Fehrle, Gerdt: Unter uns das stille Land
Erste Auflage 2015
© 2015 Louisoder Verlagsgesellschaft mbH, München
Lektorat: Fridolin Schley, Moses Wolff
Korrektorat: Ilona Buth
Umschlaggestaltung: CosmosMedia, Cornelius Schödl
Umschlagmotiv: Franz Marc, Liegender Hund im Schnee;
© Getty Images / SuperStock
Satz: Fotosatz Amann, Memmingen
ISBN: 978-3-944153-24-7
www.louisoder-verlag.de
Louisoder Verlag
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„Wir haben ihn gefunden, Madam.“ Die Stimme am anderen Ende der Leitung klang sehr britisch, sehr freundlich und doch so distanziert, wie es sich für eine so schwierige Arbeit gehörte. Schließlich mussten die Menschen, die diese Arbeit erledigten, tagein, tagaus damit fertigwerden, dass sie mit ihren Anrufen Strohhalme nahmen, letzte Hoffnungen zerstörten, Verzweiflung, Tränen und Trauer brachten. Und die zwar schreckliche, vielleicht letzten Endes aber auch erlösende Gewissheit.
Ihr war, als stünde der Mensch, der jetzt mit ihr sprach, direkt neben ihr oder doch zumindest im Zimmer nebenan. Erstaunlich, dachte Linda Morrison, geborene Schoolcraft, was die Technik heutzutage alles zu leisten vermag.
„Hallo, Madam, sind Sie noch da? Haben Sie mich verstanden? Sagen Sie etwas, Madam, ich bitte Sie.“
Sie stellte sich den Menschen am anderen Ende der Leitung, den Mann hinter der Stimme als einen dieser pflichtbewussten, leicht dicklichen Männer vom Typ Familienvater vor. Männer, die hinter Fahrkarten- oder Bankschaltern oder Pulten oder Schreibtischen saßen und in oft geradezu ärgerlicher Gelassenheit ihre Pflicht taten. Männer, die als Individuen machtlos waren, als Gesamtheit aber über Jahrhunderte das Empire hatten zusammenhalten können. Und Hitler besiegen.
Beinahe hätte sie das Klingeln des Telefons eines weiteren technischen Wunderwerks wegen, das sie seit neuestem besaß, überhört, obwohl sie seit Jahren Tag und Nacht auf diesen einen Anruf gewartet hatte. Genauer gesagt seit dem 13. Februar 1945. Mehr als acht Jahre waren seither vergangen, eine Ewigkeit, während deren ein Weltkrieg gewonnen wurde, ein Empire verloren ging und ein König gestorben war. Eine endlos lange, wie im Flug an ihr vorbeigezogene Zeit, in der sie einen Sohn bekommen und geheiratet hatte, nur um zur Witwe, zu einer verwaisten Mutter zu werden. Acht Jahre, in denen sie trotz allem fest davon überzeugt gewesen war, dass es irgendwann einmal so kommen würde, dass die Stimme am anderen Ende der Leitung genau diesen einen Satz sagen würde, den sie jetzt hörte, ausgerechnet heute, an der Schwelle zu einem neuen Zeitalter: Wir haben ihn gefunden. Denn die BBC übertrug an diesem 2. Juni 1953 zum ersten Mal und „live“ den Beginn einer neuen Ära, die Krönung der jungen, charmanten Elisabeth zur Königin von England. Eigens für dieses Ereignis hatte sie sich das sündteure Gerät angeschafft, einen Fernsehapparat. Und weil das Telefon im Eingangsflur ihres kleinen Londoner Hauses stand und der Fernsehapparat im Wohnzimmer, gleich neben dem Kamin, und weil sie den Ton vielleicht ein wenig zu laut eingestellt hatte und weil sie nicht damit gerechnet hatte, dass an einem Tag wie diesem irgendjemand im Vereinigten Königreich arbeiten würde, war sie auf den Mann vom British Red Cross nicht vorbereitet und antwortete ihm erst in dem Moment, als dieser schon auflegen und sich seinem nächsten Anruf zuwenden wollte. Singapur 1942, Alexandra Hospital, vermutliche Todesursache Bajonettstich, identifiziert aufgrund eines Backenzahns.
„Madam?“, fragte die Stimme noch einmal. Sie klang jetzt fest und fürsorglich zugleich, eine Stimme, die ihr erschien wie die eines guten Freundes und der man eben dennoch anmerkte, dass sie gewohnt war, schwierige menschliche Situationen auch auf Distanz professionell zu meistern.
„Ja, Sir, ich bin da. Ich habe Sie sehr gut verstanden. Danke.“ Pause.
„Sind Sie sicher?“, fragte sie schließlich. Sie war sehr unzufrieden mit sich: die Kurzatmigkeit, die schwankende Stimme, die pochende Halsschlagader. Das alles wirkte durchaus unsouverän und emotional und war doch zum größten Teil nur dadurch verursacht, dass sie sich zu rasch aus ihrem Wohnzimmersessel erhoben und hektisch zum Telefon geeilt war. Gleichzeitig ärgerte sie sich über ihre emotionale Schwäche. Immerhin war sie eine Frau mittleren Alters, die viele schlimme Dinge gesehen und erlebt hatte.
„Ja, Madam, wir sind ganz sicher …“, antwortete die Stimme, „es besteht kein Zweifel, Madam …“ Sie lauschte dem Mann, der ihr jetzt gewissenhaft die vom Internationalen Roten Kreuz recherchierten Informationen vorlas, vielleicht eine oder zwei Minuten lang, vielleicht auch länger, es erschien ihr wie eine Ewigkeit.
„Und meine Mutter …?“
„Nein, Madam, nichts. Von Mrs Schoolcraft keine Spur, Madam, leider …“ Der Mann vom Roten Kreuz schwieg jetzt. Wartete er auf eine Reaktion von ihr? Nein. Fürs Erste hatte der Mann einfach einen seiner Jobs erledigt. Einer von den erfreulicheren.
„Haben Sie vielen Dank, Mister, vielen Dank …“, sagte Linda Morrison. Und versuchte sich mit der Gewissheit des stets Erahnten abzufinden. Schließlich legte sie den Hörer auf die Gabel zurück, vom Fanfarenstoß der neuen Ära zurückgerufen in die heutige Zeit, von Pomp, Glanz und Gloria, die über den Fernseher in ihr Wohnzimmer, in ihr Bewusstsein drangen. Der Mann vom Roten Kreuz, eben noch am anderen Ende der Leitung, sprach vermutlich bereits mit der nächsten Frau, während Mrs Morrison das Cape auf den Schultern fester zog und zurück ins Wohnzimmer ging.
