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Klaus Wagenbach

Franz Kafka

Rowohlt E-Book

Inhaltsübersicht

Über Klaus Wagenbach

Klaus Wagenbach, geboren 1930. Verlagslehre; Studium der Germanistik, Kunstgeschichte und Archäologie; 1957 Promotion; danach Lektor im S. Fischer Verlag. Gründete 1964 den Verlag Klaus Wagenbach; lebt in Berlin.

Über dieses Buch

Rowohlt E-Book Monographie

 

Franz Kafka starb im Alter von nur vierzig Jahren als ein fast Unbekannter. Heute gilt er unbestritten als einer der bedeutendsten Dichter der Moderne. Er war ein Realist und ein Visionär gleichermaßen, und er schuf einzigartige Bilder unserer Zeit und Existenz. Mit Franz Kafkas Werk, schrieb treffend Albert Camus, werden wir «an die Grenzen des menschlichen Denkens versetzt».

 

Das Bildmaterial der Printausgabe ist in diesem E-Book nicht enthalten.

Impressum

rowohlts monographien

begründet von Kurt Kusenberg

herausgegeben von Uwe Naumann

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, Juni 2013

Copyright © 1964, 2002 by Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages

Das Bildmaterial der gedruckten Buchausgabe ist im E-Book nicht enthalten. Sämtliche Bilder des Archivs Klaus Wagenbach sind zu erreichen über www.kafka-bilder.de.

Redaktionsassistenz Katrin Finkemeier

Umschlaggestaltung Ivar Bläsi

(Abbildung: Bildarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek, Wien [Franz Kafka als Student, um 1906/08])

Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved.

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Satz CPI – Clausen & Bosse, Leck

ISBN Printausgabe 978-3-499-50649-9 (3. Auflage 2008)

ISBN E-Book 978-3-644-49681-1

www.rowohlt.de

ISBN 978-3-644-49681-1

Anmerkungen

1

AK 71

2

II 192

3

ZFG 66

4

BrM 85

5

T I 247f.

6

Aus dem Nachlass von Hélène Zylberberg im Deutschen Literaturarchiv (Marbach)

7

Br 478

8

Br 361

9

ZFG 37

10

ZFG 12

11

ZFG 13

12

Gustav Janouch, Gespräche mit Kafka. Frankfurt am Main 1951. S. 42

13

Friedrich Thieberger, AK 126

14

BrM 71f.

15

ZFG 19, 32

16

BrF 506

17

Br 347

18

ZFG 36

19

ZFG 14

20

T I 203

21

ZFG 17

22

T I 260

23

Br 345f.

24

Karl Kraus, Pro domo et mundo. München 1912. S. 69f.

25

Fritz Mauthner, Erinnerungen I. München 1918. S. 94f.

26

ZFG 42ff.

27

ZFG 44

28

ZFG 43

29

Mauthner, a.a.O., S. 118

30

Janouch, a.a.O., S. 67

31

T I 258f.

32

AK 43f.

33

III 133

34

BCM 143ff.

35

ZFG 48

36

Br 313

37

Br 419

38

II 179

39

T I 260

40

T I 240

41

ZFG 50

42

III 207f.

43

An Oskar Pollak, siehe Brod 75

44

T I 115f.

45

BCM 221f.

46

Br 23

47

Br 20

48

EL 29f.

49

ZFG 51

50

Br 37

51

Brod 57

52

Br 27f.

53

Br 29

54

BEK 112

55

Br 29

56

Brod 59

57

Hugo von Hofmannsthal, Prosa II. Frankfurt am Main 1951. S. 95

58

BEK 65

59

BEK 113

60

Kritische Ausgabe, Nachgelassene Schriften und Fragmente I. Hg. von Malcolm Pasley. Frankfurt am Main 1993. Apparatband. S. 160

61

BEK 61

62

BEK 114f.

63

Walter Benjamin, Schriften II. Frankfurt am Main 1955. S. 226, 208

64

III 179f.

