Bürgerlichkeit als Lebensform
Späte Essays
STATT EINER EINLEITUNG
Der Irrtum Hannos oder Bürgerlichkeit als geistige Lebensform. Eine Dankrede
IN DER GESPENSTERWELT. GESCHICHTE UND GESCHICHTSSCHREIBUNG IM JAHRHUNDERT DER KATASTROPHEN
Erinnerung zum schreibenden Umgang mit der Geschichte. Zur Verleihung der Wilhelm-Leuschner-Medaille
Die verlorene Kunst – Geschichtsschreibung als Wissenschaft und Literatur. Eine Betrachtung über Herbert Lüthy
Der Führerbunker
Hitlers wirkliches Vermächtnis
Joseph Goebbels. Eine Porträtskizze
Anmerkungen
Spiel mit hohem Einsatz. Über Adam von Trott
Anmerkungen
Gedanken zum 20 . Juli. Rede in der Paulskirche am 20 . Juli 2004
Die Intellektuellen und die totalitäre Epoche. Gedanken zu einer Geschichte der Täuschungen und Enttäuschungen
DIE PREKÄRE NATUR DER FREIHEIT. LITERATUR UND POLITIK IN DEUTSCHLAND
«Verwandtschaft und Affront»: Thomas Mann und der Westen
Die anderen Betrachtungen eines Unpolitischen. Über Heinrich Manns nachgelassene Aufzeichnungen «Zur Zeit von Winston Churchill»
Das Zifferblatt der Welt entschlüsseln. Börnes Freiheit und was es noch immer damit auf sich hat
PERSÖNLICHKEIT ALS HÖCHSTES GLÜCK. ÜBER WEGGEFÄHRTEN UND ZEITGENOSSEN
Karl Dietrich Bracher: Denker im Dienste von Frieden und Freiheit
Autorität und Menschlichkeit. Laudatio auf Willy Brandt anläßlich der Verleihung des Dolf-Sternberger-Preises 1992
Unternehmer in der Zeit. Eine Porträtskizze Reinhard Mohns
Das Wahre im Wirklichen. Toast auf Jürgen Roland
Ein Autor als Verleger. Impromptu über Wolf Jobst Siedler
FORM UND VERGÄNGLICHKEIT. ÜBER DIE KUNST
Die Geburt der Häßlichkeit. Ein Versuch
Der tanzende Tod. Über Ursprung und Formen des Totentanzes vom Mittelalter bis zur Gegenwart
Anmerkungen
Nachweis der Erstveröffentlichungen
Personenregister
Hochverehrter Herr Bürgermeister,
lieber und verehrter Herr Mann,
meine Damen und Herren!
Ich möchte Ihnen und allen, die, auf welche Weise auch immer, beigetragen haben zu diesem Tag und dem Anlaß, der uns zusammenführt, aufrichtig danken: für den Preis, den die Hansestadt Lübeck mir verliehen hat, für die auszeichnenden Worte, die mir zuteil wurden; und schließlich für die Feierstunde, die Sie in diesen Räumen ausgerichtet haben. Das alles hat mich sehr bewegt. Es gilt einer literarischen Bemühung, die nach manchen Umwegen endlich dort anzulangen beginnt, wo sie im Grunde immer hin wollte: bei Literatur, bildender Kunst, Musik oder dem Nachdenken des Menschen über sich selbst; bei dem Geflecht der Wechselbeziehungen, das zwischen diesen Erscheinungen häufig unaufgespürt besteht, den Prozessen von Aufstieg, Höhe und Ermüdung, die in allen historischen Vorgängen greifbar sind. Ganz werden wir, die Generationen widriger Jahre, vom Druck der Geschichte nicht mehr freikommen. Aber das Interesse mag sich verlagern und etwa in die Frage führen, woran eigentlich Reiche, Kulturen und Lebensformen zerbrachen, weshalb sie verspielt werden und untergehen.
Ich will auch gern bekennen, wie sehr es mich berührt, gerade den Preis erhalten zu haben, der den Namen Thomas Manns trägt: ich wüßte keine Auszeichnung, die mir mehr bedeutete. Seit ich zu lesen begann, wie man eigentlich nur einmal liest, im Alter zwischen vierzehn und fünfundzwanzig, hat sein Werk mich immer begleitet, ein Bilderzug von Szenen und Figuren, die man nie mehr vergaß: den verirrten Tonio Kröger im Disput mit Lisaweta, und Gustav Aschenbach, den erschöpften, ins Glück der Selbstaufgabe desertierenden Leistungsethiker; das Schneekapitel und anderes aus dem «Zauberberg»; die Klage Jaakobs; Goethes Morgenmonolog im berühmten 7. Kapitel der «Lotte in Weimar» oder der Tod Leverkühns: es endet nicht, wenn man einmal mit solchen Vergegenwärtigungen beginnt. Mit den «Buddenbrooks» lebte man ohnehin wie im Zuhause, nie wieder hat ein Werk der Literatur mir und, wie ich weiß, vielen meiner Herkunft so verblüffende Erfahrungen des Wiedererkennens im ganz Anderen verschafft. Wie den Lübeckern, die sich in dem Buch abkonterfeit fanden, erging es vielen, auch wenn sie keinen Anlaß sahen, aufgebracht zu sein. Es war alles Verwandtschaft.
Was man wiedererkannte, waren aber nicht so sehr einzelne Figuren und Schicksale, sondern ein Lebensgefühl sehr ähnlicher Art. Es gilt ja weithin als ausgemacht, daß Thomas Mann einer vergangenen Epoche angehört und sein Werk inzwischen zum Bildungsgut abgesunken ist. Aber dieses Werk hätte eine derart breite, teilweise ins Populäre reichende Wirkung, wie sie im 19. Jahrhundert eigentlich nur einige Romantiker und, auf andere und auf seltsam gefährliche Weise, Richard Wagner besaßen, nie erlangen können, wenn es wirklich zum musealen Bestand rechnete; und wir verzeichneten dieses belebte, in neuen Ausgaben, Filmen und Fernsehbearbeitungen sich meldende Interesse kaum, wenn dieses Werk nicht die Gegenwart oder doch Elemente ihres noch gegenwärtigen Herkunftbewußtseins miterfaßte.
