandtem Blick dabeistanden und weder zu dem verheißungsvollen Bottich noch zu dem geeisten Glas hinsahen. Er sah ihre müden Gesichter, wie armselig ihre Kleidung war, die abgewetzten Chappals.
Er trank die Hälfte und sagte: »Mir reicht’s. Wollt ihr den Rest?«
Sie schüttelten die Köpfe.
»Es wird sonst verderben.«
»Okay, yaar, in dem Fall«, sagte Omprakash und nahm das Glas Brause. Er schluckte etwas herunter und gab es an seinen Onkel weiter. Ishvar leerte das Glas und gab es dem Verkäufer zurück. »Das war so lecker«, sagte er vor Vergnügen strahlend. »Es war sehr nett von Ihnen, es mit uns zu teilen, wir haben es wirklich genossen, vielen Dank.« Sein Neffe warf ihm einen mißbilligenden Blick zu, der ihn zur Mäßigung mahnen sollte.
Wieviel Dankbarkeit für ein bißchen Brause, dachte Maneck, wie ausgehungert nach normaler Freundlichkeit sie zu sein schienen.
An der Verandatür war ein Namensschild aus Messing: Mr. & Mrs. Rustom K. Dalal, dessen Buchstaben durch Jahre mit Grünspan angereichert waren. Auf das Klingeln erschien Dina Dalal an der Tür und nahm den zerknitterten Zettel entgegen, auf dem sie ihre eigene Handschrift erkannte.
»Ihr seid Schneider?«
»Hahnji«, sagte Ishvar, energisch nickend. Alle drei betraten auf ihre Aufforderung hin die Veranda und blieben dann unbehaglich stehen.
Die Veranda, die früher einmal eine offene Galerie gewesen war, war während der Kindheit von Dina Dalals verstorbenem Mann zu einem Extrazimmer umgebaut worden. Seine Eltern richteten es ihm als Spielzimmer ein, wofür in der winzigen Wohnung kein Platz gewesen wäre. Der Portikus war gemauert und mit einem vergitterten Fenster versehen.
»Aber ich brauche nur zwei Schneider«, sagte Dina Dalal.
»Entschuldigung, ich bin kein Schneider. Mein Name ist Maneck Kohlah.« Er trat hinter Ishvar und Omprakash hervor.
»Oh, du bist Maneck! Willkommen! Tut mir leid, ich konnte dich nicht erkennen. Es ist schon Jahre her, daß ich deine Mama das letzte Mal gesehen habe, und dich habe ich noch nie gesehen.«
Sie ließ die Schneider auf der Veranda stehen und ging mit ihm hinein, in das Wohnzimmer. »Kannst du ein paar Minuten lang hier warten, während ich mit den beiden da draußen weitermache?«
»Klar.«
Maneck betrachtete die schäbige Möblierung um sich herum: das zerschlissene Sofa, zwei Stühle mit fadenscheinigen Polstern, ein zerkratzter Teapoy, ein Eßtisch mit einer rissigen und verblichenen Wachstuchdecke. Sie kann hier nicht wohnen, beschloß er, dies war wahrscheinlich ein Familienbetrieb, eine Pension. Die Wände brauchten dringend einen neuen Anstrich. Er spielte mit den verfärbten Putzflecken, wie er es immer mit Wolken machte, stellte sich Tiere und Landschaften vor. Männchenmachender Hund. Ein Bussard im Sturzflug. Ein Mann mit Gehstock, der einen Berg besteigt.
Wieder auf der Veranda fuhr sich Dina Dalal mit einer Hand über die schwarzen Haare, die bis jetzt noch nicht von Grau belagert waren, und wandte ihre Aufmerksamkeit den Schneidern zu. Obwohl sie schon zweiundvierzig war, war ihre Stirn noch glatt. Die sechzehn Jahre, die sie sich alleine durchs Leben geschlagen hatte, hatten ihrer Schönheit nicht geschadet, die vor langer Zeit die Freunde ihres Bruders veranlaßt hatte, um ihre Gunst zu wetteifern.
