Klaus Wagenbach
Franz Kafka
Rowohlt E-Book
Klaus Wagenbach, geboren 1930. Verlagslehre; Studium der Germanistik, Kunstgeschichte und Archäologie; 1957 Promotion; danach Lektor im S. Fischer Verlag. Gründete 1964 den Verlag Klaus Wagenbach; lebt in Berlin.
Rowohlt E-Book Monographie
Franz Kafka starb im Alter von nur vierzig Jahren als ein fast Unbekannter. Heute gilt er unbestritten als einer der bedeutendsten Dichter der Moderne. Er war ein Realist und ein Visionär gleichermaßen, und er schuf einzigartige Bilder unserer Zeit und Existenz. Mit Franz Kafkas Werk, schrieb treffend Albert Camus, werden wir «an die Grenzen des menschlichen Denkens versetzt».
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rowohlts monographien
begründet von Kurt Kusenberg
herausgegeben von Uwe Naumann
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, Juni 2013
Copyright © 1964, 2002 by Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages
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Redaktionsassistenz Katrin Finkemeier
Umschlaggestaltung Ivar Bläsi
(Abbildung: Bildarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek, Wien [Franz Kafka als Student, um 1906/08])
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Satz CPI – Clausen & Bosse, Leck
ISBN Printausgabe 978-3-499-50649-9 (3. Auflage 2008)
ISBN E-Book 978-3-644-49681-1
www.rowohlt.de
ISBN 978-3-644-49681-1
AK 71
T II 192
ZFG 66
BrM 85
T I 247f.
Aus dem Nachlass von Hélène Zylberberg im Deutschen Literaturarchiv (Marbach)
Br 478
Br 361
ZFG 37
ZFG 12
ZFG 13
Gustav Janouch, Gespräche mit Kafka. Frankfurt am Main 1951. S. 42
Friedrich Thieberger, AK 126
BrM 71f.
ZFG 19, 32
BrF 506
Br 347
ZFG 36
ZFG 14
T I 203
ZFG 17
T I 260
Br 345f.
Karl Kraus, Pro domo et mundo. München 1912. S. 69f.
Fritz Mauthner, Erinnerungen I. München 1918. S. 94f.
ZFG 42ff.
ZFG 44
ZFG 43
Mauthner, a.a.O., S. 118
Janouch, a.a.O., S. 67
T I 258f.
AK 43f.
T III 133
BCM 143ff.
ZFG 48
Br 313
Br 419
T II 179
T I 260
T I 240
ZFG 50
T III 207f.
An Oskar Pollak, siehe Brod 75
T I 115f.
BCM 221f.
Br 23
Br 20
EL 29f.
ZFG 51
Br 37
Brod 57
Br 27f.
Br 29
BEK 112
Br 29
Brod 59
Hugo von Hofmannsthal, Prosa II. Frankfurt am Main 1951. S. 95
BEK 65
BEK 113
Kritische Ausgabe, Nachgelassene Schriften und Fragmente I. Hg. von Malcolm Pasley. Frankfurt am Main 1993. Apparatband. S. 160
BEK 61
BEK 114f.
Walter Benjamin, Schriften II. Frankfurt am Main 1955. S. 226, 208
T III 179f.
Br 29
BEK 38
Kritische Ausgabe, Nachgelassene Schriften und Fragmente II. Hg. von Jost Schillemeit. Frankfurt am Main 1992. Apparatband. S. 199
Br 32
Br 139
BEK 40
Br 33
Br 37
Br 49
Br 14
nach Brod 88, Brief Nr. 5
T II 137
nach Peter Demetz, René Rilkes Prager Jahre. Düsseldorf 1953. S. 142
in Rilkes «König Bohusch»
Theodor Herzl, Die entschwundenen Zeiten. Wien 1897
ZFG 49
BCM 227
T III 193
Paul Leppin in «Das jüdische Prag», Prag 1917. S. 5f.
Franz Werfel, Der veruntreute Himmel. Amsterdam 1948. S. 355f.
Paul Leppin, Daniel Jesus. Leipzig 1905. S. 111
Franz Werfel, Der Weltfreund. Berlin 1912. S. 85
Rainer Maria Rilke, Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge. Wiesbaden 1951. S. 50, 60
Gustav Meyrink, Der violette Tod
Brod 58
Mauthner, a.a.O., S. 51
Werfel, Weltfreund, a.a.O., S. 97
Max Brod, Kafkas Glauben und Lehre. München 1948. S. 111f.