Wer die Anschlußstellen sucht, wird bald darauf stoßen, daß allem Parodistischen, allem offenbaren Hang zum mitunter vernichtend Komischen zuwider, im Werk Thomas Manns ein melancholischer Grundton vorherrscht, ein Gefühl von Abschied, Verlust, Unwiederbringlichkeit. Die ins Erheiternde, häufig auch Spleenige und nervös Verdrehte gewendeten Figuren im Vordergrund können es nur verdecken, nicht aber vergessen machen, sie haben alle ihre «feuchte Stelle». Gewiß kommt darin etwas von jenem literarischen Pessimismus zum Vorschein, der den Dichter geprägt hat, Erbteil des 19. Jahrhunderts, die Vermächtnisse Schopenhauers, Nietzsches und Richard Wagners mitsamt ihrer verfeinerten Süchtigkeit nach «Kreuz, Tod und Gruft». Aber anschaulich und gleichsam zum Leben erweckt wurde dieses pessimistische Grundgefühl erst im Blick auf die bürgerliche Welt, sie füllte, was nur elegische Dichterstimmung war, mit Wirklichkeit auf, sie und die tiefen Schatten über ihr waren in allen Empfindungen von Verfall und Ende gemeint. Der Senator Thomas Buddenbrook, wie er, den Pelz von Kot und Schneewasser beschmutzt, die Hände in den weißen Glacéhandschuhen weit von sich gestreckt, in einer Blutlache auf dem Pflaster der Fischergrube liegt, war ebenso eine Symbolfigur entkräfteter Bürgerlichkeit wie der junge Hanno, als er im Familienbuch den säuberlichen Doppelstrich unter seinen Namen zieht: «Ich glaubte, es käme nichts mehr.»
Es war und ist nicht nur die Bewunderung für den literarischen Rang und die beispiellos frühe professionelle Sicherheit des Autors, die solche Szenen unvergeßlich gemacht hat. Vielmehr ging von ihnen zugleich eine ins Persönliche reichende Betroffenheit aus, das unabweisbare Gefühl, etwas von der eigenen Lebens- und Situationsstimmung darin wiederzufinden. Sonderbar berührte daran allenfalls, daß eine Erfahrung, die der Gegenwart zu entstammen schien, zwei Generationen zuvor formuliert worden war.
Der Gedanke liegt nahe, an einen Akt dichterischer Vorwegnahme zu glauben, an instinktbegabtes Seismographentum, das den Untergang der eigenen Lebensform mit gesteigerten Wahrnehmungsapparaturen erfaßt. Doch daß es nicht nur Vorahnung war, bezeugt der stark autobiographische Charakter zumal der «Buddenbrooks», aber auch der anderen, vom Verfall der bürgerlichen Welt handelnden Werke: es war alles gelebtes Leben, war gewesen und vergangen. Was sich allenfalls sagen ließe, wäre, daß die Nachfahren den Zusammenbruch dieser Welt allgemeiner und erdrutschartiger erlebt haben, nicht als individuelles oder familiäres Geschick, wie Thomas Mann es dargestellt hat, sondern als umfassende politische und soziale Katastrophe.
Denn wer zweifelte noch am Untergang der bürgerlichen Welt? Bürgertum, Bürgerlichkeit gelten ja den meisten Präzeptoren der Nation, die der Öffentlichkeit das Bewußtsein machen, als Reiz- und Hohnvokabeln – der verlorenste Posten sicherlich, der weit und breit auszumachen ist. Bezeichnenderweise bekennen sich auch diejenigen, die ihren Grundsätzen, ihrer Lebensführung und habituellen Eigenart zufolge durchaus zum Bürgertum zu rechnen wären, keineswegs dazu, sondern verleugnen es durch allerlei abschwörerisch gemeinte, modische Mitläuferei. Die Gegenstimmen gibt es nicht. Das Bürgertum hat schlechthin keinen Anwalt mehr.
Vielleicht ist es an der Zeit, darüber nachzudenken, was bürgerliche Lebensform eigentlich bedeutet. In einem Essay aus dem Jahre 1909, der das genialische, durch Willkür und ekstatische Laune gesteigerte Artistentum Gustave Flauberts dem stillen, beharrlichen, in einem bürgerlichen Beruf verhafteten Künstlertypus gegenüberstellte, wie ihn beispielsweise Theodor Storm verkörpert, hat Georg Lukács bemerkt: «Bürgerlicher Beruf als Form des Lebens bedeutet in erster Linie das Primat der Ethik im Leben; daß das Leben durch das beherrscht wird, was sich systematisch, regelmäßig wiederholt, durch das, was pflichtgemäß wiederkehrt, durch das, was getan werden muß ohne Rücksicht auf Lust oder Unlust. Mit anderen Worten: die Herrschaft der Ordnung über die Stimmung, des Dauernden über das Momentane, der ruhigen Arbeit über die Genialität, die von Sensationen gespeist wird.»
Thomas Mann hat diese Sätze bei Gelegenheit beifällig zitiert, sie spiegelten ein Stück seiner eigenen Lebensproblematik wider: das frühe Sichverlieren in eine Welt der Boheme, der Ungebundenheit und der Kunstträumereien. Man mag einige Zweifel haben, ob es ihn tatsächlich so viel Mühe gekostet hat, zu einem Leben der Disziplin und der geduldigen Ausdauer zu finden: er stilisierte den Gegensatz, den er so wenig ahnen ließ, bekanntlich bis ins Extrem. Aber unstrittig ist auch, daß alle frühe Kunstemphase die Selbstnötigung verlangt, damit das Werk zustande komme: Tag für Tag zum festgesetzten Zeitpunkt, unabhängig von Stimmung und Eingebung, vor dem leeren Blatt Papier, um, wie er einmal geäußert hat, jene ein oder anderthalb Seiten voranzukommen, die schließlich heraussprangen, immer «schwere Stunde» und «am Rande der Erschöpfung». Als er im Januar 1943 den Josephs-Roman abschließt, notiert er in seinem Tagebuch: «Ich sehe darin weit mehr ein Monument meines Lebens, als ein solches der Kunst und des Gedankens, ein Monument der Beharrlichkeit.» Man fühlt sich bei dergleichen an Richard Wagner erinnert, dessen Partituren aus ähnlich langwierigen Akten der Selbstquälerei hervorgingen und an manchen Tagen nur zwei Takte weiterkamen, der aber doch bekannte: «Ein Vormittag ohne Arbeit ist wie ein Tag in der Hölle.» Thomas Mann hat die Befähigung, das eigene Leben einem so rigorosen, fast beamtenhaften Reglement zu unterwerfen, auf sein väterliches Erbteil zurückgeführt, das Vorbild des Lübecker Senators, vor dem er sich lebenslang zu rechtfertigen versucht habe: der ungeratene Sohn, der «gegen alles Erwarten» doch noch «etwas Anständiges» geworden sei. «Er war kein einfacher Mann mehr», heißt es bei Thomas Mann weiter über den Vater, «nicht robust, sondern nervös und leidensfähig, aber ein Mann der Selbstbeherrschung und … (des) Ethischen, das mit dem Bürgerlichen in so hohem Grade zusammenfällt.»