Sie fragte die beiden nach ihren Namen und nach ihrer beruflichen Erfahrung. Die Schneider behaupteten, alles über Frauenkleidung zu wissen. »Wir können sogar direkt vom Körper der Kundin Maß nehmen und jede Mode schneidern, die Sie wollen«, sagte Ishvar zuversichtlich, der das Reden übernahm, während Omprakash nur zu allem nickte.
»Für diese Arbeit wird es keine Kundinnen zum Maßnehmen geben«, erklärte sie. »Es wird direkt von Schnittmustern genäht. Jede Woche müßt ihr zwei bis drei Dutzend machen, je nachdem wieviel die Firma haben will und immer im gleichen Stil.«
»Kinderspiel«, sagte Ishvar. »Aber wir machen es.«
»Was ist mit dir?« sagte sie zu Omprakash, der verächtlich dreinschaute. »Du hast noch kein Wort gesagt.«
»Mein Neffe sagt nur etwas, wenn er nicht einverstanden ist«, erklärte Ishvar. »Sein Schweigen ist ein gutes Zeichen.«
Sie mochte Ishvars Gesicht. Die Sorte von Mensch, in dessen Gesellschaft man sich entspannt und zum Gespräch ermutigt fühlte. Aber da war der andere einsilbige Bursche, der die Worte wieder verscheuchte. Sein Kinn war zu klein für seine Gesichtszüge, aber wenn er lächelte, schien alles die richtigen Proportionen zu haben.
Sie nannte ihnen die Einstellungsbedingungen: Sie würden ihre eigenen Nähmaschinen mitbringen müssen, und es würde nach Stückzahl bezahlt. »Je mehr Kleider ihr macht, desto mehr verdient ihr«, sagte sie, und Ishvar stimmte ihr zu, daß das fair sei. Die Höhe des Stücklohnes würde entsprechend der Kompliziertheit des jeweiligen Schnitts festgesetzt. Arbeitszeit sei von acht bis achtzehn Uhr – weniger sei nicht akzeptabel, aber sie könnten jederzeit länger arbeiten. Und bei der Arbeit gäbe es weder Rauchen noch Paankauen.
»Paan kauen wir nie«, sagte Ishvar. »Aber manchmal rauchen wir gern eine Beedi.«
»Ihr werdet draußen rauchen müssen.«
Die Bedingungen waren annehmbar. »Wie ist die Adresse Ihrer Werkstatt?« fragte Ishvar. »Wo bringen wir die Nähmaschinen hin?«
»Hierher. Wenn ihr nächste Woche kommt, werde ich euch zeigen, wo ihr sie hintun sollt, im hinteren Zimmer.«
»Okayji, vielen Dank, wir werden mit Sicherheit am Montag kommen.« Sie winkten im Gehen Maneck zu. »Wir sehen uns bald wieder, hann.«
»Klar«, sagte Maneck und winkte zurück. Als er Dina Dalals stumme Frage bemerkte, erzählte er ihr von ihrer Begegnung im Zug.
»Du mußt vorsichtig sein, mit wem du redest«, sagte sie. »Man kann nie wissen, was für Gaunern man über den Weg läuft. Das ist hier nicht wie dein kleines Dorf in den Bergen, weißt du.«
»Sie haben sehr nett gewirkt.«
»Hmm, ja«, meinte sie, ohne sich eindeutig festzulegen. Dann entschuldigte sie sich wieder, daß sie ihn für einen Schneider gehalten hatte. »Ich konnte dich nicht richtig sehen, weil du hinter ihnen gestanden hast. Ich habe schwache Augen.« Wie töricht von mir, dachte sie, diesen prächtigen Jungen für einen krummbeinigen Schneider zu halten. Und er ist auch so kräftig. Muß die berühmte Bergluft sein, von der immer die Rede ist, das gesunde Essen und das frische Wasser.