EL 206
Max Brod, Schloß Nornepygge. Stuttgart 1908. S. 473
BrM 17
T III 140
Br 48f., 49f., 51
Br 42
T III 71
Brod 84f.
T I 155
T I 264
Br 37
Stefan Zweig, Max Brod. «Witiko» II (1929), S. 124f.
BEK 15, 18
im Ms. gestrichen, siehe Kritische Ausgabe, Nachgelassene Schriften und Fragmente I. Apparatband, a.a.O., S. 130
T II 193
Brod 101f.; siehe auch AK 89
Ottokar Wirth in einem Brief an den Verfasser
Wag 149
Wag 329
Wag 305
Wag 299
Bericht der Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt für das Königreich Böhmen über ihre Tätigkeit während der Zeit vom 1. Jänner bis 31. Dezember 1909. Prag 1910. S. 7f.; siehe Wag 225
Janouch, a.a.O., S. 105
Brod 102
Dr. Soukup, Rede im Parlament. «Bohemia», 27. 1. 1909
AK 81
Max Brod, Zauberreich der Liebe. Berlin 1928. S. 95
BCM 221
T I 162
Wag 180f.
Br 173
Br 404
Br 101
Br 452
T III 116
EL 325
T II 101
BrM 235
Br 101, Br 452, T III 179f.
Søren Kierkegaard, Der Begriff Angst. Erstes Kapitel, § 5
Kierkegaard, a.a.O., Drittes Kapitel, § 3
T II 191
Br 385
Br 384ff.
Br 392
ZFG 52
Karl Kraus, Sprüche und Widersprüche, München 1914. S. 41
Franz Werfel, Erzählungen aus zwei Welten II. Frankfurt am Main 1952. S. 181f.
Br 59
P 116
P 114
S 55
Br 40
ZFG 63
T II 79
Br 109
Max Brod, Biographie (nur in der Ausgabe der Fischer Bücherei, Frankfurt am Main 1963, S. 148)
BrM 229
T I 176 und EL 343
BrF 357
Br 228
Hans Heilmann, Chinesische Lyrik vom 12. Jahrhundert v. Chr. bis zur Gegenwart. München 1905. – BrF 119
T III 164
T II 237
T II 179
T II 184f.
T II 190
T II 191ff.
BrF 460
T III 74
T II 194
Br 139
T III 218
T II 197
BCM 43, 44f.
T II 194
T II 135
T II 137
T II 153
BrF 574f.
T II 166
T II 167
T II 167
T II 169
T III 24
T III 38
T III 39
T III 63, P 227, 226
T III 41, 42
BrF 615
T III 73f.
T III 123f.
T III 74
T III 128
T III 131
Br 139f.
Meldung des «Prager Tageblatt» vom 6. 12. 1915
siehe dazu die Berichte in AK
BrF 750
T III 77
BrF 751
BCM 70
Brod 192
Br 156, 158
BCM 114
T III 162
Br 160
EL 205f.
BrM 7
Br 159
AK 106
Br 161, 166
T III 164
Brod 203
BrO 47
T III 69
T III 90
T III 141
T III 141
BrO 49f.
T III 166f.
T III 168
T III 168
ZFG 171
Tagebuch Brod, 1. 7. 1918. Unveröffentlicht, Tel Aviv
BrM 51
An die Schwester von Julie Wohryzek, 24. 11. 1919; siehe Jürgen Born u.a., Kafka-Symposion. Berlin 1965, S. 45ff. Vgl. auch Anthony Northey, Julie Wohryzek. «Freibeuter» 59 (1994)
BrM 51
ZFG 47
ZFG 58
ZFG 57
T III 174
ZFG 70
BrM 10
BrM 10
Im Nachwort zur Milena-Briefausgabe von 1952. S. 274
Margarete Buber-Neumann, Kafkas Freundin Milena. München 1963. S. 98
BrM 12
BrM 49f.
BrM 41
Br 275
BrM 57f.
Brod 286, 287
Brod 285f.
BrM 299
siehe Brod 284
Brod 281f., 287
BrM 282f.
BrM 229
Br 302
BrO 115
AK 145
T III 206
siehe das Nachwort zur von Max Brod herausgegebenen «Schloß»-Ausgabe
Buber-Neumann, a.a.O., S. 83
T III 235
Br 413
BrF 544, 555
Br 461
Br 451
Brod 241
DE 165, 167
BrM 321
Br 472f.