… a great congregation of seven thousand come from every part of the world awaits the arrival of Her Majesty …
Die BBC kommentierte die Bilder, die über den Fernsehapparat in das Wohnzimmer von Linda Morrison flimmerten. Gleich würde die junge neue Königin die Kathedrale betreten, den Thron besteigen und die Krone Englands annehmen. Königin Elisabeth die Zweite, und Millionen Menschen im Vereinigten Königreich und in der Welt nahmen Anteil daran, verfolgten jubelnd und hoffnungsfroh eine Zeremonie, die ein neues elisabethanisches Zeitalter einleiten sollte. Linda Morrison allerdings – sie hatte nach dem Tod ihres Mannes zunächst des Jungen wegen ihren Mädchennamen nicht wieder angenommen – war nicht mehr bei der Sache. Gedankenversunken blickte sie auf die Mattscheibe des Fernsehers, auf der jetzt die prunkvolle Staatskarosse zu sehen war. Das soll nun die neue Zeit sein, dachte sie und fragte sich, was die Gewissheit jetzt mit ihr machen würde, die Gewissheit, dass Ben den Absturz überstanden und sich unter was für abenteuerlichen Umständen auch immer nach Norwegen durchgeschlagen hatte und dort nahe Oslo als Ragnar Nilsson ein normales Leben führte. Eine Weile stand sie in ihrem Wohnzimmer vor dem nagelneuen Fernsehapparat und starrte auf das schwarz-weiße Geschehen. Fremd und fern erschien ihr jetzt, was sie unmittelbar umgab, das Haus hier in London, das Wohnzimmer in seiner ganzen Gewöhnlichkeit, die absurde Zeremonie auf der Mattscheibe. Alles war wieder da. Ihr Einsatz am Tag des Angriffs. Seine Stimme. Der letzte Funkspruch. Der Verrat. War es denn Verrat gewesen? Sie schüttelte sich. Sie fröstelte. Dann trat sie auf den Apparat zu, drückte auf den Knopf und beobachtete, wie das Bild in einen weißlichen Punkt implodierte, der für einen Augenblick auf der dunklen Mattscheibe stehen blieb und schließlich verschwand.
„Ich muss sofort meine Sachen packen …“, sagte sie in die plötzliche Stille des Raumes hinein und verließ das Wohnzimmer.
***
Mit dem Jungen stimmt doch etwas nicht, dachte Barta missvergnügt, während er Whitley beobachtete. Ein patenter Kerl, ohne Frage. Kameradschaftlich. Korrekt. Einsatzfreudig. Und mutig, proboha, mein Gott, wirklich mutig. Wie der sich die Krauts da oben vorknöpfte, einen nach dem anderen, ta-ta-ta, Wahnsinn. Stur bis zur Selbstverleugnung den Messerschmitts und Fokkers am Arsch, Kimme auf Korn bis, ja bis die Gelegenheit zum Abdrücken kam, und peng. Er, Barta, hasste den Feind auch. Den Zerstörer seines Landes. Den Vergewaltiger seiner Mutter. Aber doch erschien ihm jener Feind nicht ansatzweise so radikal wie dieser Whitley. Nicht, dass der große Reden schwang. Im Gegenteil. Eigentlich hatte Whitley bislang, wenn er es sich recht überlegte, kein Wort über die Deutschen verloren. Umso mehr erschreckte Barta die Radikalität, mit der Whitley flog, die Eiseskälte, mit der er die Krauts am Himmel aufs Korn nahm. Diese Unbeugsamkeit hatte Barta während der Einsätze selbst über eine Distanz von drei, vier Meilen Luftlinie zu spüren geglaubt, was ihn erschaudern ließ. Warum? Nun, weil er die sonst nur von den Krauts selbst kannte. Er hatte sie in den Augen der Soldaten gesehen, die im März 1938 Prag besetzten. Wie die auf ihren Motorrädern und in ihren Panzern gesessen hatten, prokrista, zum Fürchten. Und er sah sie, während er selbst hinter dem Steuerknüppel saß, den Finger am Abzug, und sein fucking Bestes gab, um England zu verteidigen, sah sie an der Art, wie die Deutschen ihre Angriffe flogen. Eben wie Whitley, nur dass die Krauts in ihm ihren Meister fanden. Oben in den Wolken, da war der Milchbubi, der hier unten auf Erden immer eher schüchtern, genauer gesagt regelrecht verklemmt wirkte, ein echter Satansbraten. Aber er hatte eben auch etwas Undurchsichtiges an sich, etwas, das nicht koscher war, etwas Komisches. Möglicherweise war er schwul, was Barta durchaus gefallen hätte. Und seine Aufmerksamkeit erregte. Und dann noch diese verdammte Ähnlichkeit mit dem Feind. Neben seinem durchaus knackigen Hintern. Den ansprechenden Gesichtszügen. Der erregenden Figur. Teilten die Kameraden diesen Eindruck? Jurek etwa, den alle nur den Pilsner nannten? Oder der dicke Honza, der eigentlich gar nicht dick war, sondern nur Backen hatte wie böhmische Knödel, und zwar vorne und hinten?
„Je to možné“, grummelte Barta, schon möglich. Er ließ seine Gedanken schweifen, während sein Blick ein wenig verächtlich und doch zugleich mit heimlichem Wohlwollen auf Whitley ruhte. Irgendwo ganz hinten, in den Großhirnganglien oder vielleicht noch weiter hinten, im Mandelkern, bildete sich ein Wort. Es rang mit dem langsam, aber sicher alles überdeckenden Englisch, das die Royal Air Force ihnen einzutrichtern versuchte, ihnen, den Kriegsfreiwilligen der von Hitler bereits überrannten Nationen, dann erschien das Wort vor seinem geistigen Auge: Žhàř, Brandstifter. Barta tat sich schwer mit der neuen Sprache, dem neuen Land, England. Porridge, das lauwarme Ale, diese ewige, unerträgliche Höflichkeit bei allem, was die Tommys so von sich gaben. Das war alles wirklich fürchterlich und bitter. Und: Er hatte läuten hören, dass Schwule hier für ihr Schwulsein ziemlich schnell ins Gefängnis kamen. Noch bitterer. Aber als erwachsener Mann in der Schulbank sitzen und Vokabeln pauken, das war das Bitterste. Schlimmer als Porridge, Ale und Gefängnis fürs Schwulsein zusammengenommen. Nun gut. Žhàř. Er wusste selbst nicht, warum ihm dieses Wort in den Sinn kam, während er Whitley beobachtete. Und erneut feststellte, wie gut der Kleine doch aussah. Ein junger Held aus Milch und Blut, dachte er amüsiert. Nicht so wie er, der tschechische Bauer mit Hang zu dickem Bier und dem falschen Geschlecht. Schwul. Wenn das sein Vater gewusst hätte. Nicht auszudenken.
Gereizt blies er Luft durch die Nase, ein hohes, pfeifendes Geräusch, das ihn beruhigte, seine nähere Umgebung aber ebenso nervte wie so manch andere seiner Marotten. Für einen Mann seines Alters hatte er erstaunlich viele und erstaunlich lange Haare in der Nase und in den Ohren, die er aus Überzeugung nicht kürzte.