In diesem Satz ist einmal mehr etwas von dem Konflikt angedeutet, der zu Thomas Manns Vorzugsthemen zählt, nicht zuletzt das essayistische Werk variiert ihn immer wieder, desgleichen die frühen Erzählungen und dann vor allem der «Tod in Venedig»: das Dilemma zwischen der Gewalt, die der Künstler sich antun, und der Freiheit, die er sich bewahren muß. Der Schriftsteller Gustav Aschenbach, von dem es heißt, er habe seine Arbeiten «in kleinen Tagewerken aus aberhundert Einzelinspirationen zur Größe emporgeschichtet», dessen Lebensformel lautete, daß «beinahe alles Große, was dastehe, als ein Trotzdem dastehe», trotz Schwäche und Unlust und Hervorbringungsmühe, er folgt zunächst, nach seiner Ankunft in der Lagunenstadt, noch ganz und gar dem eingeübten Daseinsrhythmus. Als Bürger, der er ist, bindet er selbst, was alsbald sein Glück ausmacht, die Nähe Tadzios, in sein System fester Abläufe ein. Der Augenblick jedoch, in dem die Fähigkeit geordneter Daseinsführung verlorengeht und Aschenbach die Regeln in «Rausch und Empfindung» aufgehen läßt, bezeichnet zugleich den Umschlagpunkt; den Einbruch unkontrollierbarer Mächte in ein streng gebundenes Dasein, den Sturz aus der Bürgerlichkeit und mithin das Ende auch seines Künstlertums. Das eine ist ohne das andere nicht zu haben. In «Dichtung und Wahrheit» ist einmal davon die Rede, daß der Mensch ein Gutteil seiner inneren Stabilität, seiner Kraft und seines Glücks aus der regelmäßigen Wiederkehr der äußerlichsten Verhältnisse beziehe, dem Wechsel von Tag zur Nacht, von einer Woche zur anderen, von Jahreszeit zu Jahreszeit, und daß der Überdruß an diesen einfachen Abläufen die eigentliche Seelenkrankheit sei.
Das ist in hohem Maße bürgerlich gedacht. Aber diese fast rituelle Ordnung des Lebens, die Fügung ins Zyklische, in das, «was pflichtgemäß wiederkehrt», ist noch nicht die Bürgerlichkeit selbst, sondern deren äußere Bedingung: sozusagen der Rahmen, in dem sich jener Leistungswille erst entfalten kann, dem das Bürgertum alles verdankt, was erinnerungswürdig an ihm ist. Die Antriebe und verborgenen Rechtfertigungsbedürfnisse, denen es entstammt, sind hier nicht zu erörtern, einiges davon ist, wie man weiß, in der Verknüpfung mit dem Protestantismus und der aus dieser Verbindung hervorgegangenen bürgerlichen Tugendlehre begründet. Aber daß das Bürgertum ohne eine tiefe «produktionsethische Gesinnung» nicht zu denken ist und seine innerste Selbstgewißheit an einer Leistungsidee von drakonischem Charakter hängt, die alle Sphären gesellschaftlichen Verhaltens durchdrang, Arbeitswelt und positive Wissenschaft, Recht und Philosophie, Kunst und private Lebensgestaltung: das alles ist unbestreitbar. Von hier aus lassen sich, über mancherlei Zwischenglieder, die faßbarsten Zusammenhänge herstellen: Bürgerlich ist die Idee der Konkurrenz, des Exzellierens auf allen Gebieten; bürgerlich der Wille zum Herausragenden und, daraus hervorspringend, der Sinn für individuellen Rang, auch für menschliche oder künstlerische Größe, der wiederum aufs engste mit dem zu tun hat, was man das bürgerliche Genie zur Bewunderung nannte. Und bürgerlich ist schließlich, dies alles zusammenfassend, die Faszination durch das Einzigartige, auf deren Grund ein schroffes, im Einzelfall oft mitleidloses Bekenntnis zu menschlichen Unterschieden, sogar zur Ungleichheit greifbar wird. Der Idee nach soll sie aber den einzelnen nicht fesseln, sondern ihm vielmehr Ansporn und Möglichkeit geben, das Besondere zu werden. Wir wissen unterdessen, zu welchen Verheerungen das Prinzip geführt hat. Aber es war und blieb lange die Ausgangsmaxime, ungeachtet der Opfer an der Strecke.
Das ist der Umriß, der mit dem Bild des bürgerlichen Typus in allen seinen facettenreichen Varianten erst noch auszufüllen wäre. Dazu gehörte vorab der Gedanke von der Vervollkommnung des einzelnen, der einhergeht mit dem stark pädagogischen Zug, der zu diesem Menschenbild gehört, der ununterdrückbaren Neigung zu Kritik und Selbstkritik. Dahinter steht die Idee der Verantwortung des Menschen sowie die seiner Befreiung durch sich selbst, und es macht, um auf die Gegenwart zu kommen, den ganzen Abstand sichtbar, der uns vom gleichsam klassischen bürgerlichen Lebensgefühl trennt, daß heute alles Heil von Gruppenbildungen erwartet und Befreiung durchweg als soziales, nicht dagegen als individuelles Problem verstanden wird.
Wodurch aber die Befreiung bewirkt wird, ist nach bürgerlichem Verständnis vor allem die Selbsterziehung. An ihrem Ende steht, was das Bürgertum mit einem seiner kanonisierten Begriffe als «Bildung» bezeichnete. Die verbreitete Verachtung, die dem Begriff des «Bildungsbürgers» inzwischen entgegenschlägt, seine Herabwürdigung zu einer Art Pfahlbürger, den Eugen-Roth-Verse beglücken, Dr.-Tigges-Reisen und Sonntagsmatineen mit dem städtischen Tenor vorm Gummibaum, weiß nichts von dem, was ursprünglich damit gemeint war: nicht das jederzeit abrufbare Klassikerzitat oder die Melodie von «O du mein holder Abendstern». Das war die Karikatur. Gemeint war vielmehr die geformte, vom elementaren Hunger nach geistigen Erfahrungen lebenslang geprägte Persönlichkeit. Natürlich ist dieses Bild lange verloren. Aber noch im verdünnten, blassesten Ausdruck, den es im Typus etwa der höheren Tochter oder der ältlichen Besucherin lokaler Dichterlesungen und Quartettabende gefunden hat, kann man einen Widerschein davon entdecken. Auf seinem Grunde stößt man auf jene Leidenschaft für die Teilhabe an der Kultur, aus der nach bürgerlicher Auffassung die Persönlichkeit, das Zusammenleben in geordneter Freiheit und strenggenommen überhaupt erst Kultur werden kann. Historisch gesprochen ist dieses Bedürfnis nach unermüdlicher Selbstformung eine Erscheinung, die allein dem Bürgertum als Klasse zugehört. Der Begriff des «Bildungsromans», der ja nichts anderes als die charakteristische Biographie des bürgerlichen Menschen meint, hält diese Richtung fest. Sie zielte durchweg auf mehr und anderes als das Studienratswissen. «Wo kam die schönste Bildung her, und wenn sie nicht vom Bürger wär’?», liebte Thomas Mann zu zitieren.
Er hat den bürgerlichen Kulturgedanken an dessen eindrucksvollsten Repräsentanten, an Goethe und Richard Wagner, an Schiller, Schopenhauer, Fontane und vielen anderen nachgewiesen; und immer wieder, nicht zuletzt im Spiegel dieser Figurengalerie, an sich selber. Man habe nicht zu Unrecht einen Bürger in ihm gesehen, patriarchalisch-aristokratische Bürgerlichkeit als Lebensgefühl sei sein persönliches Erbe, heißt es einmal, und häufig ist auch versucht worden, Person und Werk des Dichters von diesem Ansatzpunkt her zu interpretieren: als «späten», mitunter sogar «verspäteten», auch als «letzten» Bürger und jedenfalls als bedeutende, die bürgerliche Epoche resümierende und auf hoher Stufe abschließende Erscheinung.