Br 521
EL 294
Für Vera Saudková und Marianna Steiner
Die großen literarischen Bilder des zwanzigsten Jahrhunderts stammen von Franz Kafka. Der Handelsreisende Gregor Samsa, der eines Morgens als Ungeziefer erwacht. Der Sohn, der das Urteil des Vaters vollstreckt. Der junge Karl, der so durch Amerika irrt wie der reife Landarzt durch das unglückseligste Zeitalter. Josef K., der verhaftet wird, ohne dass er etwas Böses getan hätte. Der Landvermesser, der gern eingebürgert werden möchte. Der Apparat einer Strafkolonie und sein Offizier. Rotpeter, der den Herren der Akademie über sein äffisches Vorleben berichtet. Der Jäger Gracchus und sein vergebliches Sterben, die Maus Josefine und ihre vergebliche Kunst.
Der Autor dieser Bilder war kein weitgereister Mann. In seinem Leben fehlt der fortwährende Wechsel, der so viele Autorenbiographien des zwanzigsten Jahrhunderts kennzeichnet. Es fehlen die weiten Reisen, die folgenreichen Bildungserlebnisse, die großen Begegnungen mit den Kollegen – selbst von seinen bedeutenden österreichischen Zeitgenossen kannte Kafka nur wenige. Er kannte wohl ihre Arbeiten (ein begeisterter, wenn auch nicht systematischer Leser), schloss sich aber von der unmittelbaren Teilnahme am literarischen Gespräch aus. Er war höchstens ein einsilbiger und zurückhaltender Zuhörer dieses Gesprächs, sandte Manuskripte meist nur aufgefordert an Zeitschriften und Verlage und beschränkte seinen Umgang auf wenige Freunde. Ein provinzielles Dasein – «lokal» wie das von Stifter oder Yeats.
Franz Kafka wurde am 3. Juli 1883 in Prag geboren, verließ seine Heimatstadt nur sporadisch und wurde dort nach einem kurzen Leben von einundvierzig Jahren auf dem Straschnitzer Friedhof begraben. Vierzehn Jahre arbeitete er als Jurist für die Prager «Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt für das Königreich Böhmen», betrachtete jedoch sein abendliches oder nächtliches Kritzeln[1] als einziges Verlangen[2].
Die außerhalb der «Dienststunden» entstandene Prosa dieses Prager Juden ist nach dem letzten Weltkrieg weltberühmt geworden, ausgehend von einem kleinen Kreis deutscher Literaturkenner in den zwanziger Jahren, gefördert besonders in Frankreich, zuerst von André Breton und der Gruppe um den «Minotaure», später von Camus und Sartre und schließlich durchgesetzt in England und Amerika. Erst 1950 kam das Werk nach Deutschland «zurück», in den folgenden Jahren erschien die erste deutsche «öffentliche» Gesamtausgabe. Erst 1957 erschienen, nach einigen Versuchen in den zwanziger Jahren, die ersten tschechischen Übersetzungen in der Stadt, die Kafka zu einer Metropole auf der Landkarte der Literatur gemacht hat: Prag. Erst 1964 die erste russische Übersetzung: In der Strafkolonie. Erst – oder sollte es hier «schon» heißen? – vierzig Jahre nach dem Tod des Autors konnte man sagen, sein Werk habe Leser in aller Welt.
Das Leben dieses Autors ist erst spät bekannt geworden, obwohl es doch in die durchaus im vollen Licht liegenden letzten drei Jahrzehnte der k.k. Doppelmonarchie und in die ersten Jahre der tschechoslowakischen Republik fiel. Das liegt nicht nur daran, dass dieses Leben sich unauffällig vollzog, sondern besonders an den politischen Ereignissen der Jahre 1933 bis 1945. Sie betrafen vorerst das Werk: Anfang der dreißiger Jahre beschlagnahmte die Gestapo bei einer Durchsuchung der Berliner Wohnung Dora Diamants (der Freundin des letzten Lebensjahres) ein Konvolut Manuskripte – es muss als verloren gelten; die erste, 1935 begonnene Gesamtausgabe wurde zuerst behindert, dann verboten. Viel schlimmere Folgen hatte die Besetzung der Tschechoslowakei durch die Nazis: Die drei Schwestern Kafkas wurden in Konzentrationslager deportiert und dort ermordet – ein Schicksal, das viele Freunde und Verwandte teilten. Archive wurden vernichtet, Dokumente gingen verloren, Zeugen seines Lebens wurden getötet.