Whitley war ein Held, dachte Barta, ein Flieger, sie alle waren Helden des ewigen Rauf und wieder Runter. Denn runter kamen sie ja immer. So oder so. Die Spits und Hurricanes. Rauf und wieder runter. Und das alles mit achthundert Pferdestärken am Arsch, prokrista, wem es da nicht kam, dem kam es nie mehr, nicht wahr, mein Jurek? Mein Honza? Meine lieben tschechoslowakischen Mitstreiter? Werden wir sie je wiedersehen, die Moldau, Prag und seine goldenen Dächelchen, die Heimat? Gut standen die Chancen jedenfalls nicht. Die Abschusslisten sprachen gegen sie.
Žhàř. Warum Žhàř? O. k., das Bengelchen roch irgendwie ein wenig nach Brand, klar, nach Höllenfeuer. Nach Zunder. Aber das taten sie alle, nicht nur der Kleine. Und nach Blut. Das an ihren Fingern klebte, symbolisch natürlich, aber es war ja schließlich das Blut der anderen. Erst ganz zuletzt würde es das eigene sein.
Aber was war es, das Barta auf den Brandstifter-Gedanken gebracht hatte? Irgendetwas stimmte mit dem Bürschchen nicht.
Es entstand jetzt Bewegung auf dem Rasen. Diese Engländer. Was war das für ein Volk? Am Rande des Abgrunds, auch wenn nur die Flieger, die Piloten der Royal Air Force, die jeden Tag gegen den Ansturm der Deutschen anflogen, wussten, wie nah sie an diesem Abgrund standen. Diese Engländer! Biedere, freundliche, harmlose, langweilige Menschen, die in diesen Kriegszeiten über sich hinauswuchsen.
„Tea, Sir?“ Vor Barta stand eines dieser wirklich reizenden, blutjungen Pfadfindermädchen. Zu jung für die Home Guard, zu alt, um nichts für die Verteidigung des Landes tun zu können, engagierten sich die Heranwachsenden des Königreichs in vor- und paramilitärischen Kartellen und Vereinigungen. Und sei es auch nur, um auf Veranstaltungen wie dieser hier für die Flieger Tee zu kochen, Kuchen zu backen oder den Verletzten Blumen ins Feldlazarett zu bringen. Brandgeruch, so war er auf das Wort gekommen! Brandgeruch, ja, Blut, Schweiß und Tränen, ja, ja, ja. Dennoch fehlte etwas an diesem Whitley. Etwas, das ihn von all den anderen Leuten unterschied. Was war das bloß?
„Nou, sänks“, antwortete er und verzog trotz schlechter Laune den Mund zu einer Art Lächeln, um die Kleine nicht gar zu sehr zu erschrecken. Tat es aber genau dadurch. Was seine Laune wiederum ein wenig hob.
Diese Engländer. Von früh bis spät gab es Tee. Alles andere wäre ihm lieber gewesen. Schnitzel, Bratkartoffeln, Knödel, Dunkelbier, im Zweifelsfall sogar ein englisches Ale, ein Tässchen Kaffee, schwarz, ohne Zucker, so wie er es liebte, aber Tee? Prokrista, oh mein Gott.
Da fiel es ihm schlagartig ein, welches Element diesem Whitley fehlte, weil er den Geruch des Backfischs noch in der Nase hatte, gemischt zwar mit dem ekelerregenden Teegestank, aber dennoch. Fisch. Whitley roch so ganz und gar nicht nach Fisch. Und so gar nicht nach oh Britannia, Britannia rule the waves, sondern nach ganz viel Festland und scharf gebranntem Bohnenkaffee. Es gab an der gesamten Henton Air Base keine zehn Mann, die Kaffee tranken, und eigentlich waren es nur die Freunde Bartas, seine Landsleute aus Böhmen und Mähren und aus der Slowakei, die diesem kontinentalen Laster frönten. Kaffeetrinken. Und Whitley.
***
Verdammter Whitley. Jetzt hatte er genau das ausgelöst, was Barta vor allem heute hatte vermeiden wollen: Dass er noch mehr an zu Hause dachte als sonst. An Böhmen. An Prag. An die Moldau und die herrlichen Ausflugslokale entlang ihrer Ufer: Riesige Schnitzel, riesige Bierkrüge, riesige böhmische … na egal. Und erst Prag selbst, diese wundervolle Stadt. Ihre Gassen. Ihre Straßen. Das Völkergemisch. Die Slowaken, irgendwie indolent. Die Deutschen immer ein Buch oder eine Zeitung in der Hand. Die Böhmen stets mit Bierschaum auf der Oberlippe oder Fett am Kinn. Egal ob im Schanigarten, im Bierlokal oder am Wenzelsplatz. Sympathisch. Aber natürlich kaum kriegstauglich. Daher das grandiose Versagen, achtunddreißig neununddreißig. Und dann natürlich die Treffs. Die Hinterhofbars. Die einschlägigen Schuppen. Schwule hatten es selbst in einer vergleichsweise lässigen Stadt wie Prag nicht leicht, auch nicht in Holešovic, seinem Viertel. Abseits der Touristenströme, bodenständig und ein wenig nachlässig seinen Geschäften nachgehend, lag es südlich des historischen Zentrums und auf der anderen Uferseite an die Moldau geschmiegt wie ein Säufer an seinen Traum vom ewigen Suff.
Jetzt war Barta gedanklich wieder in Prag. Die leicht absurde Szenerie, die sich hier auf dem Stück vorbildlich gestutzten englischen Rasens am Rande der kleinen südbritischen Stadt Wells vor seinem Auge abspielte, war entschwunden. Er war zurück in der Tschechoslowakei, in Prag, dem Vorkriegs-Holešovic, die Gerstnerova, seiner Straße, dem kleinen Häuschen mit dem struppigen Garten und den Tomatenstauden, die nie Früchte trugen. Zuletzt hatte er dort auch noch seine Mutter mit aufgenommen. Die jetzt, sofern sie noch lebte, hoffentlich seine Blumen goss. Und seltsamerweise dachte er auch an die Ausschankmädels mit ihren riesigen Glocken. Er würde nie verstehen, was so viele seiner Geschlechtsgenossen an diesen Doppelbergen schwabbelnden Fettgewebes fanden. Was hatten er und Marek sich amüsiert über die Gier der Männer, die um sie herum saßen. Diese Männer, die nur noch aus Trieb zu bestehen schienen und Stielaugen bekamen, während sie den Mädchen fast in den Ausschnitt fielen, wenn die sich, wie Servierdamen das nun mal taten, vornüberbeugten, tiefe Einblicke gewährten beim Abstellen der Krüge, beim Auftragen der dampfenden Kost, beim Abkassieren. Klar, vor allem beim Abkassieren. Was hatten sie ihren Spaß gehabt, Marek und er.