Thomas Mann hat sein Verhältnis zur bürgerlichen Welt, ihren Maximen und Traditionen, «liebevoll und auflösend» oder, mit einem anderen Wort, «ironisch» genannt. Wenn historische Prozesse zwangsläufig in Erstarrung ausgehen, die Impulse, die sie vorwärtstrieben, müde werden und nur in eindrucksvollen Petrefakten noch überdauern, ist Ironie in der Tat die einzigartige Möglichkeit, sich gegen die Last großer Vergangenheiten zu behaupten; das heißt, das Vermächtnis anzunehmen, ohne von ihm erdrückt zu werden.
Die Frage ist aber, ob das, was Thomas Mann «Liebe und Auflösung» genannt hat, nicht gerade das innerste Wesen des Bürgerlichen ausmacht, jenen Kern, der zum Vorschein kommt, wenn man alle die erwähnten Normen, Tugenden, Verhaltensweisen, die es beschreiben, auf ihrem Weg durch die Geschichte verfolgt. Denn hat das Bürgertum nicht immer aus großen Erinnerungen und der Offenheit nach vorn zugleich gelebt? Aus Tradition, Selbstfeier, Lust am Zitat und der gleichzeitigen Bereitschaft zu neuen Herausforderungen im Materiellen wie im Geistigen? Stammt nicht aus jener Janusköpfigkeit zum erheblichen Teil die zähe Dauer des Bürgertums? Und kam nicht schließlich, wie die schönste Bildung, so auch der radikalste Gedanke allein vom Bürger her? Es gibt für dessen erstaunliche Fähigkeit, sich zwischen Vergangenheit und Zukunft lebendig zu behaupten, das eine am anderen zu messen und wechselweise beständig in Frage zu stellen, einen anderen Begriff, den man an dieser Stelle einführen muß, obwohl er unterdessen zum Allerweltsbegriff geworden ist: den Begriff der «Kritik». Was wir bürgerliche Gesellschaft nennen, ist nicht denkbar ohne deren tiefen Soupçon gegen sich selber, ein Mißtrauen, das seine insistierende Kraft aus dem «Urmythus» vom Verlust der menschlichen Eintracht durch das Aufkommen des Privateigentums zieht und alles dessen, was an gesellschaftlicher Zerrissenheit und Gegnerschaft daraus folgte. Aber macht die Kraft zur Kritik, verbunden mit der Fähigkeit, sich diesem Prinzip auf allen Gebieten, sei es im Reich des Gedankens wie in der Welt der Wirtschaft, im Sozialen wie im Kulturellen zu unterwerfen nicht gerade das Überlebensingenium des Bürgertums aus?
Denn indem es den Konstipationen, wie sie sich in jedem Organismus entwickeln, all den Widersprüchen, Bedrückungen und rumorenden Gegenkräften Austritt verschaffte, sie förderte, institutionell machte und als kritisches Bewußtsein sogar glorifizierte, befreite es sich zugleich davon, warf aber auch entschlossen das Überlebte ab und überantwortete es gegebenenfalls der Pietät. Und während die Gegner des Bürgertums, wie man immer wieder beobachten kann, sich allmählich in ihren Widerspruchspositionen einspannten und verhärteten, hatte es sich längst der jeweils neuen Lage gestellt: es war, rückblickend, durchweg wandlungsfähiger, beweglicher als die Agenten und Beschwörer seiner Untergänge.
Nichts anderes ist der Grund für jene merkwürdige Erscheinung, daß dieses Bürgertum stirbt und immer wieder stirbt – und doch nicht untergeht. Schon bei Heine, Grabbe und anderen Wortführern der frühbürgerlichen Epoche kann man vom nahen Ende der bürgerlichen Welt lesen: die geistreichsten und übermütigsten Grabsprüche. Bald setzen auch die düsteren Albträume einer bis in die Gegenwart reichenden kulturpessimistischen Tradition ein, begleitet und bestärkt durch die emphatischen, vom ehernen Gesetz der Geschichte feierlich legitimierten Überwältigungsprophetien des Sozialismus. Aber die einen wie die anderen sind grau von Geschichte geworden, das Bürgertum hat sie alle überlebt. Nicht einmal Hitler, der große Ruinierer, der alles zugrunde richtete, woran er je gerührt und sich die Zerstörung der bürgerlichen Welt ausdrücklich zum Ziel gesetzt hat, ist mit diesem Vorhaben erfolgreich gewesen.
Dabei ist nichts zu beschönigen. Gewiß hat das Bürgertum vor Hitler versagt und seine überlieferten Maßstäbe wie in einer einzigen großen Erledigung aufgegeben. Es war, als glaubte es selbst nicht mehr daran oder schien, schlimmer noch, in diesem geschworenen Gegner sein Verlangen nach Größe und Einzigartigkeit wiederzuerkennen. Moralisch mag daher sein Versagen besonders schwer wiegen. Aber historisch fiel es nicht stärker ins Gewicht als das der übrigen gesellschaftlichen Gruppen auch: Hitler war das Desaster eines Volkes, am Ende sogar eines Kontinents, doch nicht das einer einzelnen Klasse. Er hat die Gewißheiten aller durcheinandergeworfen, wie wir auch Beispiele moralisch-politischer Unbeirrbarkeit auf der einen wie der anderen Ebene finden. Auch im Bürgertum. Sind nicht, um dies zumindest zu sagen, Thomas Mann selber und die Menge der Emigranten, die seit 1933 ihre unruhigen Wege durch die Schweiz, durch Frankreich und die Vereinigten Staaten führten oder aber, auf wiederum andere Weise, diese vor ziemlich genau vierzig Jahren zerstörte Stadt, deren historische Quartiere, einem Royal-Air-Force-Bericht zufolge, «wie Feuerholz» brannten und die nun wieder als ein beeindruckendes «Trotzdem» dasteht: sind das nicht zugleich auch Belege für die Bewahrung oder Wiedererstehung bürgerlicher Maßstäbe, Energien und Traditionen?