65

Br 29

66

BEK 38

67

Kritische Ausgabe, Nachgelassene Schriften und Fragmente II. Hg. von Jost Schillemeit. Frankfurt am Main 1992. Apparatband. S. 199

68

Br 32

69

Br 139

70

BEK 40

71

Br 33

72

Br 37

73

Br 49

74

Br 14

75

nach Brod 88, Brief Nr. 5

76

II 137

77

nach Peter Demetz, René Rilkes Prager Jahre. Düsseldorf 1953. S. 142

78

in Rilkes «König Bohusch»

79

Theodor Herzl, Die entschwundenen Zeiten. Wien 1897

80

ZFG 49

81

BCM 227

82

III 193

83

Paul Leppin in «Das jüdische Prag», Prag 1917. S. 5f.

84

Franz Werfel, Der veruntreute Himmel. Amsterdam 1948. S. 355f.

85

Paul Leppin, Daniel Jesus. Leipzig 1905. S. 111

86

Franz Werfel, Der Weltfreund. Berlin 1912. S. 85

87

Rainer Maria Rilke, Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge. Wiesbaden 1951. S. 50, 60

88

Gustav Meyrink, Der violette Tod

89

Brod 58

90

Mauthner, a.a.O., S. 51

91

Werfel, Weltfreund, a.a.O., S. 97

92

Max Brod, Kafkas Glauben und Lehre. München 1948. S. 111f.

93

EL 206

94

Max Brod, Schloß Nornepygge. Stuttgart 1908. S. 473

95

BrM 17

96

III 140

97

Br 48f., 49f., 51

98

Br 42

99

III 71

100

Brod 84f.

101

T I 155

102

T I 264

103

Br 37

104

Stefan Zweig, Max Brod. «Witiko» II (1929), S. 124f.

105

BEK 15, 18

106

im Ms. gestrichen, siehe Kritische Ausgabe, Nachgelassene Schriften und Fragmente I. Apparatband, a.a.O., S. 130

107

II 193

108

Brod 101f.; siehe auch AK 89

109

Ottokar Wirth in einem Brief an den Verfasser

110

Wag 149

111

Wag 329

112

Wag 305

113

Wag 299

114

Bericht der Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt für das Königreich Böhmen über ihre Tätigkeit während der Zeit vom 1. Jänner bis 31. Dezember 1909. Prag 1910. S. 7f.; siehe Wag 225

115

Janouch, a.a.O., S. 105

116

Brod 102

117

Dr. Soukup, Rede im Parlament. «Bohemia», 2711909

118

AK 81

119

Max Brod, Zauberreich der Liebe. Berlin 1928. S. 95

120

BCM 221

121

T I 162

122

Wag 180f.

123

Br 173

124

Br 404

125

Br 101

126

Br 452

127

III 116

128

EL 325

129

II 101

130

BrM 235

131

Br 101, Br 452, T III 179f.

132

Søren Kierkegaard, Der Begriff Angst. Erstes Kapitel, § 5

133

Kierkegaard, a.a.O., Drittes Kapitel, § 3

134

II 191

135

Br 385

136

Br 384ff.

137

Br 392

138

ZFG 52

139

Karl Kraus, Sprüche und Widersprüche, München 1914. S. 41

140

Franz Werfel, Erzählungen aus zwei Welten II. Frankfurt am Main 1952. S. 181f.

141

Br 59

142

116

143

114

144

55

145

Br 40

146

ZFG 63

147

II 79

148

Br 109

149

Max Brod, Biographie (nur in der Ausgabe der Fischer Bücherei, Frankfurt am Main 1963, S. 148)

150

BrM 229

151

T I 176 und EL 343

152

BrF 357

153

Br 228

154

Hans Heilmann, Chinesische Lyrik vom 12. Jahrhundert v. Chr. bis zur Gegenwart. München 1905. – BrF 119

155

III 164

156

II 237

157

II 179

158

II 184f.

159

II 190

160

II 191ff.

161

BrF 460

162

III 74

163

II 194

164

Br 139

165

III 218

166

II 197

167

BCM 43, 44f.

168

II 194

169

II 135

170

II 137

171

II 153

172

BrF 574f.