Marek.
Ob Marek heute an ihn dachte? Ob er nicht schon längst tot war? Erschossen von den Deutschen, an die Wand gestellt? Als Tscheche? Als Homo? Als Intellektueller? Gründe, ihn zu töten, hätte Marek den Nazis schon gegeben. Wenn Marek aber noch am Leben war, dann dachte er heute auch an ihn. Da war sich Barta sicher. Ganz sicher. Immerhin war heute der 20. August 1940, und er, Barta, wurde dreißig.
„Hmm“, machte Barta. Nicht, dass er etwas auf Geburtstage und dergleichen hielt. Er kannte genaugenommen nur vier Geburtstage: den seiner Mutter, den von Marek und den von Oscar Wilde.
Und natürlich seinen eigenen, obwohl er sich selbst nicht wirklich leiden konnte. Sein eigener Geburtstag war ihm gleichgültig.
„Hmm.“ Es war zu einer Marotte von Barta geworden. Ständig machte er „… hmm …“. Begonnen hatte dieser Tick, nachdem er in England angekommen war. Das war vor etwa einem Jahr gewesen, im Mai 1939, und es erschien ihm, als wäre es eine Ewigkeit her. Damals hatte Hitler Bartas Heimatland oder vielmehr das, was das Münchner Abkommen davon übrig gelassen hatte, noch rasch kassiert, bevor er sich mit einer unbegreiflichen Wut auf das arme tapfere Polen stürzte. Und obwohl eigentlich allen hätte klar sein müssen, dass sich Hitler auf seinem Weg zur Weltherrschaft nicht durch irgendwelche Abkommen würde behindern oder gar stoppen lassen, kam die Besetzung Prags doch überraschend. Er, Barta, war jedenfalls nur mit knapper Not der Verhaftung entgangen und nur, weil er sich zu einem bestimmten Zeitpunkt nicht in der Gerstnerova aufgehalten hatte. Ohne Papiere und ohne Geld hatte er sich über Krakau, Warschau und Kopenhagen nach England durchgeschlagen. Jetzt flog er in der tschechischen Staffel der Royal Air Force gegen die Nazis, und sein Tick schien sich mit jedem Einsatz, den er überstand, zu verstärken.
Sonst aber ging es ihm gut. Manchmal wünschte er sich sogar, der Krieg möge ewig dauern. Trotz des Heimwehs. Die Vorstellung nämlich, wie seine alte Heimat jetzt oder nach dem Krieg aussehen würde, machte ihm Angst. Mehr Angst als der ganze Krieg, als die Möglichkeit zu sterben. Er hatte die Deutschen ja gesehen, als sie in Prag einmarschiert waren. Ihre Augen. Ihre Arroganz. Ihre tödliche Härte. Nein, er machte sich keine Illusionen über den Zustand der alten Heimat. Aber immerhin war heute sein dreißigster Geburtstag. Dreißig. Ein Drittel Jahrhundert. Fast. Nicht schlecht für Zeiten wie diese, oder?
Er machte „… hmm …“ und blickte sich um. Was für ein Zirkus um ihn herum. Was für eine Show. Er hätte auf Zuschauer vermutlich ein wenig seltsam gewirkt, so am Rande der Veranstaltung stehend, mit sich selbst sprechend, „… hmm …“ machend und immer wieder ganz für sich allein in dieses leicht irre Lachen ausbrechend. Aber niemand achtete auf Barta. Außer dieser Kleinen dort drüben, Linda Schoolcraft.
Mit zusammengekniffenen Augen sah er jetzt zu, wie Whitley an die Reihe kam. Das kleine Fest auf der grünen Wiese vor den Toren von Wells, das jeder im Königreich seiner herrlichen Kathedrale wegen kannte, hatte natürlich, dem zivilen Anstrich zum Trotz, vor allem einen militärisch-moralischen Anlass. Schließlich befand man sich im Krieg mit den gefährlichsten Banditen in Europa. Polen, Holland, Belgien, Frankreich, Dänemark und Norwegen waren bereits gefallen und in den Händen der Nazis. England war jetzt ganz allein auf sich gestellt und nur um Haaresbreite an einer Niederlage vorbeigeschrammt, die das Königreich nicht überlebt hätte. The Hardest Day, hörte er von der Tribüne her, werde einmal als der Wendepunkt im Krieg gegen Nazideutschland in die Geschichte eingehen und so weiter und so fort.
„Wird wohl so sein“, brummte Barta weiter vor sich hin. Seine Laune wurde immer schlechter. Wenn das so weitergehen sollte, würde er sich hier einen der Jungs schnappen und eine so richtig schöne heterosexuell-männliche Keilerei anfangen. Und mal wieder im Bau landen, wegen mangelhaften und die Ehre der Royal Air Force beschmutzenden Verhaltens. Feste wie dieses waren wichtig für die Moral, den Zusammenhalt, den Kampfgeist und auch für die englische Demokratie, mitten im Krieg und auf der grünen Wiese, dachte Barta. Und genau dafür bewunderte er die Engländer. Hitler? So what? England lebte einfach weiter, von Fliegeralarm zu Fliegeralarm, so gut es eben ging, dachte Barta. Und dass er natürlich nicht wissen konnte, was für Sorgen, Nöte, Ängste und Neurosen sich unter der Decke scheinbarer Normalität quer durch die Bevölkerung entwickelten. Zumindest oberflächlich ging es ihnen noch immer vergleichsweise gut. Wenn man bedachte, was sich zum Beispiel in Polen abspielte.
Dieses kleine Fest hier auf der grünen Wiese etwa, realitätsfern, aber fantastisch. Die bunten Bänder, die Getränke, die zauberhaften Boyscouts und jungen Ladys mit ihren Tabletts voller Cookies, die Musik, die Männer von der Armee. Alles ganz prima und von oben zehn Meilen weit zu sehen. Sollte auch nur ein Hunne in der Gegend hier herumfliegen, er würde sie sichten, die kleine, kunterbunte Festgemeinde. Auf einem Gelände ohne jede Deckung. Ein kleines Schlachtfest gäbe das hier, ein richtig süßes Gemetzel. Aber so waren sie eben, die Damen und Herren Angelsachsen. No risk, no fun, nicht wahr?