Als ich 1957 das erste Mal nach Prag kam, bot sich ein trauriges und zugleich tröstliches Bild. Das Bild einer unzerstörten Stadt, einer der schönsten in Europa, und jenes andere: Auf der einen Seite sind fast alle Häuser, in denen Kafka wohnte oder arbeitete, erhalten: das Kinsky- und das Schönborn-Palais, das Haus Minutá und das Oppelt-Haus, die Häuser Bilková 10, Zeltnergasse 3 und Lange Gasse 18, das Bürohaus am Pořič 7 und das Haus in der Alchimistengasse. In der Provinz ist es nicht anders, in Wossek, Podiebrad, Triesch, Schelesen und Matliary. Auf der anderen Seite endete die Suche nach Dokumenten immer wieder in ausgeplünderten Archiven, die Suche nach noch lebenden Zeugen immer wieder in einem Raum des jüdischen Rathauses in der Maiselgasse, dessen Wände Gestelle füllen mit Hunderten von Karteikästen, deren einzelne rote Blätter unter dem Namen, Vornamen und Herkunftsort stets den gleichen Stempel tragen: Oświęcim – Auschwitz.
Kafka selbst hat zur Aufhellung seines äußeren Lebens wenig beigetragen, obwohl die Tagebücher und Briefe mit fast 3000 Seiten umfangreicher sind als das dichterische Werk. Die einzige größere autobiographische Äußerung ist der Brief an den Vater aus der späteren Lebenszeit (1919), ein vergeblicher Versuch, uns beide ein wenig zu beruhigen und Leben und Sterben leichter zu machen[3]. Aber dieser Aspekt – den Vater zu beruhigen, der die literarischen Arbeiten seines Sohnes misstrauisch und verständnislos beobachtete – hat viele Tatsachen verfälscht, und auch Kafka schreibt ein Jahr später von den advokatorischen Kniffen[4] des Briefes.
Andere autobiographische Äußerungen Kafkas mögen zwar freier von solchen Aspekten sein, finden sich aber selten und sind meist nur Randbemerkungen zur Selbstkritik. Lediglich an einer Stelle spricht Kafka von seinen Vorfahren. 1911 heißt es im Tagebuch:
Ich heiße hebräisch Amschel, wie der Großvater meiner Mutter von der Mutterseite [Adam Porias], der als ein sehr frommer und gelehrter Mann mit langem weißen Bart meiner Mutter erinnerlich ist, die sechs Jahre alt war, als er starb. Sie erinnert sich, wie sie die Zehen der Leiche festhalten und dabei Verzeihung möglicher dem Großvater gegenüber begangener Verfehlungen erbitten mußte. Sie erinnert sich auch an die vielen, die Wände füllenden Bücher des Großvaters. Er badete jeden Tag im Fluß, auch im Winter, dann hackte er sich zum Baden ein Loch ins Eis. Die Mutter meiner Mutter [Esther Porias] starb frühzeitig an Typhus. Von diesem Tode angefangen wurde die Großmutter [Sara Porias] trübsinnig, weigerte sich zu essen, sprach mit niemandem, einmal, ein Jahr nach dem Tode ihrer Tochter, ging sie spazieren und kehrte nicht mehr zurück, ihre Leiche zog man aus der Elbe. Ein noch gelehrterer Mann als der Großvater war der Urgroßvater der Mutter, bei Christen und Juden stand er in gleichem Ansehen, bei einer Feuersbrunst geschah infolge seiner Frömmigkeit das Wunder, daß das Feuer sein Haus übersprang und verschonte, während die Häuser in der Runde verbrannten. Er hatte vier Söhne, einer trat zum Christentum über und wurde Arzt. Alle außer dem Großvater der Mutter starben bald. Dieser hatte einen Sohn, die Mutter kannte ihn als verrückten Onkel Nathan, und eine Tochter, eben die Mutter meiner Mutter.[5]