173

II 166

174

II 167

175

II 167

176

II 169

177

III 24

178

III 38

179

III 39

180

III 63, P 227, 226

181

III 41, 42

182

BrF 615

183

III 73f.

184

III 123f.

185

III 74

186

III 128

187

III 131

188

Br 139f.

189

Meldung des «Prager Tageblatt» vom 6121915

190

siehe dazu die Berichte in AK

191

BrF 750

192

III 77

193

BrF 751

194

BCM 70

195

Brod 192

196

Br 156, 158

197

BCM 114

198

III 162

199

Br 160

200

EL 205f.

201

BrM 7

202

Br 159

203

AK 106

204

Br 161, 166

205

III 164

206

Brod 203

207

BrO 47

208

III 69

209

III 90

210

III 141

211

III 141

212

BrO 49f.

213

III 166f.

214

III 168

215

III 168

216

ZFG 171

217

Tagebuch Brod, 171918. Unveröffentlicht, Tel Aviv

218

BrM 51

219

An die Schwester von Julie Wohryzek, 24111919; siehe Jürgen Born u.a., Kafka-Symposion. Berlin 1965, S. 45ff. Vgl. auch Anthony Northey, Julie Wohryzek. «Freibeuter» 59 (1994)

220

BrM 51

221

ZFG 47

222

ZFG 58

223

ZFG 57

224

III 174

225

ZFG 70

226

BrM 10

227

BrM 10

228

Im Nachwort zur Milena-Briefausgabe von 1952. S. 274

229

Margarete Buber-Neumann, Kafkas Freundin Milena. München 1963. S. 98

230

BrM 12

231

BrM 49f.

232

BrM 41

233

Br 275

234

BrM 57f.

235

Brod 286, 287

236

Brod 285f.

237

BrM 299

238

siehe Brod 284

239

Brod 281f., 287

240

BrM 282f.

241

BrM 229

242

Br 302

243

BrO 115

244

AK 145

245

III 206

246

siehe das Nachwort zur von Max Brod herausgegebenen «Schloß»-Ausgabe

247

Buber-Neumann, a.a.O., S. 83

248

III 235

249

Br 413

250

BrF 544, 555

251

Br 461

252

Br 451

253

Brod 241

254

DE 165, 167

255

BrM 321

256

Br 472f.

257

Br 521

258

EL 294

Für Vera Saudková und Marianna Steiner

Der späte Ruhm, zu spät für den Autor

Die großen literarischen Bilder des zwanzigsten Jahrhunderts stammen von Franz Kafka. Der Handelsreisende Gregor Samsa, der eines Morgens als Ungeziefer erwacht. Der Sohn, der das Urteil des Vaters vollstreckt. Der junge Karl, der so durch Amerika irrt wie der reife Landarzt durch das unglückseligste Zeitalter. Josef K., der verhaftet wird, ohne dass er etwas Böses getan hätte. Der Landvermesser, der gern eingebürgert werden möchte. Der Apparat einer Strafkolonie und sein Offizier. Rotpeter, der den Herren der Akademie über sein äffisches Vorleben berichtet. Der Jäger Gracchus und sein vergebliches Sterben, die Maus Josefine und ihre vergebliche Kunst.

Der Autor dieser Bilder war kein weitgereister Mann. In seinem Leben fehlt der fortwährende Wechsel, der so viele Autorenbiographien des zwanzigsten Jahrhunderts kennzeichnet. Es fehlen die weiten Reisen, die folgenreichen Bildungserlebnisse, die großen Begegnungen mit den Kollegen – selbst von seinen bedeutenden österreichischen Zeitgenossen kannte Kafka nur wenige. Er kannte wohl ihre Arbeiten (ein begeisterter, wenn auch nicht systematischer Leser), schloss sich aber von der unmittelbaren Teilnahme am literarischen Gespräch aus. Er war höchstens ein einsilbiger und zurückhaltender Zuhörer dieses Gesprächs, sandte Manuskripte meist nur aufgefordert an Zeitschriften und Verlage und beschränkte seinen Umgang auf wenige Freunde. Ein provinzielles Dasein – «lokal» wie das von Stifter oder Yeats.