„Hmmm.“ Wobei, das Risiko war trotz allem kalkulierbar. Die Hunnen hatten ja auch gehörig einen auf den Deckel bekommen. Vorgestern. Die leckten jetzt erst mal ihre Wunden. Hoffentlich. Sie hatten es sich allesamt wirklich verdient, die Kameraden von der 11. Fighter Group und die Leute von Wells sowieso. Sie alle hatten ihn überlebt, den Hardest Day, den härtesten Tag seit Beginn dessen, was Churchill The Battle of Britain nannte, die Schlacht um England. Sie durfte, das wusste jeder im Königreich, vom Kind in Brighton bis zum Greis in Aberdeen, nicht verloren gehen wie The Battle of France, sonst wären sie alle verdammt, jeder, die ganze Welt. Hitler war noch längst nicht besiegt. Der Sturm stand ja erst noch bevor. Nur, den Hardest Day, den hatten sie gewonnen, die Lebenden und die, die für diesen Sieg gestorben waren. Wenn das kein Grund zum Feiern war? Übrigens: Kein einziger Verlust bei den Tschechoslowaken. Obwohl immer im Getümmel. Jurek, der dicke Honza, alle. Boshe, Glück gehabt.
Er ließ nochmals den langen Tag des 18. August an sich vorüberziehen. Den frühen Alarm. Das komische Kribbeln im Bauch beim Start in diesen wahnsinnigen Todeskampf. Das Durcheinander der Maschinen zwischen den Wolken. Die Kondensstreifen. Die grellen Blitze der Explosionen. Die Feuerbälle. Durch die Luft pfeifende Trümmerteile. Funkspruchfetzen. Kommandos. Schreie.
Ja, ja, dachte Barta, so richtig schön gemütlich war das da oben; er machte „hmm“ und sah weiter zu Whitley. Tapferes, seltsames, verdächtiges Kerlchen. Er selbst hatte das Theater schon hinter sich, die Ehrung. Die Medaille baumelte ihm bereits vor der keinesfalls stolzgeschwellten Slawenbrust. Die tapfersten Piloten aus jeder Fighter Group bekamen für ihre Verdienste in der Luftschlacht vor zwei Tagen eine Auszeichnung ans Revers gesteckt. Wie nett. Fand Barta. Sieben deutsche Jäger hatte er abgeschossen, bevor ihn ein Treffer am Heck zur Notlandung zwang. Seine dritte. War er deshalb tapfer? Weil er getötet hatte, ohne selbst getötet zu werden? Waren die mit weniger Treffern weniger tapfer? Oder die Toten? Er dachte wieder an Marek, diesen zartbesaiteten, freundlichen, an Büchern, Musik und seinem Arsch interessierten jungen Mann. Nie im Leben würde Marek ein Gewehr in die Hand nehmen, schießen lernen. Fliegen. Menschen töten. Er würde sich lieber töten lassen, als zu töten. Aus Angst?
„Lieber einmal Todesangst und dann Schluss, als in ständiger Angst vor dem Sterben zu leben …“, hatte Marek immer beteuert. Im Krieg, so seine Worte, würde er sich so schnell wie möglich umbringen lassen, anstatt tage-, monate- oder gar jahrelang zu zittern und zu schlottern vor Schiss. Nun, dachte Barta, war das also Feigheit von Marek? Und war er selbst etwa mutig?
Völlig in sein Selbstgespräch vertieft, hob er ratlos die Schultern, blies plusternd Luft aus seinen Lungen. Alle außer ihm schienen das Fest zu genießen.
Orden, nörgelte er weiter, Auszeichnungen. So ein Blödsinn. Nun gut. Wer Mädchen mochte, für den war so ein Blechstück vielleicht hilfreich. Die Weiber, das hatte er schon gemerkt, flogen auf so was. Signalisierte wohl Kampfkraft, Durchsetzungsvermögen. Aber das war natürlich völliger Quatsch. Schwein gehabt, einmal mehr Schwein gehabt als die anderen, das signalisierte so ein Abzeichen, mehr auch nicht. Außer vielleicht bei Whitley. Weil der als Einziger, und wirklich als Einziger, so richtig gut fliegen konnte. Bei dem schien es kein Zufall zu sein, dass er wieder und wieder von seinen Einsätzen zurückkam. Der wusste, was er tat. Oder aber … sie schonten ihn. Weil sie ihn kannten, weil er am Ende doch einer von … Stopp. Für einen Spion kämpfte der Junge viel zu konsequent, viel zu gut. Und außerdem, mit so einem Verdacht im Kopf gefährdete man sich und die anderen. Einen solchen Verdacht durfte man gar nicht aufkommen lassen.
„Hmmm …“ Man würde ja sehen. Die Zeit würde es zum Vorschein bringen. Die Zeit brachte alles zum Vorschein. Früher oder später. Er würde zur Stelle sein, wenn sich die Zeit gebärte. So etwas Ähnliches hatte er einmal in einem philosophischen Buch gelesen, bevor er es dann genau an dieser Stelle in die Ecke gepfeffert hatte. Gebären! Die Zeit!
Stille im Kopf.
Für eine kleine Ewigkeit verlor Barta den Faden. Ohne dass er es hätte beeinflussen können, sah er plötzlich das Wohnviertel seiner Kindheit vor sich, den Eismann aus der Provinz, vor dem er sich einerseits fürchtete, des großen Barts, den der Mann trug, und der schwarzen, glühenden Augen und des blitzenden Goldzahns wegen, andererseits aber verkaufte er eben auch das leckerste Eis von ganz Prag. Barta sah auch die Zigeuner, die mit ihren Tanzbären durch die Gassen zogen, die Kriegsinvaliden, die einäugig, beinlos in kleinen Karren oder mit Handprothesen an den Ecken der Häuser um ein paar Groschen, um ein Stück Brot bettelten, sah die Scherenschleifer und Kesselflicker, die Spielkameraden, verdreckt und verlaust wie er selbst, sah die goldenen Kuppeln seiner Stadt, den Wenzelsberg und das Fensterbrett in der Küche, auf dem die Mutter Kräuter zog und der Vater Tabak.
Dann landete er wieder. Sommer 1940. England, Krieg. Noch war es kein Weltkrieg, aber allen war klar, es würde einer werden, bereits der zweite dann. Warum riskierte er also sein Leben, wenn schon nicht um die Ehre? Weil man jetzt einfach irgendetwas tun musste? Wegen dem, was die Propaganda Pflicht, Landesverteidigung, den Kampf des Guten gegen das Böse nannte? Schon möglich. Ja. Schon möglich. Aber auch ohne die Propaganda hatte er das Gefühl, gegen das Fleisch gewordene Böse zu kämpfen, wenn er oben in den Wolken auf die Deutschen eindrosch. Schon möglich, dass sie am Ende diesen Krieg gegen die Deutschen gewinnen würden. Dann wären sie Sieger. Aber um welchen Preis? Die verlorene Zeit und die verlorenen Freunde und die verlorene Unschuld würden sie jedenfalls nicht zurückgewinnen.