Kurz, die bürgerliche Welt stirbt und lebt; sie lebt, indem sie stirbt. Es ist ihre spezifische Form der Selbstbehauptung, aus Untergängen Überlebenskräfte zu gewinnen und sich am eigenen Grabe Gesundheit zu besorgen. Wenn Thomas Mann von sich behauptete, er habe in seinem ganzen Leben immer nur die eine Geschichte ihres Verfalls erzählt, so wäre er, indem er sie mit jenem «bösen Blick» erzählte, den man ihm attestiert hat, gerade nicht die große Abschlußfigur der bürgerlichen Epoche, sondern einer der Repräsentanten, deren kritischer Begleitung sie ihre Dauer verdankt. Und sein Befund, den er, die allgemeine Zeitstimmung zusammenfassend, in einer Rede aus dem Jahre 1926, hier in dieser Stadt, vorgetragen hat: daß es mit der bürgerlichen Welt zu Ende sei, wäre dann nichts anderes als der Irrtum Hannos und seines naiven Diktums, daß nichts mehr käme. Es kam aber, wie wir wissen, noch vieles: Regenerationsprozesse, Wiederauferstehungen in geistiger wie materieller Kultur, Zeugnisse zwar gebrochener, aber immer neu zurückkehrender Lebendigkeit. Es kam zunächst vor allem der, der diese Niedergangsgeschichte aufgezeichnet, sie literarisch monumentalisiert und überdies die Figur des «Verfallsprinzen» Hanno geschaffen hat: sein Ebenbild, wie Sie wissen, dessen Erschöpfung er durch bürgerliche Disziplin und bürgerliches Leistungsethos in einem beeindruckenden Werk überwunden hat. Das ist womöglich auch die auf die äußerste Spitze getriebene Ironie Thomas Manns gewesen, zu der er sich, vielleicht erheitert, doch sicherlich ohne Zögern bekannt hätte: daß er, der Chronist von Ende und Abschied der bürgerlichen Epoche, in Wahrheit nur ein weiterer Zeuge ihrer fast unerschöpflichen Vitalität und Dauer war.
Gewiß wäre es, von der Gegenwart zu sprechen, irrig zu leugnen, daß diese Welt sich der wohl ernstesten Krise ihres Bestehens gegenübersieht, die Symptome sind überall wie mit Händen zu greifen. Sie zeigen sich in dem anarchischen Lärm auf den Straßen, einem Unmut, der sich über die unerträgliche Reglementierung des Lebens hinaus gegen alle Ordnungskategorien überhaupt wendet, sowie in einem Extremismus, der die bürgerliche «Idee der Mitte» als eine Form der Unmoral betrachtet. Eine uferlos gewordene, alles und jedes ergreifende Angriffslust offenbart, weil sie weder Sympathie noch Unterscheidungsvermögen kennt, gerade den Verlust jenes kritischen Bewußtseins, das sie für sich reklamiert. Der bürgerliche Individualismus, der immerhin die lebenslange Anstrengung war, Persönlichkeit und geltende Norm zum Bild des unverwechselbaren Charakters zu vereinigen, hat einem Subjektivismus Platz gemacht, dessen egomane Züge auch vom sozialen Aufputz nicht verdeckt werden, den er zur Schau trägt. Dahinter steht eine Anspruchsgesinnung, die auf alle Begründungen lange verzichtet hat, auf nichts mehr verweist und verweisen kann als auf die eigenen Begehrlichkeiten und daher so unvermittelt in Larmoyanz umschlägt.
Denn wie der Leistungswille verpönt ist und der Erfolg mitsamt dem darauf gegründeten Selbstbewußtsein im sozialen Verruf steht, so gibt es eine sonderbare, auf immer neue Entdeckungen versessene Leidenschaft für den, der in die Brüche geht. Es ist weniger ein Mitgefühl, das darin zum Ausdruck kommt, sondern die Vorliebe für den pechösen Charakter, dessen Unglück sich überdies zur immer wiederholten Anklage gegen «die Gesellschaft» verwenden läßt. Vor diesem Hintergrund hat man, im Literarhistorischen beispielsweise, die Rezeption Kleists und Büchners während der zurückliegenden Jahre zu sehen, als Scheiternde haben sie und ihresgleichen erst das öffentliche Interesse auf sich lenken können, und Hölderlin oder Jakob Michael Reinhold Lenz sind dem gegenwärtigen Bewußtsein näher als Goethe. Erst unlängst haben die Ratlosigkeit und achselzuckende Kälte, mit denen dessen 150. Todestag begangen wurde, jenes Ressentiment wieder zum Vorschein gebracht, das Ungebrochenheit wie einen Makel betrachtet und die Weigerung, sich vom Leben verbiegen oder zerbrechen zu lassen, als eine Form der anstößigsten Asozialität.
Diese richtungslos gewordene, das Bestehende im ganzen verdammende Kritik ist ein weiterer Beleg für die Ermüdung des bürgerlichen Behauptungswillens. Doch mindestens ebenso bemerkenswert ist die ungerührte Laune, mit der das Bürgertum, groß wie es der Zahl nach immer noch ist, auf solche Zerrüttungssymptome reagiert und in diesem Prozeß sogar zur Spitze läuft. Die verbreitete Neigung, eine bürgerliche Lebenspraxis mit einer antibürgerlichen Rhetorik zu verbinden, die private Existenz an Maßstäben zu orientieren, die man gleichzeitig im Öffentlichen diffamiert, zeigt eine tiefe Unsicherheit an: das verlorene Vermögen, zu sich selbst zu stehen, Gegnerschaften zu ertragen und Kritik nicht nur auszuhalten, sondern sich und was man ist daran zu messen.
Vielleicht hat der trotz alledem zu verzeichnende Fortbestand bürgerlicher Daseinsform am Ende damit zu tun, daß keine andere sich zeigt. Während das frühe Bürgertum die eigenen Wertvorstellungen und Verhaltensnormen im bewußten Widerstand gegen die seigneurale Lebensführung ausbildete und, Punkt um Punkt, Arbeit gegen Müßiggang, Sparsamkeit gegen Verschwendung, Ordnung gegen Laune setzte, hat die Arbeiterklasse, aus mannigfaltigen Gründen, kein bewußt sich abgrenzendes Bild ihrer selbst und folglich keine eigene Kultur entwickelt. Im Grunde hat sie nicht einmal jenen Typus angenommen, den Bürger wie Bertolt Brecht, Anna Seghers, Käthe Kollwitz und andere als eine Art Leitbild des nachbürgerlichen Menschen entworfen haben. Vielmehr haben diejenigen, die dem proletarischen Milieu entwuchsen, durchweg nach Verbürgerlichung gestrebt und die Lebensmaximen der nie anders als sehnsüchtig befehdeten Klasse kurzerhand übernommen. Desgleichen haben sich die kollektivistischen Zusammenschlüsse, wie sie sich vor allem in der Zwischenkriegsepoche unter gegensätzlichen, linken wie rechten, aber vom Widerspruch zur bürgerlichen Welt geeinten Vorzeichen entfalteten, nicht behaupten können; und ähnliches gilt schließlich von den Formen sogenannten alternativen Lebens dieser Tage, die eher die Ausweichbewegungen einer produktiv unlustigen Minderheit und für die Gesellschaft im ganzen gerade keine Alternative sind; denn sie tragen weder dem sozialen Pflichtbewußtein, den Ordnungsansprüchen und unexzentrischen Erwartungen der Mehrheit noch gar der Tatsache Rechnung, daß ihre Anhänger in hohem Maße auf Kosten derer leben, von denen sie sich so hochmütig in ihre biodynamischen Eremitagen absetzen.