Franz Kafka wurde am 3. Juli 1883 in Prag geboren, verließ seine Heimatstadt nur sporadisch und wurde dort nach einem kurzen Leben von einundvierzig Jahren auf dem Straschnitzer Friedhof begraben. Vierzehn Jahre arbeitete er als Jurist für die Prager «Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt für das Königreich Böhmen», betrachtete jedoch sein abendliches oder nächtliches Kritzeln[1] als einziges Verlangen[2].

Die außerhalb der «Dienststunden» entstandene Prosa dieses Prager Juden ist nach dem letzten Weltkrieg weltberühmt geworden, ausgehend von einem kleinen Kreis deutscher Literaturkenner in den zwanziger Jahren, gefördert besonders in Frankreich, zuerst von André Breton und der Gruppe um den «Minotaure», später von Camus und Sartre und schließlich durchgesetzt in England und Amerika. Erst 1950 kam das Werk nach Deutschland «zurück», in den folgenden Jahren erschien die erste deutsche «öffentliche» Gesamtausgabe. Erst 1957 erschienen, nach einigen Versuchen in den zwanziger Jahren, die ersten tschechischen Übersetzungen in der Stadt, die Kafka zu einer Metropole auf der Landkarte der Literatur gemacht hat: Prag. Erst 1964 die erste russische Übersetzung: In der Strafkolonie. Erst – oder sollte es hier «schon» heißen? – vierzig Jahre nach dem Tod des Autors konnte man sagen, sein Werk habe Leser in aller Welt.

Das Leben dieses Autors ist erst spät bekannt geworden, obwohl es doch in die durchaus im vollen Licht liegenden letzten drei Jahrzehnte der k.k. Doppelmonarchie und in die ersten Jahre der tschechoslowakischen Republik fiel. Das liegt nicht nur daran, dass dieses Leben sich unauffällig vollzog, sondern besonders an den politischen Ereignissen der Jahre 1933 bis 1945. Sie betrafen vorerst das Werk: Anfang der dreißiger Jahre beschlagnahmte die Gestapo bei einer Durchsuchung der Berliner Wohnung Dora Diamants (der Freundin des letzten Lebensjahres) ein Konvolut Manuskripte – es muss als verloren gelten; die erste, 1935 begonnene Gesamtausgabe wurde zuerst behindert, dann verboten. Viel schlimmere Folgen hatte die Besetzung der Tschechoslowakei durch die Nazis: Die drei Schwestern Kafkas wurden in Konzentrationslager deportiert und dort ermordet – ein Schicksal, das viele Freunde und Verwandte teilten. Archive wurden vernichtet, Dokumente gingen verloren, Zeugen seines Lebens wurden getötet.

Als ich 1957 das erste Mal nach Prag kam, bot sich ein trauriges und zugleich tröstliches Bild. Das Bild einer unzerstörten Stadt, einer der schönsten in Europa, und jenes andere: Auf der einen Seite sind fast alle Häuser, in denen Kafka wohnte oder arbeitete, erhalten: das Kinsky- und das Schönborn-Palais, das Haus Minutá und das Oppelt-Haus, die Häuser Bilková 10, Zeltnergasse 3 und Lange Gasse 18, das Bürohaus am Pořič 7 und das Haus in der Alchimistengasse. In der Provinz ist es nicht anders, in Wossek, Podiebrad, Triesch, Schelesen und Matliary. Auf der anderen Seite endete die Suche nach Dokumenten immer wieder in ausgeplünderten Archiven, die Suche nach noch lebenden Zeugen immer wieder in einem Raum des jüdischen Rathauses in der Maiselgasse, dessen Wände Gestelle füllen mit Hunderten von Karteikästen, deren einzelne rote Blätter unter dem Namen, Vornamen und Herkunftsort stets den gleichen Stempel tragen: Oświęcim – Auschwitz.