Barta sah zu, wie dieser adrette Offizier, einer aus London, sich Whitley vornahm. Wieder kamen die unerwünschten Gedanken. War Whitley ein Spion? Schon möglich. Einerseits. Andererseits konnte jeder von ihnen ein Spion sein. Andererseits. Barta schüttelte den Kopf, wie um den lästigen Gedanken zu verscheuchen, bevor er sich wie ein Bandwurm in seinen Gehirnwindungen festsetzen und dort wachsen und gedeihen konnte. Er wandte sich, auf der Suche nach Ablenkung, von der Tribüne ab, auf der die Ehrung ihren Lauf nahm. Es gab ja schließlich noch anderes auf der Welt als diesen mageren und bleichen Whitley. Und da war sie ja auch schon, seine Ablenkung: die magere und bleiche Linda Schoolcraft.
***
Linda Schoolcraft. Dieses eigenwillige Geschöpf. Das einzige weibliche Wesen, das ihn, Barta, je interessiert hatte. Denn schon mit zehn Jahren war ihm klar geworden, dass Mädchen nichts für ihn waren.
Sie hatte ihn schon eine ganze Zeit lang angestarrt. Ihn, den dicken, missmutigen, immer unrasierten Tschechen, Fliegerkamerad von Whitley. Ja, nicht er hatte sie bemerkt, sondern sie war es gewesen, die ihn beobachtet, abgeschätzt hatte. Warum? Wegen Whitley? Verfickt und zugenäht. Barta wusste, dass die beiden komischen Vögel Whitley und Linda Schoolcraft befreundet waren. Befreundet. Wie das schon klang. Wie weit diese, nun: Freundschaft ging, ob sie ein heimliches Pärchen waren, was Barta vermutete, Händchen hielten oder nur zusammen Tee tranken und schöne Bücher lasen, wusste er nicht. Und es war ihm auch egal. Wenn ihm ein Mann gefiel, scherte er sich grundsätzlich nicht um dessen Neigungen. Heterosexualität? Zum Lachen. Der Gesellschaft geschuldet. Wenn er nur wollte, fand er sie schon, die Bresche im meterdicken Wall der gegengeschlechtlichen Sexualität. Er fand sie bei jedem. Wenn er Lust auf Whitley bekam, würde er ihn sich schnappen. Ja. Auch ihn.
Linda Schoolcraft also. Wieso interessierte sie ihn eigentlich? Weil ihn schräge Typen ohne Bodenhaftung anzogen? Weil Labilität sexy war? Weil sie so knabenhaft wirkte mit ihrer dürren Figur, an der eigentlich gar nichts dran war? Wegen des strengen, im Grunde anmaßenden Gesichtsausdrucks, das die kleine Kröte an den Tag legte?
Hmmm … Sie ist ja angeblich ziemlich durchgedreht, die Kleine, nach der Geschichte mit ihrem Vater. Nun, Genaueres wusste Barta nicht. Genaueres wusste wohl niemand hier in Wells. Die einen behaupteten, es hätte sich um eine Liebesgeschichte gehandelt, um einen Kurzschluss im Kopf. Die andere Version lautete: Verrat. Und später waren plötzlich alle der Meinung, dass er immer schon ein komischer, verdächtiger Kauz gewesen sei, der alte Schoolcraft, wie das halt so war in Provinzstädtchen wie Wells. Solche Klatschgeschichten wussten der Jurek und der Honza, die ja munter auf den Kissen der Landeskinder schliefen, zu berichten. Für Klatschgeschichten hatte Barta sich noch nie interessiert. Schon in Friedenszeiten nicht. Wie sollte er auch als Schwuler. Als Ausgegrenzter. Als einer von denen, über die in der Regel geklatscht und getratscht und gelästert wurde. Juden, Schwule, Zigeuner. In der Reihenfolge absteigend. Schon vor der Machtergreifung in Deutschland und der zunehmenden Bedrohung seiner Heimat durch Hitler hatte er sich gegen Verleumdungen verwahrt. Und oft genug mit Marek gestritten. Der, obwohl ein wirklich feiner Kerl, zwar gegen Juden nichts hatte, dafür aber Zigeuner nicht leiden konnte. Warum eigentlich? Weil sie heimatlos durch Europa zogen und nirgendwo dazugehörten? Tja, dann war er jetzt, und mit ihm viele seiner Landsleute, ebenfalls ein Zigeuner. Ein schwuler Zigeuner. So schnell ging das.
In Zeiten des Krieges allerdings war Klatsch geradezu gefährlich. Es verklebte nämlich den Kopf. Behinderte die Konzentration. Verstellte den Blick auf das Wesentliche, vor allem beim Fliegen. Kurz: Klatsch war immer zugleich auch schon Feindpropaganda. Ganz egal, wer was zu wem sagte, wer wie über wen lästerte. Feindpropaganda.
Und Linda Schoolcraft? Inzwischen hatte sie ihren Blick von ihm abgewendet und sich anderen Menschen zugewandt. Hatte sie ihn überhaupt wirklich wahrgenommen? Sie bewegte sich emsig hin und her zwischen all den Uniformen, Zivilisten, meist ältere Leute aus Wells, den vielen Kindern, die zum Teil schon jetzt und vorsorglich aus London, aus Liverpool oder Manchester hierher aufs Land verschickt worden waren, den hochdekorierten, invaliden Veteranen des Weltkriegs. Verdun, Somme, Flandern, Giftgas, die ersten Tanks, mein Gott. Einarmige, beinlose, blinde oder Eisenstaub weinende alte Männer voller Schmerz, Stolz und Lebensmut. So erschien es ihm zumindest.
Hmmm …
Wahrscheinlich waren sogar solche mit dabei, die noch Buren in Südafrika getötet hatten. Und wenn schon.
Linda Schoolcraft jedenfalls war eine waschechte kleine Engländerin. Voll Stolz auf das Vereinigte Dingsbums und diesen Rattenschwanz hintendran, das Empire. Allerdings erschien sie ihm nicht so ungebrochen selbstbewusst wie die anderen. Wegen der Sache mit ihrem Vater? Man sah es an der Art, wie sie sich bewegte. Emsig, ja, aber dennoch irgendwie mechanisch. Nicht ganz anwesend. Unecht. Dachte sich Barta. Und: Klar, bei den Ereignissen, die sich in ihrer Familie abgespielt hatten. Und bei dem Verdacht.
Warum hatte sie ihn vorhin so lange gemustert? Weil sie etwas von ihm wollte? Schon möglich. Vielleicht waren es aber auch nur die verwirrten Blicke einer Halbirren gewesen, die zufällig ihn getroffen hatten und jeden anderen hätten treffen können. Ohnehin: Waren nicht viel mehr die sogenannten Normalen das Problem? Sie war alles andere als schön. Schmale Hüften. Dürre Schultern. Von hinten hätte man sie fast für einen Jüngling halten können. Das Gesicht? Nun. Eine Zitrone. Der Mund? Ein Strich. Sie war hässlich, wie junge Frauen hässlich sein können, denen das Leben schon von Anfang an wenig Gutes bereithält. Eine alte Jungfer von Anfang zwanzig. Kein Backfisch, sondern ein alter Stock. Gruselig. Aber warum fiel ihm das überhaupt auf? Warum um alles in der Welt beschäftigte er sich so mit einer Randfigur seines Lebens wie Linda Schoolcraft? Weil sie etwas Magisches an sich hatte? Etwas Unheilbringendes, was ihn unweigerlich in ihren Bann zog? Nicht dass Barta abergläubisch gewesen wäre, aber lieber auf Nummer sicher gehen. Man konnte ja nie wissen. Vielleicht war sie ja eine Hexe mit dem bösen Blick? Heimlich, wie um es vor sich selbst zu verbergen, kreuzte er Zeige- und Mittelfinger seiner in der Hosentasche ruhenden Linken. Nun fühlte er sich wohler.