Es bleibt die Frage, warum überhaupt von einer halbwegs aufgegebenen, halbwegs verleugneten und im allgemeinen Exitusgerede stehenden Sache noch viel Aufhebens zu machen wäre. Denn unbestreitbar ist ja auch, daß von der Bürgerlichkeit als geistiger Lebensform vor allem die Form im äußerlichsten Sinne fortbesteht, Konventionen, leere Gesten und mechanische Reflexe. Und einzuordnen ist darüber hinaus, daß das verkürzte Bild, das hier entworfen wurde, den idealen Typus nach vorn rückte. Seine strengen Lebensregeln, sein Ethos haben nur für einige Generationen verbindliche Kraft besessen. Es gab die Abgänge zur Seite Hannos hin und, weit stärker noch, die in Richtung auf Diederich Heßling: die Verformung des Bürgers zum Bourgeois mit all den bornierten Zügen, die dazugehören, seiner reaktionären Ängstlichkeit sowie dem bloß noch dekorativen, von keinem Anspruch an sich selbst beunruhigten Behagen in der Kultur. Auftrumpfend, wie er sich zur Erscheinung brachte, hat er die unauffälligere bürgerliche Daseinspraxis mit ihren diskreten Tugenden immer wieder in den Hintergrund gedrängt.
Das ist bis heute so, wofern der Bürger sich nicht selbst verleugnet. Nicht zuletzt deshalb ist es angezeigt, wieder zu sagen, was ein Bürger war und ist; von Maßstäben und leitenden Vorstellungen zu sprechen, die das Bürgertum so groß gemacht haben, daß es nach wie vor ohne Gegenbild ist. Ein Teil der Unsicherheiten und Ängste der Gegenwart rührt zweifellos aus dem Verlust dieser Normen her, die, wie drückend sie auch vielfach empfunden wurden, niemals nur Last, sondern stets auch Halt bedeuteten. «Ich wünschte, ein Bürger zu sein», hat Theodor Mommsen in seinem Testament vermerkt, und damit nicht nur eine Sehnsucht, sondern auch etwas von dem hohen Anspruch zum Ausdruck gebracht, den der Begriff für ihn, allen antibürgerlichen Affekten auch jener Zeit zum Trotz, stets bewahrt hatte. Vielleicht ist der Gedanke nicht aus aller Welt, daß die gegenwärtig so verschreckt wirkenden Bürger sich ihrer Werte wieder bewußt werden und aus dem Schweigen treten. Dann würde auch die Kritik daran, indem sie auf Widerspruch und Behauptungswillen stieße, ihre Funktion zurückgewinnen und, anders als derzeit gegenüber lauter Unbetroffenen, nicht immer nur ins Leere laufen. Möglicherweise entschlüsselte sich damit die subjektive Wahrheit Hannos ein weiteres Mal als objektiver Irrtum über die Zukunft der bürgerlichen Welt, und der Besorgnis wäre einiges genommen, es käme nichts mehr.
Ich danke für die freundlichen Worte, die zu meiner Arbeit gesagt worden sind. Und ich danke natürlich allen Beteiligten, daß sie meinen Bemühungen durch die Verleihung der Wilhelm-Leuschner-Medaille Anerkennung gezollt haben. Der Namengeber der Auszeichnung hat in mancher meiner Arbeiten die Rolle gespielt, die dem im ganzen so vergessenen oder nicht ganz absichtslos ins Vergessen geratenen deutschen Widerstand gegen Hitler gebührt. Das macht mir die Auszeichnung noch wertvoller.
Es sind, nimmt man alles zusammen, viele Jahre, ein halbes Menschenalter nahezu, in denen ich versucht habe, etwas zu der Auseinandersetzung mit dieser Vergangenheit beizutragen. Denen, die das eine oder andere von mir wissen, ist nicht unbekannt, daß ich mit diesem Gegenstand zunächst nichts im Sinne hatte. Das hing keineswegs mit den Verdrängungsbedürfnissen zusammen, die eine aufs Anklägerische versessene, in ihre Bezichtigungsposen verliebte spätere Generation in solcher Abwehr zu erkennen meinte. Vielmehr haben familiärer Hintergrund und persönliche Erfahrungen zu dem Empfinden beigetragen: Das ist vorüber und soll vorüber sein. Ein hochmütiger Freund sprach damals von einem «Gossen»-Thema, auf das ich mich mit der Hitlerzeit eingelassen hätte, und nicht viel anders sah ich es auch. Verlorene Mühe jedenfalls, das Urteil verstand sich von selbst, und der Gedanke, viele Jahre damit hinzubringen, wäre mir zu jener Zeit höchst fremdartig und geradezu phantastisch erschienen.
Aber allmählich drängte sich die Frage auf, ob die wortlose Verachtung des Gewesenen und dessen Ermöglichung auf eine paradox scheinende, seltsam verwickelte Weise nicht doch zusammenhingen. Auch verstand sich, wie bald herauszuhören war, das moralische Urteil für viele doch nicht so ganz von selbst, wie ich gedacht hatte. Und über die Vorwürfe, denen kein Deutscher, zumal bei Reisen ins Ausland entging, sah jeder sich ins Vergangene hineingezogen. Der eine mehr, der andere weniger. Aller schöne Hochmut half nichts. Was mich betrifft, bedurfte es nur weniger Zufälle, um mich mitten darin zu finden, obwohl ich lange weiß, daß Zufälle, zumindest solche lebensgeschichtlicher Art, nur enthalten, was einem nicht ohne Grund zufällt.
Ich habe mich dann, eine Anzahl essayistischer Arbeiten nicht gerechnet, in vier Büchern mit der Hitlerzeit beschäftigt. Den Anfang machte die Porträtsammlung «Das Gesicht des Dritten Reiches», von der ich damals noch dachte, es handle sich um eine Art notwendiger Pflichtübung und ein Ein-für-Allemal. Aber kaum war es erschienen und nach hier und da übersetzt, trat ein amerikanischer Verlag an mich heran und drängte mich, eine Hitler-Biographie zu schreiben. «Nein! Nicht schon wieder!» wehrte ich ab, die Freunde von damals widmeten sich längst, nach einigen Gelegenheitsarbeiten zur Vergangenheit, ihren Vorlieben, die auch die meinen waren: vor allem der Literatur und politischer Philosophie, aber auch Alter Geschichte, Musik, und wer sich so ausführlich wie ich auf die NS -Jahre einließ, kam sich in ihrer Gegenwart bisweilen wie ein Exilant in einer Gespensterwelt vor.
Als die Hitler-Biographie fünf Jahre später dann doch vorlag, hatte ich noch einmal und womöglich mit größerem Recht das Empfinden, das müsse nun vorüber sein. Und mehr als zehn Jahre lang habe ich daraufhin das Thema wie ein kontaminiertes Terrain gemieden und nicht einmal mehr eine Rezension oder einen Gedenktagartikel zu dem «widrigen Gegenstand» verfaßt, von dem Golo Mann in der Besprechung einer meiner Arbeiten gesprochen hat. Es war nun wirklich abgetan. Aber ein schwer beschreibbares Ungenügen blieb, ein Gefühl des Nicht-zu-Ende-Gebrachten und Unabgeschlossenen. Geraume Zeit wehrte ich jedoch selbst die Erwägung darüber ab.