Ein Kaufmannskind, verloren in Prag

Kafka selbst hat zur Aufhellung seines äußeren Lebens wenig beigetragen, obwohl die Tagebücher und Briefe mit fast 3000 Seiten umfangreicher sind als das dichterische Werk. Die einzige größere autobiographische Äußerung ist der Brief an den Vater aus der späteren Lebenszeit (1919), ein vergeblicher Versuch, uns beide ein wenig zu beruhigen und Leben und Sterben leichter zu machen[3]. Aber dieser Aspekt – den Vater zu beruhigen, der die literarischen Arbeiten seines Sohnes misstrauisch und verständnislos beobachtete – hat viele Tatsachen verfälscht, und auch Kafka schreibt ein Jahr später von den advokatorischen Kniffen[4] des Briefes.

Andere autobiographische Äußerungen Kafkas mögen zwar freier von solchen Aspekten sein, finden sich aber selten und sind meist nur Randbemerkungen zur Selbstkritik. Lediglich an einer Stelle spricht Kafka von seinen Vorfahren. 1911 heißt es im Tagebuch:

Ich heiße hebräisch Amschel, wie der Großvater meiner Mutter von der Mutterseite [Adam Porias], der als ein sehr frommer und gelehrter Mann mit langem weißen Bart meiner Mutter erinnerlich ist, die sechs Jahre alt war, als er starb. Sie erinnert sich, wie sie die Zehen der Leiche festhalten und dabei Verzeihung möglicher dem Großvater gegenüber begangener Verfehlungen erbitten mußte. Sie erinnert sich auch an die vielen, die Wände füllenden Bücher des Großvaters. Er badete jeden Tag im Fluß, auch im Winter, dann hackte er sich zum Baden ein Loch ins Eis. Die Mutter meiner Mutter [Esther Porias] starb frühzeitig an Typhus. Von diesem Tode angefangen wurde die Großmutter [Sara Porias] trübsinnig, weigerte sich zu essen, sprach mit niemandem, einmal, ein Jahr nach dem Tode ihrer Tochter, ging sie spazieren und kehrte nicht mehr zurück, ihre Leiche zog man aus der Elbe. Ein noch gelehrterer Mann als der Großvater war der Urgroßvater der Mutter, bei Christen und Juden stand er in gleichem Ansehen, bei einer Feuersbrunst geschah infolge seiner Frömmigkeit das Wunder, daß das Feuer sein Haus übersprang und verschonte, während die Häuser in der Runde verbrannten. Er hatte vier Söhne, einer trat zum Christentum über und wurde Arzt. Alle außer dem Großvater der Mutter starben bald. Dieser hatte einen Sohn, die Mutter kannte ihn als verrückten Onkel Nathan, und eine Tochter, eben die Mutter meiner Mutter.[5]

Merkwürdigerweise existiert gerade zu dieser Tagebucheintragung Kafkas eine Art Gegenstück: zwei handgeschriebene Blätter seiner Mutter, auf denen sie, etwa fünfzehn Jahre nach der Niederschrift ihres Sohnes, als Siebenundsiebzigjährige (1932), einen kurzen Lebensbericht gibt. Er lautet (in der originalen Orthographie):

«Mein theuerer verstorbener Mann stammte aus Wosek bei Strakonitz. Sein Vater war ein großer starker Mann. Er war Fleischhauer, hatte aber kein hohes Alter erreicht. Die Frau, meine Schwiegermutter [Franziska] hatte 6 Kinder. Vier Söhne und zwei Töchter. Sie war eine zarte und fleißige Frau, die ihre Kinder, trotz aller Mühe und Plage, gut erzog und waren ihr einziges Glück im Leben. Mein Mann wurde als 14jähriger Knabe in die Fremde geschickt und muste sich selbst ernähren. Er wurde im zwanzigsten Jahr Soldat und hat es zum Zugsführer gebracht. In seinem dreißigsten Lebensjahre hat er mich geheiratet. Er hatte sich mit kleinen Geldmitteln etabliert und hatte es, da wir beide sehr fleißig waren, zu einem geachteten Namen gebracht. Wir hatten 6 Kinder von denen nur noch drei Töchter am leben sind. Unser älteste Sohn Franz war ein zartes aber gesundes Kind. Er wurde im Jahre 1883 geboren und starb am 361924. Zwei Jahre später hatten wir wieder ein Söhnchen das Georg hieß. Es war ein schönes kräftiges Kind starb im zweiten Lebensjahr an Masern. Dann kam das dritte Kind, wieder ein Knabe. Er verschied kaum 6 Monate alt an Mittelohrentzündung. Er hieß Heinrich. Unsere drei Töchter sind glücklich verheiratet und leben alle drei in Prag.