***
Whitley blickte an sich herab. Da stand er nun, eine Auszeichnung der Royal Air Force am Revers. Der Royal Air Force! Damit war er einer von den few, von den Wenigen, wie der Premierminister sie im Radio nannte. Er, Benjamin Whitley. Ein Fliegerheld. Ein Verteidiger Englands. Wer hätte das gedacht?
„Nie in der Geschichte Englands hatten so viele so wenigen so viel zu verdanken …“, sagte der Premierminister über die jungen Flieger. Auch wenn die Öffentlichkeit die Tragweite seiner Worte längst nicht ermessen konnte. War Whitley nun stolz? War er angekommen? Gehörte er jetzt dazu? Er sah an dem Offizier, der ihm gratulierte, vorbei und ließ seinen suchenden Blick von dem erhöhten Platz, den er auf der Tribüne einnahm, über die Mützen der Soldaten und die Hüte der Ladys, die vor ihm auf dem Rasen saßen, gleiten. Wo war Linda? Ah, dort. Dieser blöde Offizier aus London versperrte ihm mit seinen breiten Schultern die Sicht, doch ja, jetzt sah er ihren hübschen Hinterkopf, die Ohren, die ein wenig abstanden, was er süß fand. Was machte sie da eigentlich? Sonst rannte sie hin und her, war in Aktion, sprach mit jedem, hatte für alle ein gutes Wort. Seit sie sich nützlich machen konnte, ging es ihr ja auch deutlich besser. Seit der Krieg ausgebrochen und sie zunächst in die Home Guard, dann in die Royal Air Force eingetreten war. So seltsam es auch klingen mochte, Whitley hatte den Eindruck, dass der Krieg seiner Freundin guttat. Mit einem fast schon lächerlichen Stolz trug sie jetzt diese Uniform, über die sie noch vor etwas mehr als einem Jahr die Nase gerümpft hätte.
Jetzt aber rannte sie überhaupt nicht hin und her. Im Gegenteil. Jetzt stand sie da zwischen all den Menschen auf dem Rasen wie Lots Frau, zur Salzsäule erstarrt. Wenn nur dieser idiotische Offizier endlich mal zur Seite … Ah. Er sah es. Klar. Barta.
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Linda dachte über Whitley nach. Der war quasi vom Himmel gefallen. Das war Anfang 1933 gewesen, genauer gesagt am 12. Februar, mitten im Schultrimester und während eines der härtesten Winter seit Menschengedenken. Vor allem Mitteleuropa und Russland hatte Väterchen Frost mit eiserner Faust gepackt. Auf dem Rhein und im Hamburger Hafen trieben Eisschollen und blockierten die Löschung der Dampfer aus Übersee und die Binnenschifffahrt. Minus dreißig Grad in Pommern, schulfrei von Straßburg bis Minsk. Und selbst in England, das, verwöhnt vom Golfstrom, kaum Schnee und Kältegrade kannte, warfen die Palmen der Strandpromenaden von Devon und Cornwall beleidigt ihre Palmwedel ab, gingen Zedern in die Knie, zerstörte der Frost so manchen Gärtnerstolz.
Linda Schoolcraft und ihre Mitschüler saßen an jenem Tag mit Mütze, Schal und Handschuhen vor ihren Schiefertafeln, kritzelten mit klammen Fingern ihre Aufgaben und blickten so neugierig wie erstaunt auf, als Mrs Bloom, die Leiterin von Trinity College, Linda Schoolcrafts Schule, mitten in der Geografiestunde eintrat, ihre Kollegin Mrs Fields freundlich, aber bestimmt zur Seite schob und einen neuen Schüler, einen blassen, schmalen und schüchternen Jungen präsentierte.
„Meine Herrschaften“, hob Mrs Bloom ungefähr zur gleichen Zeit an zu sprechen, als auch der frischgebackene deutsche Reichskanzler Adolf Hitler seine Rede im Berliner Sportpalast begann, „das ist unser neuer Mitschüler Benjamin Whitley. Ben hat viel Schlimmes erlebt. Aber er ist ein tapferer junger Mensch, so wie ihr alle tapfer seid. Nehmt ein wenig Rücksicht auf ihn, er ist traumatisiert. Und du, Linda … “, dabei hatte sie den stummen, auf den Boden blickenden Neuen bereits neben Linda Schoolcraft auf den freien Platz in der ersten Reihe gesetzt, „ … gibst mir ganz besonders gut auf ihn acht. Versprochen?“
Ob sie wollte oder nicht, damit hatte sie diesen Ben an der Backe. Jetzt war sie auf Gedeih und Verderb an ihn gekettet. Nie im Leben, fuhr es der Zwölfjährigen heiß und kalt in Leib und Seele, würde sie von diesem einmal gegebenen Versprechen wieder loskommen, einem ewigen Schwur gleich. Nein, nein, ich kann den nicht leiden, den Neuen, der riecht so komisch und guckt nur auf den Boden und sagt auch keinen Ton, und überhaupt ist das doch ein Junge und Jungs sollten neben Jungs sitzen.
„Versprochen, Mrs Bloom“, hörte sich Linda dennoch tapfer antworten, innerlich aufgebracht über die ungerechte Behandlung, die ja nichts anderes war als eine gemeine Manipulation. Vielleicht war Linda aber auch nur feige. Denn Mrs Bloom hatte eine Art, der schon die Allerkleinsten nicht zu widerstehen vermochten.
Sie hätte kotzen können vor Wut. Dabei meinte es Mrs Bloom natürlich nur gut. Die stille, innerlich aber von einer glühenden pädagogischen Begeisterung beseelte Frau war eine große Anhängerin Maria Montessoris, der sie als ganz junge Studentin während eines Studienaufenthalts in Rom persönlich begegnet war. Sie kannte die Schriften Rudolf Steiners, C. G. Jungs, Alfred Adlers und natürlich die des Doktor Freud aus Wien. Jetzt war sie allerdings, ohne es auch nur zu ahnen, übers Ziel hinausgeschossen. Und völlig ahnungslos, was sie mit einem einzigen freudianischen Fachbegriff angerichtet hatte. Denn der arme Benjamin Whitley, von Tante Lu und einigen anderen Erwachsenen um ihn herum kurz Ben genannt, hatte ihn nun vom ersten Tag an weg, seinen Spitznamen: Traumi.