Es war dann mein im Verlegerischen tätiger Sohn, der mich überredete und schließlich – fast muß ich sagen: nötigte, das Buch über den langen Weg zum 20. Juli zu schreiben. Er wäre kaum zum Ziel gelangt, wenn sich jetzt nicht, im Blick auf die Beschäftigung mit jenen Jahren, das Gefühl des Halbfertigen oder doch Ergänzungsbedürftigen zurückgemeldet hätte. Denn alles Voraufgegangene hatte die Täter in den Mittelpunkt gerückt, ihre Herkünfte, Lebenswege und wie sie in einer Zeit, die aus den Fugen war, nicht selten unglaublicherweise nach oben gelangt waren. Was fehlte, war die Sache der Unterlegenen, causa victa, was immer an Blindheit, Versagen und sogar Schuld ihre Niederlage mitbewirkt haben mochte. Einmal mußte auch von ihnen die Rede sein, zumal sie weithin aus der Erinnerung gefallen sind. Hinzu kam die Überlegung, daß die Beschreibung der jeweils verlorenen Sache womöglich mehr zum Verstehen einer Zeit beiträgt als die Darstellung der wenn auch nur vorübergehend siegreichen.
Das Verstehen der Vergangenheit: Es sind in den zurückliegenden Jahren ganze Bücherberge erschienen zu der Frage, wie 1933 und was dann folgte, möglich war. Aber das Rätsel ist geblieben. Es war auch der Gegenstand zahlreicher Gespräche, die ich mit dem mir befreundeten britischen Historiker Hugh R. Trevor-Roper führte. Lange Zeit hatte er sich mit der Absicht getragen, diesem Rätsel durch eine Biographie Albert Speers auf die Spur zu kommen, seit er in den Vernehmungen, die er unmittelbar nach dem Krieg mit den Führungsfiguren des Reiches durchgeführt hatte, auf Hitlers Architekten und Rüstungsminister gestoßen war. Nicht die Bormann, Goebbels oder Kaltenbrunner lieferten, meinte er, den Schlüssel zum besseren Verständnis des Geschehenen. Den finde man eher in einer so paradoxen Erscheinung wie Albert Speer: dem Mann, den es eigentlich nicht geben konnte, dem «kultivierten Nazi», wie er einmal gesprächsweise sagte, dessen Lebensweg aber gerade deshalb offenbaren mochte, was an Normen, Traditionen und Urteilsvermögen damals alles zusammengebrochen war. Am Ende trug er mir gewissermaßen auf, ihm die Sache abzunehmen.
Die Frage liegt nahe, warum bisher soviel von Vorbehalten die Rede war, von Zufällen und Überredungsmühen. Da wirkte zweifellos die deutsche Bildungstradition nach, die das Politische seit je ausgeklammert hatte. Und obwohl die Generation, der ich angehöre, womöglich als erste diese Versäumnisse und ihre Folgen erkannt hat, waren wir doch so stark davon imprägniert, daß wir nicht ohne Mühe davon loskamen.
Ich bin denn auch halbwegs sicher, daß ich, neben allem Verstehensvorsatz, kaum je an diesen irritierenden Themenkomplex geraten wäre ohne die unterdessen welt- und methodenfremd anmutende Überzeugung vom unveräußerlich literarischen Wesen aller Geschichtsschreibung. Selten ist mir etwas so unmittelbar einleuchtend erschienen wie der Eröffnungssatz aus Friedrich Gundolfs nachgelassenem Fragment über die «Anfänge deutscher Geschichtsschreibung». Er lautet, sehr apodiktisch: «Die Geschichtsschreibung ist ein wesentlicher Teil der Literatur überhaupt.» Und wer eine Art Bestätigung dafür sucht, findet sie im 19. Jahrhundert, in den Jahrzehnten zwischen Heinrich Heine und Theodor Fontane. Da gibt es eine deutsche Literatur fast nur als Geschichtsschreibung, ihr einziger überlieferungstauglicher Bestand: Droysen, Mommsen, Ranke, auch Treitschke oder Jacob Burckhardt. Die Literatur im engeren Sinne hat ihnen nichts annähernd Gleichrangiges entgegenzusetzen, man muß auch dafür nur die Namen aufzählen: Geibel, Spielhagen, Wildenbruch, Heyse. Über weite Strecken hin vermitteln die Werke der bedeutenden Historiker jener Epoche bis heute, was man das Elementarerlebnis des Leseglücks nennen kann: das Staunen über den Erfindungsreichtum im Geschehenden, über die Mannigfaltigkeit der Szenarien und die oftmals bizarre Mischung der Charaktere, auch die Vielfalt dramatischer Zusammenhänge, ihre Verknüpfung, Zuspitzung und glückliche oder tragödienhafte Lösung. Und wie während der Lektüre immer wieder Anschauung in Anteilnahme umschlägt und Anteilnahme in Denken, Empfinden in Erkenntnis, Erlittenes in Erklärtes.
Natürlich ist nichts von alledem in den Ereignissen selbst. Die gewaltigen Stoffhaufen, denen sich der Historiker gegenübersieht, haben von sich aus weder Farbe noch Gewicht und folgen auch keinem heimlich gestaltenden Prinzip. Es ist nur rohe tohuwabohische Masse, die Geschichte hat keine Dramaturgie. Das alles muß erst gleichsam hinzugetan, das Material geordnet, kritisch überprüft und in Form gebracht werden. Zugleich heißt das, daß alle Geschichtsschreibung, die diesen Namen verdient, nicht ohne ein kalkuliertes Maß an durchaus literarischer Eingebung denkbar ist, einem Sinn für Konturen und Verhältnisse, auch für eher handwerkliche Erfordernisse: Also für Anfänge, für die Einführung handelnder Personen, für unmerklich sich entfaltende und ungeduldig zum Konflikt treibende Gegensätze, für Steigerungen, Unausweichlichkeiten und die Verzögerungen, in denen die Dinge den Atem anzuhalten scheinen, ehe sie doch aufeinanderprallen; und für umsichtig gesetzte, das Nachdenken anstoßende Schlüsse. Kurzum, für Literatur.