Ich bin in Bad Podĕbrad geboren. Mein Großvater, der Vater meiner Mutter, war ein jüdisch gebildeter Mann. Der Name Porias. Er war ein frommer Jude und ein bekannter Talmudist. Er hatte in Podĕbrad ein gutgehendes Schnittwaaren Geschäft, welches sehr vernachläßigt wurde, da der Großvater sich lieber mit dem Talmud beschäftigte. Die Großeltern hatten am Ringplatz ein schönes einstöckiges Haus. Das Geschäft war im Parterr, das schönste Zimmer im I. Stk war mit lauter wissenschaftlichen Büchern belagert. Der Großvater war ein sehr geachteter Mann und starb im hohen Alter. Er hatte, wie ich in meiner Kindheit hörte, noch 2 Brüder. Der Eine war sehr fromm. Er trug die Schaufäden (Zidakl) über seinen Rock, trotzdem ihm die Schulkinder nachliefen und ihn auslachten. In der Schule wurde es gerügt und wurde den Kindern vom Lehrer streng aufgetragen, den heiligen Mann nicht zu belästigen, sonst würden sie sehr streng bestraft. Im Sommer, so auch im Winter gieng er täglich in die Elbe baden. Im Winter wenn Frost war hatte er eine Hacke, mit der er das Eis aufhackte um zu untertauchen. Der dritte Bruder meines Großvaters war Arzt und hatte sich taufen lassen. Meine Mutter war das einzige Kind von dem ältesten frommen Talmudisten. Sie starb, 28 Jahre alt, an Typhus und hinterließ außer mir, die erst drei Jahre alt war, noch drei Brüder. Mein Vater hatte nach einem Jahre geheiratet, aus der zweiten Ehe entstammten 2 Brüder, der Eine starb in seinem 60ten Jahre, der Andere ist Arzt. Da meine Brüder alle in der Fremde waren verkauften meine Eltern das Haus, so auch das Geschäft in Podĕbrad und übersiedelten nach Prag.

Meine zweite Mutter [Julie] starb vor 12 Jahren im Alter von 81 Jahren, der Vater um zwei Jahre später im Alter von 86 Jahren. Der Vater war in Humpoletz geboren, arbeitete als Tuchmacher und heiratete meine Mutter, die das Haus in Podĕbrad so auch das Geschäft als Mitgift erhielt.

Der Vater hatte 4 Brüder und eine Schwester. Die Brüder waren reiche Leute, sie hatten einige Tuchfabriken, hießen anstatt Löwy Lauer und waren getauft. Der jüngste Neffe des Vaters war der Besitzer des Brauhauses in Koschieř. Er war getauft & hieß auch anstatt Löwy Lauer. Er starb im 56 ten Lebensjahr. Ich hatte 5 Brüder. Der Älteste war viele Jahre in Madrid Bahndirektor zweier Bahnen. er war ein sehr angesehener Beamte, hatte viele Auszeichnungen und war von allen die ihn kannten geschätzt. Er war wegen seiner Stellung gezwungen sich taufen zu lassen. Er war ledig und starb im Jahre 1923 und wurde in Madrid begraben. Mein zweiter Bruder ist Geschäftsmann, der dritte war viele Jahre in der Fremde & zwar 12 Jahre mittlerer Congo, in Chyna & Japan.»[6]