Sie kam etwas näher, um ihn zu betrachten, und legte den Kopf schief. »Es ist schon über zwanzig Jahre her, aber ich kann deine Mama in deinem Gesicht erkennen. Du weißt, Aban und ich waren zusammen auf der Schule.«
»Ja«, erwiderte er. Er fühlte sich unbehaglich unter ihrem prüfenden Blick. »Mama hat es mir in ihrem Brief erzählt. Ich soll Ihnen auch sagen, daß ich ab nächsten Monat einziehe und daß sie Ihnen den Scheck für die Miete schicken wird.«
»Ja ja, das ist schon in Ordnung«, sagte sie, seine Sorge um die Details abtuend und wieder in die Vergangenheit schweifend. »Richtige kleine Ungeheuer waren wir damals als Schulkinder. Und da war noch ein drittes Mädchen mit von der Partie, Zenobia. Wenn wir drei zusammenwaren, hieß das Ärger, hundertprozentigen, wie die Lehrer immer sagten.«
Die Erinnerung zauberte ein wehmütiges Lächeln auf ihr Gesicht. »Na ja, dann will ich dir mal mein Haus und dein Zimmer zeigen.«
»Wohnen Sie auch hier?«
»Wo sonst?« Während sie ihn durch die trübe kleine Wohnung führte, fragte sie ihn, was er auf dem College lerne.
»Kühltechnik.«
»Na, dann hoffe ich, daß du irgendwas gegen dieses heiße Wetter unternimmst und mein Heim etwas gemütlicher machst.«
Er lächelte schwach, betrübt zu sehen, in was für Räumen sie hausen mußte. Nicht viel besser als das Studentenheim, dachte er. Und doch freute er sich darauf. Alles wäre besser nach dem, was dort passiert war. Er schauderte und versuchte, an etwas anderes zu denken.
»Das hier wird dein Zimmer.«
»Es ist sehr schön. Vielen Dank, Mrs. Dalal.«
In einer Ecke stand eine Kommode, auf der ein zerkratzter unförmiger Koffer lag. Daneben befand sich ein kleiner Tisch. Wie im vorderen Zimmer war auch hier die Decke dunkel und abgeblättert, die Wände waren verfärbt, an verschiedenen Stellen war der Putz herausgebrochen. Andere kahle, vor kurzem zementierte Stellen hoben sich wie frisch verheilte Wunden ab. An den Wänden standen zwei Einzelbetten im rechten Winkel zueinander. Er fragte sich, ob sie im selben Zimmer schlafen würde.
»Ich werde das eine Bett in das andere Zimmer tun, für mich.«
Er schaute durch die Tür und erblickte ein Zimmer, das noch winziger und in einem noch schlechteren Zustand war, vollgestellt mit einer Kommode (auf der ebenfalls ein Koffer lag), einem wackligen Tisch, zwei Stühlen und drei rostenden Truhen, die auf einem Bock gestapelt waren.
»Ich vertreibe Sie ja aus Ihrem eigenen Zimmer«, murmelte Maneck, den diese Umgebung zunehmend deprimierte.
»Unsinn.« Ihr Ton war forsch. »Ich wollte einen zahlenden Gast haben, und es ist mein großes Glück, einen netten Parsi-Jungen zu bekommen – den Sohn meiner alten Schulfreundin.«
»Es ist sehr nett von Ihnen, Mrs. Dalal.«
»Und noch was. Du mußt mich duzen und Tante Dina zu mir sagen.«
Maneck nickte.
»Du kannst deine Sachen jederzeit herüberbringen. Wenn du in dem Studentenheim nicht glücklich bist – dieses Zimmer steht bereit. Wir brauchen nicht bis zu einem bestimmten Tag im nächsten Monat zu warten.«
»Nein, das ist schon in Ordnung, aber trotzdem vielen Dank, Mrs. …«
»Ahn, aufgepaßt.«
»Ich meine Tante Dina.« Sie lächelten.
Nachdem Maneck gegangen war, ging sie, plötzlich rastlos, im Zimmer auf und ab, als wäre sie im Begriff, eine lange Reise anzutreten. Jetzt war es nicht mehr nötig, ihren Bruder aufzusuchen und um die Miete für den nächsten Monat zu betteln. Sie atmete tief ein. Wieder einmal war ihre zerbrechliche Unabhängigkeit gerettet.
Morgen würde sie den ersten Schwung Nähaufträge von Au Revoir Exports mitbringen.