„Traumi hat so einen komischen Pullover an, Traumi spricht so komisch, schau mal, Traumi kann nicht mal Kricket spielen, wisst ihr was, Traumi hat gar keine richtigen Eltern, der lebt bei Mrs Pringle und nennt die alte Hexe Tante Lu … Tante Lu? … Ja …“
Und Traumi sollte keine Chance bekommen. Wenn er im Unterricht aufgerufen wurde, fuhr er aus seinem Stuhl hoch, stand kerzengerade da wie die Karikatur eines Gardesoldaten, sagte nichts oder stotterte. Die Mädchen kicherten. Die Lehrer, alles in allem Pädagogen, die es gut mit ihm meinten, blickten zum Fenster hinaus. Schließlich wurde er nicht mehr aufgerufen. Im Turnsaal war er an Reck, Barren und Ringen eine Katastrophe. Die Jungs verdrehten die Augen oder lachten. Meistens verdrehten sie die Augen. Boxen ging gar nicht. Am schlimmsten aber war es auf dem Rugbyfeld. Da lachten die Jungs nicht mehr. Und verdrehten auch nicht mehr die Augen. Denn Rugby war eine ernste Angelegenheit. Auch weil Johnson, der Sportlehrer, den harten Kampf auf dem Rasen schätzte wie kaum eine andere Sportart. Rugby, so seine Überzeugung, machte aus Knaben Männer.
„Wollt ihr Kerle sein oder Schwuchteln …?“, lautete Johnsons von allen gefürchtete Frage, die jedem noch so kleinen Fauxpas auf dem Rasen folgte. Und natürlich wollten die Jungs Kerle sein. Vor allem vor Mr Johnson, der Siegertypen schätzte, Jungs, die sich durchsetzten, das Empire zusammenhielten, ein Rugbyspiel gewinnen konnten. Und keine Schwuchteln waren. Was auch immer eine Schwuchtel sein mochte. So richtig wusste das keiner. Auf jeden Fall etwas Falsches, etwas Unmännliches, etwas Weibisches. Nein, die Jungs wollten keine Schwuchteln sein. Sondern hart wie Stahl, flink wie Windhunde und zäh wie Leder. Das war Mr Johnson wichtig. Er brüllte es bei jeder Gelegenheit. Und dann der da: Traumi. Ein Waschlappen bei allem, was irgendwie nach körperlicher Anstrengung aussah, somit war er auch beim Rugby ein Rohrkrepierer. Keine Orientierung, keine Ellenbogen, kein Biss. Viel zu gehemmt, um sich auf dem Feld zurechtzufinden, viel zu zart fürs Getümmel, viel zu ungeschickt bei der Ballkontrolle.
„Raumgewinn, sag ich euch, und ihr wisst es ja, Raum gewinnen, einnehmen, erobern, besetzen, darum geht es beim Rugby, und, sagen wir es doch mal ganz ehrlich, auch in der Politik. Und im Leben sowieso. Davon hat der Junge, den ihr Traumi nennt, und ihr solltet ihn nicht Traumi nennen, zumindest nicht hier auf dem Spielfeld, sondern Albtraumi, jedenfalls hat der von Raumgewinn nicht die geringste Ahnung. Der kommt von einem anderen Planeten, sag ich euch, von einem anderen Planeten. Und am Ende muss man natürlich auch noch treffen … das Tor … den Gegner … Feind … “, sagte Johnson, während Ben beschämt und mit hochrotem Kopf danebenstand.
Raum gewinnen. Treffen. Siegen. Diese Themen beherrschten die Vorträge und Standpauken von Trinity-Sportcoach Mr Johnson im Laufe der Monate und Jahre dann immer mehr. Weitschweifig und sich ereifernd führte er aus, dass es drüben, auf dem Kontinent, Kräfte gebe, die kapiert hätten, worauf es ankäme. Und dass speziell in einem von ihm aufgrund seiner Kultur, seiner überragenden technischen Potenz, mehr als das aber wegen seines unbedingten Willens zum Sieg hochverehrten Land jetzt einer ans Ruder gekommen wäre, er würde keinen Namen nennen, der nicht nur verstanden hätte, wie man gegen die roten Socken, das ganze Gejüdel und Geschwächel ankomme … Und dass sie sich alle warm würden anziehen müssen hier in England, dieses kleine rückständige und verweichlichte Inselkönigreich mit seinem überkommenen Empire … Und dass so Rohrkrepierer, wie es hier unter den tüchtigen Jungs seiner Klasse einen gäbe, auch hier würde er keinen Namen nennen, die sich entweder entwickeln oder untergehen würden, und dass der Neue einfach keine Ahnung habe, worauf es bei dem Spiel und im Kampf eigentlich ankommt.
„Es handelt sich bei diesem Teil nicht um einen Ball, sonst wäre es ja rund. Aber dieses Teil hier ist oval. Drum ist es kein Ball, sondern ein Ei! Mit einem Ball, einem richtigen Fußball hätte ich es euch gezeigt … Warum spielen wir nie Fußball …?“, sagte Ben dieses eine Mal, dass er den Mund aufmachte, hochroten Kopfes. Trotzig. Aber bestimmt.
Eines Tages sollten sie tatsächlich endlich Fußball spielen. Mit einschneidenden Folgen für alle. Zuvor aber erlebte Ben eine hässliche Zeit, die immer hässlicher wurde. Denn zum einen mochten ihn die Schulkameraden auf dem Rasenplatz am liebsten überhaupt nicht mehr sehen. Zum anderen aber waren die Jungs im Sportunterricht ohne den Außenseiter nur vierzehn Schüler. Fünfzehn Spieler aber machten eine Rugbymannschaft erst vollständig. Ohne Ben ging es also nicht. Und alle litten darunter. Vor allem Ben. Denn Ben musste mitspielen. Und leiden. Und alles verderben. Bis er eines Tages nach einem Match, das gar nicht so schlecht für sein Team gelaufen war und in dem er gar nicht so viele Fehler gemacht hatte, kollektiv und vor den Augen von Mr Johnson und dem Trainer der gegnerischen Mannschaft noch auf dem Rasen verprügelt wurde.
Der Trainer der siegreichen Mannschaft sowie einige von dessen Jungs griffen schließlich ein, zogen den schwer in Mitleidenschaft gezogenen Ben unter der wild auf ihn eindreschenden Meute hervor und brachten ihn in Sicherheit.
„Ich möchte mich ja nicht einmischen, Herr Kollege, aber so geht das nicht. Wollen Sie zusehen, wie die anderen den Jungen umbringen?“
Ja, dachte Mr Johnson, ja, ja, ja. So ein lebensunwerter Schwächling. Sollen sie doch.