Bezeichnenderweise berichtet Kafka in seiner Tagebuchnotiz ausschließlich von seinen mütterlichen Vorfahren: Ihr Erbteil dominierte ganz entschieden, und hier wiederum die mütterliche Ahnenlinie seiner Mutter, die in dem kleinen böhmischen Städtchen Podiebrad lebte. In ihr finden sich immer wieder fromme, zurückgezogen lebende Gelehrte und Rabbiner, einige Ärzte, zahlreiche Junggesellen und Sonderlinge, von der Gesellschaft oft als beschränkt oder verschroben angesehen, häufig von zarter Konstitution, die auch Kafka erbte. Die väterliche Ahnenlinie der Mutter hingegen war eine der in Böhmen und Mähren häufigen Tuchhändlerfamilien, «aufgeklärt» und von gemäßigter Orthodoxie.

In Kafkas Großeltern mütterlicherseits zeigt sich ganz deutlich die religiöse Divergenz jener Zeit: Der Großvater Jakob Löwy war schon «assimiliert», die Großmutter Esther stammte aus einem streng religiösen Haus. Nach dem vierten Kind starb Esther (wie Kafkas Mutter berichtet) an Typhus (1859). Der von Kafka berichtete Selbstmord von Esthers Mutter hatte aber wohl auch andere Ursachen: Ein knappes Jahr nach dem Tod seiner ersten Frau heiratete Jakob Löwy zum zweiten Mal, und das mag der Grund für den Freitod gewesen sein. Die Mutter und beide Großeltern von Kafkas Mutter Julie (die 1856 geboren wurde) starben also früh, und seit ihrem vierten Lebensjahr wuchs Julie nur unter der Obhut der Stiefmutter und des Vaters auf. Aus dieser zweiten Ehe stammen zwei Söhne, und gerade der weitere Lebensweg der sechs Geschwister zeigt noch einmal die Eigenart dieser Familie: Der älteste Bruder Julies, Alfred – Kafkas «Madrider Onkel» –, blieb Junggeselle und brachte es schließlich zum Eisenbahndirektor. Ein weiterer Bruder, Josef, wanderte ebenfalls aus, arbeitete für eine belgische Kolonialgesellschaft im Kongo und in China, heiratete und wurde später Kafkas «Pariser Onkel». Der dritte Bruder, Richard, wurde Kaufmann, führte ein durchaus «normales» Leben und hatte drei Kinder. Der Stiefbruder Siegfried, Kafkas Lieblingsonkel, ein eigentümlicher Sonderling, Freiluftfanatiker, gebildet, belesen (er besaß als Einziger der gesamten Familie eine große Bibliothek), witzig, hilfsbereit, gütig und nur äußerlich ein wenig kalt[7] erscheinend, blieb Junggeselle und wurde Landarzt in Triesch in Mähren, wo ihn Kafka später oft besuchte. Rudolf, der zweite Stiefbruder, ebenfalls Junggeselle, lebte zurückgezogen als Buchhalter am Kosiger Bräuhaus. Er war der merkwürdigste und verschlossenste Onkel Kafkas, konvertierte zum Katholizismus und entwickelte sich, wie Kafka schreibt, immer mehr zu einem unenträtselbaren, überbescheidenen, einsamen und dabei fast geschwätzigen Menschen[8]. Einige dieser Eigenschaften waren auch in Kafka stark ausgeprägt, besonders die schüchterne, beinahe übermäßig ängstliche Bescheidenheit, die Scheu und eine gewisse Kontaktarmut. Empfindlichkeit, Gerechtigkeitsgefühl, Unruhe[9] – so charakterisiert Kafka das ganze Löwy’sche Erbteil.