Merkwürdigerweise existiert gerade zu dieser Tagebucheintragung Kafkas eine Art Gegenstück: zwei handgeschriebene Blätter seiner Mutter, auf denen sie, etwa fünfzehn Jahre nach der Niederschrift ihres Sohnes, als Siebenundsiebzigjährige (1932), einen kurzen Lebensbericht gibt. Er lautet (in der originalen Orthographie):
«Mein theuerer verstorbener Mann stammte aus Wosek bei Strakonitz. Sein Vater war ein großer starker Mann. Er war Fleischhauer, hatte aber kein hohes Alter erreicht. Die Frau, meine Schwiegermutter [Franziska] hatte 6 Kinder. Vier Söhne und zwei Töchter. Sie war eine zarte und fleißige Frau, die ihre Kinder, trotz aller Mühe und Plage, gut erzog und waren ihr einziges Glück im Leben. Mein Mann wurde als 14jähriger Knabe in die Fremde geschickt und muste sich selbst ernähren. Er wurde im zwanzigsten Jahr Soldat und hat es zum Zugsführer gebracht. In seinem dreißigsten Lebensjahre hat er mich geheiratet. Er hatte sich mit kleinen Geldmitteln etabliert und hatte es, da wir beide sehr fleißig waren, zu einem geachteten Namen gebracht. Wir hatten 6 Kinder von denen nur noch drei Töchter am leben sind. Unser älteste Sohn Franz war ein zartes aber gesundes Kind. Er wurde im Jahre 1883 geboren und starb am 3. 6. 1924. Zwei Jahre später hatten wir wieder ein Söhnchen das Georg hieß. Es war ein schönes kräftiges Kind starb im zweiten Lebensjahr an Masern. Dann kam das dritte Kind, wieder ein Knabe. Er verschied kaum 6 Monate alt an Mittelohrentzündung. Er hieß Heinrich. Unsere drei Töchter sind glücklich verheiratet und leben alle drei in Prag.
Ich bin in Bad Podĕbrad geboren. Mein Großvater, der Vater meiner Mutter, war ein jüdisch gebildeter Mann. Der Name Porias. Er war ein frommer Jude und ein bekannter Talmudist. Er hatte in Podĕbrad ein gutgehendes Schnittwaaren Geschäft, welches sehr vernachläßigt wurde, da der Großvater sich lieber mit dem Talmud beschäftigte. Die Großeltern hatten am Ringplatz ein schönes einstöckiges Haus. Das Geschäft war im Parterr, das schönste Zimmer im I. Stk war mit lauter wissenschaftlichen Büchern belagert. Der Großvater war ein sehr geachteter Mann und starb im hohen Alter. Er hatte, wie ich in meiner Kindheit hörte, noch 2 Brüder. Der Eine war sehr fromm. Er trug die Schaufäden (Zidakl) über seinen Rock, trotzdem ihm die Schulkinder nachliefen und ihn auslachten. In der Schule wurde es gerügt und wurde den Kindern vom Lehrer streng aufgetragen, den heiligen Mann nicht zu belästigen, sonst würden sie sehr streng bestraft. Im Sommer, so auch im Winter gieng er täglich in die Elbe baden. Im Winter wenn Frost war hatte er eine Hacke, mit der er das Eis aufhackte um zu untertauchen. Der dritte Bruder meines Großvaters war Arzt und hatte sich taufen lassen. Meine Mutter war das einzige Kind von dem ältesten frommen Talmudisten. Sie starb, 28 Jahre alt, an Typhus und hinterließ außer mir, die erst drei Jahre alt war, noch drei Brüder. Mein Vater hatte nach einem Jahre geheiratet, aus der zweiten Ehe entstammten 2 Brüder, der Eine starb in seinem 60ten Jahre, der Andere ist Arzt. Da meine Brüder alle in der Fremde waren verkauften meine Eltern das Haus, so auch das Geschäft in Podĕbrad und übersiedelten nach Prag.
Meine zweite Mutter [Julie] starb vor 12 Jahren im Alter von 81 Jahren, der Vater um zwei Jahre später im Alter von 86 Jahren. Der Vater war in Humpoletz geboren, arbeitete als Tuchmacher und heiratete meine Mutter, die das Haus in Podĕbrad so auch das Geschäft als Mitgift erhielt.