Was die Historie am Ende von der Literatur unterscheidet, ist lediglich, daß sie ihre Gegenstände und Einsichten nicht aus dem frei Erfundenen, sondern aus dem Vorgefundenen holt und sich beschränkt sieht durch die Abläufe, die Figuren und Bewandtnisse, die aus den Quellen kommen. Aber diese Quellen geben unendlich viel her, die ganze Bilder- und Situationsfülle des Menschheitsstoffs, und selbst wo sie nichts enthalten, keinen Widerstand beispielsweise gegen ein anrückendes Verhängnis, keine Selbstbehauptung, nur Schwäche, Anpassung und Ergebung, kann noch die Reflexion beredt werden, die Enttäuschung und sogar Trauer über das Vermißte. So gut wie alle Historiker, deren Namen das Gedächtnis bewahrt, haben ihr Metier denn auch als Kunst betrachtet, weit näher an der Literatur als an der Wissenschaft. Ranke hat Walter Scott für sein schriftstellerisches Ingenium bewundert, und Marc Bloch, einer der Begründer der bedeutenden sozialgeschichtlichen Schule Frankreichs, hat wieder und wieder davor gewarnt, der Geschichtsschreibung ihren «Anteil an Poesie» zu entziehen.
Die gegenwärtige deutsche Geschichtswissenschaft zumal der sozialgeschichtlichen Richtung hat sich das zu ihrem Unglück nicht gesagt sein lassen; zu unserem auch. Statt dessen pflegt sie das Vorurteil, daß der literarische Anspruch die Wissenschaft ruiniere, und läßt nicht davon ab, computerisierte Datenkolonnen und Zahlenhaufen vor einem Publikum auszuschütten, das sie nicht besitzt. Sie huldigt dem Irrglauben, daß alle historischen und gesellschaftlichen Verhältnisse in Chiffren übersetzbar seien und der Mensch in seinen sozialen Zugehörigkeiten und materiellen Bedürfnissen mehr oder minder aufgehe. Das Klappern dürrer Statistiken, das ihre Arbeiten Seite für Seite geisterhaft erfüllt, die Häufung abstrakter Begriffe oder das Präparieren von Strukturen und anonymen Kollektivkräften stilisiert sich zwar gern zum Ethos entsagungsvoller sprachlicher Nüchternheit. In Wirklichkeit verrät es aber nichts anderes als einen Mangel an humaner Neugier.
Bezeichnenderweise wird von ihren Wortführern auch alle erzählende Geschichtsdarstellung schon aus methodischem Grund verworfen und, wie ich einmal irgendwo las, als historisierende «Laubsägearbeit» abgetan. Aber täuscht der Eindruck, daß die vielbeklagte Entfremdung zwischen Geschichtswissenschaft und Öffentlichkeit mit der Sprachlosigkeit der Historiker zu tun hat? Sicherlich kann eine moderne Darstellung geschichtlicher Vorgänge auf Zahlenwerke, quantifizierende Erhebungen, Kräftediagramme und anderes mehr schwerlich verzichten. Aber das alles gehört sozusagen zum Vorbereitungsdienst, der geleistet werden muß. Dann erst kommt der Historiker zu Wort, und da muß sich erweisen, ob er besitzt, was ihn einzig zum Historiker macht: souveräne Beherrschung des Stoffs, Wahrnehmungswille, Einfühlung bei gleichzeitiger Distanz, Inspiration und Urteilskraft. Mitunter denke ich, das seit einigen Jahren ausgebrochene Denkmalsfieber, das den ohnehin vorhandenen rund 1500 Erinnerungsstätten an die Schrecken der Hitlerjahre immer noch eine weitere hinzufügen möchte, habe auch mit dem Bedürfnis zu tun, ein sichtbares Zeichen zu setzen, seit die großen, in die Breite wirkenden Darstellungen jener Jahre sowohl von seiten der Historiker als auch von den Schriftstellern ausgeblieben sind. Als werde man sich resignierend bewußt, daß der Gedanke wie das Schreiben überhaupt an die Unfaßlichkeiten des Geschehenen nicht heranreiche.
Das ist aber nicht so. Jedenfalls nicht, solange man in Betrachtung einer Zeit den Menschen nicht aus dem Blick verliert. Die neuere Tendenz, die Erforschung der Geschichte als eine Art Mengenlehre zu betreiben, hat ihn unseligerweise ins Abseits gestellt und Strukturen, Gruppen oder anonyme Schubkräfte in den Mittelpunkt gerückt. Mit dem einzelnen hat sie zugleich dessen Freiheit abgeschafft, die Entscheidungsspielräume, die ihm in aller Beengung bleiben, den Unterschied zwischen Bewährung und Versagen in kritischen Lagen. Statt dessen herrscht in diesen Arbeiten eine deterministische Luft, die dem alten Schicksalsbegriff auf fatale Weise nahekommt. Es gibt eine Episode aus der Geschichte des 20. Juli 1944, die das Gewicht eines einzelnen, den Riesenabstand zwischen Stärke und Schwachheit, auf unvergeßliche Weise zur Anschauung bringt. Als der Oberst von Gersdorff den schwankenden Feldmarschall von Kluge, der geraume Zeit lang die Pläne der Offiziersfronde wohlwollend begleitet hatte, ein letztes Mal zum Mittun, das heißt zur kampflosen Öffnung der Westfront überreden wollte und auf immer neue Einwände stieß, auf Worte wie Eid, Gehorsam, Pflicht und daß er das alles nicht verraten könne, warf der Oberst schließlich ein, vor dem Dilemma, als Verräter oder Retter dazustehen, habe in der Geschichte jeder große Mann gestanden. Nach kurzem Zögern bekam er daraufhin zur Antwort: «Gersdorff, der Feldmarschall von Kluge ist kein großer Mann.»
Seither ist auch die große Sinnmaschine ins Stottern geraten, die lange Zeit den historischen Stoff in sich hineinschlang, hin und her wendete, sortierte und mit einer Zielmarke versehen wieder auswarf. Nicht einmal eine ungefähre Richtung des Geschichtsprozesses wissen ihre gestern noch so selbstbewußten Maschinisten unterdessen anzugeben. Kein Welterklärungssystem, kein historisches Gesetz und keine kritische Theorie spenden künftig den Trost, für den sie einst angeschafft wurden. Auch das gehört zu den bislang kaum wahrgenommenen Folgen der Ereignisse von 1989/90.
Etwas wie Sinn oder Vorhersehbarkeit wird man in den historischen Vorgängen nicht finden, es sei denn, man hätte das eine oder andere zuvor hineingelegt. Aber eine Menge von Belehrendem über das Große und das Kleine, über Vernunft, Tapferkeit und Versagen, das Richtige und das Falsche – alles einfache Begriffe, wie schwierig sie uns in Entscheidungslagen auch vorkommen mögen. Die Katastrophen des zu Ende gehenden Jahrhunderts hatten immer auch mit verbreiteten Orientierungsnöten zu tun: mit utopischen Heilsauskünften, stolzen Konstruktionen über den Weitergang der Welt, ideologischen Rezepten widersprüchlichster Art, und wer vom Wiederholungsschrecken geprägt ist, wird da anzusetzen haben. Die Geschichtsschreibung, heißt das, muß zum Menschen zurück. Das wird manchem wie eine Empfehlung erscheinen, einen erlangten Erkenntnisstand aufzugeben. Tatsächlich sieht es aus, als sei es wenig. Es ist aber viel – oder jedenfalls alles, was beim Blick aufs Vergangene aus dem denkenden Darstellen und dem denkenden Lesen kommen kann.