Das vom Vater Ererbte war dagegen vergleichsweise gering. Kafkas Vater Hermann wurde 1852 in Wossek in Südböhmen, einem winzigen Dorf von knapp hundert Einwohnern, geboren. Er stammte aus einfachsten Verhältnissen; sein Vater, Jakob Kafka, war Fleischhauer. Jakob Kafka heiratete relativ spät (1849), als Fünfunddreißigjähriger, seine Nachbarin Franziska Platowski; es hing offenbar mit der für Juden damals geforderten Heiratslizenz zusammen. Erst 1848 wurden die Grundrechte gewährt, und der allgemeinen Emanzipation folgte bald darauf die große Abwanderung der Juden aus der tschechischen Provinz in die ‹liberalen› Städte. Jakob Kafka, Kafkas Großvater, starb vierzig Jahre später bereits vereinsamt, als letzter Jude, in seinem Heimatdorf. Jakob Kafka hatte sechs Kinder, zwei Töchter und vier Söhne (sie wurden später Kaufleute – oder heirateten Kaufleute – in Strakonitz, Kolin, Leitmeritz, Schüttenhofen und Prag). Alle mussten bereits in jungen Jahren und frühmorgens, auch im Winter und oft barfuß, die Fleischwaren mit einem Handkarren in die umliegenden Dörfer bringen. Die Lebensverhältnisse der Familie waren äußerst bescheiden. Das Haus, eine der in Böhmen häufigen, kaum übermannshohen Katen, hatte zwei ebenerdige, niedrige Räume, in denen die achtköpfige Familie lebte. Die Schulbildung scheint, den Verhältnissen entsprechend, überdurchschnittlich gewesen zu sein. In Wossek existierte damals noch (Überbleibsel einer ursprünglich großen jüdischen Gemeinde) eine jüdische Schule, und hier hat wohl Kafkas Vater (dessen Umgangssprache damals eher Tschechisch war) deutsch lesen und schreiben gelernt – freilich nur das Notwendigste: Noch die Briefe des Dreißigjährigen an seine Braut zeigen viele Fehler, und der Ausdruck ist deutlich nach einem Briefsteller gearbeitet.

Als Vierzehnjähriger verließ Hermann Kafka Wossek und versuchte als Wanderhändler und Vertreter sein Glück, offenbar einigermaßen erfolgreich. Nach dem Militärdienst siedelte er nach Prag über und gründete dort ein paar Jahre später, sicher auch mit einigen Mitteln seiner Braut, der vermögenderen Brauerstochter Julie Löwy, ein Galanteriewarengeschäft. Der Kafka’sche Lebens-, Geschäfts- und Eroberungswillen[10] war bei ihm zweifellos sehr stark ausgebildet, stärker als bei seinen Brüdern, die alle fröhlicher, frischer, ungezwungener, leichtlebiger[11] waren.

Hermann Kafka vergaß seine schwere Jugend nie, hielt sie beständig seinen Kindern vor Augen und akzeptierte lediglich die gesellschaftliche Anerkennung als erstrebenswertes Ziel. Diese gesellschaftliche Anerkennung war in der altösterreichischen Provinzhauptstadt nur auf dem Umweg über die schmale deutsche Oberschicht (1900 sprachen von 450000 Einwohnern Prags nur 34000 Deutsch) zu erlangen. Und für Kafkas Vater war dies ein bedeutender «Umweg» – der Herkunft wie der Klasse nach, selbst wenn man einmal die Schwierigkeiten beiseitelässt, die sich für ihn als Juden innerhalb des allerdings recht liberalen Antisemitismus österreichischer Prägung ergaben. Auch die Klasse bot in dieser Zeit der «Gründerjahre» kein unüberwindliches Hindernis. Die bedeutendste Hürde bildete vielmehr die Tatsache, dass Kafkas Vater aus der tschechischen Provinz kam und auch in den ersten Prager Jahren sich als Tscheche fühlte und als Tscheche galt. So gehörte er in dieser Zeit dem Vorstand der etwa 1890 gegründeten Synagoge in der Heinrichsgasse an, der ersten Prager Synagoge, in der tschechisch gepredigt wurde. Im Erdgeschoss desselben Gebäudes befand sich die Redaktion des tschechisch-konservativen Blattes «Hlas naroda». Aber schon kurze Zeit darauf «wandelte» sich Hermann Kafka zum politischen Niemand, zum Opportunisten. Er wechselte zur Gemeinde der Zigeunersynagoge und später zu der der Pinkassynagoge über. Im Prager Adressbuch von 1907