Der Vater hatte 4 Brüder und eine Schwester. Die Brüder waren reiche Leute, sie hatten einige Tuchfabriken, hießen anstatt Löwy Lauer und waren getauft. Der jüngste Neffe des Vaters war der Besitzer des Brauhauses in Koschieř. Er war getauft & hieß auch anstatt Löwy Lauer. Er starb im 56 ten Lebensjahr. Ich hatte 5 Brüder. Der Älteste war viele Jahre in Madrid Bahndirektor zweier Bahnen. er war ein sehr angesehener Beamte, hatte viele Auszeichnungen und war von allen die ihn kannten geschätzt. Er war wegen seiner Stellung gezwungen sich taufen zu lassen. Er war ledig und starb im Jahre 1923 und wurde in Madrid begraben. Mein zweiter Bruder ist Geschäftsmann, der dritte war viele Jahre in der Fremde & zwar 12 Jahre mittlerer Congo, in Chyna & Japan.»[6]
Bezeichnenderweise berichtet Kafka in seiner Tagebuchnotiz ausschließlich von seinen mütterlichen Vorfahren: Ihr Erbteil dominierte ganz entschieden, und hier wiederum die mütterliche Ahnenlinie seiner Mutter, die in dem kleinen böhmischen Städtchen Podiebrad lebte. In ihr finden sich immer wieder fromme, zurückgezogen lebende Gelehrte und Rabbiner, einige Ärzte, zahlreiche Junggesellen und Sonderlinge, von der Gesellschaft oft als beschränkt oder verschroben angesehen, häufig von zarter Konstitution, die auch Kafka erbte. Die väterliche Ahnenlinie der Mutter hingegen war eine der in Böhmen und Mähren häufigen Tuchhändlerfamilien, «aufgeklärt» und von gemäßigter Orthodoxie.
In Kafkas Großeltern mütterlicherseits zeigt sich ganz deutlich die religiöse Divergenz jener Zeit: Der Großvater Jakob Löwy war schon «assimiliert», die Großmutter Esther stammte aus einem streng religiösen Haus. Nach dem vierten Kind starb Esther (wie Kafkas Mutter berichtet) an Typhus (1859). Der von Kafka berichtete Selbstmord von Esthers Mutter hatte aber wohl auch andere Ursachen: Ein knappes Jahr nach dem Tod seiner ersten Frau heiratete Jakob Löwy zum zweiten Mal, und das mag der Grund für den Freitod gewesen sein. Die Mutter und beide Großeltern von Kafkas Mutter Julie (die 1856 geboren wurde) starben also früh, und seit ihrem vierten Lebensjahr wuchs Julie nur unter der Obhut der Stiefmutter und des Vaters auf. Aus dieser zweiten Ehe stammen zwei Söhne, und gerade der weitere Lebensweg der sechs Geschwister zeigt noch einmal die Eigenart dieser Familie: Der älteste Bruder Julies, Alfred – Kafkas «Madrider Onkel» –, blieb Junggeselle und brachte es schließlich zum Eisenbahndirektor. Ein weiterer Bruder, Josef, wanderte ebenfalls aus, arbeitete für eine belgische Kolonialgesellschaft im Kongo und in China, heiratete und wurde später Kafkas «Pariser Onkel». Der dritte Bruder, Richard, wurde Kaufmann, führte ein durchaus «normales» Leben und hatte drei Kinder. Der Stiefbruder Siegfried, Kafkas Lieblingsonkel, ein eigentümlicher Sonderling, Freiluftfanatiker, gebildet, belesen (er besaß als Einziger der gesamten Familie eine große Bibliothek), witzig, hilfsbereit, gütig und nur äußerlich ein wenig kalt[7] erscheinend, blieb Junggeselle und wurde Landarzt in Triesch in Mähren, wo ihn Kafka später oft besuchte. Rudolf, der zweite Stiefbruder, ebenfalls Junggeselle, lebte zurückgezogen als Buchhalter am Kosiger Bräuhaus. Er war der merkwürdigste und verschlossenste Onkel Kafkas, konvertierte zum Katholizismus und entwickelte sich, wie Kafka schreibt, immer mehr zu einem unenträtselbaren, überbescheidenen, einsamen und dabei fast geschwätzigen Menschen[8]. Einige dieser Eigenschaften waren auch in Kafka stark ausgeprägt, besonders die schüchterne, beinahe übermäßig ängstliche Bescheidenheit, die Scheu und eine gewisse Kontaktarmut. Empfindlichkeit, Gerechtigkeitsgefühl, Unruhe[9] – so charakterisiert Kafka das ganze Löwy’sche Erbteil.
Das vom Vater Ererbte war dagegen vergleichsweise gering. Kafkas Vater Hermann wurde 1852 in Wossek in Südböhmen, einem winzigen Dorf von knapp hundert Einwohnern, geboren. Er stammte aus einfachsten Verhältnissen; sein Vater, Jakob Kafka, war Fleischhauer. Jakob Kafka heiratete relativ spät (1849), als Fünfunddreißigjähriger, seine Nachbarin Franziska Platowski; es hing offenbar mit der für Juden damals geforderten Heiratslizenz zusammen. Erst 1848 wurden die Grundrechte gewährt, und der allgemeinen Emanzipation folgte bald darauf die große Abwanderung der Juden aus der tschechischen Provinz in die ‹liberalen› Städte. Jakob Kafka, Kafkas Großvater, starb vierzig Jahre später bereits vereinsamt, als letzter Jude, in seinem Heimatdorf. Jakob Kafka hatte sechs Kinder, zwei Töchter und vier Söhne (sie wurden später Kaufleute – oder heirateten Kaufleute – in Strakonitz, Kolin, Leitmeritz, Schüttenhofen und Prag). Alle mussten bereits in jungen Jahren und frühmorgens, auch im Winter und oft barfuß, die Fleischwaren mit einem Handkarren in die umliegenden Dörfer bringen. Die Lebensverhältnisse der Familie waren äußerst bescheiden. Das Haus, eine der in Böhmen häufigen, kaum übermannshohen Katen, hatte zwei ebenerdige, niedrige Räume, in denen die achtköpfige Familie lebte. Die Schulbildung scheint, den Verhältnissen entsprechend, überdurchschnittlich gewesen zu sein. In Wossek existierte damals noch (Überbleibsel einer ursprünglich großen jüdischen Gemeinde) eine jüdische Schule, und hier hat wohl Kafkas Vater (dessen Umgangssprache damals eher Tschechisch war) deutsch lesen und schreiben gelernt – freilich nur das Notwendigste: Noch die Briefe des Dreißigjährigen an seine Braut zeigen viele Fehler, und der Ausdruck ist deutlich nach einem Briefsteller gearbeitet.
Als Vierzehnjähriger verließ Hermann Kafka Wossek und versuchte als Wanderhändler und Vertreter sein Glück, offenbar einigermaßen erfolgreich. Nach dem Militärdienst siedelte er nach Prag über und gründete dort ein paar Jahre später, sicher auch mit einigen Mitteln seiner Braut, der vermögenderen Brauerstochter Julie Löwy, ein Galanteriewarengeschäft. Der Kafka’sche Lebens-, Geschäfts- und Eroberungswillen[10] war bei ihm zweifellos sehr stark ausgebildet, stärker als bei seinen Brüdern, die alle fröhlicher, frischer, ungezwungener, leichtlebiger[11] waren.
Hermann Kafka vergaß seine schwere Jugend nie, hielt sie beständig seinen Kindern vor Augen und akzeptierte lediglich die gesellschaftliche Anerkennung als erstrebenswertes Ziel. Diese gesellschaftliche Anerkennung war in der altösterreichischen Provinzhauptstadt nur auf dem Umweg über die schmale deutsche Oberschicht (1900 sprachen von 450000 Einwohnern Prags nur 34000 Deutsch) zu erlangen. Und für Kafkas Vater war dies ein bedeutender «Umweg» – der Herkunft wie der Klasse nach, selbst wenn man einmal die Schwierigkeiten beiseitelässt, die sich für ihn als Juden innerhalb des allerdings recht liberalen Antisemitismus österreichischer Prägung ergaben. Auch die Klasse bot in dieser Zeit der «Gründerjahre» kein unüberwindliches Hindernis. Die bedeutendste Hürde bildete vielmehr die Tatsache, dass Kafkas Vater aus der tschechischen Provinz kam und auch in den ersten Prager Jahren sich als Tscheche fühlte und als Tscheche galt. So gehörte er in dieser Zeit dem Vorstand der etwa 1890 gegründeten Synagoge in der Heinrichsgasse an, der ersten Prager Synagoge, in der tschechisch gepredigt wurde. Im Erdgeschoss desselben Gebäudes befand sich die Redaktion des tschechisch-konservativen Blattes «Hlas naroda». Aber schon kurze Zeit darauf «wandelte» sich Hermann Kafka zum politischen Niemand, zum Opportunisten. Er wechselte zur Gemeinde der Zigeunersynagoge und später zu der der Pinkassynagoge über. Im Prager Adressbuch von 1907